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Samstag, 23. Juli 2016

"Business Class sind wir geflogen" - Aus meinem Pilgertagebuch, Teil 1

Prolog: Mittwoch, 20.07.2016 

Die perfekte Vorbereitung auf die Pilgerreise: Beichte und Abendmesse in der Unterkirche von St. Hedwig, anschließend holten meine Liebste und ich uns in der Sakristei einen Pilger- und einen Verlobungssegen von Dompfarrer Arduino Marra. 

Die Messe war sehr schön - nicht zuletzt auch dadurch, dass (unangekündigt) eine junge Pilgergruppe aus den USA hereinschneite, die auf der Durchreise nach Krakau zum Weltjugendtag war. Hochwürden Marra predigte daraufhin spontan zweisprachig - Deutsch und Spanisch, da, wie er selbst sagte, sein Englisch nicht so gut ist und die jungen US-Amerikaner (oder zumindest einige von ihnen) auch Spanisch verstanden. 

Die Tageslesung - die Berufung des Jeremia - war enorm motivierend, umso mehr, als Hochwürden Marra in seiner Predigt betonte: "Wir alle sind durch die Taufe zu Propheten berufen". Wohlan denn! 

Da aber nichts diesseits des Himmels gänzlich vollkommen ist, wurde als Danklied nach der Kommunion "Lied, das die Welt umkreist" von Wilhelm Willms und dem unvermeidlichen Peter Janssens gesungen. Ein selten bescheuerter Text... Allerdings muss ich gestehen, dass ich, wie ich es öfter mal tue, kurz vor Beginn der Messe bereits im Gotteslob herumgeblättert hatte, um zu schauen, was denn so alles gesungen werden würde, und also schon da auf "Lied, das die Welt umkreist" aufmerksam geworden war. Als ich es meiner Liebsten zeigte, meinte sie: "Das ist extra für uns, damit wir die deutsche Kirche so richtig vermissen, wenn wir über einen Monat weg sind." 
"Außer natürlich, wir treffen unterwegs so eine BDKJ-Klampfentruppe", merkte ich an - aber dann fiel mir ein: "Aber die sind zur Zeit wohl eher alle unterwegs nach Krakau." 
Und genau in DEM Moment kam die Pilgergruppe herein, die auf der Durchreise nach Krakau war... 


Anreisetag - Donnerstag, 21.07.2016 

Iberia-Flug von Berlin-Tegel nach Madrid. Frage: Gibt's bei dieser Billig-Airline gar kein Unterhaltungsprogramm? Antwort: Doch. Es besteht in dem stiernackigen Spanier, der vor dir Platz nimmt und sein ganzes nicht gerade unbeträchtliches Gewicht gegen deine Knie stemmt. 

-- Im Ernst: Es war gar nicht so leicht, mich in die engen Sitzreihen zu quetschen, und ich frage mich schon, wie ich es aushalten soll, drei Stunden lang derart eingekeilt zu sitzen - da hat die Airline ein Einsehen. Eine sehr freundliche Stewardess erscheint an unserem Platz und erklärt, in der Business Class seien noch zwei Plätze frei - und angesichts meiner Körpergröße würde man uns gestatten, nach dem Start dorthin umzusiedeln. 
Toll. Fühle mich ein bisschen wie Tebartz, äh nein: Overbeck

Rund drei Stunden später, Madrid: Noch ehe das Flugzeug in seiner Parkposition angekommen ist, stürmt eine Gruppe von Passagieren mitsamt Handgepäck von ganz hinten nach ganz vorn, was offensichtlich keinen anderen Zweck hat als den, beim Aussteigen die ersten zu sein. Wir lassen uns mehr Zeit, haben dementsprechend aber umso weniger Aufenthalt in Madrid: Obwohl wir unser Gate zum Weiterflug nach Bilbao mühelos finden und der Weg dorthin gar nicht weit ist, reicht die Zeit gerade für einen raschen Toilettenbesuch, da beginnt auch schon das Boarding. Wir sitzen nun natürlich wieder in der Holzklasse - aber das ist gar nicht so schlimm: Der Flug von Madrid nach Bilbao geht extrem flott - gerade habe ich noch den Drang niedergekämpft, am durch den Gang bollernden Servierwagen ein Sandwich zu kaufen, da wird auch schon angesagt, dass wir in wenigen Minuten landen. Na gut, so ein Inlandsflug besteht ja praktisch nur aus Start und Landung. 

Na, wo sind wir hier wohl gelandet?
In Bilbao haben wir ziemlich unmittelbar Anschluss an einen Bus nach Donostia-San Sebastian. Während die Gegend um Madrid vom Flugzeug aus flach, öde und irgendwie verbrannt aussah, erinnert die Landschaft um Bilbao zunächst eher an ein deutsches Mittelgebirge. Auch vom Klima her, übrigens. Aber dann, gerade als wir gemeinsam auf dem iPhone meiner Liebsten das Psalmen-Album "Mit einem anderen Blick" von Miriam Buthmann hören, bietet sich ein erster Blick auf die Pyrenäen. Whoa

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?
 Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.
 Er lässt deinen Fuß nicht wanken; Er, der dich behütet, schläft nicht.
Nein, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht.
 Der Herr ist dein Hüter, der Herr gibt dir Schatten; Er steht dir zur Seite.
Bei Tag wird dir die Sonne nicht schaden noch der Mond in der Nacht.
 Der Herr behüte dich vor allem Bösen, er behüte dein Leben.
Der Herr behüte dich, wenn du fortgehst und wiederkommst, von nun an bis in Ewigkeit.
(Psalm 121)

Nach gut eineinhalbstündiger Busfahrt erreichen wir Donostia-San Sebastian - übrigens, was wir bisher nicht gewusst hatten, aktuell Kulturhauptstadt Europas (zusammen mit Breslau). Die Stadt - oder das, was wir aus dem Bus heraus und auf dem Fußweg vom Busbahnhof zur Haltestelle der baskischen Bimmelbahn davon sehen - versprüht den morbiden Charme vergangener Größe: 



Ein völliges Rätsel sind mir die Fußgängerampeln in San Sebastian. Sie scheinen eher zur Dekoration zu dienen - jedenfalls zeigen sie immer Rot. Die Einheimischen lassen sich jedoch nicht sonderlich davon beeindrucken. -- Man trifft hier auch durchaus auf einige Rucksacktouristen, aber ob es sich dabei um Jakobspilger handelt, bleibt ungewiss. Wenn ja, ist es wahrschinlicher, dass sie auf dem Camino del Norte unterwegs sind - der führt nämlich, anders als der Camino Frances, auf den wir wollen, direkt durch San Sebastian. 

Mit der baskischen Bimmelbahn ging's weiter... 
Unsere nächste Station nach Donostia-San Sebastian ist Hendaye, unmittelbar hinter der französischen Grenze, aber immer noch im Baskenland - wo selbst die Schornsteine der Häuser aussehen wie Marienstatuen. In Hendaye haben wir direkten Anschluss an einen Zug der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF nach Bayonne. Die SNCF-Bahn ist auf jeden Fall schon mal ein gutes Stück komfortabler als die bisher genutzten Verkehrsmittel an diesem Tag. 

In Bayonne haben wir eine gute Stunde Aufenthalt und nutzen diese Zeit, um a) einzukaufen und b) die mittelalterliche Kirche Saint-Esprit zu besuchen, die direkt gegenüber vom Bahnhof liegt. 

Blick vom Bahnhof in Bayonne auf die Kirche Saint-Esprit. 
Auf der Rückseite der mittelalterlichen Basilika befindet sich allerdings eine Bar
Reliquienschrein der Hl. Irene 


Hl. Antonius von Padua
Hl. Therese von Lisieux. Vor dieser Figur legte während unseres Aufenthalts  übrigens ein vermutlich obdachloser Mann zwei Schokoladenkekse ab. 
Der Bahnhof von Bayonne war übrigens, wie sich zeigte, voll mit Pilgern - und der (sehr kleine) Zug, der von dort nach St. Jean Pied-de-Port fuhr, erst recht. Ist aber ja auch kein Wunder, denn was sollte man sonst in diesem Kaff wollen? 

Im Ernst: St. Jean Pied-de-Port, wo wir gegen 19:30 Uhr und somit nach rund vierzehneinhalb Stunden Anreise endlich ankommen, ist ein ausgesprochen hübscher Ort. Dennoch dürfte sich da kaum mal jemand hinverirren, der nicht die Absicht hat, von dort aus auf den Jakobsweg zu gehen. 

Die Pilgerscharen fallen in St. Jean Pied-de-Port ein... 


Während die anderen Pilger aus dem Zug sich alsbald auf allerlei Herbergen verteilen, finden wir eine, die zu diesem Zeitpunkt komplett leer ist. Der Herbergsvater erkennt mich scharfsichtig als Jakobsweg-Neuling und gibt mir einige Wandertipps mit auf den Weg, die mich eher verunsichern. Meine Schuhe seien zu fest bzw. zu hochgeschlossen, das sei nicht gut für den Knöchel. Zumindest soll ich sie nicht bis obenhin zuschnüren. Ich soll reichlich Wasser mitnehmen und regelmäßig, am besten alle zehn Minuten, ein paar Schluck trinken. Und solange ich bergauf gehe, soll ich nicht stehen bleiben. Lustiger Ratschlag, denn die erste Etappe des Camino Frances geht insgesamt 16 Kilometer bergauf, davon die ersten acht Kilometer ununterbrochen. 

In der Herberge
Die Herberge ist insgesamt ganz okay, bietet allerdings leider kein Abendessen an. Also wandern wir noch ein wenig durch die Stadt und finden ein Lokal, wo es leckeres, wenn auch nicht unbedingt preisgünstiges Essen gibt. Genehmige mir einen "Baskischen Burger", dazu baskischen Rotwein, und stelle fest, dass sich bis jetzt alles noch so ziemlich wie ein normaler Urlaub anfühlt. Was sich ab dem folgenden Tag aber wohl ändern dürfte... 


(Fortsetzung folgt!) 



Mittwoch, 20. Juli 2016

Midlife-Crisis? Von wegen - es ging mir nie besser!

Wäre Hape Kerkeling nicht, hätte ich diesen Artikel auch "Ich bin dann mal weg" nennen können. Gepasst hätte es. Leider ein bisschen zu gut. Also musste ein anderer Titel her. Und schließlich: Wenn jemand, der gerade 40 geworden ist, Knall auf Fall seinen Job UND seine Wohnung kündigt und sich erst mal auf eine über einen Monat dauernde Wanderung begibt, dann könnte man ja auf die Idee kommen: Mit dem ist doch irgendwas nicht in Ordnung. 

