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Mittwoch, 27. Juni 2012

Frohe Ostern, Deutschland! - Teil 3: Der Papst und die Piraten, Forts.

In Deutschland gibt es neun bundeseinheitliche gesetzliche Feiertage, von denen ganze sechs gleichzeitig kirchliche Feiertage sind. Hinzu kommen fünf weitere kirchliche (davon vier katholische) Feiertage, die in einzelnen Bundesländern oder Kommunen gesetzliche Feiertage sind; und, um die Materie noch komplizierter zu machen, noch einige Tage, die zwar keine gesetzlichen Feiertage sind (z.T. deshalb, weil sie ohnehin auf einen Sonntag fallen), für die aber dennoch gewisse Regelungen der Feiertagsgesetze gelten. Dies betrifft in besonderem Maße die so genannten "Stillen Tage", zu denen neben Karfreitag und Allerheiligen u.a. der Aschermittwoch, der Buß- und Bettag, der Volkstrauertag und der Totensonntag gehören.

Kirchliche Feiertage, die zugleich gesetzliche Feiertage sind, stellen in einer religiös pluralen Gesellschaft allerdings ein Kuriosum dar. Für einen Teil der Bevölkerung haben diese Tage eine religiöse Bedeutung, für einen anderen Teil sind es schlicht arbeitsfreie Tage. Feiertage, an denen es gar nichts zu feiern gibt, werden aber offenbar weithin als unbefriedigend empfunden; so hat sich an einigen christlichen Feiertagen ein gewissermaßen 'weltanschaulich neutrales' Brauchtum etabliert, das mit dem religiösen Gehalt des jeweiligen Fests wenig oder nichts zu tun hat. Das gilt für Weihnachten und Ostern, nicht zuletzt aber auch für Christi Himmelfahrt, einen Feiertag, der speziell im Osten Deutschlands als "Herren-" oder "Männertag" zum Anlass für ausgedehnte Sauftouren genommen wird. Daran scheint kaum jemand Anstoß zu nehmen; problematisch wäre dergleichen hingegen an den oben erwähnten "Stillen Tagen", denn für diese gelten - von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich streng gehandhabte - Verbote von öffentlichen Veranstaltungen, die dem Charakter des jeweiligen Feiertags widersprechen. Da mit Ausnahme des Volkstrauertags alle diese Tage genuin christliche Feste sind, mutet diese gesetzliche Regelung es den Nichtchristen zu, einer Religion, der sie nicht angehören, der sie aber immerhin einen arbeitsfreien Tag verdanken, an ebendiesem Tag ein Mindestmaß an Respekt entgegenzubringen. Man könnte finden, das sei nicht zu viel verlangt. Ist es aber anscheinend doch.

Jedenfalls brechen nahezu alljährlich ausgerechnet angesichts eines für Christen ausgesprochen zentralen Feiertags - des Karfreitags - erhitzte Debatten über eine Besonderheit der deutschen Feiertagsgesetze aus: Am Karfreitag herrscht Tanzverbot. - Dieser Begriff ist allerdings nicht so zu verstehen, dass jeder, der am Karfreitag dabei erwischt wird, wie er seine Gliedmaßen rhythmisch zu Musik bewegt, mit Strafe zu rechnen hätte. Tatsächlich geht es beim "Tanzverbot" nur darum, dass öffentliche Tanzveranstaltungen am Karfreitag nicht genehmigt werden. Wie konsequent dieses Gesetz in der Praxis angewandt wird, ist, wie gesagt, von Bundesland zu Bundesland verschieden.

Nichtsdestoweniger erscheint dieses Tanzverbot - im Kontext einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft, in der der religiöse Gehalt von Feiertagen kaum mehr öffentlich präsent ist - vielen als skurril und anachronistisch. Wem aber jedweder gesellschaftspolitische Einfluss von Religionsgemeinschaften, oder überhaupt die Präsenz von Religion im öffentlichen Raum, prinzipiell ein Dorn im Auge ist, für den ist das Karfreitags-Tanzverbot ein handfestes Ärgernis. So sind denn diejenigen, die sich alljährlich über das Tanzverbot empören, in der Hauptsache nicht leidenschaftliche Tänzer (oder Betreiber von Tanzlokalen), sondern leidenschaftliche Atheisten bzw. Kirchengegner. Also beispielsweise solche Gruppierungen, die gern am Gründonnerstag unter dem Motto "Austritt zum Hasenfest" zu "Kirchenaustrittspartys" einladen - und damit die befremdliche Auffassung zum Ausdruck bringen, der Umstand, dass ca. 60% der Bundesbürger einer christlichen Kirche angehören, könne ja nur auf einem Irrtum bzw. Versehen beruhen und man müsse die Betroffenen einfach mal auf die Möglichkeit des Austritts hinweisen.

