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Montag, 26. Oktober 2015

Mit mancherlei Beschwerden

HINWEIS: Der folgende Beitrag erschien zuerst - leicht bearbeitet und unter dem Titel "Was Heimat ist" - am 10.10.2015 in der Zeitung Die Tagespost, S. 9. 



Für die einen ist es Kitsch, für die anderen Ideologie, für wieder andere einfach ein Stück Lebensgeschichte und Lebensgefühl: Der Begriff „Heimat“ hat viele Facetten und eine wechselvolle und in Teilen durchaus nicht unproblematische Geschichte. Nun versuchte eine Themenwoche der ARD, sich dem Heimatbegriff im Zusammenhang mit der derzeitigen Flüchtlingswelle anzunähern. Zentral für diesen Ansatz ist es, dass der Begriff der Heimat stets komplementär zu dem der Fremde zu denken ist; zu diesem Diskurs hätte auch das christliche Welt- und Menschenbild einiges beizutragen.  

Der vielschichtige, oft umstrittene  Begriff „Heimat“ bildete den Anlass und Mittelpunkt einer ARD-Themenwoche vom 04.-10. Oktober 2015. In einer Pressemitteilung erklärte der Programmdirektor des Ersten Deutschen Fernsehens, Volker Herres, es sei notwendig, „über den Begriff der Heimat neu nachzudenken“ – gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingskrise, die deutlich mache, „wie wichtig Heimat im Angesicht des millionenfachen Verlusts derselben“ sei.

Zum Auftakt der Themenwoche stellte die ARD eine „O-Ton-Collage“ aus den Antworten von Schauspielern und anderen Prominenten auf die Frage „Was bedeutet Heimat für Sie?“ zusammen. Die Fragestellung impliziert bereits, dass der Begriff „Heimat“ nicht fixiert ist: Es handelt sich offenbar um eine weitgehend abstrakte Kategorie, die, um konkret zu werden, individuell unterschiedlich „gefüllt“ werden kann und muss – etwa auf der Grundlage eigener biographischer Erfahrungen. „Heimat“, so scheint es, ist in erster Linie emotional besetzt; so zieht sich durch die Statements der befragten Prominenten wie ein roter Faden die Auffassung, „Heimat“ sei vor allem ein „Gefühl“.

Das war allerdings nicht immer so. Wie der Volkskundler Hermann Bausinger herausgearbeitet hat, herrschte bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts „eine sehr enge und konkrete Vorstellung“ von Heimat vor, die an den Besitz von Haus und Hof gebunden war. Eng damit verknüpft war die Bedeutung von „Heimat“ als Rechtsbegriff: Heimatrecht bedeutete – so der Philosoph Rainer Piepmeier – die „rechtlich verbindliche Zugehörigkeit zu einer Gemeinde“ und war „bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes“, also bis 1867, „in den meisten deutschen Staaten Voraussetzung für die Ausübung wichtiger Rechtsbefugnisse“. Wie Bausinger betont, entsprach und entsprang dieses Heimatrecht „den Prinzipien einer stationären Gesellschaft“ und wurde „problematisch, als die wirtschaftliche Entwicklung eine immer größere Mobilität erforderte“. Gerade dieser Bedeutungsverlust von „Heimat“ als konkreter, objektiver rechtlicher Kategorie ging mit einer emotionalen Aufladung des Heimatbegriffs einher. „Der Heimatbegriff wird nun frei, Bedeutungen anzunehmen, die den Ersatz für das bezeichnen, was mit den alten Bindungen verlorenging“ (Piepmeier). Exemplarisch ist dieser Prozess anhand der seinerzeit enorm populären Dorfgeschichte „Barfüßele“ (1856) von Berthold Auerbach zu beobachten: In der Geschichte zweier Waisenkinder, die auf die Unterstützung der Dorfgemeinschaft an jenem Ort angewiesen sind, an dem sie „Heimatrecht“ haben, ist die alte Bedeutung des Heimatbegriffs noch präsent, gleichzeitig weist der Text bereits eine starke Tendenz zur Idealisierung und Emotionalisierung von „Heimat“ auf. In dem Maße, in dem infolge von gesteigerter Mobilität, Gewerbefreiheit und der Sogwirkung der Industrie, die die arme Landbevölkerung in die Städte zieht, die Bindung an den angestammten Boden als ökonomische Notwendigkeit ihre Selbstverständlichkeit verliert, wird sie umso stärker ideologisch aufgeladen und als „schicksalhaft“ apostrophiert. So entwickelt der Heimatdiskurs durch die Idealisierung anachronistischer Lebens- und Wirtschaftsformen im überschaubaren ländlichen Raum einen ausgeprägt regressiven, reaktionären Zug der Verweigerung gegenüber den Herausforderungen der Moderne.

Diesen regressiven Aspekt ist der Begriff „Heimat“, trotz aller Wandlungen, die er seit dem 19. Jahrhundert durchgemacht hat, bis heute nicht gänzlich losgeworden. So reflektierten etwa die Heimatfilme der 1950er Jahre zwar – entgegen verbreiteter Annahmen – durchaus zeittypische Probleme der Nachkriegszeit (wie Generationenkonflikte, zerbrochene Ehen, soziale Folgen ökonomisch-technischer Modernisierung, Auseinandersetzungen um Berufstätigkeit von Frauen), aber durch die Ansiedlung der Handlung in einem anachronistischen dörflichen Milieu in idyllischer, vom Krieg verschont gebliebener Landschaft, durch die weitestgehende Ausblendung der von NS-Diktatur und Krieg geprägten jüngsten Vergangenheit und durch das unweigerliche „Happy End“ wurde dieses Problembewusstsein sogleich wieder beschwichtigt. Erst ab Mitte der 1970er Jahre machte sich eine Tendenz zu verstärkt sozialkritisch ausgerichteten „Neuen Heimatfilmen“ bemerkbar, die sich gezielt den Schattenseiten der vermeintlichen ländlichen Idylle zuwandten und „Heimat“ nicht mehr nur als Sehnsuchtsort, sondern auch als Ort der Bedrückung in Szene setzten.

Schon in der Heimatliteratur des 19. Jahrhunderts wie auch in Heimatfilmen sowohl der „klassischen“ als auch der neueren, sozialkritischen Schule war die Frage nach der Möglichkeit der Integration von Außenseitern ein wiederkehrendes Thema. Somit erscheint es keineswegs abwegig, dass die ARD mit ihrer Themenwoche „Heimat“ einen Beitrag zur Integrationsdebatte zu leisten beabsichtigte. Verschiedene Beiträge widmeten sich explizit dem „fremden Blick“ von Flüchtlingen und anderen Zuwanderern auf die deutsche Gesellschaft und Kultur.

In einer Pressemitteilung der DeutschenBischofskonferenz würdigte deren Vorsitzender Reinhard Kardinal Marx die ARD-Themenwoche „Heimat“ als „wichtige[n] Beitrag zur Integration in unserem Land“ und mahnte einen „Schritt von einer Willkommenskultur hin zu einer Integrationskultur“ an: „Vermitteln wir Menschen, die auf der Flucht sind, das Gefühl einer neuen Heimat? Sind wir tolerant genug, um anderen Heimat zu schenken?“ Der Begriff Heimat, so Kardinal Marx, vermittle „Hoffnung auf Zugehörigkeit und Gemeinschaft“.

Eine Problematisierung des Heimatbegriffs findet in dieser Stellungnahme des DBK-Vorsitzenden offenkundig nicht statt – und, was noch auffälliger ist, ebensowenig der Versuch einer genuin christlichen Bestimmung dieses Begriffs, wie er etwa in dem populären Kirchenlied „Wir sind nur Gast auf Erden“  von Georg Thurmair zu finden ist: „Wir sind nur Gast auf Erden, / Und wandern ohne Ruh' / Mit mancherlei Beschwerden / Der ewigen Heimat zu“. Die Aussage, für Christen sei die wahre, die eigentliche Heimat nicht in dieser Welt zu finden, bildet ein starkes Korrektiv zu der Vorstellung, Heimat sei etwas, das die Einen „haben“ und die Anderen nicht – was letztlich auf die Vorstellung hinausliefe, Integration sei gewissermaßen ein Gnadenakt der „Besitzer“ von Heimat gegenüber den Heimatlosen. – Bereits im August dieses Jahres erschien auf der Facebook-Seite des Passauer Bischofs Stefan Oster ein Beitrag, in dem dieser – ohne direkt auf Thurmairs Verse Bezug zu nehmen – die Aussage, Christen seien letztlich „nur Gast auf Erden“, bekräftigte; und bemerkenswerterweise stand dieser Beitrag ebenfalls im Zusammenhang mit den Herausforderungen der aktuellen Flüchtlingswelle: In einem engagierten Appell gegen Fremdenfeindlichkeit erinnerte Bischof Oster daran, dass „gläubige Christen […] in gewisser Weise selbst Fremde“ seien, „überall, weil ihre eigentliche Heimat eine andere ist als die, in der wir hier leben“, und untermauerte dies mit Verweisen auf Hebräer 11,16 („nun aber streben sie nach einer besseren Heimat, nämlich der himmlischen“) und Philipper 3,20 („Unsere Heimat aber ist im Himmel“). Jesus Christus selbst erscheint in den Evangelien geradezu als Prototyp des Menschen, der auf Erden keine Heimat hat. Als Er im Alter von zwölf Jahren mit seinen irdischen Eltern den Tempel besucht, will Er dort am liebsten gar nicht mehr weg – weil dies das Haus Seines Vaters sei (vgl. Lukas 2,41-49). Später macht Er die Erfahrung, dass gerade in Seiner Heimatstadt Nazaret, wo man Ihn als „den Zimmermann, den Sohn der Maria und Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon“ zu kennen meint, am wenigsten an Seine göttliche Sendung geglaubt wird: „Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in seiner Familie" (Markus 6,3-4). Folgerichtig distanziert Er sich beinahe schroff von herkömmlichen familiären Bindungen: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? [...] Wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter“ (Matthäus 12,48.50).

Hier zeigt sich: Während die Bindung an irdische Instanzen der Identitätsstiftung wie Heimat und Familie sowohl ausgrenzenden als auch eingrenzenden (und damit tendenziell einengenden) Charakter hat, weitet der Hinweis auf den himmlischen Vater den Blick für die gemeinsame Gotteskindschaft aller Menschen. „Der Glaube vereint Menschen und überschreitet Grenzen“, betont Bischof Oster in seinem oben bereits zitierten Facebook-Beitrag: „[W]eil unser Gott der Schöpfer aller Menschen ist und weil Christus für alle Menschen gestorben ist, sind in dieser Hinsicht auch alle Menschen Geschwister der einen Menschheitsfamilie – und eben nicht einfach Fremde.“ Nicht zuletzt ruft die Botschaft des Evangeliums die Christen dazu auf, gerade in den Fremden, den Heimatlosen und Unbehausten das Ebenbild Christi zu erkennen – jenes Christus, der von sich selbst sagt: „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Matthäus 8,20).

