Nachdem die Protagonistin des Kolportageromans "Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau" nach allerlei Irrungen und Wirrungen endlich in dem im Romantitel genannten Kloster angekommen ist, gönne ich – wie am Ende der vorigen Episode dieser Artikelserie schon angekündigt – mir selbst und den Lesern mal wieder die Erholung, mich der Analyse eines sehr viel besser konstruierten und erzählten Kolportageromans zuzuwenden, nämlich Sir John Retcliffes "Biarritz". Genauer gesagt soll hier allerdings nur einer der zahlreichen Erzählstränge dieses ausufernden 13bändigen Romanzyklus unter die Lupe genommen werden, nämlich jener um die Sieben Todsünden. "[F]rei und frech ging die Sünde hinaus in die Welt!", hieß es am Ende des so betitelten Unterkapitels (Bd. III, S. 252); ich hatte dazu bereits angemerkt, man könne sich "ausrechnen", dass dies "nicht das letzte gewesen sein" werde, was "der geneigte Leser dieses Romanzyklus" von den aus dem Kloster der Verdammten entlassenen exemplarischen Todsünderinnen erfahren werde, aber ehe es mit diesem Handlungsstrang weitergeht, braucht der Leser einen langen Atem: Auf das Abruzzen-Kapitel folgen zunächst die beiden zusammenhängenden Kapitel "Der Hofbanquier" und "Das Testament", die in der Residenzstadt eines kleinen mitteldeutschen Fürstentums spielen, und dann das zum Handlungsstrang um den tollkühnen Abenteurer Don Juan de Lerida gehörende Kapitel "Die Bärenjäger", das in den Pyrenäen spielt, aber seinerseits, noch bevor seine Handlung so richtig in Schwung gekommen ist, durch mehrere Binnenerzählungen über Jagdabenteuer in verschiedenen Weltteilen unterbrochen wird. Im IV. Band führt das Kapitel "Jeszcze Polska nie zginela" den Leser auf ein Gut nahe der Grenze zwischen dem preußischen und dem russischen Teil Polens und das Kapitel "Zwei Seelen und ein Leib" nach Kopenhagen, wozu ich übrigens anmerken möchte, dass auch der dänische Handlungsstrang des Romans so interessant ist, dass er eigentlich mal eine einlässliche Analyse verdient. – Als das "Bärenjäger"-Kapitel endlich zum Abschluss gebracht wird, befinden wir uns schon im V. Band; dieser erschien im Jahr 1870, was bedeutet, dass die Fortsetzungen von Retcliffes "Biarritz" und Dr. Rodes "Barbara Ubryk"-Roman weiterhin parallel zueinander erscheinen. Als mit dem in drei Unterkapitel gegliederten Kapitel "Die Donner von Gaëta" wieder an den italienischen Schauplatz zurückgeschnitten wird, führt der Autor den Leser zunächst in die von den Truppen des Königreichs Sardinien-Piemont belagerte neapolitanische Festung Gaëta und führt dort allerlei neue Charaktere mit ihren jeweils eigenen "backstories" ein. Unter den Verteidigern der Festung befinden sich nämlich zahlreiche Freiwillige unterschiedlicher Herkunft: legitimistische Franzosen, die dem Haus Bourbon die Treue halten, Belgier, Schweizer und nicht zuletzt Bayern – da die junge Königin von Neapel eine bayerische Herzogstochter ist.
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Der König und die Königin von Neapel besichtigen einen Artillerieposten in der Festung Gaëta, 22. Januar 1861 |
Bewegung kommt in die Handlung, als auf das Gerücht hin, König Viktor Emanuel II. von Sardinien-Piemont halte sich in der Villa Albano in der Vorstadt Borgo di Gaëta auf, ein waghalsiges Kommandounternehmen ausgerüstet wird: Der gegnerische König soll im Handstreich gefangen genommen und damit ein Ende des für Neapel schon so gut wie verloren geglaubten Krieges erzwungen werden. Gleichzeitig soll auch das von den piemontesischen Truppen besetzte ehemalige Kloster Santa Agatha überfallen werden, um zu verhindern, dass dort ein Artillerieposten zur Beschießung der Festung Gaëta eingerichtet wird.