Aber das Gegenteil ist der Fall. 

Der schon länger gehegte Plan, in diesem Sommer zusammen mit meiner Liebsten auf den Jakobsweg zu gehen, war im Grunde ein mehr als willkommener Anlass, mal so ganz allgemein in meinem Leben aufzuräumen, ein paar Schlussstriche zu ziehen und mich neu zu orientieren. Pläne für die Zukunft gibt es ja schon allerlei: Mir mehr Zeit zum Schreiben nehmen - also sowohl für meinen Blog als auch für andere Publikationen, und so um die fünf Romanentwürfe, die beim Entrümpeln meiner alten Wohnung wieder aufgetaucht sind, wollen ebenfalls angegangen werden -; heiraten - was dann ohnehin erfordern wird, sich eine neue, größere Wohnung zu suchen -; und, last not least, mal damit anfangen, die in letzter Zeit schon mehrfach andeutungsweise erwähnten Ideen für ein subversives (bzw. supp-versives) Pastoralprojekt in die Praxis umzusetzen. Für all das erhoffe ich mir vom Jakobsweg wertvolle Impulse


Also geht es morgen früh - sehr, sehr früh - los: erst mal nach Bilbao, von dort aus mit Bussen und der baskischen Bimmelbahn (Euskotren) über die französische Grenze nach St. Jean Pied-de-Port, dem traditionellen Startpunkt des Camino Francés. Und dann, am nächsten Tag (also Freitag), gilt es, erst einmal die Pyrenäen zu überqueren. Zu Fuß. Auf demselben Weg, den schon Karl der Große zu diesem Zweck gewählt hat, und Napoléon auch. Man könnte natürlich von Bilbao auch gleich den Zug nach Pamplona nehmen - das ginge schneller, wäre billiger und würde volle drei Tage Fußweg sparen, aber - pah! Meine Liebste meint, die Pyrenäenüberquerung muss sein. Und ich vertraue ihr da vollkommen, schließlich hat sie den Weg schon zweimal gemacht und kennt sich aus. Sie weiß, wie man seinen Wanderrucksack packen sollte, welche Strecken man realistischerweise pro Tag zurücklegen kann, wo man gut übernachten kann und wo es sich lohnt und anbietet, mal einen oder zwei Tage Pause zu machen - zum Beispiel in Burgos, León und im Kloster von Rabanal. Ich als totaler Jakobsweg-Frischling vertraue mich also gänzlich ihrer Führung an - und derjenigen Gottes, versteht sich. 

In Carrión de los Condes plane ich übrigens mein 40jähriges Taufjubiläum zu feiern. 

Und gegen Ende August werden wir dann, wenn alles glatt läuft, in Santiago de Compostela ankommen und dort durch die Heilige Pforte gehen. Ablass und so. Wie es sich für echte Dunkelkatholen gehört. 

Die Wanderung wird es natürlich mit sich bringen, dass ich während dieser Zeit nicht so besonders viel im Netz sein werde. Ab und zu aber wohl doch. Wie ich gehört habe, gibt es sogar Pilgerherbergen mit WLAN. Vielleicht schaffe ich es also sogar mal, ein bisschen von unterwegs zu bloggen... 

Sollte es mir zu letzterem Vorhaben doch an Zeit und Muße mangeln, werde ich ab September sicherlich umso mehr zu berichten haben. Einstweilen wünsche ich auch allen meinen Lesern einen schönen Sommer - und übrigens: Natürlich würden meine Liebste und ich uns sehr über Eure Gebete für eine gute Reise freuen...! 



Samstag, 16. Juli 2016

Pokémon-Pastoral

Vielleicht bin ich einfach zu alt für Pokémon. Ein bisschen zumindest. Als der ursprüngliche Pokémon-Hype - das Videospiel, die Anime-Serie, das Sammelkartenspiel - Ende der 90er nach Deutschland schwappte, war ich schon an der Uni. Aber ich glaube, auch wenn ich ein paar Jahre jünger gewesen wäre, hätte es mich nicht sonderlich interessiert. Es war einfach nicht so mein Ding

Aber jetzt gibt es Pokémon Go, und um mich herum rasten alle aus. Schon bevor die neue Spiele-App - die die knuffigen japanischen Comic-Kreaturen in die reale Umgebung des Nutzers projiziert, sodass man draußen herumspazieren und dabei Monster jagen kann - hierzulande offiziell erhältlich war, waren meine Sozialen Netzwerke voll mit diesem Thema. Am letzten Dienstag, auf dem Weg zur Arbeit, traf ich dann erstmals einen Menschen, der Pokémon Go spielte: einen Arbeitskollegen, der, die Augen fest auf sein Tablet geheftet, vor Dienstbeginn schnell noch ein paar Pokémon einsammeln wollte - dabei allerdings nicht sehr erfolgreich war, worüber er sich wortreich beklagte. Tags darauf war ich bereits auf der Arbeit, als ein anderer Kollege hereinkam und verkündete: "Draußen auf dem Hof sitzt ein Pokémon." 
"Du auch?", fragte ich stirnrunzelnd. 
"Klar!", erwiderte er grinsend und informierte mich enthusiastisch über allerlei Details der Funktionen der App und der Spielregeln. 



Auf einer abstrakten Ebene kann ich die Faszination, die von der Spielidee und ihrer technischen Umsetzung ausgeht, durchaus nachvollziehen; aber die Begeisterung dafür geht mir dann doch eher ab, und daher geht mir der momentane Hype um Pokémon Go alles in allem eher auf den Keks. Umso mehr, als auch die Kirchen derzeit anscheinend kein wichtigeres Thema kennen als Pokémon Go


So sind in den letzten Tagen auf nahezu allen Facebook-Seiten deutscher Bistümer und Erzbistümer einige Beiträge erschienen, die sich um die neue Spielesensation drehe. Die FB-Redaktion des Erzbistums Hamburg hat in ihrem Büro ein "Schlurp" (!) und vor dem Fenster ein "Paras" gesichtet, die Kollegen vom Bistum Mainz ein "Lapras" vor dem Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum. Das Erzbistum Köln hat lediglich ein wenig spektakuläres "Taubsi" zu bieten; derweil haben meine speziellen Freunde von der FB-Redaktion des Bistums Münster sogar ein Video von der Pokémon-Jagd auf dem Domplatz gepostet. 

Zu einem großen Teil liegt diese Beteiligung der diözesanen Social-Media-Redaktionen an der allgemeinen Pokémania sicherlich auf derselben Ebene wie der Umstand, dass ebendiese Redaktionen beispielsweise auch die Fußball-EM ausgiebig auf ihren Seiten thematisiert haben. Man will "nah bei den Menschen" sein und ihnen zeigen: Dieselben Themen, die euch interessieren, interessieren auch uns. Ganz explizit sagt das etwa die FB-Redaktion des Bistums Essen: "Etwas, das einen großen Teil der Gesellschaft an einem Tag beschäftigt, ist etwas was auch uns an diesem Tag beschäftigt". 

Nun empfinde ich persönlich diesen Ansatz zwar tendenziell als anbiedernd, peinlich und doof, aber meine Meinung ist hier ja nicht unbedingt maßgeblich. Andere finden's vielleicht prima; und wenn auch nur einigen Nutzern Sozialer Netzwerke durch solche Beiträge ein positives, sympathisches Bild von Kirche vermittelt wird, dann ist das für die betreffenden Redaktionen ja schon ein Erfolg. Viel mehr würde mich zwar interessieren, wie man den Schritt von diesem irgendwie sympathischen Eindruck zu einer substanziellen Neuevangelisation hinkriegt - aber mit dieser Frage mögen sich die zuständigen Stellen in den Ordinariaten herumschlagen; ich selbst setze da ja eher auf Suppe, Punkrock und... stopp, anderes Thema

Aber das Interesse kirchlicher Dienststellen am Phänomen Pokémon Go hat noch einen anderen Aspekt: Das Besondere an dieser Spiele-App ist ja, dass die Spieler sich im öffentlichen Raum bewegen - und dabei geschieht es nicht selten, dass sie auch mit kirchlichen Räumen in Berührung kommen. Und nun wird landauf, landab intensiv darüber diskutiert, ob dies in erster Linie ein Problem oder eher eine Chance für die Kirche darstellt

Zum Beispiel: Auf den Limburger Domplatz hat die App eine Pokémon-Arena positioniert, in der die Spieler ihre gesammelten Monster gegeneinander antreten lassen können. Die FB-Redaktion des Bistums Limburg sieht sich daher veranlasst, klarzustellen: "Natürlich seid ihr herzlich willkommen - aber denkt bitte daran: Der Dom (wie alle anderen Kirchen) ist zuerst einmal für Gottesdienste da! Bitte benehmt euch so, wie es für Gotteshäuser angebracht ist." - "Nicht vergessen, Ihr Pokémon-Jäger da draußen: Der Dom und alle andere Kirchen sind pokémonfreie Zone", mahnt auch das sonst so liberale Bistum Aachen. "Also: Handy aus im Gotteshaus!" Auf dem Foto zu diesem Posting winkt dem Betrachter dennoch ein Pikachu vom Dach des Domes zu; man könnte es fast höhnisch finden. -- Anlässlich der Ankündigung eines "Pokémon Go Nightwalk" in Wien, für den sich "die Fans des Handyspiels den Stephansplatz als Treff- und Ausgangspunkt für die virtuelle Monsterjagd ausgesucht haben", hat - wie Radio Vatikan berichtet - der Wiener Dompfarrer Toni Faber betont, es sei "nicht angebracht, in der Kirche Pokémon zu spielen". 

Gleichzeitig  beschäftigen sich andere Seelsorger mit der Frage, "wie sie den Trend nutzen können, um dem Evangelium zu dienen und es zu verkünden". Die Pokémon-Go-App setzt historische Gebäude und andere Sehenswürdigkeiten gern als PokéStops ein, an denen die Spieler kostenlos Pokébälle und andere für das Spiel notwendige Hilfsmittel finden können - und zu diesen Sehenswürdigkeiten gehören vielfach auch Kirchen. Infolgedessen tauchen derzeit ungewöhnlich viele Jugendliche in der Nähe von Kirchen auf, und naturgemäß stellt sich da die Frage, ob man die Gelegenheit nicht zur Evangelisierung nutzen sollte. Klingt theoretisch gut, wirft praktisch aber Probleme auf: Die betreffenden Personen halten sich ja nicht vor der Kirche auf, weil sie sich für Gott interessieren - sondern eben für Pokémon. Und man kann sich leicht ausmalen, dass ein Publikum, das aus einem ganz bestimmten Grund an einen Ort kommt, für das, was es zufällig an diesem Ort sonst noch gibt, nicht unbedingt übermäßig aufgeschlossen ist. 