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Literaturhinweise:

Hermann Bausinger: Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte. In: Will Cremer/Ansgar Klein (Hg.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven. Bd. I. Bielefeld 1990, S. 76-90



Rainer Piepmeier: Philosophische Aspekte des Heimatbegriffs. In: Cremer/Klein (Hg.): Heimat. A.a.O., S. 91-108. 


Sonntag, 25. Oktober 2015

Beitrag Nr. 200!

Kaum bin ich aus meinem herbstlichen Kurzurlaub in der Heimat zurückgekehrt, da steht in meinem Blog ein rundes Jubiläum an: Dies hier, werte Leser, ist der 200. Beitrag auf Huhn meets Ei (hey hey, my my), und nachdem ich bis zum 100. Artikel rund zwei Jahre und vier Monate gebraucht habe, kam das zweite Hundert in "nur" einem Jahr und neun Monaten zu Stande. Das lässt für die Zukunft hoffen. Nun ist so ein Jubiläum ja immer ein willkommener Anlass zur Selbstreflexion, und da passt es ganz gut, dass ich gestern nachmittag auf Twitter über die folgende Bemerkung stolperte: 
Es gibt #Blogger, deren Anliegen es mehr ist, über Missstände (in der #Kirche) als über die Schönheit des #Glaubens zu schreiben. 
Da der Twitterer, von dem diese Zeilen stammten, fast unmittelbar zuvor meinen jüngsten Blogartikel - diesen hier - verlinkt hatte, hatte ich wohl einigen Grund, mich angesprochen zu fühlen. Erst einmal war ich ein bisschen sauer, solcherart hinterrücks ans Bein gepinkelt zu bekommen, aber dann dachte ich darüber nach, ob an der Feststellung was dran sein könnte. Das Ergebnis fiel eindeutig aus: Ja, natürlich ist da was dran! Aber, wie der Norddeutsche sagt: Da steh ich auch zu. Über die Schönheit des Glaubens zu schreiben, ist eine gute Sache, wenn man's kann. Mir liegt das Andere offenkundig mehr, und das war schon immer so, nicht nur in Bezug auf Glaubens- und Kirchenthemen. Wer Kritik äußert, macht sich nicht unbedingt beliebt (zumindest nicht bei denen, an die sich die Kritik richtet), aber Kritik ist notwendig. Missstände gehen schließlich nicht davon weg, dass man sie verschweigt. Der Begriff der Kritik ist abgeleitet vom altgriechischen Verb κρίνειν, das "unterscheiden" bedeutet. Wie wichtig die Gabe der Unterscheidung gerade für Christen ist, davon war im Zusammenhang mit der jüngst zu Ende gegangenen Bischofssynode gerade erst auf Radio Vatikan zu lesen. Und wenn es bei der Kritik - oder Diakrisis, wie der Apostel Paulus sie nennt - um die Unterscheidung des Guten vom Schlechten, des Wahren vom Falschen geht, dann verweist die Kritik am Schlechten und Falschen ja eben auch dialektisch auf das Gute und Wahre, und somit hat das Aufzeigen von Missständen ja sehr wohl auch etwas mit der Schönheit des Glaubens zu tun. Nur eben indirekt. 

Wenn ich mir ansehe, welche von meinen letzten 100 Blogartikeln die erfolgreichsten - sprich: die meistgelesenen bzw. meist-angeklickten - sind, dann sind darunter tatsächlich nicht wenige, die sich kritisch, nicht selten auch sarkastisch-satirisch mit solchen Phänomenen innerhalb der Kirche oder, allgemeiner gesagt, der Christenheit befassen, die - zumindest aus meiner Sicht - die Schönheit des Glaubens eher verdunkeln, verstellen, unkenntlich machen: so etwa liturgische Missbräuche (Slam, Slammer, am Schlimmsten), das ängstliche Vermeiden von klaren Bekenntnisse, um nur ja keinen Anstoß zu erregen (Grisu, der kleine Dache, will jetzt Pastoralreferent werden), oder der undifferenzierte Einsatz der "Fundamentalismus"-Keule, mit dem letztlich nur der Lauheit Vorschub geleistet wird (Was ist eigentlich Fundamentalismus?). Auch meinen Artikel zum umstrittenen Kasper-Interview am Rande der Außerordentlichen Bischofssynode 2014 (Sex, Lügen und Audio) kann man wohl dem Themenbereich "Missstände in der Kirche" zurechnen. Das große Echo, das diese Beiträge gefunden haben, bestätigt mich in der Auffassung, dass es wichtig ist, über diese Dinge zu reden. Ein anderes Thema, das unter meinen meistgelesenen Artikeln stark vertreten ist, ist das Thema Lebensschutz: Da wären etwa meine Berichte vom Marsch für das Leben 2014 (Was hat euch bloß so ruiniert?) und 2015 (Venceremos! Stehen für das Leben) zu nennen, aber auch mein Artikel über den Organhandel-Skandal beim US-Abtreibungskonzern Planned Parenthood (Soylent Green ist Menschenfleisch, sagt es allen weiter!) sowie über den Versuch, im Vorfeld des Marschs für das Leben eine sachliche Auseinandersetzung mit Abtreibungs-Apologeten zu führen (Real-Life-Filterbubble). 

Klar: Diese Themen sind mir wichtig. Die Zugriffszahlen sprechen dafür, dass sie offenbar auch meinen Lesern wichtig sind. Aber natürlich schreibe ich auch über ganz andere Dinge. Zum Beispiel über Straßenfeste. Über die Hanfparade. Oder sogar über Mayonnaise. Und wer bei mir mal etwas total Positives über die Schönheit des Glaubens lesen will, für den habe ich ebenfalls ein paar Empfehlungen - zum Beispiel die folgenden Artikel: 


Ansonsten bleibt mir nur noch, mich bei meinen treuen Lesern zu bedanken - und hinzuzufügen: Schauen wir mal, was die nächsten 100 Artikel so bringen werden! 

Ich bin selber ganz gespannt. 


Samstag, 24. Oktober 2015

Ein bisschen Tebartz: Pfarrervergrämung in St. Willehad

O Wesermarsch, Wesermarsch! 
Die du tötest die Propheten 
Und steinigest 
Die zu Dir gesandt! 

(frei nach Matthäus 23,37

Einige meiner Leser werden vielleicht bemerkt haben, dass mein Interesse am Wohl und Wehe der katholischen Pfarrei St. Willehad in meiner Geburtsstadt Nordenham erheblich zugenommen hat, seit ich während meines letzten Weihnachtsurlaubs mit einigen Monaten Verspätung erfuhr, dass es da einen neuen Pfarrer gibt. Dass der es nicht leicht haben würde in einer Gemeinde, die über rund 30 Jahre von einem esoterisch angehauchten Ultraliberalen - dem "Schamanen von Butjadingen", wie ich ihn gern nannte - geprägt worden war, ließ sich unschwer erahnen - und bestätigte sich eindrucksvoll, als im Frühjahr des laufenden Jahres ein Großteil der Mitglieder des Pfarreirats wegen Differenzen mit dem Pfarrer zurücktrat und das Gremium daraufhin vom Bischöflich Münsterschen Offizialat in Vechta wegen effektiver Handlungsunfähigkeit für aufgelöst erklärt worden war. Die dadurch notwendig gewordenen Neuwahlen haben bis heute nicht stattgefunden; trotzdem konnte man, aus der Ferne wenigstens, den Eindruck haben, die Lage in St. Willehad hätte sich wieder einigermaßen beruhigt. Aber dieser Eindruck war trügerisch. 

Innenansicht von St. Willehad, Nordenham 

Als ich am Montag mit meiner Liebsten zu einem knapp einwöchigen Kurzurlaub in Nordenham aufbrach, stand ein Besuch in St. Willehad definitiv auf unserem Programm, aber wir ahnten noch nicht, was uns da erwartete. Erst als wir schon in der Regio-S-Bahn von Bremen nach Nordenham saßen, kam ich auf die Idee, mal in der Online-Ausgabe der Nordwest-Zeitung nach den neuesten Nachrichten aus meinem Heimatstädtchen zu schauen. Und ich traute meinen Augen kaum, als ich las: 


Der Artikel verriet, Pfarrer Jortzick sei "auf eigenen Wunsch von Bischof Dr. Felix Genn von seinem Amt entbunden worden" und werde es nur noch bis zum Sonntag Christkönig, dem 22. November, ausüben. "Gründe für Torsten Jortzicks Wunsch, Nordenham zu verlassen, wurden nicht mitgeteilt." Da dies allein als Meldung wohl etwas dünn gewesen wäre, genauere Informationen aber nicht vorlagen - "Pfarrer Torsten Jortzick war für eine Stellungnahme [...] an diesem Sonntag nicht erreichbar" -, rekapitulierte der Artikel noch einmal die Vorgänge um die Auflösung des Pfarreirats vor rund einem halben Jahr. - "Das sieht nach einem Fall für investigatives Bloggen aus", sagte ich zu meiner Liebsten. "Wir kommen zur richtigen Zeit." 

Nordenham ist in der glücklichen und für eine deutsche Kleinstadt ausgesprochen seltenen Lage, zwei voneinander unabhängige, also miteinander konkurrierende lokale Tageszeitungen zu haben; allerdings hat die Kreiszeitung Wesermarsch keine frei zugängliche Online-Ausgabe, folglich bekam ich deren Bericht erst nach meiner Ankunft in Nordenham zu Gesicht. Er war um Nuancen aufschlussreicher als derjenige der NWZ. So verriet Kreiszeitungs-Redaktionsleiter Christoph Heilscher, Pfarrer Jortzicks "Wirken" sei "in der Willehad-Gemeinde kontrovers aufgenommen worden": "Für erhebliche Irritationen sorgte die Art und Weise, wie die Schließung der Herz-Jesu-Kirche in Einswarden und der Oase in Tossens kommuniziert wurde. Das wurde im Herbst vergangenen Jahres in einem Mitteilungsblatt über Gottesdienstzeiten veröffentlicht. Gelegenheit zur Diskussion über diese Schritte hatte die Gemeinde nicht." 