Im Detail sieht der Plan vor, dass "[z]wei Kompagnien des Fremden-Bataillons im Schutz der Dunkelheit an der westlichen Küste entlang" (Bd. V, S. 111) auf Fischerbarken bis in die Nähe von Santa Agatha fahren, "sich im Rücken des Monte Capuccini nach dem Agatha durchschneiden und im gegebenen Augenblick [...] die Batterie überfallen" sollen, während gleichzeitig ein anderes Bataillon die Vorstadt Borgo di Gaëta angreifen soll. Einer der beiden Offiziere, die die für den Überfall auf Santa Agatha ausgewählten Truppen kommandieren sollen, ist ein schwermütig wirkender Franzose namens Emile Gauthier, über den es heißt, er sei "in der Schlacht von Solferino so schwer verwundet worden, daß man ihn für tot hielt und nur ein Zufall verhinderte, daß er lebendig in dem großen Grab, das Freund und Feind deckte, verscharrt wurde" (Bd. V, S. 130). Da stutzt der aufmerksame Leser und denkt sich: Woran erinnert uns das? Handelt es sich um einen sehr aufmerksamen Leser, wird er sich womöglich an einen über 900 Seiten zurückliegenden Dialog zwischen dem Einsiedler Fra Gerardo und der Äbtissin des Klosters der Verdammten erinnern, in dem es darum ging, welche der in diesem Kloster festgehaltenen Büßerinnen als exemplarische Verkörperungen der Sieben Todsünden in die Welt entlassen werden sollen. Über die Vertreterin der Völlerei, Theresa, heißt es da:
"Sie folgte der französischen Armee nach Italien, denn die Courtisane, die so lange jedes Gefühl verhöhnt, war in wilder Leidenschaft für einen jungen Offizier entbrannt, der sie verachtete. Als ihr die Nachricht wurde, er sei bei Solferino gefallen, nahm sie den Schleier. [...] Man sagt, daß wenige Monate darauf durch Zufall in die Mauern ihres Klosters die Nachricht drang, daß jener Offizier nicht gefallen, sondern nur verwundet worden. Da erwachte der Teufel auf's Neue in ihrem Herzen und sie versuchte drei Mal aus dem Kloster zu entfliehen" (Bd. III, S. 163f.).
Wer hier einen Zusammenhang wittert, darf sich bald darauf bestätigt fühlen, als der leichtlebige Graf von Saint-Bris, der sich freiwillig zu dem Kommandounternehmen gemeldet hat, Gauthier, den er von früher her kennt, direkt auf "die tolle Therese, die Chansonniere" (Bd. V, S. 133) anspricht:
"Sie müssen sich der kleinen Bacchantin mit roten Haaren noch erinnern, die ganz Paris den Kopf verrückte [...]. Sie war ja an diesem Abend ganz rasend in Sie verliebt [...]. Vielleicht haben Sie sie später noch gesehen, in Italien, denn Sie werden wissen, daß Seine Majestät unser allergnädigster Kaiser [...] sie zur Erholung von seinen Feldherrnthaten mit zum italienischen Feldzug nahm" (Bd. V, S. 133f.).
Hatte ich nicht, als in Bd. III von einem "Mächtigen" die Rede war, "der einst zu ihren Liebhabern gezählt und dessen Geheimnisse sie kennt" (Bd. III, S. 162), bereits vermutet, dies könnte sich auf Napoleon III. beziehen? – "So viel ich vernommen, soll Mademoiselle Therese fromm geworden und in ein Kloster gegangen sein!", verrät Gauthier (Bd. V, S. 136); im Übrigen ist es ihm merklich unangenehm, an seine Bekanntschaft mit Theresa erinnert zu werden, und sein Unbehagen wächst noch, als Saint-Bris ihn auf das Schicksal eines früheren Kameraden namens Castellane anspricht, der ebenfalls zu Thereses Verehrern gehört hatte: Saint-Bris glaubt, Castellane sei "in der Schlacht von Magenta gefallen" (Bd. V, S. 137), aber Gauthier stellt widerstrebend richtig, er sei am Tag vor der Schlacht erstochen aufgefunden worden. Gerade als Saint-Bris weiter nachfragen will, wird das Gespräch unterbrochen und erst knapp 30 Seiten später fortgesetzt. Nun gesteht Gauthier, dass er selbst, und zwar auf Befehl des Kaisers, Castellane getötet hat und dass der Kaiser sich anschließend seiner entledigen wollte, indem er ihm in der Schlacht von Solferino "den verlorenen Posten beim Sturm auf die Höhe des Kirchhofs" geben ließ (Bd. V, S. 169). Der von dieser Mitteilung erschütterte Saint-Bris beschwört ihn daraufhin, ihm "die näheren Umstände" mitzuteilen (Bd. V, S. 170), und Gauthier will dies auch tun, aber in diesem Moment wird das Gespräch erneut unterbrochen.