Die Kommunikationsabteilung der anglikanischen Church of England sieht das allerdings anders: Das Spiel sei "für Kirchen im ganzen Land die große Chance, Menschen aus ihrer Region zu treffen, die normalerweise nicht zur Kirche kommen". Daher "sollten Gemeinden ein Willkommensschild vor der Kirche platzieren. Man könnte auch Getränke und Snacks anbieten. Da das Spiel relativ viel Batterieleistung benötigt, könnte man in der Kirche Handyladestationen oder einen Internetanschluss einrichten. Zudem könnten sie unter #PokemonGo darüber twittern, wenn ihre Kirche ein PokéStop sei." Obendrein sei es sinnvoll, selbst zu wissen, wie das Spiel funktioniert: "Dann kämen die Kirchenvertreter leichter mit den Menschen ins Gespräch. Auch eine Poképarty könne man abhalten, wie es eine Gemeinde im englischen Stoke-on-Trent bereits macht." 


Auch hier bleibt wieder die oben bereits angesprochene Frage im Raum stehen, wie man den Schritt vom Aufspringen auf den Zug der Pokémon-Begeisterung zur Neuevangelisation vollbringt. Allerdings hat der Vorsitzende des Katholischen Pressebunds, Stefan Lesting, hierzu einige Ideen, die über diejenigen der Anglikaner noch hinausgehen. In einem Blogbeitrag zum Thema "Pokémon Go für die Citypastoral" weist er darauf hin, dass man über die App auch "Lockmittel" kaufen kann, die dabei helfen, "Pokémon an einem Ort zusammen zu locken" - "und mit den Pokémon kommen natürlich auch die Spieler". Diese Idee, meint Lesting, könne man 
"locker auch in der Citypastoral umsetzen, um mit begeisterten Spielern ins Gespräch zu kommen oder sie an Orte zu führen[,] zu denen sie sonst nie finden würden. Einfach kurz vor dem Mittagsgebet mit einem Betrag von einem Euro ein paar Pokémon anlocken und wenig später sollten in dem aktuellen Hype sicherlich auch schon die ersten Spieler auftauchen. Die erste Brücke damit ist geschlagen und vielleicht ergibt sich bei der richtigen persönlichen Ansprache auch direkt ein gutes Gespräch über Gott, die Welt und natürlich den Pokémon-Hype. -- Die Orte und Anlässe können natürlich beliebig gewählt werden. Egal ob Andacht, Beichtgespräch [!], das Gemeindecafé oder die katholische Bücherei. Es gibt aktuell kaum eine leichtere Chance Menschen aus bisher nur aus der Theorie bekannten Sinus[-]Milieus zu erreichen." 
Es geht - wie meine kluge Liebste herausgefunden hat - allerdings auch einfacher: Hat man die App selbst auf dem Smartphone oder Tablet, kann man auch einfach mal schauen, wo es in der näheren Umgebung PokéStops und Arenen gibt - und wenn man da hinspaziert (wir sollen ja schließlich "an die Ränder gehen"...), trifft man mit ziemlicher Sicherheit auf einige Jugendliche. Die starren zwar wahrscheinlich wie hypnotisiert auf ihre mobilen Endgeräte (bisherigen Versuchsreihen zufolge trinken sie nicht einmal Bier dabei!), aber vielleicht schafft man es ja doch, ihnen eine Einladung zu einer schönen christlichen Veranstaltung in die Hand zu drücken - sei es fürs Nightfever oder auch nur zu einem Teller Suppe... 



Freitag, 15. Juli 2016

Nachrufe sind auch nicht mehr das, was sie mal waren

Es wird einfach zuviel gestorben. Das ist ein Gedanke, der im Jahr 2016 wohl schon so Manchem durch den Kopf gegangen sein mag. Im laufenden Kalenderjahr wurden bereits Pierre Boulez, David Bowie, Alan Rickman, Glenn Frey ("The Eagles"), Lord George Weidenfeld, Paul Kantner ("Jefferson Airplane"), Maurice White ("Earth, Wind & Fire"), Roger Willemsen, Boutros Boutros-Ghali, Umberto Eco, Peter Lustig, Nikolaus Harnoncourt, Nancy Reagan, Keith Emerson ("Emerson, Lake & Palmer"), Guido Westerwelle, Johan Cruyff, Hans-Dietrich Genscher, Prince, Margot Honecker, Muhammad Ali, Götz George, Bud Spencer, Michael Cimino und Elie Wiesel - um nur einige zu nennen - von der Erde abberufen. Zuletzt meldeten die Medien kurz nacheinander den Tod zweier noch junger TV-Moderatorinnen - und mit "noch jung" meine ich "nur wenig älter als ich". Jana Thiel, bekannt als Sportmoderatorin beim ZDF-Morgenmagazin, wurde 45 Jahre alt, Miriam Pielhau ("taff" u.a.) sogar nur 41 Jahre. Beide hatten Krebs. 


Da ich kaum fernsehe und mich weder für Sport noch für Lifestyle-Magazine sonderlich interessiere, verbinde ich mit den beiden letztgenannten Namen nicht sehr viel. Dennoch kann ich die große öffentliche Anteilnahme an ihrem Tod durchaus nachvollziehen - besonders angesichts ihres Alters. Todesfälle in ungewöhnlich jungen Jahren wirken einfach besonders verstörend. "Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig" - dieses Psalmwort (Psalm 90,10) hat, auch wenn die Zahlenangaben hierzulande in Hinblick auf die Entwicklung der durchschnittlichen Lebenserwartung wohl leicht nach oben zu korrigieren wären, im Großen und Ganzen nach wie vor seine Berechtigung. Stirbt ein Mensch im hohen Alter, werden diejenigen, die den Verstorbenen geschätzt oder geliebt haben, zwar wohl den Verlust betrauern, können aber Trost darin finden, dass das Leben des Menschen nun einmal endlich ist und der Moment des Abschieds früher oder später kommen musste. Stirbt ein Mensch erheblich früher, wird die Trauer verstärkt durch das dumpfe Gefühl, der Verstorbene sei gewissermaßen um ein Stück Lebenszeit betrogen worden, das ihm vermeintlich zugestanden hätte. Dass die Nachricht vom Tod relativ junger Menschen - ob es nun Prominente waren oder einfach Namen, über die man zufällig in den Todesanzeigen in der Lokalpresse stolpert - häufig auch Menschen tief betroffen macht, die zu den Verstorbenen gar keine besondere Beziehung hatten, hat sicher auch damit zu tun, dass solche Todesfälle einen unvermittelt an die eigene Sterblichkeit erinnern - etwas, woran man nicht gern denkt

Der Tod Miriam Pielhaus ist noch einmal besonders traurig dadurch, dass sie eine vierjährige Tochter hinterlässt. -- Jemand, der Miriam Pielhau persönlich kannte, ist der Comedian Oliver Kalkofe. "Wir kannten uns viele Jahre und haben zahlreiche lustige und schöne Stunden miteinander verbracht und uns immer gefreut, wenn sich unsere Wege wieder einmal kreuzten, ob nun beruflich oder privat", schreibt er auf Facebook. "Trotz ihrer Krebsdiagnose vor ein paar Jahren hat sie nie aufgegeben und immer weiter gekämpft - und nicht nur ich dachte wohl, sie hätte diesen Kampf auch gewonnen. Heute müssen wir wieder einmal lernen, dass der Krebs ein feiges Arschloch ist, keine Fairness kennt und keine Gerechtigkeit." 

Wenngleich ich an einigen von Kalkofes Ansichten und seiner Art, sie zu äußern, Mancherlei zu kritisieren habe, will ich ihm in seine Trauer - an deren Aufrichtigkeit zu zweifeln ich keinen Grund sehe - nicht hineinreden. Über 18.000 Facebook-"Likes" machen zudem deutlich, dass er nach Auffassung vieler Menschen die richtigen Worte gefunden hat. Aber etwas an dem zuletzt zitierten Satz finde ich über den konkreten Anlass hinaus denkwürdig - nämlich die Art, wie hier eine Krankheit personifiziert wird. Krebs, du Arschloch. Ähnliches liest man durchaus öfter in Trauerbekundungen, wenn jemand an Krebs gestorben ist. Ich will das nicht tadeln, aber mir scheint doch, dass daraus das Bedürfnis spricht, jemandem die Schuld an dem betrauerten Todesfall geben zu können. Wenn etwas Schlimmes passiert, dann muss doch jemand schuld daran sein. Es kann doch nicht sein, dass so etwas "einfach so" passiert. Bezeichnend sind auch einige der Nutzerkommentare unter Kalkofes Statement. "Da frage ich mich immer wieder", schreibt jemand, "was wäre, wenn wir all die Gelder und Kapazitäten, die wir jetzt in Rüstung und Entwicklung noch 'besserer' Waffen stecken, in medizinische Forschung, Frühentdeckung und bessere Bekämpfung von Erkrankungen wie Krebs etc. investieren würden." Mit anderen Worten: Es darf doch nicht sein, dass es in unserer hochentwickelten Zivilisation immer noch tödliche Krankheiten gibt. Und wenn es sie doch gibt, dann muss jemand schuld daran sein. Am besten dieselben Leute, die auch sonst nichts als Not und Elend über die Menschheit bringen. Also zum Beispiel die Leute, die Waffen produzieren. 

Kalkofe gibt in seinem Statement keinem Menschen die Schuld, aber dafür spricht er über den Krebs, als wäre dieser eine Person. Beim Lesen dieses Satzes beschlich mich unvermittelt das Gefühl, dass Kalkofe, wenn er den Krebs anklagt, bewusst oder unbewusst eigentlich Gott meint. Dass GOTT ein feiges Arschloch ist, keine Fairness kennt und keine Gerechtigkeit. Einige Facebook-Nutzer, die sein Posting kommentierten, hatten anscheinend ähnliche Assoziationen. "Das Leben ist nicht fair!", klagt einer. "Und deswegen kann ich auch nicht an irgendeinen Gott glauben, der einem kleinen Kind die Mutter nimmt..." - "Es gibt keinen", bekräftigt ein Anderer, "keinen lieben Gott, keinen der zuhört wenn man die Hände faltet und zum Himmel spricht. Über uns gibt es das Universum, sonst nichts..." 