Hierzu muss man erwähnen, dass die Pfarrei St. Willehad bis zum Herbst 2014 ganze sechs "Gottesdienststandorte" hatte, die bis zu 28 Kilometer voneinander entfernt lagen: neben der 1909 erbauten und geweihten Pfarrkirche St. Willehad noch die Filialkirchen Herz Jesu in Nordenham-Einswarden (1928), St. Josef in Stadland-Rodenkirchen (1951), Christ-König in Butjadingen-Stollhamm (1953) und Herz Mariae in Butjadingen-Burhave (1955) sowie das 1999 erbaute "Kommunikationszentrum OASE" im Nordseebadeort Butjadingen-Tossens, das vor allem der Urlauberseelsorge gewidmet war. Die schon seit Jahren nur noch schwach besuchte Christ-König-Kirche in Stollhamm wurde bereits im Oktober 2014 profaniert, das Gebäude - ein ehemaliger Pferdestall, wenn ich richtig informiert bin - soll verkauft werden. Die Standorte Einswarden und Tossens sind seit dem Jahreswechsel 2014/15 "vorläufig geschlossen". Die Zahl der aktiven Standorte hat sich somit auf drei reduziert: Derzeit wird in Nordenham sonntags und an zwei Werktagen pro Woche die Heilige Messe gefeiert, in Burhave gibt es samstags eine Vorabendmesse und in Rodenkirchen eine Werktagsmesse pro Woche. Vergessen wir in diesem Zusammenhang nicht, dass Pfarrer Jortzick allein eine Pfarrei übernommen hat, die zuvor von zwei Pfarrern betreut worden war. 

Innenansicht von Herz Mariae in Burhave. Ich war ewig nicht da gewesen und war überrascht, dass die Kirche viel kleiner ist, als ich sie in Erinnerung hatte. Dafür aber sehr stimmungsvoll. 

Interessantes, wenn auch liturgisch nicht ganz komplikationsfreies Ensemble aus Osterkerze, Taufbecken und Tabernakel in Herz Mariae, Burhave. 

Buntglasfenster in Herz Mariae, Burhave, mit einer Abbildung des Hl. Pankratius - des Kirchenpatrons der alten Burhaver Kirche vor der Reformation.


Dass die Schließung von Standorten für Unmut sorgt, ist wohl mehr oder weniger unvermeidlich, auch dann, wenn diese Schließungen selbst ebenso unvermeidlich sind. Nicht allein wegen der praktischen Schwierigkeiten, alle Standorte tatsächlich zu betreuen, sondern auch wegen der Betriebskosten. Nun gut, im Artikel der Kreiszeitung ist ja auch nicht von Irritationen über die Schließungen die Rede, sondern von Irritationen über die "Art und Weise", wie diese Schließungen "kommuniziert" wurden. Das kennt man, aus der Kirche, aber auch aus der Politik: Wenn Sachentscheidungen - tatsächlich oder angeblich - "alternativlos" sind, aber trotzdem auf Kritik stoßen, dann lautet der Vorwurf immer, es habe an der Kommunikation gehapert. Das kann im Einzelfall stimmen oder auch nicht. Was den hier vorliegenden Fall angeht, berichtete die NWZ am 09.12.2014, über die vorläufige Schließung der Gotteshäuser in Einswarden und Tossens sei seit Juli "in den Gemeindegremien diskutiert worden". In den Gremien, wohlgemerkt. Wenn die Gemeinde angeblich bis zum Herbst von nichts gewusst hat, dann stellt sich doch sehr die Frage, wer hier die Kommunikation vernachlässigt hat. 

Es ist somit vielleicht nicht ganz zufällig, dass in den Gesprächen, die ich in den folgenden Tagen mit verschiedenen Gemeindeangehörigen von St. Willehad über die Konflikte zwischen dem Pfarrer und den Ehrenamtlichen der Pfarrei geführt habe, die Standortschließungen nicht die geringste Rolle spielten. Aber jetzt greife ich mir vor. Relativ offensichtlich schien es mir jedenfalls schon beim Lesen der Presseartikel, dass es noch ganz andere Konflikte innerhalb der Pfarrei geben musste. Die Schließung von Herz Jesu und der OASE lag ja nun schon über ein Dreivierteljahr zurück. 

Nur am Rande möchte ich erwähnen, was die allererste Stellungnahme zu den Konflikten in St. Willehad war, die ich nach unserer Ankunft in Nordenham zu hören bekam: Einer der entschiedensten Gegner des Pfarrers innerhalb der Pfarrgemeinde - den ich hier "aus Gründen" nicht namentlich nenne - sei in der Stadt allgemein als Streithammel und Wüterich bekannt und habe schon diverse Lokalverbote "gesammelt" - ja, er habe "sogar bei Edeka Hausverbot". Dieses bemerkenswerte Detail wurde mir in einem späteren Gespräch nochmals bestätigt, aber ich merke das hier nur der Skurrilität wegen an. Weitere Nachforschungen verschob ich erst einmal auf den nachsten Tag. War ja schließlich Urlaub. 

Am Dienstag warf ich in der Stadtbücherei erst einmal einen Blick in die lokale Tagespresse: Während die Kreiszeitung nichts Neues zum Thema brachte - auch in den folgenden Tagen nicht -, fand sich in der NWZ ein neuer, ausführlicherer Artikel, der hinsichtlich der Hintergründe des Zerwürfnisses allerdings nur vage von "gewisse[n] Reibereien" sprach: "Der Pfarrer selbst war auch am Montag für eine Stellungnahme nicht zu erreichen", hieß es.

Wo ich schon mal in der Stadtbücherei war, versuchte ich gleich mal ein bisschen was zur Geschichte der Pfarrei St. Willehad zu recherchieren - fand in der Heimatkunde-Abteilung der Bücherei aber nahezu nichts zu diesem Thema. So war etwa in der Festschrift "50 Jahre Stadt Nordenham" ein ganzes Kapitel den örtlichen Kirchengemeinden gewidmet, aber nur wenige Zeilen dieses Kapitels entfielen auf die katholischen Kirchen Nordenhams. In den Dorfchroniken von Stollhamm und Burhave sah es ähnlich aus, und selbst ein dreibändiges Werk über "Kirchen im Oldenburger Land" enthielt ausdrücklich und ausschließlich solche Gotteshäuser, die heute (d.h. entweder seit der Reformation oder "schon immer") zur evangelisch-lutherischen Kirche gehören. Dieser Befund war zweifellos etwas enttäuschend, aber wirklich überraschend fand ich ihn nicht: Was in diesem Landstrich unter "Heimatkunde" verstanden wird, ist vielfach noch einem "Heimat"-Begriff verpflichtet, der aus dem 19. Jh. stammt und entschieden protestantisch und deutschnational geprägt ist. Der Katholizismus ist nach diesem Verständnis nicht Bestandteil von "Heimat", ebensowenig wie andere Minderheiten.

In der augenblicklichen Situation hatte es aber natürlich seine Vorteile, dass die katholische Minderheit in Nordenham so eine überschaubare Gruppe ist: Man kennt sich, und so gelang es mir am Dienstag praktisch mühelos, Personen ausfindig zu machen, die mir über die Vorgänge in St. Willehad mehr und Anderes erzählen konnten als das, was in der Zeitung stand. Darunter war zwar niemand aus dem aufgelösten Pfarreirat, wohl aber Personen, die dem einen oder anderen zurückgetretenen Mitglied dieses Gremiums nahe stehen; und folgerichtig bekamen meine Liebste und ich eine ganze Menge Kritik am Pfarrer zu hören. Er habe mit seinem extrem autoritären und respektlosen Verhalten die engagierten Ehrenamtlichen der Gemeinde verprellt, hieß es. Seine mangelnde Wertschätzung ehrenamtlichen Engagements habe er beispielsweise dadurch gezeigt, dass er beim Bibelkreis der Gemeinde, der sich alle vier Wochen treffe, nur ein einziges Mal aufgetaucht sei, "Blödsinn geredet" habe und danach nie mehr wiedergekommen sei. Auch habe er die seelsorgerische Arbeit vernachlässigt, also etwa den geistlichen Beistand für Menschen in Konfliktsituationen. Einer meiner Gesprächspartner beklagte vor allem, die Predigten und sonstigen Ansprachen des Pfarrers seien "völlig substanzlos": "Wenn er einen klaren Standpunkt vertreten würde, könnte man sich wenigstens daran reiben." Auch in der Liturgie habe er ständig Änderungen eingeführt, sodass man sich schließlich überhaupt nicht mehr zurechtgefunden habe. (An dieser Stelle wurde ich hellhörig, denn wie ich schon mehrfach geschildert habe, war unter seinem Vorgänger Bögershausen die Liturgie für mein Empfinden derart auf den Hund gekommen, dass Veränderungen auf diesem Gebiet mehr als wünschenswert erschienen. Wobei es natürlich vorerst noch fraglich blieb, um was für Veränderungen es sich konkret handelte.) Als ich dann auch noch den etwas hämisch anmutenden Hinweis erhielt, der Pfarrer habe sich ja ein ganz tolles neues Pfarrhaus bauen lassen wollen, aber da werde er ja nun nie einziehen, hatte ich endgültig das Gefühl, im falschen Film zu sein. Sind wir hier in Limburg? Wird hier der Fall Tebartz-van Elst en miniature nachgespielt? Den geplanten Neubau des Pfarrhauses hatte die NWZ übrigens schon im Juli 2014, also kurz nach Pfarrer Jortzicks Amtsantritt in Nordenham, thematisiert. Das alte Pfarrhaus ist nämlich derart marode, dass eine Sanierung kostspieliger wäre als Abriss und Neubau. Die NWZ schrieb seinerzeit:
"Im neuen Pfarrhaus soll nicht nur eine Wohnung für den Pfarrer entstehen. Auch moderne Büroräume für Pfarrer, Pastoralreferent, Provisor und Pfarrsekretärin" - 
die im Übrigen, wie jemand aus dem Umfeld des ehemaligen Pfarreirats äußerte, "intrigant" sein soll -,
"ein Besprechungszimmer sowie ein Versammlungsraum für Sitzungen des Pfarreirats und des Verwaltungsausschusses sind geplant." 
-- Vielleicht auch eine freistehende Badewanne und ein Becken für Koi-Karpfen? Man kann sich das Gerede in der Gemeinde vorstellen: Für sowas ist Geld da - aber Kirchen werden geschlossen! Tja, so könnte man denken; nur steht im zitierten NWZ-Artikel eben auch: "Fest steht [...] bereits, dass für die Kirchengemeinde keine finanziellen Belastungen anstehen, sondern der Neubau komplett von Vechta finanziert wird" - also vom Bischöflich Münsterschen Offizialat. Wo also liegt das Problem mit dem neuen Pfarrhaus?