Der geneigte Leser darf nun wohl mit einigem Recht erwarten, dass der Autor auf ein Wiedersehen zwischen Gauthier und Theresa hinarbeitet; dennoch ist die erste der sechs Sünderinnen, die der Leser wiedersieht, nicht Theresa, sondern "Nummer vier! Elena!" (Bd. V, S. 203), die Verkörperung der Wollust, die unter dem Namen Lady Howard zusammen mit zwei exzentrischen Damen in der Villa Albano zu Gast ist. Bei ihren Begleiterinnen, der Principessa Belgioso und der Komtessa della Torre, soll es sich anscheinend um historische Personen handeln; die erstere ist offenbar auf die Schriftstellerin und politische Agitatorin Cristina Trivulzio Belgiojoso gemünzt, auch wenn Retcliffe sich bezüglich ihres Alters irrt: Er gibt an, dass sie "erst wenig über dreißig zählen mochte" (Bd. V, S. 200), tatsächlich war sie zum Zeitpunkt der Romanhandlung aber schon 52. – Während Elena alias Lady Howard sich bei diesem Auftritt recht unspektakulär verhält, erfährt man, dass die anderen fünf Sünderinnen "nach San Agatha hinauf" gezogen sind, wo "[e]iner der Offiziere [...] einen Schmaus" gibt (Bd. V, S. 179); bei diesem Offizier handelt es sich um den Grafen Sismondi, den der Leser ebenfalls bereits aus dem III. Band kennt: Dort war er in die Gefangenschaft von Briganten geraten, aber der Einsiedler Fra Gerardo hatte ihm zur Flucht verholfen, mit dem Hintergedanken, dass Sismondi dabei behilflich sein sollte, die sechs Sünderinnen aus dem Kloster der Verdammten wegzuführen. – Die Komtessa della Torre merkt an, sie "fange an, [s]ich zu langweilen" und bereue es, nicht "der Einladung Sismondis nach der Batterie mit unseren Kameradinnen" gefolgt zu sein – nicht zuletzt, weil sie "eine große Freundschaft zu der Signorina Theresa gefasst" habe (Bd. V, S. 201); dagegen urteilt die Fürstin Belgioso: "Das Frauenzimmer ist eine Kokette – ich mag sie nicht leiden – eine Plebejerin – eine Bacchantin!" (ebd.). Insbesondere verübelt sie es Theresa, dass es unter den piemontesischen Truppen "schon fünf Duelle um sie gegeben" habe, womit sie "gefährlich für Italien und unsere erhabene Sache" sei (Bd. V, S. 202).
Es zeichnet sich also immer deutlicher ab, dass Sismondis "Schmaus" im zur Geschützbatterie umfunktionierten Kloster ein bedeutender Knotenpunkt der Handlung sein wird; bevor wir uns aber das dritte Unterkapitel der "Donner von Gaëta" ansehen, das die Überschrift "Santa Agatha" trägt, ist aber noch Verschiedenes nachzutragen.