Nun, wenn das tatsächlich so wäre - wenn über uns nur das Universum wäre, sonst nichts -, dann gäbe es allerdings auch niemanden, bei dem man sich beklagen bzw. den man anklagen könnte. Dann gäbe es niemanden, der "einem kleinen Kind die Mutter genommen" hat - dann wäre eine tödliche Krebserkrankung etwas ganz Natürliches, ein rein biologischer Vorgang, der auf die Lebensumstände dessen, den sie trifft, und die Gefühle der Hinterbliebenen keine Rücksicht nimmt. Das Universum ist gleichgültig. 

Das will aber offenkundig kaum jemand ernsthaft glauben, jedenfalls nicht im Moment der Trauer und der Wut, die einen Ansprechpartner braucht. Gott anzuklagen und gleichzeitig zu bekunden, man glaube nicht an Ihn, ist ein offenkundiger Widerspruch: Sich von Gott abzuwenden, weil Er nicht das tut, was man von Ihm erwartet oder wünscht, ist auch eine Form von Glauben - zwar kein Glauben AN Gott im religiösen Sinne, aber doch der Glaube, dass da irgendwo ein Gott sein müsse, den man verantwortlich machen kann. Und weil man wütend auf Ihn ist, weil Er das Schlimme zugelassen hat, mit dem man hadert, versucht man Ihn zu bestrafen, indem man verkündet, man glaube nicht an Ihn. 

Miriam Pielhau selbst hat das übrigens anders gesehen. Noch vor wenigen Wochen hat sie dem Radiosender FFH ein Interview gegeben, in dem sie über ihre Krebserkrankung sprach - und über ihren Glauben an Gott. Dieser Glaube, so erklärte sie, habe ihr in der Krankheit große Kraft gegeben: "Ich habe dann häufig das Zwiegespräch mit Gott gesucht. Manchmal auch stirnrunzelnd, weil ich fand, dass das, was in den vergangenen Jahren passiert war, eigentlich schon genug war." Das Hadern mit Gott ist etwas, das auch und gerade gläubige Menschen sehr wohl kennen - das sieht man schon im Alten Testament, beispielsweise in einigen Psalmen (etwa Psalm 10, 13, 2274, 77 und 88) und ganz besonders im Buch Ijob. Aber gerade dieses Buch lehrt auch: "Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?" (Ijob 2,10). Wie die evangelikale Nachrichtenagentur idea berichtet, hat Miriam Pielhau schon nach ihrer ersten Krebserkrankung in einer Fernsehsendung erklärt: "Der liebe Gott hatte einen anderen Plan mit mir und wollte, dass ich das durchkämpfe und dann zu dem Menschen werde, der ich heute bin." 

Nun ist sie aber doch am Krebs gestorben. Heißt das, dass Gott sie betrogen, im Stich gelassen hat? Mancher mag es so sehen, aber ich bezweifle, dass sie selbst es so gesehen hat. Ihre eigenen Aussagen über ihre Krankheit und über ihren Glauben an Gott machen auf mich vielmehr den Eindruck, dass dieser Glaube für sie nicht nur eine Stütze in der Krankheit war, sondern dass umgekehrt auch ihre Krankheit ihren Glauben gestärkt hat. Für Skeptiker mag es schwer zu verstehen und noch schwerer zu akzeptieren sein, aber es ist ein bei gläubigen Menschen nicht selten zu beobachtendes Phänomen, dass ihr Glaube gerade durch Leiden wächst und reift. Und ein solcher gereifter Glaube kann Menschen dann auch dazu befähigen, ihr Leben ganz in Gottes Hände zu legen und es schließlich auch klaglos zu akzeptieren, wenn Gott das Leben, das Er ihnen gegeben hat, wieder von ihnen zurückfordert.

Großes Aufsehen - zumindest im "katholischen Internet" - erregte vor einigen Wochen der Tod einer argentinischen Nonne: Schwester Cecilia Maria vom Orden der Unbeschuhten Karmelitinnen in Santa Fé starb am 22. Juni im Alter von 43 Jahren an Lungenkrebs. Was diesen Todesfall so bemerkenswert machte, waren die Fotos aus den letzten Lebenstagen der Ordensfrau, die um die Welt gingen. Denn auf allen diesen Fotos lächelt sie - mehr noch, ihr Gesicht scheint geradezu von innen heraus zu leuchten. Sie sieht auf diesen Bildern ganz und gar nicht aus wie eine todkranke Frau; sie wirkt heiter, gelassen, ja sogar glücklich. Infolge ihrer Krankheit konnte Schwester Cecilia Maria schon seit einigen Monaten nicht mehr sprechen und kommunizierte daher mit Hilfe schriftlicher Notizen; zu ihren letzten Äußerungen gehörten die Sätze: "Ich bin sehr zufrieden - überwältigt von dem Wirken Gottes durch das Leiden und davon, dass so viele Menschen für mich beten."

Diese heitere Gelassenheit im Angesicht des Todes ist bewegend und beeindruckend, aber es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn es auf die Veröffentlichung dieser Bilder und ihrer Geschichte auch negative, sogar wütende Reaktionen gegeben hätte. Denn für Nichtgläubige, für die es keine Hoffnung über den Tod hinaus gibt, stellen Menschen wie Schwester Cecilia Maria eine massive Provokation dar.

Damit soll nicht gesagt sein, dass der Glaube an Gott zuverlässig und unbedingt die Angst vor dem Tod ausschaltet. Vor dieser Angst ist niemand gefeit - selbst Heilige nicht. Bei tief gläubigen Menschen äußert sich die Todesangst zuweilen als eine spezifische Form des Glaubenszweifels: Was, wenn ich mich getäuscht habe? Wenn alles umsonst war? Wenn ich mein Leben einer Illusion gewidmet habe, und nun ist alles vorbei? -- Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., erinnerte in seiner Einführung in das Christentum an die Hl. Thérèse von Lisieux - "die liebenswerte, scheinbar so naiv-unproblematische Heilige", "die scheinbar in ungefährdeter Sicherheit Geborgene" -, die kurz vor ihrem Tod von schweren Zweifeln heimgesucht wurde:
"»Die Gedankengänge der schlimmsten Materialisten drängen sich mir auf«. Ihr Verstand wird bedrängt von allen Argumenten, die es gegen den Glauben gibt; das Gefühl des Glaubens scheint verschwunden, sie erfährt sich »in die Haut der Sünder« versetzt. Das heißt: In einer scheinbar völlig bruchlos verfugten Welt wird hier jählings einem Menschen der Abgrund sichtbar". 
Man könnte sagen, diese Form der Todesangst sei der letzte Trumpf, den der Teufel ausspielt, um noch im allerletzten Moment Gott eine Seele zu entreißen, die bereits auf dem Weg zu Ihm ist. Nicht umsonst kennt die Katholische Kirche spezielle Schutzpatrone gegen die Todesangst und Gebete um Beistand in der Todesstunde; nicht umsonst wird im Ave Maria, einem der gängigsten Gebete der katholischen Christenheit, gebetet: "Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes". Und auch in der Komplet, dem Abendgebet der Kirche, beten wir nicht nur um eine ruhige Nacht, sondern auch um ein gutes Ende.


Montag, 11. Juli 2016

Donnerstag: Kulturkampf im Radio!

Es ist mal wieder Zeit für ein bisschen Eigenwerbung: Am kommenden Donnerstag, dem 14. Juli, bin ich erneut in der Sendereihe Credo auf Radio Horeb zu Gast. Und zwar darf ich dort über ein Thema sprechen, von dem ich wirklich was verstehe: 


Na, neugierig geworden? Wer etwas über krasse antiklerikale Schauergeschichten von Autoren wie Eugène Sue (1804-1857), Sir John Retcliffe (1815-1878), E. Marlitt (1825-1887), Balduin Möllhausen (1825-1903) und nicht zuletzt Karl May (1842-1912) sowie über die Entführung des Knaben Edgardo Mortara, das Schicksal der Barbara Ubryk, der "unglücklichen Nonne von Krakau", und den Moabiter Klostersturm erfahren möchte, der schalte am Donnerstagabend Radio Horeb ein! 

Wie ich gehört habe, soll es während der Sendung auch möglich sein, im Studio anzurufen und live Fragen zu stellen oder Anmerkungen loszuwerden. Ich freu mich drauf! 

(Zudem gehe ich davon aus, dass es den Beitrag auch als Podcast und mp3-Download geben wird. Werde ich dann natürlich gern hier verlinken.) 

In diesem Sinne: Seid dabei! Wir hören uns! 


Update: Hier der Link zum Nachhören der Sendung:

http://www.horeb.org/xyz/podcast/credo/20160714cr.mp3 


Donnerstag, 7. Juli 2016

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 8

Ich hatte es bereits angekündigt: Während der geneigte Leser von Dr. A. Rodes seinerzeit enormes Aufsehen erregt habendem Kolportageroman "Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau" nach mittlerweile acht Lieferungen und fast 400 Seiten immer noch vergeblich darauf wartet, dass es in der Handlung des Romans endlich einmal um jenen zeitgenössischen Skandal geht, auf den sich sein Titel bezieht, präsentiert der Autor zu Beginn des XXXIII. Kapitels, "Die Zigeuner", ein Szenario, das auf den ersten Blick keinerlei Zusammenhang mit der bisherigen Romanhandlung erkennen lässt. Dr. Rode führt den staunenden Leser in ein Zigeunerlager in der Nähe von Kiew; die Zigeuner beraten darüber, in der Nacht in die Stadt einzudringen und das Haus des jüdischen Händlers Isaak Gerson auszurauben. Die kleine Schar, die zu dieser Tat ausgesandt wird, stiehlt im Haus des Juden nicht nur allerlei Wertsachen, sondern - im speziellen Auftrag der "Mutter" der ganzen Sippe, eines alten Weibes namens Zarak - auch ein achtjähriges Mädchen. 