Vermutlich einfach darin, dass man es diesem Pfarrer schlicht nicht gönnt. Ich kann bzw. mag hier gar nicht alles wiedergeben, was ich an bösen Worten über ihn zu hören bekommen habe. Jedenfalls gibt es innerhalb der Pfarrgemeinde Stimmen, die rundheraus erklären, Torsten Jortzick sei aufgrund seiner charakterlichen Disposition ungeeignet zum Gemeindepfarrer, und er sei sicher nicht ohne Grund so lange in Dänemark gewesen - "Da gibt's ja nur so ungefähr zehn Katholiken, da kann er nicht viel Schaden anrichten" -, und es wird spekuliert, was man wohl mit ihm anfangen werde, wenn er die Pfarrei zu Ende des Kirchenjahres verlässt: "Wahrscheinlich wird man ihn in irgendeiner Wallfahrtskirche verschwinden lassen", lautete eine Einschätzung. Es wurde sogar bestritten, dass er tatsächlich auf eigenen Wunsch vom Bischof entpflichtet worden ist: Das werde nur behauptet, um das Gesicht zu wahren, tatsächlich habe das Offizialat in Vechta "eingesehen", dass er in dieser Pfarrei nicht mehr tragbar sei, und ihn quasi abgesetzt.

Bemerkenswert war allerdings, dass einer meiner "Informanten" seine Stellungnahme gleich mit dem Hinweis einleitete, er sei aus persönlichen Gründen "nicht objektiv", und abschließend anmerkte, wenn ich mit jemandem "von der anderen Seite" spräche - aha, dachte ich, demnach GIBT es also eine solche! -, würde ich "eine völlig andere Geschichte" zu hören bekommen. Nun ja, diese völlig andere Geschichte hörten meine Liebste und ich dann später tatsächlich. Erst einmal gingen wir aber am frühen Dienstagabend in die Messe.

Diese war für einen Werktagsgottesdienst ausgesprochen gut besucht - überwiegend von Senioren, was aber wohl insgesamt nicht untypisch für Werktagsmessen ist. Eine junge Frau begleitete die Gemeindegesänge auf der Geige und agierte bei Wechselgesängen als Vorsängerin. Pfarrer Jortzick zelebrierte konsequent nach Messbuch - was tatsächlich eine erhebliche Veränderung gegenüber den Gepflogenheit seines Vorgängers darstellte. Einige Details fielen mir besonders auf. In seinen Begrüßungsworten hob der Pfarrer zweimal das Wesen der Heiligen Messe als Opfer hervor. Im Tagesgebet und an ein, zwei weiteren dafür geeigneten Stellen der Liturgie erwähnte er den Tagesheiligen, den Hl. Wendelin - "Das hätte es bei Pfarrer Bögershausen nicht gegeben", dachte ich unwillkürlich. Zum Auszug wurde ein Marienlied gesungen, und im Anschluss daran betete der Pfarrer vor einem Muttergottes-Mosaik (eine Muttergottes-Statue gibt es in dieser Kirche nicht) den Angelus - und ich dachte schon wieder: "Das hätte es bei Pfarrer Bögershausen nicht gegeben". Eine Predigt, oder so etwas Ähnliches, gab es auch, obwohl das in Werktagsmessen ja keinesfalls selbstverständlich oder gar verpflichtend ist. In dieser - sagen wir mal - Ansprache verknüpfte er Gedanken zum Tagesevangelium auf nicht ungeschickte Weise mit einigen Anmerkungen zu seinem bevorstehenden Abschied aus der Pfarrei und dazu, wie es mit St. Willehad weitergehen soll. Man kann sagen, dass er in seinen Aussagen zum Evangelientext viele Gedanken eher anriss als ausführte, aber "substanzlos" fand ich das gerade nicht - eher empfand ich es als Anregung, bloß angedeutete Aspekte selbständig weiterzudenken. Auch nannte er einige ehrenamtliche Mitarbeiter namentlich, denen er für ihre Arbeit dankte und betonte, dass sie diese auch in Zukunft fortsetzen würden. Wie ein autoritärer, dem Engagement von Laien geringschätzig begegnender Kleriker wirkte er dabei ganz und gar nicht. Ich merkte auf, als er im Zusammenhang mit dem Tagesevangelium auf das Taizé-Lied "Bleibet hier und wachet mit mir" hinwies und dabei bedauernd des Taizé-Kreises gedachte, "der sich seit über einem Jahr von unserer Gemeinde getrennt hat und sich jetzt in Abbehausen trifft". Zudem erwähnte er die wenige Tage zurückliegende Beerdigung eines langjährigen Gemeindemitglieds, die ihn sehr bewegt und nachdenklich gemacht habe.


St. Willehad: Ein Blick ins Pfarrbüro... 
Da er mich vom letztjährigen Weihnachtsfest her wiedererkannt hatte, nahm Pfarrer Jortzick sich nach der Messe noch etwas Zeit für ein Gespräch mit meiner Liebsten und mir, obwohl er einen Termin mit dem Provisor der Pfarrei, Peter Kania, hatte. Es schien uns schwer vorstellbar, dass dieser freundliche, aufmerksame, engagierte Geistliche derselbe Mann sein sollte, über den wir so viel Schlechtes gehört hatten. Auf uns machte Pfarrer Jortzick den Eindruck eines äußerst intelligenten, nachdenklichen, dabei aber auch humorvollen Menschen, eines leidenschaftlichen Priesters, der seiner Berufung mit tiefem Ernst, tiefem Glauben und tiefer Liebe zur Katholischen Kirche und ihren Sakramenten nachgeht. Die - sagen wir mal - Leutseligkeit und Gemütlichkeit seines Vorgängers Bögershausen geht ihm hingegen völlig ab. Ein größerer Kontrast zwischen zwei Pfarrern ist kaum vorstellbar, auch wenn Torsten Jortzick durchaus nicht den Eindruck eines beinharten, kompromisslosen Konservativen macht. - Auf die konkreten Gründe für seinen Entschluss, die Pfarrerstelle in St. Willehad nach nur 15 Monaten wieder aufzugeben, ging Pfarrer Jortzick uns gegenüber nicht im Einzelnen ein; er äußerte auch keinerlei Anschuldigungen oder Vorwürfe gegen irgendwen. Es war durchaus zu spüren, dass die Konflikte innerhalb der Pfarrei ihm zugesetzt und ihn auch verletzt haben, dennoch machte er deutlich, dass er St. Willehad ohne Bitterkeit verlässt. 

...und noch ein Blick ins Pfarrbüro

Später am Abend und an den folgenden Tagen erkundeten wir die Nordenhamer Gastronomielandschaft und hatten dabei Gelegenheit zu weiteren Gesprächen. Zwischendurch, am Mittwoch, folgte noch ein weiterer NWZ-Artikel zum Thema: Im Bericht vom Dienstag hatte der Provisor Peter Kania im Namen des gesamten Kirchenausschusses sein Bedauern über Pfarrer Jortzicks Amtsverzicht bekundet; nun meldete sich ein anderes Mitglied des Kirchenausschusses, Horst Lohe, zu Wort und widersprach: Der Rücktritt des Pfarrers sei "ein dringend nötiger Schritt" gewesen, "damit ein Neuanfang möglich wird und die Gemeinde sich nicht weiter spaltet". Gleichzeitig bestritt Lohe das Recht des Provisors Kania, im Namen des ganzen Kirchenausschusses zu sprechen, zumal dieser sich "mit dem Thema bislang noch gar nicht beschäftigt" habe. - Nicht ganz unheikel erscheint es, dass Horst Lohe, dessen Stellungnahme die NWZ hier so breiten Raum gab, selbst Lokalredakteur dieser Zeitung ist und bei früheren Gelegenheiten für Presseberichte aus der Pfarrei verantwortlich gezeichnet hat. - Nachdem ich einige Schlaglichter zu meinen Recherchen über die "Pfarrervergrämung in Nordenham" auf Facebook und Twitter verbreitet hatte, erreichte mich am Mittwochabend eine Nachricht eines Bekannten, der ein paar Jahre lang im Kreis Wesermarsch gelebt und gearbeitet hat und auch so seine Erfahrungen mit dortigen Strukturen gemacht hat. Er teilte mir mit, seiner Wahrnehmung zufolge habe das Phänomen "Pfarrervergrämung" "in der Wesermarsch leider Tradition" - in evangelischen Kirchengemeinden noch mehr als in katholischen, schon allein weil es davon in diesem Landstrich viel mehr gibt: "Ich denke, es liegt an den Sturköpfen vor Ort [...]. Die mobben mit perversen Tricks jeden raus, der irgendwann mal etwas anderes sagt oder es wagt, seinen Horizont weiter zu ziehen als bis zum Watt. [...] Und die Presse sitzt natürlich dort auch in den jeweiligen Kirchenvorständen und Pfarrgemeinderäten..." Ebenfalls via Social Media wurde mir mitgeteilt, "außerhalb der Wesermarsch" habe Pfarrer Jortzick "einen guten Ruf"; in einer Gemeinde, der er kurzzeitig als Pfarrverwalter vorgestanden habe, habe es "nur gute Stimmen" gegeben. 