In diesem Jahr nun war auch die Piratenpartei, allen voran ihr hessischer Landesverband, bei den Protesten gegen das Karfreitags-Tanzverbot ganz vorn mit dabei. Die hessischen Piraten organisierten nicht nur "Tanzdemonstrationen" gegen das Tanzverbot in Frankfurt am Main und Gießen, sondern zogen sogar vor das Bundesverfassungsgericht - mit der bemerkenswerten Argumentation, das Tanzverbot verstoße gegen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG). Dass der zweite Absatz des betreffenden Grundgesetzartikels ausdrücklich die Möglichkeit der Einschränkung der Versammlungsfreiheit durch Gesetze - warum also nicht z.B. durch das Feiertagsgesetz? - festschreibt, ist nur einer von mehreren Gründen, die diese Verfassungsbeschwerde von vornherein wenig aussichtsreich erscheinen liéßen - aber es kam noch peinlicher: Das Bundesverfassungsgericht wies den Eilantrag der Piraten aus rein formalen Gründen zurück, da es schlicht nicht zuständig war - die Antragsteller "hätten zunächst den hessischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) anrufen müssen". Man fragt sich, ob es in den Reihen der hessischen Piraten nicht den einen oder anderen aufmerksamen Jurastudenten gibt, der mit ein bisschen Kenntnis der Gerichtsinstanzen diese Blamage hätte abwenden können.

Besonders bemerkenswert an dieser für die Piraten letztlich wenig rühmlich verlaufenen Episode erscheint mir, was das Piraten-Nachrichtenmagazin "Flaschenpost" zur Begründung des Protests gegen das Karfreitags-Tanzverbot schrieb. Der Artikel "Tanz(demo)verbot – stille Tage in Hessen" bemühte sich augenscheinlich darum, dem Eindruck einer prinzipiell antireligiösen Ausrichtung der Piratenpartei entgegenzuwirken; so wurde betont,  "jeder gläubige Mensch" müsse "in der Ausübung seiner Religion ebenso frei sein [...] wie der Nichtgläubige bei seiner ureigenen Lebensgestaltung", und sogar behauptet, dass "die Piraten wie eine Mauer auch hinter ihren christlichen Parteifreunden stehen würden". Was von dieser Behauptung in der Praxis zu halten ist, wurde kurz darauf anhand von parteiinternen Querelen anlässlich des NRW-Landtagswahlkampfs exemplarisch deutlich.

Stein des Anstoßes war der Umstand, dass ein bekennender Christ aus den Reihen der Piraten sowohl die Kandidatur um ein Direktmandat als auch einen Platz auf der Landesliste der Partei anstrebte: Rainer Klute, aktives Mitglied der Freien evangelischen Gemeinde Dortmund und von Juli 2009 bis März 2010 sogar mal Pressesprecher des NRW-Landesverbands der Piraten. Seitdem hat die Partei sich aber offenkundig erheblich radikalisiert. Klutes Kandidatur veranlasste das Magazin "queer" zu einem Porträt des Dortmunders, in dem er aufgrund seiner christlich geprägten Positionen schon in der Überschrift als "homophober Kreationist" betitelt wurde. Die Reaktionen, die dieser Artikel innerhalb der Piratenpartei auslösten, können in den Kommentaren zu Rainer Klutes Blog nachgelesen werden. So schrieb etwa ein Diskussionsteilnehmer" namens "Desperadox": "Das Mittelalter ist vorbei und wer einen imaginären Freund braucht, soll erstmal seine eigenen psychischen Probleme bewältigen und sich aus der realen Politik heraushalten. Du glaubst doch selber, das beten viel mehr bewirkt-also bleib zuhause und bete".