Hier greift der Autor einen in der Popularliteratur seiner Zeit ausgesprochen verbreiteten Topos auf. - Es bedarf wohl kaum einer besonderen Erwähnung, dass der Begriff "Zigeuner" als Fremdbezeichnung für die Roma, die, ursprünglich vom indischen Subkontinent stammend, seit dem Spätmittelalter nach Mitteleuropa einwanderten, heutzutage wegen seiner rassistisch diffamierenden Konnotationen als diskreditiert gilt. Umso mehr ist zu betonen, dass der Typus des "Zigeuners" in Kunst und Literatur von jeher erheblich mehr einem festen Fundus von Stereotypen verpflichtet ist als einer "realistisch" sein wollenden Darstellung der Roma. Im Jahr 1989 legte Petra-Gabriele Briel unter dem Titel "Lumpenkind und Traumprinzessin" eine Studie zur "Sozialgestalt der Zigeuner in der Kinder- und Jugendliteratur" vor; darin heißt es auf S. 29, die europäische Literatur sei 
"in einem unverhältnismäßig starken Maße von dem Thema Zigeuner geprägt [...]. Als Gegenstand bürgerlicher Sehnsüchte und bürgerlicher Verachtung sind die Zigeuner in der Literatur oft genug Prototypen des europäischen 'Wilden'." 
Trotz der von Briel betonten großen Repräsentanz der "Zigeuner" in der deutschen Literatur beschränken sich wissenschaftliche Studien zu diesem Motiv meist auf eine schmale Auswahl von Texten der "hohen" Literatur wie Goethes Götz von Berlichingen (drei Fassungen 1771-1804), Arnims Isabella von Egypten (1812) und Mörikes Maler Nolten (1832); Briels Studie konzentriert sich auf Texte der Kinder- und Jugendliteratur wie Ottilie Wildermuths Das braune Lenchen (1859), Tony Schumachers Komteßchen und Zigeunerkind (1915) und Halvar Flodens Das Mädchen von der Landstraße (1950). Die Darstellung der "Zigeuner" in den Werken Karl Mays hat Eckehard Koch 1989 in seinem Essay "Der Gitano ist ein gehetzter Hund" untersucht; davon abgesehen blieb die populäre Literatur des späten 19. Jhs. in der literaturwissenschaftlichen Untersuchung des "Zigeuner"-Motivs bislang weitgehend unberücksichtigt. Da ich in meiner Untersuchung von A. Rodes "Barbara Ubryk"-Roman schon wiederholt auf die "Historisch-politischen Romane aus der Gegenwart" von Sir John Retcliffe alias Hermann Goedsche verwiesen habe, sei an dieser Stelle erwähnt, dass in Retcliffes zwölfbändigem Romanzyklus Villafranca (1862-66) ein ungarisches Zigeunermädchen namens Tunsa, später Feodora genannt, eine bedeutende Rolle spielt. 

Das Motiv des Kinderraubs oder der Kindsvertauschung, dessen sich Dr. Rode im XXXIII. Kapitel seines "Barbara Ubryk"-Romans bedient, zählte seinerzeit zu den gängigsten Stereotypen des literarischen Zigeunerbildes; als prototypisch kann man hier wohl Cervantes' Novelle La Gitanilla (1613) und Victor Hugos Roman Der Glöckner von Notre-Dame (1831) betrachten, deren jeweilige weibliche Hauptfiguren, vermeintlich "schöne Zigeunerinnen", in Wirklichkeit gar keine Zigeunerinnen sind, sondern als Kleinkinder geraubt bzw. vertauscht wurden. Auch in Karl Mays Fortsetzungsromanen Scepter und Hammer/Die Juweleninsel (1879-82), Waldröschen (1882-84) und Der Weg zum Glück (1886-88) werden mehrere Fälle von Kindsvertauschungen durch Zigeuner geschildert; und auch die Gartenlauben-Autorin E. Marlitt (1825-1887), über die ich promoviert habe, spielt in mehreren ihrer Romane und Erzählungen auf dieses Motiv an. Das Klischee des Kinder raubenden Zigeuners blieb derweil keinesfalls auf die Welt der Literatur beschränkt: Pierers Universal-Conversations-Lexikon aus dem Jahr 1879 betont, den Zigeunern werde "beharrlich nachgesagt, daß sie fremde Kinder stehlen, während sie ihre eigenen Kinder ohne Weiteres verhandeln, wenn ein gutes Stück Geld dabei zu verdienen ist". 

Wie sich die Zigeuner-Episode des Ubryk-Romans in die bisherige Handlung einfügt, mag der aufmerksame Leser bereits ahnen; die Ahnung bestätigt sich, als am nächsten Morgen Isaak Gerson und seine Frau Sarah den Einbruchsdiebstahl entdecken: Das geraubte Kind ist niemand anders als die Tochter der Gräfin Satorin, die Sarah Gerson vor Jahren gegen den Willen ihres Mannes dem fahrenden Händler Aaron Königsberger abgekauft hat, der das Kind, das Jaromir Ubryk in der Schenke vergessen hatte, mit sich genommen hatte. Sarah Gerson hat dem Mädchen den Namen Judith gegeben. -- Somit kommt also endlich doch noch Bewegung in die Kindsvertauschungshandlung, die in letzter Zeit auffallend brach gelegen und insgesamt wie ein rudimentärer Fremdkörper im Romangefüge gewirkt hatte. Davon abgesehen zeichnet sich das XXXIII. Kapitel durch massiven Antisemitismus aus: Waren schon zuvor die jüdischen Romanfiguren Isaak Warschauer (Kap. XV, S. 153f.) und Jeitteles (Kap. XXIV, S. 252ff.) durch eine vertrottelt wirkende Geschwätzigkeit sowie eine eigentümliche Mischung aus Feigheit und Verschlagenheit charakterisiert worden, so werden ebendiese Eigenschaften anlässlich eines Streits zwischen Gerson und seinem Nachbarn Mauschel (!) seitenlang ausgebreitet. Das soll offenbar witzig wirken; dass es darüber hinaus aber auch offen antisemitisch gemeint ist, verrät eine Passage, in der der Autor die Juden als "im Grunde genommen [...] nichts anderes als höhere Zigeuner" bezeichnet: 
"Wie diese haben sie kein Vaterland, und wenn sie sich auch seßhaft gemacht, so betrachten sie die Länder ihrer Niederlassung nur als provisorische Heimat und erwarten bei jedem Donnerwetter den ersehnten Messias, der sie ins gelobte Land zurückführen soll. Wie diese treiben sie nur freie Gewerbe, sie flicken zwar nicht Kessel und deuten nicht das Schicksal aus den Linien der Hand, dafür machen sie aber Löcher in die Börsen und verstehen gewisse Linien auf Wechseln und Schuldscheinen vorzüglich auszulegen" (S. 391). 
Auch hierin ist Dr. Rode ales Andere als originell: Zwischen der Diskriminierung der Juden und derjenigen der "Zigeuner" bestehen weit in die Geschichte zurückreichende Zusammenhänge und Parallelen. So stellt Daniel Strauß in seinem Essay "Antiziganismus in der deutschsprachigen Gesellschaft und Literatur" (in: Susan Tebbutt [Hg.], Sinti und Roma in der deutschsprachigen Gesellschaft und Literatur. Frankfurt a.M. u.a. 2001, S. 101-110) fest: 
"Das Stereotyp des 'ewigen', wandernden Juden findet seine Entsprechung im Bild vom angeblich angeborenen Wandertrieb des Zigeuners; die haarsträubenden Beschuldigungen von Kinderraub und Kinderschändung werden gegen beide Minderheiten erhoben; der Vorwurf des Gottesmordes hier, hat dort sein Gegenstück in der Legende von der verweigerten herberge der Heiligen Familie durch Zigeuner, der Sage von der Herstellung der Kreuzigungsnägel durch einen Zigeunerschmied und anderen religiösen Geschichten." (S. 342). 
Weitere Parallelen nennt Wilhelm Solms in seiner Studie "Zur Dämonisierung der Juden und Zigeuner im Märchen" (ebenfalls in Tebbutt [Hg.], S. 110-126). -- 

Kapitel XXXIV, "Mutter und Tochter" (S. 397-419), führt die Kindsvertauschungshandlung weiter fort, und während ein Zusammenhang mit der Haupthandlung um Elka und den Jesuiten Rebinsky weiterhin nicht absehbar ist, zeigt sich allmählich, dass dieser Nebenhandlungsstrang durchaus das Zeug zu einer eigenständigen Novelle gehabt hätte, die man beispielsweise Die Zigeunercomtesse hätte nennen können. Die alte Zigeunerin Zarak zieht nämlich allein mit Judith, die sie Yelva nennt, durch die Lande und bringt ihr Tanzen, Tambourinspielen und Wahrsagen bei; im Zuge ihrer Wanderungen kommen sie auch zum Schloss der Gräfin Satorin, Judiths leiblicher Mutter. Zarak liest der Gräfin aus der Hand und erkennt daraus, dass sie ihr Kind weggegeben hat; sie sagt ihr auch voraus, dass sie ihr Kind bald wiedersehen werde, jedoch ahnen beide Frauen nicht, dass Judith bzw. Yelva dieses Kind ist. Die Gräfin fühlt sich allerdings instinktiv zu dem Mädchen hingezogen, und als die alte Zarak plötzlich stirbt, nimmt die Gräfin das Kind als Magd ins Schloss auf. Der Verfasser kommentiert: 
"Welches grausame Spiel trieb hier das Schicksal mit zwei Herzen, die sich suchten, und nicht finden konnten; es führte Mutter und Tochter zusammen, und diese ahnten nicht, wie nahe sie sich standen" (S. 419). 
Davon, dass im Schloss eigentlich auch der mit Judith gleichaltrige angebliche Sohn der Gräfin - in Wirklichkeit Josef Ubryk - leben müsste, ist an dieser Stelle keine Rede, obwohl es doch ein probates Mittel zur Herstellung der poetischen Gerechtigkeit sein könnte, dass der falsche Grafensohn und die echte Grafentochter sich, wenn sie etwas älter geworden sind, ineinander verlieben. Aber vielleicht kommt das ja noch. Indessen ermittelt Jaromir Ubryk gegen die inzwischen im Raum Warschau agierende Zigeunerbande und findet so heraus, dass diese in Kiew das Kind der Gräfin Satorin geraubt hat. Diese Ermittlungen - die die einem anderen Erzählstrang und aller Wahrscheinlichkeit nach auch einer anderen "Schicht" der Romanstruktur angehörende Karriere Jaromirs bei der Warschauer Polizei voraussetzen - machen zwar den Großteil des Kapitels aus, könnten aber dennoch ein späterer Zusatz sein; zumal sie einer eigenständigen Entwicklung der Kindsvertauschungshandlung eher schaden als nützen. Nachdem Ubryk in Erfahrung gebracht hat, dass das vermisste Kind allein mit einer alten Zigeunerin namens Zarak durchs Land zieht, müsste er dies nur der Gräfin mitteilen - mit der er ja durchaus in Kontakt steht -, und schon wäre das Happy End komplett. -- Das mehr als drei Seiten umfassende Verhör des Juden Aaron Königsberger (S. 401-404) entspricht ganz den bisherigen Judendarstellungen des Romans; und in der Personenbeschreibung eines Zigeunermädchens, das Ubryk zunächst fälschlicherweise für Judith hält, fällt der brillante Satz: "Es war ein nettes, sauberes [!] Gesichtchen, freilich ganz von Schmutz überzogen" (S. 408). Auf so etwas muss man erst mal kommen! 