Das betrifft zunächst die Vorbereitungen zum Überfall auf Santa Agatha. Schon die Überfahrt in den Fischerbarken ist angesichts des stürmischen Wetters mit hoher Gefahr verbunden, und die Landung am vorgesehenen Ort ist es erst recht: Eins der Boote zerbricht dabei und ein Teil der Besatzung ertrinkt, Gauthier und Saint-Bris können sich nur mit knapper Not an Land retten. Als Gauthier sich mit einem ortskundigen Führer berät, der die Truppe gewissermaßen unter der Nase des Feindes nach Santa Agatha lotsen soll, gibt die Beschreibung des Aussehens und Benehmens dieses Führers dem aufmerksamen Leser Hinweise darauf, dass es sich bei diesem um niemand anderen handelt als den Banditenhauptmann Tonelletto, den Vetter des Kardinalstaatssekretärs Antonelli; explizit gibt er sich erst 14 Seiten später als dieser zu erkennen. Gemeinsam belauschen Gauthier, Saint-Bris und Tonelletto eine Wachablösung der feindlichen Truppen und erlangen so Kenntnis von den Losungswörtern. Tonelletto zeigt sich daraufhin dem neuen Wachtposten, gibt sich ihm gegenüber als armer Flötenspieler aus, der von einigen Unteroffizieren eingeladen worden sei, in Santa Agatha zu musizieren, und verwickelt ihn in ein Gespräch – aus dem der Leser entnehmen kann, dass der Wachtposten eine Nebenfigur aus einer der Binnenerzählungen des "Bärenjäger"-Kapitels, "Das Bockschießen" ist. In dieser Erzählung kam ebenfalls eine Theresa vor, aber gebührend zu würdigen, wie der Autor dies als "Motivreim" einsetzt, würde hier den Rahmen sprengen. Mitten im Gespräch überwältigt und ersticht Tonelletto den Soldaten; damit ist der Weg nach Santa Agatha frei, da die nächste Wachablösung erst in zwei bis drei Stunden zu erwarten ist. Tonelletto schlägt vor, dass ein Mitglied des Kommandos die Uniform des erdolchten Wachtpostens anzieht und zusammen mit ihm, der weiterhin die Rolle des armen Musikanten spielt, als Vorhut und Kundschafter nach Santa Agatha vorausgeschickt wird; für diese Aufgabe wird der Graf von Saint-Bris ausgewählt.
Im in der Villa Albano spielenden Unterkapitel "Hohe Politik!" empfängt König Viktor Emanuel II. zunächst einen Abgesandten Kaiser Napoleons III. – eine historische Person, Charles Etienne Conti (1812-1872), von 1864-68 Stabschef des Kaisers der Franzosen, später Senator –, um mit diesem in einer für Retcliffe typischen Manier die Grundzüge der europapolitischen Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Italien für die nächsten fünf Jahre festzulegen, und dann einen Abgesandten des Heiligen Stuhls. Diesen hält er zunächst lediglich für einen "Bettelmönch [...], der wegen eines lumpigen verbrannten Klosters um Entschädigung queruliren will" (Bd. V, S. 204), doch als er zu sprechen beginnt, scheint der "Klang der Stimme, obschon durch die Kapuze gedämpft", beim König "eine besondere Erinnerung zu erwecken" (Bd. V, S. 206). Als der König ihn auffordert, ihm sein unter der Kapuze verborgenes Gesicht zu zeigen, lehnt der Mönch dies unter Hinweis auf ein Gelübde ab; als er sich ihm als "Pater Alberto" vorstellt, sinniert der König: "Merkwürdig – selbst der Name!" (Bd V, S. 207). – Machen wir es kurz: Was hier angedeutet werden soll, ist, dass dieser Mönch in Wirklichkeit der Vater König Viktor Emanuels II., der nach einem verlorenen Feldzug gegen Österreich im Jahr 1849 abgedankte König Karl Albert von Sardinien-Piemont, sein soll, dessen Tod im Exil in Portugal demnach nur vorgetäuscht gewesen wäre. Auch hier liegt natürlich mal wieder ein "Motivreim" vor, denn genauso war ja auch im III. Band schon vom Einsiedler Fra Gerardo angedeutet worden, er sei in Wirklichkeit eine prominente, offiziell für tot erklärte historische Persönlichkeit, nämlich der Herzog von Praslin. – Pater Alberto jedenfalls überbringt König Viktor Emanuel nicht nur die kategorische Ablehnung des Heiligen Stuhls, irgendwelche Zugeständnisse an das in Gründung befindliche Königreich Italien zu machen, sondern warnt ihn darüber hinaus auch persönlich: "O mein Sohn [!] – hüte Dich vor dem Fluch, denn der Zorn Gottes ist schrecklich!" (Bd. V, S. 211). Der König erschrickt über diese Anrede: "Mönch – Mann – wer bist Du? Geben die Gräber ihre Todten heraus...?" (Bd. V, S. 212) – worauf dieser erwidert:
"Es geschehen jetzt Frevel auf der Erde, die mehr thun könnten, als die Pforten der Grüfte sprengen. Ich bin ein armer Mönch und der Bote der heiligen Kirche, aber von Weh’ und Schmerz durchdrungen, Dich, o König, den Weg der Räuder und Kirchenschänder wandeln zu sehen. O kehre um! kehre um und rette Deine Seele und die Seele Deines Erzeugers aus den Qualen der Verdammniß! – Verdorren wird die Hand, die sich nach dem Erbe Petri streckt. Gedenke des Unglücks, das Deinen Vater schlug, der besiegt und verbannt auf fremder Erde starb!" (ebd.)