Obwohl Klute in seiner eigenen Partei auch aus anderen Gründen – etwa wegen seiner Haltung zum Atomausstieg – umstritten ist, machen solche Äußerungen unmissverständlich deutlich, dass es hier letztlich nicht um seine Person ging, sondern darum, dass für viele Piraten ein gläubiger Christ, dessen religiöse Überzeugung notwendigerweise auch seine politischen Positionen beeinflusst, als Repräsentant bzw. Mandatsträger ihrer Partei einfach nicht hinnehmbar ist. Dieselbe Einstellung spricht auch aus den Reaktionen auf die Gründung eines Arbeitskreises "Christen in der Piratenpartei": "Religion egal welche hat in Parteien / Staat nichts zu suchen!", wurde den Gründern dieses Arbeitskreises von Parteifreunden vorgehalten; "Religion hat Privatsache zu bleiben"; "Politische Entscheidungen müssen auf rationaler Basis getroffen werden. Esoterik und Religion sind hier fehl am Platz (-> Privatsache)"; "Eine klare und strikte Trennung von Staat und Religion, ganz gleich welche, ist für mich unabdingbarer für eine demokratische Politik".

Vor diesem Hintergrund erscheint es ja schon fast verwunderlich, dass es überhaupt Christen in der Piratenpartei gibt; weniger verwunderlich allerdings, dass diese sich veranlasst fühlen, einen eigenen Arbeitskreis zu bilden. Aber solche Arbeitskreise hat ja wohl ohnehin so ziemlich jede Partei. (Gibt es eigentlich auch den Arbeitskreis "Christen in der CDU"? Falls nein, wäre es wohl höchste Zeit, einen solchen zu gründen…!) Die eindeutig als direkte Reaktion auf den Auftritt der CIDPP erkennbare Gründung eines Arbeitskreises "Atheisten in der Piratenpartei" ließ nicht lange auf sich warten; als ein anderer christlicher Pirat, Joachim S. Müller, sich auf Twitter über die "Antichristen in der Piratenpartei" lustig machte und es im besten Piratenjargon als "ignorante Kackscheiße" bezeichnete, zu "glauben, es sei keine Diskriminierung, andere aufzufordern, ihre Weltanschauung für sich zu behalten", wurde auch er von seinen Parteifreunden scharf angegriffen.

Trotz solcher heftigen innerparteilichen Debatten scheint es auf der Hand zu liegen, dass das kleine Häuflein christlicher Piraten auf den Kurs ihrer Partei keinen nennenswerten Einfluss hat. Im schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf machte die Piratenpartei sich – übrigens gemeinsam mit Grünen und Linken – sogar für die Abschaffung des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen stark. Überraschend ist das natürlich nicht; schon nach dem Scheitern des Berliner ProReli-Volksbegehrens von 2009 war es abzusehen, dass kämpferische Atheisten nun versuchen würden, den Religionsunterricht auch in anderen Bundesländern zu kippen. Nur dass eben in anderen Bundesländern der Religionsunterricht durch Staatskirchenverträge geschützt ist, die sich nicht ohne Weiteres einseitig aufkündigen lassen; und mehr noch: Der Religionsunterricht ist sogar als einziges (!) ordentliches Lehrfach durch das Grundgesetz (Art. 7, Abs. 3) abgesichert!

Ähnlich wie im Falle des Karfreitags-Tanzverbots gibt es also auch hier gute Gründe für die Annahme, dass die Piraten mit ihren antireligiösen Rüpeleien nicht viel erreichen werden. Ist das demnach alles nur Populismus, und hat Horst Seehofer Recht, wenn er meint, den Papst über die wachsende Popularität der Piraten "beruhigen" zu können? -- Auf längere Sicht mögen da durchaus Zweifel angebracht sein. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Popularität der Piraten stellenweise schon ins Innere der katholischen Kirche selbst hineinzuragen scheint. Während des 2. Bistumsforums "Zukunft auf katholisch", das das Bistum Essen am 05.05. 2012 in Gladbeck abhielt, tauchte etwa die inhaltlich ebenso unscharfe wie in der Formulierung offenkundig Piraten-affine Forderung auf, "Kirche" müsse "auch ein Stück enterbar sein"; und der Theologe Friedhelm Hengsbach SJ forderte in einem Interview mit der ZEIT anlässlich des Katholikentags in Mannheim gar: "Wir brauchen Kirchen-Piraten" - was Twitter-Nutzer Generalvikar Michael Fuchs (@MichaelFuchsR) zu der wohlgezielten Erwiderung veranlasste: "Aha, künftig dürfen alle gleich mitbestimmen und keiner weiß was."