Der Titel des XXXV. Kapitels kündigt "Neue Intriguen" an; nachdem rund zwei Seiten lang Jaromir Ubryks Nachforschungen über den Verbleib der verschwundenen Judith auf den neuesten Stand gebracht werden, wendet sich der Erzähler ab S. 421 erneut seinem Oberschurken Rebinsky zu, der sich nach seiner Rückkehr aus Rom der Aufgabe widmet, seinem Orden auch das Vermögen Elkas in die Hände zu spielen, nachdem dasjenige ihres Halbbruders Wratislaw ihm ja bereits so gut wie sicher ist. Zu diesem Zweck unternimmt Rebinsky zunächst allerlei vorerst erfolglose Versuche, in Erfahrung zu bringen, ob Elkas Ehemann Kasimir Ubryk noch lebt; und schließlich reist er nach Paris, um Elka, die sich zusammen mit ihrem neuen Geliebten Hugo von Rassow dort aufhält, im Auge zu behalten. Dazu demnächst mehr! 


Von Dorsten nach Münster

Als der zum Ende des vorigen Kirchenjahres auf unschöne Weise aus seinem Amt entfernte Ex-Pfarrer meiner Heimatgemeinde St. Willehad in Nordenham, Torsten Jortzick, im Januar 2016 "als Pastor mit dem Titel Pfarrer zur Aushilfe" an die Pfarrei St. Agatha in Dorsten ging, stand von vornherein fest, dass dies nur eine befristete Stelle sein würde - für ein halbes Jahr, hieß es. Dieses halbe Jahr ist nun so ungefähr rum, und da ich Pfarrer Jortzick in einigen persönlichen Gesprächen sehr schätzen gelernt habe, interessiert es mich natürlich, wie es für ihn weiter geht. Und da meine Berichte über die Vorgänge in St. Willehad, die zu Torsten Jortzicks Entpflichtung von seiner dortigen Pfarrerstelle geführt haben, zu den meistgelesenen Artikeln meines Blogs in den letzten zehn Monaten zählen, denke ich mir, meine Leser interessiert es vielleicht auch

Vorläufig, nämlich bis Ende August, ist Pfarrer Jortzick noch in Dorsten; aber der leitende Pfarrer von St. Agatha, Ulrich Franke, hat seine Gemeinde auf der Website der Pfarrei wie auch auf Facebook schon mal auf den Abschied des Aushilfsseelsorgers eingestimmt. "Am Sonntag, dem 28.08. wird er das letzte Mal mit uns die hl. Messe feiern", heißt es da. "Wo, das werden wir noch mitteilen." Besonders zitierwürdig finde ich die folgenden zwei Sätze der Mitteilung: "Vielen ist Torsten Jortzick in diesen Monaten ans Herz gewachsen als ein einfühlsamer Seelsorger und Priester. Für seinen Dienst danken wir ihm schon jetzt." Auf Facebook kommentierte ein Gemeindemitglied von St. Willehad: "Wir vermissen ihn hier in Nordenham auch". 

Wie Pfarrer Franke weiter mitteilt, wechselt Torsten Jortzick zum 1. September an die Pfarrei St. Mauritz in Münster - ebenso wie St. Agatha in Dorsten eine Großgemeinde, die im Jahr 2010 aus vier bis dahin eigenständigen Pfarrgemeinden zusammengelegt wurde. Auf der Website von St. Mauritz erfährt man, es habe bereits "ein gegenseitiges Kennenlernen im Team" gegeben. "Sein genauer Aufgabenbereich wird noch intern besprochen und dann bekanntgegeben", heißt es dort weiter; da Torsten Jortzick in Münster, wie schon in Dorsten, als "Pastor mit dem Titel Pfarrer" tätig sein wird, kann man aber wohl davon ausgehen, dass er in der Pfarrei nicht mit Leitungs- bzw. Verwaltungsaufgaben betraut werden wird. Vor dem Hintergrund der Probleme, die es in Nordenham gab, dürfte das wohl auch in seinem eigenen Interesse sein. 

Ich werde die weitere Entwicklung jedenfalls aufmerksam verfolgen - und berichten, wenn es etwas zu berichten gibt... 





Dienstag, 5. Juli 2016

Zahle 5 Euro, um deine Nachbarn zu treffen

In den letzten Wochen hatte ich ein paar außerplanmäßig freie Tage - Überstunden abbummeln und so - und habe sie teilweise dazu genutzt, ein paar Werktagsmessen in Kirchen zu besuchen, in denen ich zuvor noch nie gewesen war. Schwerpunktmäßig in solchen Gegenden der Stadt, in denen meine Liebste und ich erwägen, uns eine gemeinsame Wohnung zu suchen, wenn wir verheiratet sind. Schon mal die Lage sondieren, sagte ich mir - auch und nicht zuletzt in Hinblick auf gewisse noch im Ideenstadium befindliche subversive Pastoralprojekte. Da es wohl kaum zu leugnen ist, dass Werktagsmessen nur einen recht punktuellen und nicht unbedingt repräsentativen Eindruck vom Leben und dem Charakter einer Pfarrgemeinde vermitteln, habe ich mir da stets auch gleich den jeweiligen Pfarrbrief mitgenommen. Einige weitere Pfarrbriefe - von Gemeinden, die ich noch nicht persönlich besucht habe - habe ich mir online angesehen. Nun möchte ich zwar keine Namen nennen - auch um in Hinblick auf die oben angedeuteten Umzugspläne keine "verbrannte Erde" zu erzeugen -, aber mein Gesamteindruck lautet: Bei der (v.a. sprachlich-stilistischen) Qualität der redaktionellen Beiträge in Pfarrbriefen ist noch beträchtlich Luft nach oben. Damit deutlich wird, was ich meine, komme ich um ein paar (behutsam anonymisierte) Beispiele aber wohl nicht herum: 

Da berichtet etwa ein Jugendgruppenleiter von einer Pilgerreise nach Rom. "[D]ie Spannung stieg. Und dann ging es los." Irgendwie muss man die zwei Seiten ja voll kriegen. Und weiter im Text: 
"Frisch und munter, ging es nach einer Stärkung zum ersten Programmpunkt: Die Basilika St. Paulus vor den Mauern. Vor Ort stieß Kaplan [N.N.] dazu, der uns eine kleine Führung geben konnte. Am vermeintlichen [!] Grab des Apostels beteten wir gemeinsam das Vater Unser. Ein sehr bewegender und spiritueller Moment für jeden von uns." 
Na wie schön. Ich will mal davon ausgehen, dass es sich bei dem Wort "vermeintlich" um unabsichtlich falsche Wortwahl handelt. Und auch sonst würde man den Umstand, dass der Text sich wie ein mittelprächtiger Schulaufsatz liest, gern auf die Jugend des Verfassers schieben; nur liest sich der Rest des Pfarrbriefs genauso, wenn nicht noch kruder. 
Im Pfarrbrief einer anderen Gemeinde wird von einer Buchvorstellung im Rahmen eines "Ökumenischen Gesprächsabends" berichtet: Das Buch "Was müsste Luther heute sagen?" von Heiner Geißler wurde vorgestellt, aber nicht etwa vom Autor selbst, sondern von einem Mitglied der evangelischen Nachbargemeinde. Und in der Zusammenfassung für den Pfarrbrief wird der Vortrag noch weiter verballhornt. Kostprobe gefällig? 
"Und hier zeigt sich vielleicht auch die Verbindung zu Papst Franziskus, der in einer reformerischen Position von mir eingeschätzt wird. Geißler sieht Luther heute in einer ähnlichen Aufgabenstellung, geprägt von einem Plädoyer für eine wiederzugewinnende Einheit der Kirche, um weltweit jene moralische Kraft wiederzuerlangen, die gerade heute notwendig erscheint." 
Alles klar? - Nun, diese Beispiele mögen genügen. Ich gestehe, dass Pfarrbriefredakteur nicht unbedingt meine Traumposition in der Pfarrei meines zukünftigen Wohnsitzes wäre, aber andererseits soll man ja dahin gehen, wo die Not am größten ist. Schauen wir mal. -- Viel interessanter als das Fahnden nach Stilblüten ist ja im Grunde die Frage, was die von mir gesammelten Pfarrbriefe über die diversen "außergottesdienstlichen" Aktivitäten der verschiedenen Pfarrgemeinden verraten. Gemeindeübergreifend schwer im Trend sind offenbar Qigong-Kurse. Zugegeben, es wird einem auch noch allerlei Anderes geboten, etwa Bastel- und Handarbeitskreise, Näh- und Holzarbeitskurse für Kinder, Fußballturniere, Filmabende, Preisskat und "PC-Talk", wobei ich bei Letzterem nicht völlig sicher bin, ob es sich um einen Computerkurs handelt oder um einen Lehrgang in Sachen political correctness. Aber Qigong ist wirklich auffallend stark vertreten. Man könnte sich - oder, besser vielleicht, die Verantwortlichen - nun natürlich fragen, wie es kommt, dass diese Meditationstechnik, die ihre Ursprünge ja eher im Bereich von Daoismus, Buddhismus und Konfuzianismus hat, im Gemeindeleben katholischer Pfarrgemeinden so eine herausragende Rolle einnimmt; aber auf der Basis bisheriger Erfahrungen rechne ich kaum mit profunderen Antworten auf diese Frage als "Warum nicht?". 