Der König lässt daraufhin durch seinen Sekretär den Befehl erteilen, "daß dem ehrwürdigen Herrn hier jede Freundlichkeit erwiesen werde. Bei dem Unwetter kann er Albano heute nicht mehr verlassen" (Bd. V, S. 213).
Nun aber zum Unterkapitel "Santa Agatha"! – Dass der Schauplatz der ersten großen Zuspitzung des Gaëta-Handlungsstrangs gerade ein ehemaliges Kloster ist, ist natürlich mit Bedacht gewählt; schon bei der Einschiffung des Kommandounternehmens fällt der frivole Witz "Schade dass das Kloster von St. Agatha keine Nonnen mehr birgt – wir könnten bei ihnen soupieren!" (Bd. V, S. 118), den man als eine Art Vorausdeutung auf das folgende Geschehen betrachten kann, und zusätzlich unterstrichen wird das dadurch, dass Theresa, die unter den aus dem Kloster der Verdammten entlassenen Sünderinnen hier die profilierteste Rolle spielt, beim Fest des Oberstleutnants Sismondi aus "tolle[r] Laune oder [...] Erinnerung" einen "vollständigen Nonnenhabit" trägt (Bd. V, S. 228). Dieses Fest wird übrigens als "eine Orgie der schlimmsten und gefährlichsten Art" (Bd. V, S. 224) beschrieben, wobei man aus heutiger Sicht allerdings wohl eine gewisse Verschiebung der moralischen Maßstäbe in Rechnung stellen muss: Wer da jetzt an etwas wie Gruppensex denkt, irrt, und auch Kokain war zum Zeitpunkt der Handlung zwar schon erfunden, aber außerhalb medizinischer Fachkreise noch kaum bekannt. Was also geht bei dieser sogenannten Orgie vor sich? Es gibt Alkohol, es gibt Glücksspiel, und es ist Weibsvolk anwesend. Zweifellos eine explosive Mischung und nicht sehr angemessen für eine Militärbasis, die am nächsten Morgen um 8 Uhr mit der Beschießung einer gegnerischen Festung beginnen soll.
Neben Theresa nehmen auch Martina, die Verkörperung der Habgier, die jüdische Sängerin Carlotta, "die Spanierin Giuliana, jenes schöne gebieterische Weib mit hochgeschwungenen dunklen Brauen, die einer gebornen Fürstin glich und deren Sünde und Verderben die Hoffart gewesen war" (Bd. V, S. 226) sowie die Polin Matilda an dieser "Orgie" teil – und zudem ein "Mann in der etwas leichtfertig und mit einer gewissen Eleganz getragenen dunklen Kleidung eines jener Abbate’s oder Hausgeistlichen [...], deren Typus man vor der letzten Revolution zahlreich in allen Straßen von Neapel sehen konnte, welche die öffentliche Gesellschaft und die Familienkreise bis zum Unerträglichen beherrschten, und die mit dem Einzug der Garibaldiner fast spurlos verschwunden waren" (Bd. V, S. 226f.). Weiter heißt es über ihn:
"Der Abbate trug aber keineswegs das Gepräge eines hochmüthigen oder ascetischen Geistlichen, er hatte vielmehr ganz das Aussehen eines gemüthlichen Lebemannes mit rundem frischem Gesicht und jovialen Manieren. Die Augen blinzelten sehr behaglich und nachsichtig durch die goldene Brille auf die so wenig der Gesellschaft eines Klerikers würdige Scene um ihn her, und er verschmähte weder das Weinglas, noch die Theilnahme an den oft sehr lasciven Scherzen mit den Frauen, die mit ihm auf sehr cordialem Fuß zu stehen schienen; denn häufig kam eine oder die andere, lehnte sich vertraulich über seine Schulter oder setzte sich wohl gar auf seinen Schoos.