Angesichts dieser Entwicklungen wird nun Mancher vielleicht achselzuckend sagen : "Ach, was soll's, mit den Grünen sind wir schließlich auch fertig geworden." Nichtsdestoweniger scheint der Aufstieg der Piratenpartei mir derzeit die größte Herausforderung für die Kirche in der deutschen Gesellschaft und Politik zu sein. Andererseits: Wenn man sich ihnen stellt, sind Herausforderungen etwas Gutes...!

(Die Reihe "Frohe Ostern, Deutschland" wird demnächst fortgesetzt mit einer Betrachtung über die Heilig-Rock-Wallfahrt in Trier. Aber erneut gilt: Eventuell folgen in diesem Blog erst mal ein paar Beiträge zu anderen Themen!)


Mittwoch, 20. Juni 2012

…und füttere sie niemals nach Mitternacht!

Die Fanny-Hensel-Grundschule in Berlin-Kreuzberg stellt in den zur Straße gerichteten Fenstern des Schulgebäudes gern Arbeiten aus dem Kunstunterricht aus. Als ich neulich dort vorbeikam, gab es eine Ausstellung zum Thema „Mein Lieblingsessen“ zu bewundern, gestaltet von Schülern der 6. Klasse. Fast alle Bilder zeigten Hamburger und Fritten, auf einigen war sogar das McDonald's-Logo zu sehen. Das gab mir zu denken.





Dass ich in meiner Kindheit nur äußerst selten bei McDonald's gegessen habe, lag vielleicht zum Teil daran, dass es in meiner heimatlichen Kleinstadt keine Filiale dieser Burgerbraterei gab – mittlerweile gibt es eine, die sogar an der Endhaltestelle einer innerstädtischen Buslinie liegt, sodass tagtäglich Busse der öffentlichen Verkehrsbetriebe mit der Fahrtrichtungsanzeige „McDonald's“ durch die Stadt fahren; ich frage mich, was der Konzern sich diese außergewöhnliche Werbemaßnahme hat kosten lassen –, aber zum größeren Teil lag es wohl eher daran, dass meine Eltern Wert darauf legten, dass ihre Kinder sich vernünftig ernährten. Wenn ich mich recht erinnere, war der erste Anlass, zu dem ich bei McDonald's aß, der Geburtstag eines Klassenkameraden.



Es mag durchaus sein, dass auch schon „zu meiner Zeit“ Hamburger und Fritten das Lieblingsessen vieler Sechstklässler waren. Aber wir hätten uns gehütet, dies im Rahmen einer Schularbeit, sei sie nun schriftlicher oder gestalterischer Art, offen zuzugeben. Und hätte doch jemand, sei es aus purer Blödheit oder aus rebellischer Einstellung heraus, ein solches Bild abgeliefert, wäre das mit Sicherheit nicht auch noch ausgestellt worden. Vielmehr hätten die Lehrer ein ernstes Wort mit den Eltern geredet.

Ich kann mir schon vorstellen, was die Pädagogen der Fanny-Hensel-Grundschule zu ihrer Verteidigung vorbringen würden, wenn man sie darauf anspräche. Sie würden sagen,man müsse die Kinder erst einmal so akzeptieren, wie sie sind (oder, auch eine beliebte Formulierung, "da abholen, wo sie stehen"); obendrein würde man, wenn man die Kinder zu Müsli, Joghurt und Vollkornbrot zwingen wollte, ja doch nur Widerstand erzeugen, und die Kinder würden sich, sobald sie nicht unter Aufsicht stehen, nur umso gieriger auf Junkfood stürzen. Ebenso wie ja auch argumentiert wird, Jugendliche in den USA, die unter dem Einfluss ihrer Eltern ein Keuschheitsgelübde ablegen, würden später nur umso wilder durch die Weltgeschichte vögeln. Da mag was dran sein. Bei mir zu Hause gab es früher nur zweimal im Jahr - nämlich jeweils am Tag der Schulzeugnisse - Cola; später habe ich dann gern literweise Cola in mich hineingekippt und tue das manchmal immer noch. Dennoch glaube ich, es war gut, dass meine Eltern mich als Kind konsequent  vor permanenter Überzuckerung geschützt haben. Ich verstehe nicht allzu viel von solchen Dingen, denke aber, es liegt auf der Hand, dass falsche Ernährung bei Kindern nicht nur zu Übergewicht und Diabetes führen kann, sondern auch zu Hyperaktivität, Aggressivität und vorzeitigen Pubertätssymptomen (wie es mal bei Calvin & Hobbes hieß: "Leg dich nie mit einem Sechsjährigen an, der sich rasiert"...).