In der Zusammenschau der diversen Stellungnahmen, die meine Liebste und ich in den zurückliegenden Tagen in Nordenham und Butjadingen gesammelt haben, und meinen Beobachtungen aus meinen vorherigen Besuchen in meinem Heimatstädtchen ergibt sich - bei aller Unterschiedlichkeit der Standpunkte der Befragten - der Gesamteindruck, dass die Konfliktlinien in St. Willehad im Wesentlichen zwischen dem Pfarrer einerseits und einer Clique von "Erzlaien" andererseits verlaufen sind, die zu Pfarrer Bögershausens Zeiten Schlüsselpositionen in den Ehrenämtern der Pfarrei besetzt hatten und ganz einfach allergisch auf alles reagierten, was "der Neue" anders machte. Dabei kristallisieren sich (neben grundsätzlichen charakterlichen Unterschieden) vor allem zwei Aspekte heraus: In der Liturgie war Pfarrer Jortzick nach anfänglicher Nachgiebigkeit gegenüber gewissen Gepflogenheiten, die sich in der langen Amtszeit seines Vorgängers etabliert hatten (Stichwort "Nordenhamer Ritus"), bald dazu übergegangen, in Zusammenarbeit mit dem Diakon sowie dem Organisten der Gemeinde (einem promovierten Kirchenhistoriker und Lehrer am Nordenhamer Gymnasium) liturgische Missbräuche zurückzudrängen und zu einer ordentlichen und vollständigen Messliturgie zurückzukehren - zum offenkundigen Missfallen vor allem solcher Ehrenamtlicher, die seit Langem an der Gestaltung der Gottesdienste mitgewirkt hatten. Und außerdem hat der Pfarrer angesichts der hohen Arbeitsbelastung, die die Betreuung einer so großen und räumlich weit gestreuten Pfarrei (das Gemeindegebiet ist rd. 330 km² groß und somit größer als die Republik Malta) mit sich bringt, priesterlichen Aufgaben im engeren Sinne - also vor allem dem Spenden der Sakramente - generell höhere Priorität eingeräumt als der Teilnahme an geselligen Aktivitäten verschiedener Gemeindekreise - was ebenfalls für Animositäten sorgte. Inwieweit die feindselige Haltung der besagten "Erzlaien" dem Pfarrer gegenüber repräsentativ für die Stimmung in der Pfarrei insgesamt ist, bleibt fraglich; fest steht, dass es auch ganz andere Stimmen gibt - solche, die froh sind über die Veränderungen, die Pfarrer Jortzick angestoßen hat; die es folglich bedauern, dass er geht; und die darauf hoffen, dass ein Nachfolger für ihn gefunden wird, der den von Pfarrer Jortzick eingeschlagenen Weg fortführt. 

Eine solche Stimme äußerte sich am Freitag in einem Leserbrief an die NWZ - als Antwort auf die am Mittwoch veröffentlichte Stellungnahme des Kirchenausschussmitglieds und Lokalredakteurs Horst Lohe. Die Absenderin erklärte, sie sei "nur ein normales Mitglied der Gemeinde", und "gerade deshalb" müsse sie "Herrn Lohe widersprechen": 
"Wenn man am Sonntag in die Kirche geht, ist die Kirche voll. Voll von lauter Menschen, jung und alt, die gerne zum Gottesdienst gehen und an vielen Stellen der Gemeinde mitarbeiten.
Das ist auch Pfarrer Jortzick zu verdanken, der seit einem Jahr [...] auf die Menschen zugeht und sich um die Sorgen der Leute kümmert, gerade auch um die Probleme, die von der Öffentlichkeit nicht gesehen werden.
Viele Menschen sind davon sehr beeindruckt gewesen, weil sie das in den letzten Jahren von der Kirche so nicht kannten." 
Weiter betont die Leserbriefschreiberin, es gebe "auch viele Mitglieder in der Gemeinde, die erst durch den neuen Pfarrer wieder zur Kirche zurückgefunden haben", besonders "die polnische Gemeinde und die Kolpingsfamilie" fühlten sich "wieder als Teil der St.-Willehad-Gemeinde, während sie jahrelang vorher an den Rand gedrängt waren". Zu Horst Lohes Aussage, man müsse dafür sorgen, dass "die Gemeinde sich nicht weiter spaltet", rät die Verfasserin, "auch die Spaltung der letzten Jahre nicht zu vergessen, die erst durch Pfarrer Jortzick beendet wurde. Viele Menschen sind Pfarrer Jortzick dafür dankbar, dass er das geändert hat." 

Kruzifix und profanierter ehemaliger Altar im Pfarrgarten von Herz Mariae, Burhave. 

Wie geht es nun weiter in St. Willehad? Bis zum Ende des Kirchenjahres bleibt Pfarrer Torsten Jortzick, wie schon erwähnt, im Amt. Derweil wird die Pfarrerstelle vom Bischöflich Münsterschen Offizialat neu ausgeschrieben. Da kaum damit zu rechnen ist, dass sich innerhalb weniger Wochen ein Nachfolger findet, wird voraussichtlich erst einmal ein Pfarrverwalter eingesetzt werden müssen; in den Monaten vor Pfarrer Jortzicks Amtsantritt hatte diese Position ein Priester aus Indien inne - vielleicht wird es erneut eine ähnliche Übergangslösung geben. Und dann muss man weitersehen. Ich jedenfalls teile den Wunsch einiger "normaler Gemeindemitglieder", dass St. Willehad einen Pfarrer bekommt, der entschlossen damit fortfährt, mit den Missständen aus der Ära Bögershausen aufzuräumen - und ich wünsche diesem dafür ein dickes Fell und ein breites Kreuz. Und Pfarrer Torsten Jortzick wünsche ich von Herzen eine neue Aufgabe, in der er seine Fähigkeiten und sein Charisma voll zur Geltung bringen kann - und dafür mehr Wertschätzung erfährt, als ihm in Nordenham zuteil geworden ist.


Samstag, 17. Oktober 2015

Neues aus Nörgelham

Am Montag ist es endlich soweit: Ich fahre in Urlaub. Zusammen mit meiner Liebsten, für eine knappe Woche. Und zwar in mein in verschiedenen Beiträgen dieses Blogs bereits geschildertes Heimatstädtchen, wo ich zuletzt über Weihnachten war. Ich will meiner Liebsten mal zeigen, wo ich herkomme - und sie meiner Mutter vorstellen. Davon abgesehen wird es mir auch sicher gut tun, mal für ein paar Tage aus Berlin rauszukommen und die Hektik der Großstadt gegen den diskreten Charme der norddeutschen Tiefebene einzutauschen. 

Zur Vorbereitung dieses Urlaubs wollte ich mich heute mal im Internet schlau machen, was denn zur Zeit so los ist in Nordenham und Umgebung. Das erste, was mir im Lokalteil der NWZ Online ins Auge fiel, war: Ach ja, da wird demnächst ein neuer Bürgermeister gewählt. Wieso habe ich eigentlich nicht kandidiert? Die Frist zur Abgabe der Kandidatur habe ich offenbar verpasst. Letztes Jahr hat ein alter Schulfreund von mir für das Bürgermeisteramt in der südlichen Nachbargemeinde Nordenhams, Stadland, kandidiert. Gewonnen hat er die Wahl zwar nicht, aber mit über 20% immerhin ein achtbares Ergebnis erzielt, und ich finde es schon prima, dass er es überhaupt probiert hat. 

Der erste NWZ Online-Artikel mit Bezug zur anstehenden Bürgermeisterwahl, über den ich stolperte, trug die Überschrift "Rezepte gegen 'Nörgelham' gefragt". Im Mittelpunkt des Artikels stand die Frage: "Welche Rezepte haben die vier Bürgermeister-Kandidaten gegen die Stimmung in der Stadt, die dazu führt, dass Nordenhamer schlecht über ihre Stadt reden und Positives ausblenden?" Das Schlagwort "Nörgelham", das die besagte schlechte Stimmung auf den Punkt bringen soll, stammt übrigens, wie der Artikel ebenfalls verrät, von Noch-Bürgermeister Hans Francksen. Ich weiß nicht, wie es anderen NWZ-Lesern, insbesondere denen vor Ort, geht, aber mir entlockte die einleitende Fragestellung ein Stirnrunzeln. Das ist ja so typisch, dachte ich - da wird so getan, als wäre das Hauptproblem der Stadt die schlechte Stimmung. Als wäre alles gut, oder zumindest wesentlich besser, wenn die Bürger der Stadt weniger "nörgeln" würden. Als hätten sie nicht das Recht dazu. In einer Stadt, die länger als ich denken kann von Umweltskandalen, Korruption und einer katastrophal verfehlten Infrastrukturpolitik geprägt ist und in der die Lebensqualität seit Jahrzehnten kontinuierlich den Bach runtergeht. "Was müsste man denn machen, damit die Leute nicht mehr so viel nörgeln?", fragte mich meine Liebste. "Erster Schritt: Bevölkerung austauschen", witzelte ich. 

Für unsere Herren und Damen Lokalpolitiker wäre das vermutlich tatsächlich die beste Lösung. Eines muss man bei dieser Nörgel-Debatte übrigens beachten: Wie vermutlich für die meisten Kleinstädter ist es auch für die Nordenhamer ausgemachte Sache, dass nur sie, also nur Einheimische, über dieses Städtchen nörgeln dürfen. Besucher von auswärts haben Nordenham gefälligst prima zu finden. Und das ist nur fair, denn die müssen schließlich nicht da wohnen

Was das nun für mich als gebürtigen, aber schon lange im selbstgewählten Exil lebenden Nordenhamer bedeutet, darüber bin ich mir nicht ganz im Klaren. Grund zum Nörgeln fand ich jedenfalls gleich im nächsten Artikel: "Turm am Rathaus soll fallen". Ich dachte, ich seh' nicht richtig. Den Rathausturm abreißen? Tatsächlich wollen das "[a]lle vier Bürgermeister-Kandidaten" - "wegen zu hoher Sanierungskosten" in Höhe von geschätzten 1,9 Millionen Euro. Haben sie die noch alle? Der Rathausturm ist ein Wahrzeichen der Stadt! Okay, schön ist er nicht, aber gerade deshalb eignet er sich ja so gut als Wahrzeichen. "Siehst du", sagte ich zu meiner Liebsten, "hätte ich kandidiert, wäre ich jetzt der einzige Kandidat, der den Rathausturm erhalten will. Was glaubst du, wie viele Stimmen mir allein das einbringen würde!" Ich meine, was sind schon 1,9 Millionen Euro für einen öffentlichen Haushalt, wenn es um ein so prominentes Element des Stadtbildes geht? Die Summe kann man doch durch Crowdfunding aufbringen! Gibt schließlich genug prominente "Söhne und Töchter der Stadt", wie Wikipedia das nennt, die man für eine diesbezügliche Kampagne einspannen könnte. Okay, so viele sind es nicht, aber darunter sind immerhin Roy von Siegfried & Roy und zwei Bundesligaprofis. -- Nicht abreißen wollen die Lokalpolitiker den seit Jahren ungenutzten Bahnhof. Genauer gesagt halten da zwar noch Züge - Nordenham ist Endhaltestelle einer Regio-S-Bahn-Linie der NordWestBahn GmbH -, aber das Bahnhofsgebäude steht seit Langem leer und ist arg heruntergekommen. Deshalb regt Bürgermeisterkandidatin Sabine Dorn "einen Fassadenanstrich an – durch Sponsoren oder ein Arbeitslosenprojekt". Mit anderen Worten: Hauptsache, es kostet nichts. Überhaupt: Fassadenanstrich -- bin ich der Einzige, der da an Potemkinsche Dörfer denkt? 