Ich selbst finde mich - um's mal im Pastoralsprech auszudrücken - da eher nicht so richtig wieder, und meine Liebste wohl auch nicht. Aber im Grunde geht mein bzw. unser Interesse ja ohnehin weniger dahin, uns von den bereits bestehenden Aktivitäten der Kreise und Gruppen einer Pfarrei beglücken zu lassen, als vielmehr, selbst etwas auf die Beine zu stellen, was es so noch nicht gibt. Und da ich ja, wie unlängst schon zu Protokoll gegeben, mit dem Gedanken umgehe, strukturell könne man für das Projekt einer subversiven Pastoral eine ganze Menge von der linken Szene lernen, habe ich mir jüngst, quasi als Kontrastprogramm zu den oben erwähnten Pfarrbriefen, die aktuelle Ausgabe des links-subkulturellen Terminkalenders Stressfaktor besorgt. Tatsächlich ist es ausgesprochen beeindruckend, was diese Szene so alles auf die Beine stellt. Der Adressenteil umfasst rund 120 einschlägige Locations, und trotz Sommerloch sind für jeden Tag des Monats einige Veranstaltungen aufgelistet. Richtungsweisend ist hier die Beobachtung, dass ein großer Teil des Programmangebots - von allerlei Do-It-Yourself-Workshops etwa für Siebdruck, Tischlerei, Schmiede- und Schweißarbeiten, aber auch weniger spektakulären Angeboten wie Koch- und Gitarrenkursen bis hin zu Schulungen in marxistischer oder anarchistischer Theorie - darauf abzielt, die Teilnehmer zu eigenen Initiativen zu befähigen. Davon kann man tatsächlich lernen! (Mutatis mutandis, versteht sich.) Wesentlich überraschender war für mich die Feststellung, dass sich in der Auflistung regelmäßiger Veranstaltungen im Stressfaktor auch so allerlei findet, was sich von den Aktivitäten diverser Kreise und Gruppen in katholischen Pfarrgemeinden auf den ersten Blick kaum unterscheidet. Da gibt es Töpferkurse, Spieleabende, einen "Gaukelzirkus", ja sogar einen "Meditationsabend" - und, natürlich, Qigong

Und dann brachte meine Liebste mir kürzlich einen Flyer vom "fühlbar"-Center ("Dein Zentrum für Begegnung und Bewegung") mit, einer sehr trendy-stylisch anmutenden Mischung aus Café und Esoterik-Oase, an der sie zufällig vorbeigekommen war. Das fühlbar-Team besteht aus mehr oder weniger jungen, mehr oder weniger attraktiven, breit grinsenden Männlein und Weiblein mit Namen wie Fabienne, Wanda, Bobby, Pippi und Franka - und bietet Kurse in Improtheater, Alexander-Technik"Expressive Living", "Unwinding", "Wunscherfüllung" (!) und natürlich Yoga, Tai Chi und Qigong an. Außerdem gibt es eine "Mut-Gruppe" und einen Kurs mit dem schönen Titel "Fit im Wald". Ist ja fast wie bei Kirchens, könnte man denken; aber dieser Irrtum vergeht einem, wenn man auf die Preisliste stößt. In der Tat: Was Kirchenkreise und linksautonome Aktivisten ehrenamtlich und allenfalls gegen einen Selbstkostenbeitrag anbieten, das betreiben Fabienne, Wanda, Bobby, Pippi und Franka kommerziell. "Expressive Living" kostet 60 Euro in der Stunde, Alexander-Technik in der Gruppe 20 Euro, als Einzelstunde 70 Euro. Für die meisten anderen Kursangebote gibt es für 120 Euro eine Monatskarte. Selbst für einen "Nachbarschaftstreff" nimmt die fühlbar 5 Euro Eintritt. Ob da die vegane Grillwurst schon inklusive ist? Ich wage es zu bezweifeln. 

Letztendlich zeigt das natürlich nur, dass esoterische Praktiken, die früher nur von durchgeknallten Hippie-Aussteigern in Wagenburgen oder besetzten Turnhallen praktiziert wurden, inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Was sie natürlich uncool macht. Spätestens wenn es zu einem einstmals exotisch und "alternativ" gewesenen Trend ein eigenes Lifestyle-Magazin auf Hochglanzpapier gibt, das bei netto oder REWE im Regal steht, ist er als Subkultur-Phänomen erledigt. Aber man hätte es ahnen können -- denn andernfalls würden derartige Kurse wohl kaum in Kirchengemeinden angeboten werden... 



Freitag, 1. Juli 2016

Der Heilige Geist und der eigene Vogel

Das Schreiben Iuvenescit Ecclesia der Kongregation für die Glaubenslehre "über die Beziehung zwischen hierarchischen und charismatischen Gaben im Leben und in der Sendung der Kirche", das am 14. Juni veröffentlicht wurde, hat, soweit ich es verfolgt habe, bislang noch kein allzu großes Aufsehen erregt. Für mich allerdings war es eine Offenbarung - hatte ich doch gerade erst ein paar Tage zuvor angefangen, mir Gedanken zu machen, wie man durch "Graswurzelinitiativen" etwas frischen Wind in die hierzulande oft doch etwas müde, satt und spießig wirkende katholische Kirchenlandschaft bringen könnte. Irgendwas mit Suppe, Fahrradreparatur und Punkrock, war so in etwa der Stand meiner Überlegungen, ehe ich das Schreiben der Glaubenskongregation las. Das ist zwar - obwohl ich nicht das Charisma der Fahrradreparatur besitze - im Großen und Ganzen immer noch das, was ich mir vorstelle, aber für den theoretischen Über- und Unterbau hat die Lektüre von Iuvenescit Ecclesia doch eine ganze Menge geleistet. 

Unter anderem hat mich dieses Schreiben wesentlich dazu veranlasst, meine Einstellung zum Adjektiv "charismatisch" zu überdenken. Dass dieser Begriff sich im Kontext der Katholischen Kirche nicht ausschließlich oder zwangsläufig auf Gruppierungen bezieht, deren Mitglieder zu uncooler Musik entrückt mit den Armen wedeln, in Zungen reden und live vor Publikum Dämonen austreiben, wusste ich zwar im Prinzip schon vorher, aber Dinge, die man "im Prinzip" schon weiß, haben es ja häufig an sich, dass man erst mal mit der Nase draufgestoßen werden muss, ehe man sie sich wirklich bewusst macht. 

In Iuvenescit Ecclesia wird umfassend ausgeführt, dass der Begriff der Charismen im biblischen Sinne nicht allein "außergewöhnliche Gaben (der Heilung, der Wunderkräfte, der Zungenrede)" (IE 6) umfasst, sondern ganz allgemein solche Gaben für den Dienst an der Kirche, die "der Heilige Geist [...] jedem zuteilt, wie er will" (IE 8, vgl. 1 Kor 12,11) - im Unterschied zu den hierarchischen Gaben, die durch das Weihesakrament und unter Wahrung der Apostolischen Sukzession verliehen werden. Dabei legt das Schreiben der Glaubenskongregation größten Wert darauf, dass hierarchische und charismatische Gaben nicht in Konkurrenz oder Rivalität zueinander stehen, sondern einander vielmehr ergänzen und bedingen.

Besonderes Augenmerk richtet das Schreiben auf die Rolle geistlicher Gemeinschaften und Bewegungen in der Kirche und für die Kirche. In Abschnitt 17 heißt es:
"Unter den charismatischen Gaben, die vom Geist frei verliehen werden, gibt es sehr viele, die von einem Mitglied der christlichen Gemeinschaft angenommen und gelebt werden, ohne dass es dafür eine besondere Regelung braucht. Wenn es sich aber um ein Ursprungs- oder Gründungscharisma handelt, bedarf es einer spezifischen Anerkennung, damit dieser Reichtum sich in rechter Weise in der kirchlichen Gemeinschaft artikuliert und getreu in der Zeit weitergegeben wird." 
Solche charismatischen Gründungen werden vor dem Hintergrund der Feststellung, dass "[i]n unseren Tagen ist die Aufgabe, das Evangelium wirksam weiterzugeben, besonders dringend" ist (IE 1), entschieden gewürdigt: "Kirchliche Bewegungen und neue Gemeinschaften zeigen, wie ein bestimmtes ursprüngliches Charisma Gläubige versammeln und diesen helfen kann, ihre eigene christliche Berufung und ihren Lebensstand im Dienst an der kirchlichen Sendung ganz zu leben" (IE 16). Gleichzeitig wird aber auch die Notwendigkeit betont, gründlich zu prüfen, ob es sich tatsächlich um Charismen handelt, die im Dienst der Kirche stehen. Die Kriterien für die kirchliche Anerkennung charismatischer Bewegungen bzw. Gemeinschaften, die in Abschnitt 18 genannt werden, erscheinen mir so wichtig, dass ich sie hier in nur leicht gekürzter Fassung wiedergeben möchte: 
a) Primat der Berufung jedes Christen zur Heiligkeit. Jede Gemeinschaft, die aus der Teilhabe an einem echten Charisma hervorgeht, muss immer ein Werkzeug der Heiligung in der Kirche und darum der Stärkung in der Liebe und einer authentischen Ausrichtung auf die Vollkommenheit in der Liebe sein.
b) Einsatz für die missionarische Ausbreitung des Evangeliums. Die authentischen Charismen sind „Geschenke des Geistes, die in den Leib der Kirche eingegliedert und zur Mitte, die Christus ist, hingezogen werden, von wo aus sie in einen Evangelisierungsimpuls einfließen“. Auf diese Weise müssen sie [...] einen „missionarischen Elan“ bezeugen, „der sie immer mehr zu Subjekten einer neuen Evangelisierung macht“.
c) Bekenntnis des katholischen Glaubens. Jedes Charisma muss Ort der Erziehung zum Glauben in seiner Fülle sein und „die Wahrheit über Christus, die Kirche und den Menschen im Gehorsam zum Lehramt, das sie authentisch interpretiert“, annehmen und verkünden. [...]
d) Zeugnis einer wirklichen Gemeinschaft mit der Kirche. Dies beinhaltet eine „kindliche Abhängigkeit vom Papst, dem bleibenden und sichtbaren Prinzip der Einheit der Universalkirche, und vom Bischof, dem sichtbaren Prinzip und Fundament der Einheit in der Teilkirche“. Dazu gehören auch die „aufrichtige Bereitschaft, ihr Lehramt und ihre pastoralen Richtlinien anzunehmen“, sowie [...] der „Einsatz in der Katechese und die pädagogische Fähigkeit, Christen zu formen“.
e) Wertschätzung und Anerkennung anderer Charismen der Kirche in ihrer gegenseitigen Komplementarität. Daraus ergibt sich auch die Bereitschaft zur gegenseitigen Zusammenarbeit. [...]
f) Annahme von Zeiten der Erprobung in der Unterscheidung der Charismen. Weil die charismatische Gabe „die Bürde einer Neuheit im geistlichen Leben für die ganze Kirche“ mit sich bringen kann, „die auf den ersten Blick auch unbequem erscheinen mag“, zeigt sich ein Kriterium der Echtheit in der „Demut im Ertragen von Widerständen: Die rechte Beziehung zwischen einem echten Charisma, der Dimension des Neuen und dem inneren Leiden schafft einen dauernden historischen Zusammenhang zwischen dem Charisma und dem Kreuz“. [...]
g) Vorhandensein von geistlichen Früchten. Dazu gehören etwa Liebe, Freude, Friede, eine gewisse menschliche Reife (vgl. Gal 5, 22); ein „noch intensiveres Leben mit der Kirche”, ein größerer Eifer für „das Hören und die Betrachtung des Wortes Gottes”; die „erneute Freude am Gebet, an der Kontemplation, am liturgischen und sakramentalen Leben; der Einsatz für das Aufblühen von Berufungen zur christlichen Ehe, zum Priestertum, zum geweihten Leben“.
h) Soziale Dimension der Evangelisierung. Man muss anerkennen, dass das Kerygma dank des Impulses der Liebe „einen unausweichlich sozialen Inhalt“ besitzt: „Im Mittelpunkt des Evangeliums selbst stehen das Gemeinschaftsleben und die Verpflichtung gegenüber den anderen“. [...] Wichtig ist diesbezüglich „die Motivation zur christlichen Präsenz in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und das Schaffen und Leiten von karitativen, kulturellen und geistigen Werken; der Geist der Entsagung und der Armut im Sinn des Evangeliums zugunsten einer hochherzigeren Liebe zu allen“. Entscheidend ist auch der Bezug zur kirchlichen Soziallehre. [...]
Zu beachten ist auch, dass das Schreiben Iuvenescit Ecclesia ausdrücklich "an die Bischöfe der Katholischen Kirche" adressiert ist; somit ist es offenkundig das primäre Anliegen des Schreibens, den Vorstehern der Ortskirchen Impulse für die Zusammenarbeit mit neuen geistlichen Bewegungen bzw. Gemeinschaften zu geben. Die Bischöfe werden ermahnt, die Charismen dieser Bewegungen "mit Freude und Dankbarkeit anzunehmen, sie großherzig zu fördern und sie väterlich und wachsam zu begleiten" (IE 8); sie sollen "jene Gaben in herzlicher Offenheit annehmen, die der Geist innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft erweckt, in der Seelsorge ihnen Rechnung tragen und ihren Beitrag als echten Reichtum für das Wohl aller schätzen" (IE 20). Das finde ich prima. Der für die geistlichen Gemeinschaften zuständige Ansprechpartner in der Deutschen Bischofskonferenz, der kürzlich zum Bischof von Dresden-Meißen ernannte Heinrich Timmerevers, hat angekündigt, sich "in der zuständigen Arbeitsgruppe ausführlich mit diesem Schreiben befassen" zu wollen, und es zur "Lektüre in den Bewegungen und Gemeinschaften" empfohlen