Aber gehen wir noch mal einen argumentativen Schritt zurück: Dass Verbote und Restriktionen auch Begehrlichkeiten wecken und somit Anreize schaffen können, wissen wir alle aus eigener Erfahrung. Aber kann das wirklich ein Argument dafür sein, den Kindern in allem ihren Willen zu lassen? Vermutlich haben viele heutige Pädagogen ihre fachliche Ausbildung von alten 68er-Veteranen erhalten und liebäugeln womöglich deshalb mit den Prinzipien der antiautoritären Erziehung; von dieser kann man halten, was man will, aber betont werden sollte doch, dass auch antiatoritäre Erziehung eben Erziehung ist oder sein sollte. Um noch einmal auf eine oben zitierte Formulierung zurückzukommen: Die Kinder "dort abzuholen, wo sie stehen", heißt nicht, sie dort stehen zu lassen. Genau das scheint mir aber vielfach der Fall zu sein, und ich bin alles andere als überzeugt, dass dies aus dem Glauben an die antiautoritäre Erziehung heraus geschieht; vielmehr habe ich den Eindruck, dass viele Lehrer und Erzieher einfach aufgegeben haben und schon froh sind, wenn die Kinder "nur" faul, lernunwillig, aufsässig und unverschämt werden und nicht gleich gewalttätig und kriminell. In Neukölln, im Wedding und im Märkischen Viertel gibt es Schulklassen, in denen annähernd alle Schüler polizeilich aktenkundig sind. Dass Lehrer Angst davor haben, solche Klassen zu unterrichten, kann man verstehen. Aber irgend jemand muss es schließlich tun.


An alledem ist natürlich nicht McDonald's schuld, nicht unmittelbar jedenfalls. Die Vorstellung, Kinder würden sich, kaum dass sie in ihr erstes HappyMeal beißen, von putzigen kulleräugigen Mogwais in eklig-schleimige, zerstörungswütige Gremlins verwandeln, ist in ihrer Einfachheit verführerisch, aber wohl nicht der Weisheit letzter Schluss. Das eigentliche Problem liegt offenbar auf einer anderen Ebene: Eine Gesellschaft, die es widerspruchslos hinnimmt, dass ihre Kinder fettiges Junkfood für gutes Essen halten, ist offenkundig auch in anderer Hinsicht unfähig oder nicht einmal willens, ihren Kindern Maßstäbe zu vermitteln. Das erwarten Kinder aber letztendlich von Erwachsenen, auch wenn man es ihnen nicht unbedingt immer anmerkt; und sie erwarten es zu Recht. Um festzustellen, dass dies in Teilen unserer Gesellschaft offenbar nicht mehr geleistet wird - was im Übrigen darauf schließen lässt, dass bereits der Elterngeneration die moralische Orientierung gründlich verloren gegangen ist -, muss man nicht eigens auf Sozialvoyeurismus spezialisierte Reality-TV-Formate wie "Mitten im Leben" oder "We Are Family" einschalten; es genügt schon, einen Arbeitsplatz in der Nähe einer Kreuzberger Schule zu haben.

Mittwoch, 13. Juni 2012

Frohe Ostern, Deutschland! - Teil 2: Der Papst und die Piraten

Papst Benedikt XVI. hatte kürzlich ein doppeltes Jubiläum zu begehen: Am 16. April wurde er 85 Jahre alt, drei Tage später stand der 7. Jahrestag seiner Wahl zum Kirchenoberhaupt an. Zu den Gratulanten, die sich aus diesem Anlass in Rom einfanden, gehörte auch der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer. Wie dieser anschließend verbreiten ließ, fragte der Papst ihn bei der Privataudienz auch nach der Piratenpartei: "Was ist da los mit den Piraten? Gibt es die bei euch in Bayern auch?" - Seehofer gab zu Protokoll, er habe dem Heiligen Vater "insgesamt Beruhigendes erzählen können" - was freilich impliziert, dass die Frage des Papstes zunächst einmal Beunruhigung erkennen ließ. Überraschend ist das, wenn man mal drüber nachdenkt, nicht.