Schon länger war mir bekannt, dass ein Altbau-Komplex in der Nähe des Bahnhofs demnächst abgerissen wird. Davon betroffen ist u.a. die Location der auch schon seit über einem Jahr geschlossenen Diskothek "Tiffany"; als dort unlängst einmal aus ungeklärten Gründen abends die Außenbeleuchtung angeschaltet war, kursierten prompt Gerüchte über eine "Abrissparty". Grund für die Schließung soll, wie ich gehört habe, massiver Schimmelbefall gewesen sein; der Betreiber hatte noch rund drei Monate nach der faktischen Einstellung des Betriebs behauptet, die Gerüchte um eine Schließung seien "absoluter Quatsch" und man mache nur "Sommerpause". Na was soll's, ich bin da auch früher nur äußerst selten gewesen. Nicht abgerissen wird das direkt nebenan gelegene Eldo. Da muss ich folglich mit meiner Liebsten unbedingt hin. Ist schließlich DIE Nordenhamer Kult-Kneipe, und viele Alternativen gibt es ja ohnehin nicht mehr. 

Was wir sonst noch so unternehmen können in dieser Urlaubswoche, ist noch weitgehend unklar. Die Suche nach Veranstaltungen in Nordenham und Umgebung vom 19.-23.10. war bislang wenig erfolgreich, aber es kann natürlich sei, dass man vor Ort an mehr Informationen herankommt als online. Ein Programmpunkt ist jedenfalls schon fest geplant: Am Mittwochabend gibt's einen "Theologischen Gesprächskreis". Veranstaltet von der örtlichen evangelischen Kirchengemeinde, aber es ist ausdrücklich "[j]ede und jeder [...] herzlich willkommen". Im Gemeindebrief wird die Gesprächsrunde unter der Überschrift "Einfach mal über Gott reden?" beworben, und es ist von einer "harmonischen und vorurteilsfreien Runde" die Rede. Na, mal sehen, was aus der Harmonie wird, wenn da ein dunkelkatholisches Pärchen reinschneit und den Laden aufmischt. -- Nee, Spaß. Wir gehen da ja nicht hin, um Konflikte vom Zaun zu brechen. Die werden sich schon von allein einstellen. (Und wenn nicht, auch okay.) 

Bei der katholischen Pfarrei St. Willehad müssen wir natürlich auch bzw. erst recht vorbeischauen. Am Sonntag sind wir zwar schon wieder weg, aber am Dienstag gibt's am frühen Abend eine Werktagsmesse, und was das Gemeindeleben sonst noch so zu bieten hat, wird sich zeigen. Der Diakon der Pfarrei hat mir schon vor Monaten über Facebook mitgeteilt, er freue sich darauf, mich mal persönlich kennen zu lernen. 

Ich freue mich auch. 



Huhn meets Ei im Radio!

Gestern Abend wurde auf Radio Horeb ein rund einstündiger Beitrag mit dem Titel "Aktuelles aus der Blogo[e]zese" ausgestrahlt - ein Interview des Redakteurs Gregor Dornis mit, ahem, mir. In, wie ich finde, sehr angenehmer Gesprächsatmosphäre ging es u.a darum, wie Bloggen überhaupt geht, was man sich unter der Bezeichnung "Blogo[e]zese" vorzustellen hat, was das für Leute sind, die "katholisch bloggen", zu welchen Themen sie das tun und wie sie untereinander kommunizieren, aber nicht zuletzt natürlich auch um meine ganz persönlichen Erfahrungen mit dem Bloggen; es ging um den Marsch für das Leben und einige Ereignisse in dessen Vorfeld; und wie man sich vorstellen kann, ging es auch um das umstrittene Bonmot des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, "Verbloggung führt auch zur Verblödung - manchmal". Ich durfte ein paar Auszüge aus neueren Beiträgen dieses Blogs vortragen, und gute Musik gab es auch. 

Mir hat es große Freude gemacht, an dieser Sendung mitwirken zu dürfen; was das Ergebnis angeht, muss ich zwar sagen, dass ich in solchen Dingen immer sehr selbstkritisch bin - hier habe ich zu schnell gesprochen, da genuschelt, dort habe ich mich im eigenen Satzbau verheddert (das passiert mir öfter, aber in schriftlicher Form hat man ja noch die Chance, es zu bemerken und zu verbessern), und da und dort hätte ich mich, im Nachhinein betrachtet, gern präziser, auch pointierter ausgedrückt; aber so ist Radio nun mal, und Alles in Allem finde ich doch, dass es eine sehr schöne Sendung geworden ist. Ich habe auch bereits sehr positives Feedback bekommen; mein Lieblingskommentar lautete: "Zumindest mache ich mir keine Sorgen mehr, wer in ferner Zukunft, wenn Wolfgang Völz kein Bock mehr hat, den Käptn Blaubär gibt." Vom KingBear zum Blaubär - was für eine Karriere. 

Spaß beiseite: Die Sendung gibt's auf der Seite von Radio Horeb als Podcast und als mp3-Download. Hört doch mal rein! :D 



Samstag, 10. Oktober 2015

Lamechs Rückkehr

HINWEIS: Der folgende Beitrag erschien zuerst - leicht bearbeitet  - am 26.09.2015 in der Zeitung Die Tagespost, S. 9. 

Sollte Fahrraddiebstahl mit körperlicher Züchtigung bestraft werden? Sollte man Menschen, die Müll auf die Straße werfen, das Haus anzünden? Immer mehr Menschen scheinen mit solchen drakonischen Strafen zu sympathisieren – zumindest dann, wenn sie selbst die Geschädigten sind. Nicht nur in Sozialen Netzwerken ist eine Rückkehr des Konzepts der exzessiven Vergeltung zu beobachten – eine Idee, die menschheitsgeschichtlich eigentlich seit Jahrtausenden überwunden sein sollte.

von Tobias Klein

Unlängst schnappte ich unfreiwillig einige Bruchstücke eines Gesprächs zwischen zwei mir nicht näher bekannten Personen auf – einem etwa dreizehnjährigen Mädchen und einer älteren Frau. Ein Satz des Mädchens machte mich hellhörig: „Mein Vater hat gesagt, wenn das so weitergeht, fackelt er das Asylantenheim ab.“ Im weiteren Verlauf schilderte das Mädchen, womit die Bewohner der besagten Unterkunft diesen Zorn auf sich gezogen hatten: Sie würden Müll auf die Straße werfen und Passanten anpöbeln, besonders Frauen und Kinder.

Man kann verstehen, dass der Müll auf der Straße bei den Anwohnern für Unmut sorgt, dass sie das Anpöbeln von Frauen und Kindern, das bei den Betroffenen womöglich starke Ängste auslöst, nicht hinnehmen wollen. Aber sollte es nicht eigentlich offensichtlich sein, dass es eine völlig überzogene Reaktion auf derartige Vergehen darstellt, den Übeltätern das Haus anzünden zu wollen? – In Zeiten, in denen Brandanschläge auf Unterkünftefür Asylsuchende an verschiedenen Orten Deutschlands nicht nur angedroht, sondern auch ausgeführt werden, mag die Vermutung nahe liegen, diese Überreaktion habe ihre Ursachen in fremdenfeindlichen Vorurteilen, in der aggressiven Stimmung gegen Flüchtlinge und Migranten, die in Teilen der Gesellschaft geschürt wird. Womöglich würde der Vater weniger drastische Vergeltungsmaßnahmen in Erwägung ziehen, wenn andere Nachbarn – und nicht ausgerechnet „die aus dem Asylantenheim“ – in solcher Weise Ärgernis erregten.

Sicher kann man sich da allerdings nicht sein. Exzessive Vergeltung, oder zumindest die Androhung einer solchen, scheint insgesamt im Trend zu liegen. Im Internet kursieren zahlreiche Fotos von Aushängen, auf denen Menschen, denen beispielsweise ein Fahrrad gestohlen wurde, dem Dieb drastische Strafen androhen; das reicht von dem bloßen Wunsch, der Betreffende möge sich „den Hals brechen“, bis hin zu der unverhohlenen Drohung „Ich werde dich aufschlitzen“. Neben Fahrraddiebstahl ist auch Tierquälerei ein Tatbestand, der oft extreme Reaktionen hervorruft: Lässt jemand beisommerlichen Temperaturen einen Hund im Auto zurück, machen die Forderungen nach strenger Bestrafung des Täters zuweilen nicht einmal vor dem Ruf nach der Todesstrafe halt. Die Weiterverbreitung derartiger Botschaften in Sozialen Netzwerken lässt ein hohes Maß an Zustimmung für solche Rachegedanken erkennen. Überhaupt scheint in Netzwerken wie Facebook die Hemmschwelle für drastische Drohungen besonders niedrig zu sein: Hier genügt zuweilen schon eine Meinungsäußerung, die als beleidigend empfunden wird, um mit Mord- oderVergewaltigungsdrohungen beantwortet zu werden.

Dass ein solcher Verlust des Gefühls für die Verhältnismäßigkeit von Vergehen und Strafe oder, anders ausgedrückt, von Schaden und Wiedergutmachung Anlass zu Besorgnis gibt, braucht wohl kaum eigens betont zu werden. Menschheitsgeschichtlich kann man das Prinzip der exzessiven Vergeltung als ein Relikt aus grauer Vorzeit betrachten. In einem der vermutlich ältesten Texte der Bibel, dem „Lied des Lamech“ (Genesis 4,23f.), heißt es: „Ada und Zilla, hört auf meine Stimme, ihr Frauen Lamechs, lauscht meiner Rede! Ja, einen Mann erschlage ich für eine Wunde, und einen Knaben für eine Strieme. Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach.“ Dieser Lamech, der sich damit brüstet, jeden ihm zugefügten Schaden vielfach zu vergelten, ist ein Enkel Kains, des ersten Mörders der biblischen Urgeschichte; der letzte Vers stellt einen direkten Zusammenhang zwischen der Praxis der exzessiven Blutrache und der Verfluchung Kains als Folge der Ermordung seines Bruders Abel her. Dass Lamech sich mit der Verherrlichung seiner Gewalttätigkeit gerade an seine beiden Frauen richtet – er ist übrigens auch der erste in der Bibel erwähnte Polygamist –, lässt darauf schließen, dass er damit nicht zuletzt auch seine Virilität betonen will.