Nur ein sehr scharfer Beobachter hätte bemerken können, daß trotz dieser Vertraulichkeit die meisten dieser koketten und frivolen Frauen eine gewisse geheime Furcht vor ihm zu haben schienen und daß sein Blick hinter der Brille sie gleichsam beherrschte" (Bd. V, S. 227).
Offenkundig ist dieser Geistliche also so etwas wie der "Führungsoffizier" der aus dem Kloster der Verdammten entlassenen Sünderinnen, und im weiteren Verlauf des Kapitels gewinnt der Leser erste Eindrücke davon, welche Zwecke das "Consiglio di Tri", jene geheime oberste Instanz der römischen Kirche, mit ihrer Freilassung verfolgt. Während Martina und Theresa vorrangig damit beschäftigt sind, die dem Glücksspiel frönenden Offiziere zu immer riskanteren Einsätzen anzustacheln, betreiben Matilda und Giuliana Politik: Die Polin wird im Gespräch mit einem Landsmann gezeigt, den sie als Michael Langiewicz anspricht; der zeitgenössische und politisch interessierte Leser dachte bei diesem Namen zweifellos sogleich an Marian Langiewicz, einen der Führer des Polnischen Aufstandes von 1863, der 1860 an Garibaldis "Zug der Tausend" nach Neapel teilgenommen hatte. Man könnte denken, Retcliffe habe hier lediglich den Vornamen verwechselt – hätte er diesen Marian Langiewicz nicht im buchstäblich gleichzeitig, nämlich um Neujahr 1861 herum, an der preußisch-russischen Grenze spielenden Kapitel "Jeszcze Polska nie zginela" auftreten lassen. Nun bedient sich Retcliffe durchaus öfter des Mittels, fiktive Verwandte historischer Persönlichkeiten als Romanfiguren einzusetzen (vgl. Neuhaus, Der zeitgeschichtliche Sensationsroman, S. 68f.), und so mag es sich auch mit Michael Langiewicz verhalten; zu denken gibt es allerdings, dass dieser einmal als "der künftige Dictator Polens" bezeichnet wird (Bd. V, S. 237), denn dies trifft eben auf Marian Langiewicz zu. Man wird sehen, wie Retcliffe, der alte Fuchs, sich da wieder herauszuwinden gedenkt; vielleicht wird man es aber – da der Biarritz-Zyklus unvollendet geblieben ist – auch nicht sehen.
Jedenfalls versucht Matilda ihren Gesprächspartner zu überzeugen, er solle Italien verlassen und nach Polen zurückkehren: "Diese Italiener werden untereinander fertig, ohne daß es der polnischen Legion bedarf. Das Vaterland ruft seine Söhne und es fehlt in diesem Lande nicht an Polen, die auf den Ruf bereit sein sollten!" (Bd. V, S. 235). Kurz darauf bekräftigt sie ihre Auffassung, dass "alle Polen Italien verlassen und ihre Hand nicht länger einem Kampfe zur Unterdrückung der heiligen Kirche leihen" sollten, "welche auch die unsere ist. Denn darum, nicht um den Königsthron von Neapel, handelt es sich!" (Bd. V, S. 236f.). Auf Langiewicz' Einwand, er wisse nicht, wer sie sei, und habe ihren Namen "nie als den einer unserer Patriotinnen weder in den Listen des Zentralkomitees, noch in denen der freien Patrioten gesehen", erwidert Matilda geheimnisvoll "Ich könnte Ihnen einen andern Namen nennen, der Ihre Zweifel beruhigen würde – aber noch ist es nicht Zeit" (Bd. V, S. 236). Außerdem sagt sie voraus, "daß am Jahrestag der Schlacht von Grochow" – am 25. Februar – "das polnische Volk in Warschau, unsere Priester voran – eine Demonstration für die Wiederherstellung seiner Nationalität machen wird" (ebd.).