Dass der Papst und die Piraten keine besonders guten Freunde werden würden, zeigte sich schon früh. Als Benedikt XVI. letztes Jahr Berlin besuchte, war die Piratenpartei dort gerade ins Abgeordnetenhaus gewählt worden - ihr erster Einzug in ein deutsches Länderparlament. Und auch wenn das Berliner Abgeordnetenhaus noch lange nicht der Bundestag ist, nutzten die Piraten die ihnen zu Teil werdende mediale Aufmerksamkeit gleich dazu, dagegen zu protestieren, dass der Papst im Bundestag eine Rede halten durfte.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Antiklerikalismus der Piraten - wie im Grunde die ganze Partei - nicht so richtig ernst genommen. Ich sagte mir, eine so junge politische Bewegung - "jung" sowohl bezogen auf die Dauer des Bestehens der Partei wie auf das Durchschnittsalter ihrer Mitglieder - könne programmatisch noch gar nicht wirklich gefestigt sein; ich nahm die Piraten wahr als eine Ansammlung überwiegend recht sympathischer junger Leute, die - was erst mal lobenswert ist - "Politik selber machen" wollen, anstatt sie den Altvorderen zu überlassen; die aber noch nicht so genau wissen, wie das geht, und deshalb erst mal rumprobieren. Die im Berliner Wahlkampf vertretene Forderung nach konsequenter Trennung von Politik und Religion hielt ich für gedankenlose Nachplapperei angestaubter Kulturkampf-Thesen, die man den Piraten schon noch würde ausreden können - von dieser Auffassung war auch mein "Piratenbrief" an das Abgeordnetenhaus-Mitglied Pavel Meyer geprägt. Allerdings zeigte sich bald, dass der Antiklerikalismus in der Piratenpartei so tief verwurzelt ist wie sonst allenfalls noch in Teilen der Linken und beim vom Aussterben bedrohten Fundi-Flügel der Grünen.

Inzwischen kann man immerhin konstatieren, dass dieser Antiklerikalismus nicht etwa nur eine ideologische Marotte ist; vielmehr beruht die entschiedene Gegnerschaft zwischen den Piraten und den Kirchen, insbesondere der katholischen, auf einer objektiven Unvereinbarkeit der Standpunkte. Ohne hier den philosophischen Grundlagen der piratigen Weltanschauung allzu tief auf den Grund gehen zu wollen - das vielleicht später mal -, kann man doch zumindest sagen, dass da ein radikaler Individualismus im Zentrum steht - die Auffassung, die Gesellschaft sei für den Einzelnen da, nicht der Einzelne für die Gesellschaft. Deshalb ist es m.E. auch falsch, die Piratenpartei als "links" einzuordnen; einige Punkte ihres Programms (das sie angeblich gar nicht haben - ein Vorurteil, das sich, all evidence to the contrary, hartnäckig hält) mögen auf den ersten Blick "links" aussehen (bedingungsloses Grundeinkommen, fahrscheinloser Nahverkehr...), aber die Geisteshaltung, die dahinter steht, hat mit Sozialismus nichts zu tun - im Gegenteil. - Aus demselben Grund, dies nur der Vollständigkeit halber, sind die Piraten aber auch nicht "rechts", wie ihnen im Zuge der jüngsten Landtagswahlkämpfen aufgrund teils dümmlicher, teils bewusst provokanter Äußerungen einzelner Parteivertreter zuweilen unterstellt wurde. Rechte und linke Ideologien haben das eine gemeinsam, dass sie die Interessen der Gesellschaft über die des Einzelnen stellen; die Piraten tun, wie gesagt, das Gegenteil, und deshalb entziehen sie sich dem gängigen Rechts-Links-Schema prinzipiell.

Konfliktpotential zwischen der Piratenpartei und den Kirchen ergibt sich besonders auf dem Gebiert der Familienpolitik - oder, wie sie im Piratenprogramm heißt, "Queer- und Familienpolitik". Während die christlichen Kirchen eine tiefe Wahrheit darin erblicken, dass Gott den Menschen als Mann und Frau schuf, bekennen die Piraten sich zu der merkwürdigen Kulturwissenschaftler-Kopfgeburt, geschlechtliche Identitäten seien lediglich ein gesellschaftlich vermitteltes Konstrukt. Mit dieser "postgender"-Auffassung begründen die Piraten, nebenbei bemerkt, auch ihre Ablehnung der Frauenquote, was nun schon fast wieder diskutabel wäre; jedenfalls haben die Piraten mich mit ihrem "postgender"-Gequese erstmals auf den Gedanken gebracht, gerade das Leugnen bzw. Ignorieren der Unterschiede zwischen Mann und Frau sei sexistisch; und diese Erkenntnis ist ja auch schon was wert.