Im so genannten „Bundesbuch“ des Volkes Israel, das im Buch Exodus unmittelbar auf die Zehn Gebote folgt, wird das Recht auf Vergeltung dagegen strikt in Hinblick auf Verhältnismäßigkeit reguliert: „Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme“ (Exodus 21,23-25). Beinahe gleich lautende Bestimmungen finden sich auch schon im babylonischen Codex Hammurapi aus dem 18. Jh. v. Chr.: Es wird betont, dass die Strafe für ein Vergehen dem entstandenen Schaden entsprechen müsse. Dieses Verhältnismäßigkeitsprinzip, auch genannt „ius talionis“, zieht sich durch die römische und die mittelalterliche europäische Rechtsprechung und wird als Regel für einen so zu sagen „privaten“ Vollzug von Vergeltung letztlich erst in der Neuzeit durch die Idee des Gewaltmonopols des Staates obsolet, die jegliche Selbstjustiz untersagt.

Diese Ächtung der Selbstjustiz ist nicht zuletzt deshalb eine so bedeutende zivilisatorische Errungenschaft, weil nach der Logik der Blutrache jeder Akt der Vergeltung wiederum der Gegenseite einen Schaden zufügt, der seinerseits Vergeltung erfordert. Ein häufig Mahatma Gandhi zugeschriebener Satz bringt das Dilemma auf den Punkt: „‘Auge um Auge‘ führt dazu, dass die ganze Welt erblindet.“ Die zu Recht wohl berühmteste Aufforderung dazu, den aporetischen Kreislauf der Vergeltung zu durchbrechen, stammt aus der Bergpredigt: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm“ (Matthäus 5, 38-41). – Man wird kaum leugnen können, dass diese Forderung Jesu – wie so viele ethische Anforderungen, die Er an Seine Gläubigen richtet – eine schwere Zumutung darstellt. Es fällt leicht, dagegen einzuwenden, dass derjenige, der diese Weisung befolgt, sich gegenüber demjenigen, der sich nicht daran hält, stets im Nachteil befindet und so zu einem leichten Opfer für jedwede Form von Ungerechtigkeit wird. Dieser Einwand verkennt jedoch, dass das in diesen Worten Jesu geforderte Verhalten darauf abzielt, beim Gegner eine Veränderung seiner Haltung zu bewirken. Die Ethik Jesu begnügt sich nicht mit der Forderung, auf Vergeltung für erlittenes Unrecht zu verzichten, sondern geht noch darüber hinaus, indem sie dazu aufruft, dem Gegner freiwillig noch mehr zu geben, als dieser fordert. Diese Freiwilligkeit durchbricht radikal die Logik der Gewalt und des Zwangs und ist somit geeignet, das Verhältnis der Kontrahenten zueinander neu zu definieren; sie strebt – um es mit den WortenAbraham Lincolns zu sagen – darauf hin, den Feind zu besiegen, indem man ihn zum Freund macht.

Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Ethik, in der die Freiwilligkeit eine so zentrale Rolle spielt, nicht zur Basis einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden kann. Dennoch trägt auch der moderne Rechtsstaat das Seine dazu bei, die Mechanismen der Vergeltung zu durchbrechen, indem er die Justiz als neutrale Instanz zwischen die streitenden Parteien stellt und unabhängig von deren Befindlichkeiten definiert, was Recht ist. Wenn in einem solchen Rechtsstaat der Ruf nach Selbstjustiz laut wird, dann spricht daraus für gewöhnlich die Auffassung, der Staat verfolge oder bestrafe begangenes Unrecht nicht konsequent oder hart genug. Das betrifft naturgemäß besonders solches Unrecht, als dessen – tatsächliches oder auch nur potentielles – Opfer man sich selbst sieht. Um auf ein oben genanntes Beispiel zurückzukommen: Wem ein Fahrrad gestohlen wird, für den bedeutet dies womöglich eine massive Schädigung – einen zumindest temporären Verlust von Mobilität, mithin eine Einschränkung seiner persönlichen Freiheit, Terminschwierigkeiten, zusätzliche Kosten, Stress. Vor dem Gesetz dagegen ist ein Fahrrad nur ein Gegenstand. Der Drang zur Selbstjustiz entsteht, wenn das individuelle Gefühl der erlittenen Schädigung gegenüber dem unpersönlichen Bewertungsmaßstab des Gesetzes verabsolutiert wird.

Wie dieser Drang zur Selbstjustiz schließlich auch den Jahrtausende alten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit über Bord werfen und zur exzessiven Vergeltung tendieren kann, dafür ist das oben angesprochene „Lied des Lamech“ ausgesprochen lehrreich. Der Lamech des Buches Genesis singt ein Loblied auf sich selbst und offenbart damit ein übersteigertes Selbstwertgefühl: Er ist stolz auf seine Kraft und Gewalttätigkeit, darauf, dass er zwei Frauen hat, und auf seine Abstammung von dem Mörder Kain. Er fühlt sich berechtigt, seinen Gegnern weit Schlimmeres anzutun, als diese ihm angetan haben, weil er meint, mehr wert zu sein als sie. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht von der Gleichwertigkeit der Menschen aus: Auch wenn es in einem Unrechtsfall Täter und Opfer gibt, haben beide prinzipiell dieselben Rechte. Wird diese Gleichheit an Wert und an Rechten verneint, dann wird die Forderung nach Verhältnismäßigkeit gegenstandslos. So bewertete schon der Codex Hammurapi Körperverletzungen an Sklaven grundsätzlich anders als Körperverletzungen an Freien. Es entbehrt mithin nicht einer gewissen inhärenten Logik, wenn Menschen vor allem solchen Personen gegenüber zu exzessiver Vergeltung neigen, die sie aufgrund rassistischer, kulturalistischer oder anderer Vorurteile – bewusst oder unbewusst – für minderwertig halten. Dass dies weder mit rechtsstaatlichen Prinzipien noch mit dem christlichen Menschenbild vereinbar ist, sollte sich indessen von selbst verstehen. 

Sonntag, 4. Oktober 2015

Mal so zwischendurch: Ein lustiger Artikel über Mayonnaise

Nur weil wir so hartherzig sind, findet in Rom ab heute die Bischofssynode für wiederverheiratete Geschie zur Familienpastoral statt. Und ehrlich gesagt habe ich im Moment so gar keine Lust, darüber zu schreiben. Da schreibe ich doch lieber was über Mayonnaise. Das ist schließlich auch ein familienrelevantes Thema. 

Um zu erklären, wie ich ausgerechnet auf Mayonnaise komme, muss ich - so kennen mich meine Leser - erst mal ein bisschen ausholen. Dank meiner Aktivitäten auf Twitter bin ich vor einiger Zeit auf das US-amerikanische Online-Magazin The Federalist aufmerksam geworden, das sich selbst als Korrektiv zu den Mainstream-Medien der USA betrachtet, dabei aber im Ruf steht, selbst für US-Verhältnisse erzkonservativ zu sein. Der Name ist hier offenbar Programm, denn wenngleich das Magazin erst seit 2013 besteht, spielt sein Name offenbar auf die alte Federalist Party und/oder die Federalist Papers an und stellt somit einen Traditionsbezug zum konservativ-zentralistischen Flügel der Gründerväter der USA her. Aber unabhängig davon, wie man zur politischen Ausrichtung des Magazins steht, kann man jedenfalls konstatieren, dass der Federalist gute Autoren hat. An erster Stelle möchte ich hier Mollie Hemingway nennen, die sich besonders um die journalistische Aufarbeitung des Planned Parenthood-Organhandel-Skandals verdient gemacht hat (und weiterhin macht). Auch Hans Fiene, Pastor der River of Life Lutheran Church in Channahon/Illinois und Schöpfer der unlängst auf diesem Blog gewürdigten Lutheran Satire-Cartoons, schreibt gelegentlich für den Federalist

Kürzlich sah ich nun auf Twitter dies


Man beachte: Ben Domonech ist der Herausgeber des Federalist. Wenn der einen Artikel seines eigenen Magazins mit dem Hinweis "empfiehlt", er sei "scheußlich" und "niemand sollte ihm zustimmen", dann muss ich den natürlich lesen. Schon allein um der uralten Menschheitsfrage auf den Grund zu gehen, ob US-Amerikaner - noch dazu konservative US-Amerikaner - einen Sinn für Ironie haben oder nicht. 

Der verlinkte Artikel, verfasst von einem pompösen Texaner mit dem pompösen texanischen Namen William Kelly III., trägt die Überschrift "Mayonnaise Is The Worst Condiment": "Mayonnaise ist das schlimmste Würzmittel". In der Unterzeile setzt Kelly noch einen drauf: "Mayonnaise ist so schlimm, dass sie es nicht verdient, ein Würzmittel genannt zu werden". -- Nun ja: Ich persönlich mag eigentlich Mayonnaise. Aber schließlich ist das Bloggen ja nicht dazu da, "dass sich Szenen untereinander treffen, sich gegenseitig bestätigen und hochjubeln", sondern dazu, "in einen Diskurs ein[zu]treten mit Andersdenkenden"; und daher greife ich gern die Anregung meines selbsternannten Managers W. auf, Kellys Anti-Mayonnaise-Rant auf meinem Blog zu thematisieren. Zumal ich den Text, obwohl er nicht meine eigene Meinung widerspiegelt, ausgesprochen grandios finde. 

Dass ich Mayonnaise mag, ist übrigens nicht zwangsläufig ein Ritterschlag für diese weiße Paste. Ich mag auch sonst allerlei komisches Zeug. Vermutlich liegt das daran, dass ich auf dem Dorf und in einem in Ernährungsfragen recht konservativen Elternhaus aufgewachsen bin. Seither habe ich einen schwer zu besiegenden Hang zu Speisen und Getränken, die es "bei uns zu Hause" nicht oder selten gab. Und je abwegiger, desto besser. Wenn ich eine neue Limo mit irrwitziger Geschmacksrichtung (Birne-Melisse, Kirsche-Ginseng) - und womöglich noch in einer knalligen Farbe - im Supermarktregal entdecke, dann muss ich die probieren. Freunde und vor allem Freundinnen reagieren besorgt, wenn sie das enthusiastische Funkeln in meinen Augen registrieren, das mich angesichts von Werbung für so bizarre Produkte wie Wackelpudding mit Brausepulver drin überkommt. Verglichen damit ist Mayonnaise ja noch harmlos. Kommen wir aber zunächst mal zu der Frage: Was hat William Kelly III. eigentlich gegen Mayonniase? 
"Wie jeder Amerikaner, und insbesondere Texaner, weiß, ist Mayonnaise ein Instrument der Unterdrückung, das von Kommunisten und Liebhabern faden Essens überall auf der Welt verwendet wird. Sie ist eine Form der Gedankenkontrolle, die dazu dient, einem ein Gefühl der Selbstgenügsamkeit und Zufriedenheit mit der Welt einzuimpfen. Essen hat Geschmack, und Mayo überdeckt diesen Geschmack. Sie zerstört die Fähigkeit zu schmecken." 
Okay, also das mit den Kommunisten und der Gedankenkontrolle ist jetzt aber doch ganz bestimmt Satire. Oder etwa doch nicht? Dass Kelly Kommunismus  in einem Atemzug mit fadem Essen erwähnt, ist gar so abwegig schließlich nicht. Im Jahr 1990, als der Ostblock gerade am Zusammenbrechen war, schrieb kein Geringerer als Max Goldt: "Jeder, der einigermaßen herumgekommen ist, weiß, dass in atheistischen Staaten ausgesprochen schlecht gekocht wird, weil der Respekt vor den Gaben Gottes fehlt." [1] Das deckt sich durchaus mit meinen Erfahrungen mit DDR-Gastronomie - oder solcher Gastronomie, der auch heute noch, 25 Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, ein gewisses DDR-Flair anhaftet. 