Hervorzuheben ist übrigens, dass Iuvenescit Ecclesia sich in hohem Maße auf das II. Vatikanische Konzil bezieht - insbesondere auf die Dogmatische Konstitution Lumen Gentium. Es fällt auf, dass die Zitate aus diesem Dokument, die in Iuvenescit Ecclesia enthalten sind, und die Schlussfolgerungen, die die Autoren daraus ziehen, sich zum Teil erheblich von den Visionen bestimmter Kreise unterscheiden, die sich bevorzugt auf den "Geist des Konzils", nicht aber auf seine Dokumente berufen. So betont das Schreiben, die "Gegenüberstellung einer institutionellen Kirche jüdisch-christlicher Prägung und einer charismatischen Kirche paulinischer Art, wie sie von gewissen verkürzenden ekklesiologischen Interpretationen behauptet wurde", finde "im Neuen Testament kein Fundament" (IE 7). Entschieden verworfen werden "zweideutige theologische Sichtweisen [...], welche eine „Kirche des Geistes“ postulieren, die von der hierarchisch-institutionellen Kirche verschieden und getrennt wäre" (IE 11). Iuvenescit Ecclesia unterstreicht entschieden die Rolle der von Christus eingesetzten kirchlichen Hierarchie als Garant der Einheit der Kirche und der Wahrheit ihrer Lehre. Daher hat die kirchliche Hierarchie auch das Recht und die Pflicht, "über die rechte Ausübung der anderen Charismen zu wachen, so dass alles dem Wohl der Kirche und der Sendung zur Evangelisierung dient" (IE 8): Da die Leute nicht unbedingt selbst in der Lage sind, ihren eigenen Vogel zweifelsfrei vom Heiligen Geist zu unterscheiden, muss im Zweifel die kirchliche Hierarchie diese Unterscheidung treffen. 

Nur einen Tag nach der Veröffentlichung des Schreibens der Glaubenskongregation erschien auf katholisch.de, der offiziellen Online-Präsenz der Katholischen Kirche in Deutschland, ein Artikel mit der Überschrift "Warum junge Leute Beichte und Anbetung mögen" - ein Interview mit Beat Altenbach SJ, dem Verantwortlichen für die Berufungspastoral der Schweizer Jesuiten; die Fragen stellte Sylvia Stam von der Katholischen Nachrichtenagentur KNA. Der Artikel liest sich durchaus interessant: Während Pater Beat hervorhebt, die junge Generation habe "eine Sehnsucht nach authentischen, sinnlichen Erfahrungen" und schätze daher die "Sinnlichkeit und Ordnung" der Liturgie, ja, sie habe ein "besonderes Bedürfnis nach dem Heiligen" und bringe diesem "eine gewisse Ehrfurcht" entgegen, macht die Interviewerin den Eindruck, diese Tendenzen in erster Linie als ein Problem zu betrachten - eine "große Herausforderung" für die "Konzilsgeneration". Schon im einleitenden Absatz werden "Anbetung, Mundkommunion, Beichte" als Formen bezeichnet, "von denen sich die Konzilsgeneration befreit [!] hatte". Und nun steht die "Konzilsgeneration" gewissermaßen mit offenem Mund da und fragt sich (betroffen und ein Stück weit fassungslos): Was ist bloß mit den jungen Leuten los? 

Ein mir aus den Sozialen Netzwerken bekannter Pastoralreferent aus dem Bistum Aachen allerdings reagierte auf diesen katholisch.de-Artikel erst einmal damit, dass er prinzipiell in Frage stellte, ob es überhaupt stimme, dass es unter jungen Menschen ein gesteigertes Interesse an Anbetung und Beichte - oder allgemeiner gesprochen an Ehrfurcht vor dem Heiligen - gebe. Seiner Auffassung nach sei das lediglich der subjektive Eindruck des Pater Beat: "Jugendstudien zeigen was Anderes." Auf meinen etwas flapsig vorgebrachten Einwand, ich wüsste nicht, wieso man Jugendstudien mehr trauen sollte als subjektiven Eindrücken, erklärte er, er selbst habe auch seine subjektiven Eindrücke, und diese seien "komplett gegenteilig". Deshalb - weil subjektive Einschätzungen zu so gegensätzlichen Ergebnissen kämen - brauche man Jugendstudien, "um mehr Aussagekraft zu bekommen". Ich bestritt das: "Ich sehe nicht ein, wieso Studien mehr Aussagekraft haben sollten als subjektive Eindrücke. Der einzelne Mensch wäre mir prinzipiell immer wichtiger als die Statistik." Mein Kontrahent stimmte mir zu: "Mir auch. Deswegen bin ich Seelsorger geworden." Der Punkt, an dem wir uns nicht verstanden bzw. nicht einig wurden, war damit aber natürlich noch nicht ausgeräumt, also präzisiere ich hier und jetzt mal, was ich meinte: Wenn subjektive Einschätzungen zu unterschiedlichen, ja geradezu gegensätzlichen Ergebnissen führen, kann das zum Teil am Wahrnehmungsfilter dessen liegen, der diese Einschätzung vornimmt; es kann (und wird sehr wahrscheinlich) aber auch einfach an der unterschiedlichen empirischen Basis dieser Wahrnehmung liegen, also daran, dass jeder in seinem persönlichen Erfahrungsbereich einen unterschiedlichen Ausschnitt aus der Realität zu sehen bekommen wird. Dann aber sind die jeweiligen Wahrnehmungen, auch wenn sie gegensätzlich sind, jeweils für sich genommen dennoch wahr - und im Zweifel wahrer als eine statistische Auswertung. Wenn alle Teilnehmer einer Untersuchungsreihe im Durchschnitt 1,76 m groß sind, heißt das nicht zwangsläufig, dass auch nur ein einziger Teilnehmer tatsächlich exakt 1,76 m groß ist. Die Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, von denen Pater Beat Altenbach spricht, gibt es. Jugendliche und junge Erwachsene, die sich für Eucharistische Anbetung begeistern, waren z.B. auch beim Nightfever im Rahmen des Katholikentags in Leipzig in großer Zahl anzutreffen. Wenn die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, mit denen mein besagter Social-Media-Bekannter in seiner Seelsorgetätigkeit zu tun hat, anders drauf sind, dann braucht er für diese sicherlich andere Konzepte; man könnte auch sagen: ein anderes Charisma. Denn nach der Lektüre von Iuvenescit Ecclesia bin ich geneigt zu sagen, der Sinn und Wert unterschiedlicher Charismen liege nicht zuletzt darin, diejenigen, denen sie verliehen sind, zu befähigen, unterschiedliche "Zielgruppen" anzusprechen. Ob die eine Gruppe aber nun statistisch größer ist als die andere, würde ich erst mal für eher nebensächlich halten.

Mich persönlich jedenfalls haben gerade die Erfahrungen mit dem Format Nightfever - ob nun in Leipzig oder in Berlin - davon überzeugt, dass es ein enormes Potential gibt, (nicht nur, aber besonders) junge Menschen, die "ein besonderes Bedürfnis nach dem Heiligen", eine Sehnsucht nach Spiritualität haben - die eine Antwort auf diese Sehnsucht aber von sich aus nicht unbedingt in der Katholischen Kirche suchen würden - , an Dinge wie Beichte, Stundengebet und Eucharistische Anbetung heranzuführen. Um dieses Potential auszuschöpfen, braucht es aber unkonventionelle Herangehensweisen - die durchaus auch etwas mit Suppe, Fahrradreparatur und Punkrock zu tun haben können. In diese Richtung möchte ich etwas unternehmen - nach den Sommerferien, gemeinsam mit meiner Liebsten.

Wie wichtig es ist, hier Eigeninitiative zu zeigen - aber auch, mit was für Hindernissen man dabei rechnen muss -, wurde mir erst kürzlich mal wieder deutlich, als mir zugetragen wurde, im "Sachausschuss Liturgie" eines ungenannten Pfarrgemeinde- oder vielleicht auch Dekanatsrats sei die Idee aufgetaucht: "Wir können doch auch mal sowas wie Nightfever machen - aber ohne das mit der Hostie".

Da hat ja wohl jemand überhaupt nichts kapiert.