Klar ist: Wenn geschlechtliche Identitäten nicht vorgegeben und fixiert sind, dann kann sich jeder Einzelne seine eigene geschlechtliche Identität schaffen bzw. gestalten - o schöne neue Piratenwelt! Von daher erklärt sich auch die Formulierung "Queer- und Familienpolitik" im Programm der Piraten. Die Reihenfolge der Begriffe drückt eine Rangfolge aus, den Piraten ist es mehr um die queers, die von der sozialen Norm geschlechtlicher Identität Abweichenden, als um die Familien zu tun, zumal Familie vielen Piraten ohnehin als antiquierte Lebensform gilt.

Wie weit die Forderung der Piraten nach geschlechtlicher Selbstbestimmung geht, zeigte sich jüngst anlässlich der Debatte um das Inzestverbot. Die immer mal wieder durch die öffentlichen Debatten geisternde Frage, ob der deutsche Strafrechtsparagraph 173, der Beischlaf unter Verwandten unter Strafe stellt, nicht abgeschafft gehöre, wurde durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 12.04.2012, das den Paragraphen als menschenrechtskonform beurteilte, nicht etwa beschwichtigt, sondern nur umso mehr angeheizt. Nachdem Grünen-Politiker wie Jerzy Montag und Hans-Christian Ströbele sowie insbesondere die Grüne Jugend das Inzestverbot schon seit Langem als Anachronismus und unzumutbaren Eingriff in das Recht des Menschen auf sexuelle Selbstbestimmung anprangerten, mochten sich nun auch die Piraten nicht mehr lumpen lassen und stiegen mit einer Vehemenz in die Debatte ein, die sich am besten mit einer über Twitter verbreiteten Anekdote illustrieren lässt:

"Politikstunde. 'Wofür steht denn die Piratenpartei?' (Schülerin googelt mit Smartphone) 'Die Piraten sind vor allem gegen das Inzestverbot.'" (@Darth_Lehrer via Twitter am 20.05.12)

So erklärte Piraten-Pressesprecherin Anita Möllering: "Mit der strafrechtlichen Verfolgung des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs zweier erwachsener Menschen wird ganz grundlegend in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit eingegriffen. Wir lehnen solche Eingriffe als Partei ab." Die Piraten beriefen sich dabei - durchaus stilecht - auf einen Blogbeitrag des Strafverteidigers Udo Vetter, der die gängigsten Argumente für das Inzestverbot in Frage stellt - etwa das "Argument, aus Verbindungen zwischen Geschwistern gingen vermehrt behinderte Kinder hervor. Das ist medizinisch wohl richtig. Allerdings ist das Risiko auch nicht dramatisch höher, als wenn Frauen über 40 schwanger werden. Oder wenn Behinderte miteinander Kinder zeugen." Darüber hinaus betonten die Piraten, die "Befürchtung, dass mit der Streichung des Paragraphen zum 'Beischlaf zwischen Verwandten' sexueller Missbrauch begünstigt wird",  sei "unbegründet": "Sexueller Missbrauch bleibt auch ohne § 173 strafbar."

Es fällt mir nicht ein zu leugnen, dass diese Einwände Vetters und der Piraten gegen den Versuch, das Inzestverbot rational zu begründen, absolut berechtigt sind. Es ist in der Tat wenig plausibel, zu unterstellen, eine Aufhebung des Inzestverbots würde den sexuellen Missbrauch in Familien fördern; und was den 'eugenischen' Aspekt des Themas angeht, so wäre es – und da würde nicht zuletzt die Kirche vehement zustimmen – nun wirklich haarsträubend, jedem, der aus welchen Gründen auch immer ein erhöhtes Risiko trägt, behinderte Kinder zu zeugen, kurzerhand die Fortpflanzung verbieten zu wollen.

Somit werfen die Piraten mit ihrer Kritik am Inzestverbot wieder einmal, ohne es selbst recht zu bemerken, eine interessante philosophische Grundsatzfrage auf: die Frage nach der rationalen Begründbarkeit ethischer Normen. Im Zeitalter der Aufklärung verfiel der Mensch auf die Idee, er müsse mittels seiner Vernunft in der Lage sein, selbst zu erkennen, was ethisch richtiges Verhalten sei. Dieser erkenntnistheoretische Optimismus, gepaart mit einer fatalen Verwechslung von Vernunft und Verstand, führte zum Utilitarismus à la Bentham, der die Nützlichkeit zum Maßstab der Ethik erhob, und von dort aus (so meine These) geradewegs in den Faschismus. (Zum Verhältnis zwischen utilitaristischer Ethik und Faschismus soll es angeblich wissenschaftliche Abhandlungen geben. Ich habe allerdings noch keine ausfindig machen können, lasse die These aber trotzdem mal ohne Erläuterung im Raum stehen.)