Im Folgenden erklärt Kelly, wenn man "die Internets" lese - "alle Internets, nicht nur das von AOL" -, dann könne man unschwer herausfinden, woher Mayonnaise stammt: aus Frankreich. Nun ist Frankreich zwar kein kommunistischer und im strengen Sinne auch kein atheistischer, wohl aber ein laizistischer Staat - worauf Kelly zwar nicht eigens eingeht, aber dem konservativen, patriotischen US-Amerikaner ist Frankreich ja auch noch aus anderen Gründen suspekt. Wir erinnern uns wohl alle noch daran, wie in den USA in Folge der Opposition Frankreichs gegen George W. Bushs Irak-Krieg die french fries in "Freedom Fries" umbenannt wurden. Ob es die dann auch ausschließlich mit Ketchup statt mit Mayo gab, davon schweigt des Sängers Höflichkeit. - Kelly untermauert seine Überzeugung, aus Frankreich könne nichts Gutes kommen, mit den folgenden Feststellungen: 
"Franzosen essen Schnecken. Sie haben die Kapitulation perfektioniert. Und sie sprechen Französisch. Außerdem sind sie gut im Lügen." 
Zum Beispiel - so führt Kelly weiter aus - über die Zutaten von Mayonnaise
"Wenn man weiter in ebenselbigen Internets liest, kann man feststellen, dass die Zutatenliste auffallend knapp ist: Eigelb und Öl, womöglich noch Gewürze. Warum sind diese Franzosen so still hinsichtlich der anderen Zutaten? Was auf der Liste unweigerlich fehlt, sind die Katzeninnereien und die Beschwörungen an Marduk den Sonnengott." 
Ich muss gestehen, dass ich an dieser Stelle zunächst erhebliche Zweifel an Kellys Darstellung hatte - insbesondere an seiner Behauptung, Eigelb und Öl würden sich gar nicht miteinander zu einer homogenen Masse verbinden, wenn man dabei nicht "flarn flarn zarrchligh narsool" murmelt. Außerdem war ich der Meinung, Marduk sei in der babylonischen Mythologie gar nicht der Sonnengott. Ist er aber wohl doch. Dann muss ich wohl annehmen, dass alles Andere auch stimmt. 

Damit nicht genug:
"Wissen Sie, wer noch Mayonnaise mag, außer Franzosen und Sowjets? Hillary Clinton und tollwütige Marder. [2] Ich habe nicht die Absicht, Sowjets oder Marder schlecht zu machen, aber es ist nun einmal wahr. Weshalb irgendein Amerikaner oder Marder sich freiwillig mit Mayonnaise oder Hillary Clinton in Verbindung bringen lässt, entzieht sich meinem Verständnis. Aber es kommt vor." 
Okay: Hier wird es nun ernst. Hillary Clinton ist für den Federalist, wie überhaupt für konservative US-Amerikaner, das personifizierte Böse. Wenn die Mayonnaise mag, dann liegt der Verdacht, dass diese Paste eine teuflische Droge ist, das das Denken korrumpiert und Moral und patriotische Gesinnung schwächt, gar nicht so fern. 
"Doch es gibt Hoffnung. Saucen existieren in unerschöpflicher Zahl, und [...] praktisch alle anderen Würzmittel haben tatsächlich Geschmack. Wie wär's denn mal mit Senf? Oder Zahnpasta! Zahnpasta hat zumindest einen gewissen Geschmack." 
Na, das möchte ich ja mal sehen, wie Mr. William Kelly III. seine freedom fries zum Zwecke der Geschmacksanreicherung in Zahnpasta tunkt. Aber meinetwegen. Als ich klein war, gab es so eine Kinderzahnpasta mit Erdbeergeschmack. Meine Eltern haben mal eine Tube davon zusammen mit anderen West-Produkten in ein Weihnachtspaket für entfernte Verwandte in der DDR gepackt, aber das war kein großer Erfolg: Die Empfängerfamilie teilte uns mit, ihr Jüngster habe die Zahnpasta, statt sich damit die Zähne zu putzen, aufgegessen. Was ein weiterer Beleg dafür ist, wie sehr der real existierende Sozialismus den Geschmackssinn seiner Opfer korrumpiert hat. Deshalb halte ich es auch für allzu optimistisch, wenn Kelly meint, man könne den Leuten doofes Essen abgewöhnen, indem man ihnen etwas Besseres anbietet. Nehmen wir nur mal die Ketwurst - ein typisches DDR-Produkt, das aus dem Versuch entstand, den Hot Dog zu imitieren. Es ist bezeichnend für die Ineffizienz des realsozialistischen Wirtschaftssystems, dass dafür erst einmal ein spezieller Brötchenbohrer entwickelt werden musste, der das Loch für die Würstchen in die Schrippen stanzte. Heute gibt es im ehemaligen Ostteil Berlins echte Hot Dogs an jeder Ecke, aber Ketwurst-Buden gibt es trotzdem immer noch. Vermutlich ein Ostalgie-Phänomen, aber vielleicht liegt es auch daran, dass die Brötchenbohrer sich erst noch amortisieren müssen, ehe die Budenbetreiber bereit sind, sie außer Betrieb zu nehmen. 

-- Kommen wir nun aber zur alles entscheidenden Frage: Ist das jetzt Satire oder nicht? - So überkandidelt, wie die "Argumente" des Mr. William Kelly III. gegen Mayonnaise daherkommen, könnte man die Frage fast für überflüssig halten. Aber Obacht: So simpel ist das nicht. Ich lege besonderen Wert auf diese Feststellung, da mir unlängst im Kommentarbereich meines Blogs unterstellt wurde, ich hätte die Ironie des Lutheran Satire-Clips "St. Patrick's Bad Analogies" nicht verstanden. Ein klarer Angriff auf meine Kompetenz als Literaturwissenschaftler, den ich nicht auf mir sitzen lassen kann. Ich meine, bei Lutheran Satire steht ja nun schon groß und breit "SATIRE" drauf, da ist es ja klar, dass es irgendwo einen verborgenen Hintersinn geben muss. Ich bin lediglich der Meinung, dass dieser gerade nicht da liegt, wo mein Kritiker ihn vermutet, wenn er annimmt, der Cartoon kritisiere in Wirklichkeit einen unflexiblen Dogmatismus, der jede Form der Interpretation von Glaubensaussagen mit übertriebener Akribie auf eventuelle Häresien abklopfe. Dass ich diese Deutung gar nicht erst in Erwägung gezogen habe, mag daran liegen, dass ich auch andere Texte von Pastor Fiene kenne und daher weiß, dass er Dogmen ausgesprochen ernst nimmt und das Aufzeigen von Häresien ein Hauptthema seiner Satireclips ist. 

Ich denke, hier liegt ein Missverständnis vor, zu dessen Aufhellung der Anti-Mayonnaise-Rant von William Kelly III. einige Fingerzeige bieten kann. Wir sind es hierzulande gewohnt, unter Satire das Lächerlichmachen des ideologischen bzw. weltanschaulichen Gegners zu verstehen - dergestalt, dass dessen Standpunkte bis ins Absurde überzeichnet werden. Das ist hier nicht der Fall. Ich gehe davon aus, dass Mr. Kelly wirklich keine Mayonnaise mag - und dass er wirklich ein erzkonservativer amerikanischer Patriot ist. Aber mit der Art, wie er beides in einen abenteuerlich konstruierten Zusammenhang miteinander bringt und dabei sämtliche Klischees über konservative US-Patrioten bedient - den Antikommunismus, die Abneigung gegen Franzosen und gegen Hillary Clinton, die Betonung traditioneller amerikanischer Werte, die sich in ihrer reinsten Form im Texaner manifestieren -, nimmt er sich selbst, und zugleich die politische Ausrichtung des Magazins, für das er schreibt, augenzwinkernd auf die Schippe. Kurz gesagt, wir haben es mit einer Form der Selbstironie zu tun - die man auch als einen spielerischen Umgang mit den überzeichneten Klischeevorstellungen betrachten kann, die Andere von einem haben. Genauso verfährt auch Pastor Fiene, wenn er in seiner Conall & Donall-Reihe zwei tumbe, frühmittelalterliche irische Bauerntölpel als Identifikationsfiguren einsetzt. Und, der eine oder andere Leser wird's schon bemerkt haben: So verfahre ich in meinem Blog durchaus auch ganz gern mal. 

Das wirklich Komplizierte an dieser Form von Selbstironie ist, dass sie sich letztlich doch wieder über den Gegner lustig macht - indem sie dessen verzerrte bzw. vergröberte Wahrnehmung der eigenen Position aufgreift und in nochmals ins Groteske überzeichneter Form zurückprojiziert (etwa so, wie wenn sich in Parodien auf die rassistischen Minstrel Shows des 19. Jhs. Schwarze als Weiße verkleideten, die sich als Schwarze verkleideten). Für manche Rezipienten ist das allerdings eine Drehung zuviel an der Ironieschraube - und führt darum leicht zu Missverständnissen. Besonders bei denen, die einerseits der Gegenseite überhaupt keinen Humor zutrauen, andererseits selbst über alles Mögliche lachen können - nur nicht über sich selber.


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[1] Max Goldt, Bossa Nova im Schatten des Tele-Spargels. In: ders., Quitten für die Menschen zwischen Emden und Zittau. Zürich 1993, Taschenbuchausgabe München 2002; S. 68-72, Zitat von S. 72. Erstmals veröffentlicht in Titanic 11/1990.
[2] Im Original: wolverines. Diese Tierart wird im Deutschen gemeinhin als Vielfraß bezeichnet, gehört aber zur Familie der Marder. Ich fand, wenn ich Marder schreibe statt Vielfraß, ist es eindeutiger, dass damit eine Tierart gemeint ist.