Noch interessanter ist, was die Spanierin Giuliana währenddessen mit einem englischen Diplomaten zu bereden hat. Sie behauptet, der 1833 verstorbene spanische König Ferdinand VII. habe 1812 im französischen Exil eine heimliche, aber rechtmäßige Ehe geschlossen, aus der eine Tochter hervorgegangen sei, womit diese Tochter – Giulianas Mutter! – einen höheren Anspruch auf den spanischen Thron habe als die derzeitige Königin Isabella, Ferdinands Tochter aus einer späteren Ehe. Sie beruft sich wiederholt darauf, Lord Russell, zur Handlungszeit britischer Außenminister, wisse darum. Im Übrigen befänden sich die Beweise für diese geheime Ehe und die daraus hervorgegangene Nachkommenschaft "[i]m Besitze der heiligen Kirche": "Diese kennt meine Rechte eben so gut wie die Usurpatorin Isabella selbst und wie sie der Prätendent Don Carlos kannte. Sie benutzt sie, um Beide in Schach zu halten, von Beiden Zusagen zu erpressen" (Bd. V, S. 242).
Im Übrigen gibt Giuliana an, ihre Großmutter, die verheimlichte Ehefrau König Ferdinands VII., sei eine Verwandte des Generals Prim gewesen (der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans spanischer Ministerpräsident war); über die Identität ihres Vaters, den sie nie kennengelernt hat, macht Giuliana vorerst nur Andeutungen, aber gerade diese Andeutungen lassen das Herz des eingefleischten Retcliffes Fans höher schlagen: "Der edle Viscount soll ein Excentric gewesen sein", sagt sie (Bd. V, S. 242) – und wer Sir John Retcliffes von 1860-67 in elf Bänden erschienen Großzyklus "Villafranca" gelesen hat, denkt bei diesen Stichworten zweifellos an den Viscount of Heresford, einen in allem möglichen politischen Geheimbünden mitmischenden "reisenden Engländer", der, bis er im vorvorletzten Band des Zyklus unerwartet einem Raubmord zum Opfer fällt, eine wichtige Rolle als Verbindungsfigur zwischen den verschiedenen Handlungssträngen und –schauplätzen spielt. In "Biarritz" lässt Retcliffe zwei Neffen des exzentrischen Viscount auftreten: Sir William Walpole, dem der Leser zuerst auf einer Forschungsreise in Sibirien begegnet, und Don Juan de Lerida, der sich im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Spanien mit Schmuggelei, politischen Intrigen, Jagd- und Liebesabenteuern beschäftigt. Kaum auszudenken, was in Retcliffes Romankosmos los sein wird, wenn dieser Don Juan dahinterkommt, dass er eine Cousine hat, die einen Anspruch auf den spanischen Thron hat!
Somit ist es dem Autor innerhalb weniger Seiten gelungen, die Handlung um die aus dem Kloster der Verdammten entlassenen Sünderinnen mit dem polnischen und dem spanischen Handlungsstrang seines Romanzyklus zu verknüpfen; inzwischen sind auch Tonelletto, der sich als Flötenspieler ausgibt, und der in eine Bersagliere-Uniform gekleidete Graf von Saint-Bris am Ort des Geschehens erschienen, werden aber zunächst kaum beachtet, zumal sich die Situation am Spieltisch zuspitzt: Martina bezichtigt den Bankhalter, einen Ungarn aus der Freischar Garibaldis, des Falschspiels und erhält dafür von ihm einen Faustschlag ins Gesicht; der darauf folgende Tumult gipfelt in einer Duellforderung des Ungarn gegen einen jungen neapolitanischen Adligen, und das Duell soll sofort und an Ort und Stelle ausgeführt werden. Genau in diesem Moment erkennt Theresa den verkleideten Saint-Bris, und während dieser sie noch anfleht, ihn nicht zu verraten, erkennt Oberstleutnant Sismondi den Banditen Tonelletto, dessen Gefangener er noch vor Kurzem war, und schlägt Alarm: "Verrath! – haltet ihn fest! Es ist der Bandit Tonelletto – die Briganten haben uns überfallen!" (Bd. V, S. 260). –
An dieser Stelle bricht das Kapitel ab – und die Romanhandlung verabschiedet sich für weitere rund 300 Seiten vom italienischen Schauplatz. Nutzen wir diese Unterbrechung, um uns wieder dem Fall Barbara Ubryk zuzuwenden!