Aber bleiben wir beim Inzest: Offenkundig ist es schon aus historischer Sicht hanebüchen, das menschheitsgeschichtlich uralte Inzesttabu eugenisch begründen zu wollen – obwohl ich mir schon vorstellen kann, wie rationalistisch-materialistisch geschulte Religionshistoriker sich das zusammenreimen würden: Zwar wussten die Menschen vor Jahrtausenden noch nichts von Vererbungslehre, bemerkten aber, dass Ehen zwischen nahen Verwandten überdurchschnittlich viele missgestaltete Kinder hervorbrachten, deuteten dies als Strafe der Götter, und fertig war das Inzesttabu. Lustige Theorie, nur leider vollkommener Quatsch. Tatsächlich erstreckte sich das Inzesttabu in vielen alten Kulturen auch auf solche Mitglieder des Familienverbandes, die gar nicht blutsverwandt waren. Sicherlich kann man sagen, dass das Inzesttabu - indem es die Menschen dazu zwang, sich ihre Partner außerhalb der eigenen Familie zu suchen - eine beträchtliche gesellschaftsbildende Funktion hatte; aber darin den Sinn oder Zweck dieses Tabus zu sehen, wäre wohl ebenfalls nur eine nachträgliche Rationalisierung, die auch nicht plausibler ist als der eugenische Erklärungsansatz. Erheblich glaubwürdiger erscheint da die Annahme, für unsereAltvorderen sei es auch ohne nähere Begründung evident gewesen, dass Inzest, Sodomie etc. Frevel, miasma, Befleckung seien. -- Schauen wir uns einmal an, wie beispielsweise das Alte Testament das Inzestverbot begründet. In Lev 18,6 liest man: "Niemand von euch darf sich einer Blutsverwandten nähern, um ihre Scham zu entblößen. Ich bin der Herr." Das ist nicht nur keine Begründung, das klingt geradezu nach der Verweigerung einer Begründung: Wenn GOTT spricht, dann hat der Mensch ihm nicht mit naseweisen Nachfragen zu kommen. Für den modernen Menschen, der sich so viel auf sein bisschen Verstand einbildet, mag das schwer zu akzeptieren sein. Aber man sollte dabei nicht vergessen, dass beispielsweise das Verbot von Mord und Totschlag sich ebenfalls auf nicht viel mehr oder Anderes stützen kann als auf das Fünfte Gebot, "Du sollst nicht töten". Dieses Gebot rational begründen zu wollen, wäre offenkundig zynisch - und wenn dieser Versuch doch unternommen wird, führt er, wie die Geschichte der Menschheit lehrt, fast zwangsläufig zu dem Ergebnis, es sei unter bestimmten Umständen doch erlaubt, sinnvoll oder sogar notwendig, Menschen zu töten. Die in Artikel 1 unseres Grundgesetzes als "unantastbar" bezeichnete Würde des Menschen ist da auch keine große Hilfe, denn diese basiert ihrerseits auch wieder nur darauf, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat.

Aber ob man nun religiöse Begründungen für Strafgesetze zu akzeptieren bereit ist oder nicht: Die Vorstöße von Grünen und Piraten zur Legalisierung des Inzests scheinen in der Gesellschaft schwerlich mehrheitsfähig zu sein, und so verlief die Debatte innerhalb weniger Wochen mehr oder weniger im Sande, ohne dass die Kirche sich zu einer speziellen Stellungnahme genötigt gesehen hätte. Kurz darauf nutzten die Piraten - allen voran ihr hessischer Landesverband - ein alle Jahre wieder überraschend kontrovers diskutiertes Thema zu einem Frontalangriff auf den gesellschaftspolitischen Einfluss der christlichen Kirchen: das Tanzverbot am Karfreitag. Diesem Thema werde ich mich im 3. Teil von "Frohe Ostern, Deutschland!" widmen -- dazwischen aber wohl noch den einen oder anderen Beitrag zu anderen Themen einschieben müssen...