Was bisher geschah: Es ist nicht zu leugnen -- die Liebste, das Kind und ich müssen nach den langen Ferien erst einmal den Rhythmus des Alltags wiederfinden, und dieser Prozess ist im Detail oft anstrengender, als es im Ganzen aussieht. Einen großen Teil der zurückliegenden Woche war ich so ausgiebig mit dem "Papa-Sein" beschäftigt, dass die Zeit und Energie, die mir diese Aufgabe noch übrig ließ, gerade noch ausreichte, um meine Leseliste weiter abzuarbeiten. Das allerdings tat ich ausgiebig, weshalb die "Lektüre"--Rubrik in dieser "Kaffee & Laudes"-Folge besonders umfangreich zu werden verspricht. -- Die Veranstaltung im "Baumhaus" am Donnerstag, die mich eventuell interessiert hätte, war eher ausgebucht, als ich mir eine Meinung darüber gebildet hatte, ob ich da bin will -- geschweige denn dass ich bis dahin auch nur mitgekriegt hätte, dass die Teilnehmerzahl begrenzt war und man sich hätte anmelden müssen. Volles Programm gab's dagegen am Wochenende -- sogar so voll, dass wir gar nicht alles, was wir theoretisch gern gemacht hätten, zeitlich unter einen Hut bekamen. Keine Zeit blieb etwa für das "Schollenfest" - angeblich "Berlins ältestes Volksfest", komisch, ich hatte gedacht, dieser Titel gebühre dem "Stralauer Fischzug"; da war ich allerdings auch noch nie - und leider auch für den "linken Bücherflohmarkt" an der Weberwiese. Stattdessen fuhren wir zuerst zum "veganen Sommerfest" auf dem Alex, da wir über das Foodsharing-Netzwerk den Tipp bekommen hatten, dort könne man große Mengen veganer Eiscreme (auf Lupinen-Basis!) für lau abgreifen. Auf dem Weg zur U-Bahn kamen wir an einer Straßenmusikerin vorbei, die sinnigerweise vor einem Hörgeräte-Laden auftrat; bei genauerem Hinsehen entpuppte sie sich als die australische Singer-Songwriterin Georgie Fisher, und ihr Auftritt war Teil eines von der Hörgerätefirma gesponserten "Musiksommers". Gute Musik gab's auf dem veganen Sommerfest auch, und dazu außer dem Lupinen-Eis noch allerlei andere Leckereien, diese allerdings nicht gratis. Eis erbeuteten wir reichlich und machten uns dann auf den Weg zur Kirche, wo eine Hochzeit inklusive Taufe zweier Kinder des Brautpaars stattfand; wir hatten uns in den Kopf gesetzt, dort Präsenz zu zeigen und gewissermaßen die Gemeinde zu repräsentieren, auch wenn wir nicht unbedingt repräsentativ für sie sind. Die ganze Veranstaltung war ein bisschen deprimierend, aber das wäre eigentlich ein Thema für sich; allmählich, denke ich, könnte ich zum Thema "Sakramente als Dienstleistung für Kirchenferne" ein ganzes Buch schreiben, oder wenigstens ein bis drei Kapitel eines Buches. Am Abend hatte meine Liebste wieder einmal einen Foodsaving-Einsatz in einem Biomarkt; und am Sonntag war dann wieder mal Büchertreff. Das war schön. So schön, dass ich danach von einem so tiefen Gefühl der Zufriedenheit erfüllt war wie schon lange nicht mehr.
Was ansteht: Meine Liebste hat heute einen extralangen Arbeitstag inklusive Dienstbesprechung und Elternabend; deshalb werde ich, damit sie wenigstens in den Pausenzeiten dazwischen etwas von ihrem Kind sieht (und umgekehrt), wohl am frühen Nachmittag das Kind und mich in die S-Bahn setzen und meine Liebste an ihrem Arbeitsplatz besuchen; das war wohlgemerkt ihre Idee. Am Donnerstag, dem Gedenktag der Enthauptung Johannes des Täufers, kollidieren zwei recht interessant aussehende Veranstaltungen terminlich miteinander. Im Garten der Apostolischen Nuntiatur findet ein "Picknick mit Papst Franziskus" statt, was indes nicht ganz wörtlich zu verstehen ist; der Papst wird dort lediglich in Gestalt seiner Schriften zugegen sein, wobei der Schwerpunkt wohl auf dem nachsynodalen Schreiben "Christus vivit" liegen soll. Die Einladung richtet sich zwar ausdrücklich an "junge Menschen zwischen 16 und 30 Jahren", aber vielleicht bekämen wir ja Familienrabatt: Im Durchschnitt sind meine Liebste, das Kind und ich schließlich erst 27. Als größeres Problem dürfte es sich erweisen, dass ich es nicht geschafft habe, Christus vivit zu Ende zu lesen, weil der Text mich einfach zu sehr genervt hat. Vielleicht also doch lieber zur Bibliothek des Konservatismus, wo Caroline Sommerfeld über zehn Grundsätze der Erziehung spricht? Schauen wir mal. Sehr ereignisreich verspricht erneut das Wochenende zu werden, denn da steht für meine Liebste ein Kollegiumsausflug ins Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin einschließlich einer Fahrt mit dem Forschungsschiff "Solar Explorer" auf dem Programm, und das Kind und ich dürfen mit. Ganz in der Nähe gibt es übrigens die "Kommunität Grimnitz", eine überkonfessionell christliche Gemeinschaft, die auf dem Gelände einer ehemaligen Oberförsterei Selbstversorger-Landwirtschaft betreibt und von deren Existenz ich erstmals durch Anja Hradetzkys "Cowgirl"-Buch erfahren habe. Vielleicht kann man da ja mal vorbeischauen. Wär aber wahrscheinlich sinnvoll, vorher mal dort anzurufen, statt einfach unangekündigt auf der Matte zu stehen. Ob wir es am Sonntag dann noch zum Gemeindefest in Heiligensee schaffen, bleibt abzuwarten...
aktuelle Lektüre: Unerwartet und sehr zu meiner Zufriedenheit wurde ich bereits am Mittwoch mit meiner bisherigen Leseliste fertig und konnte folglich schon am Donnerstag eine neue beginnen. Es gibt also eine ganze Menge zu bilanzieren:
- Joseph Roth: Die Büste des Kaisers
Sonderbarerweise hatte ich ja irgendwie gehofft, die letzte der vier Joseph-Roth-Novellen, die auf meiner Leseliste standen, wäre nicht so besonders toll, aber diese Hoffnung hat sich ganz und gar nicht erfüllt. Kann man - analog zur gängigen Redewendung "Ich wurde bitter enttäuscht" -- von einer "süßen Enttäuschung" sprechen? Jedenfalls finde ich diese Erzählung ganz großartig, und zwar in erster Linie wegen ihres politischen - oder, wenn man so will, vielleicht eher "antipolitischen" - Gehalts. Der folgende Auszug mag verdeutlichen, was ich damit meine:
"Denn es ist einer der größten Irrtümer der neuen - oder, wie sie sich gerne nennen: modernen - Staatsmänner, daß das Volk (die 'Nation') sich ebenso leidenschaftlich für die Weltpolitik interessiert wie sie selber. [...]
Immer gibt es, unabhängig von allem Wechsel der Weltgeschichte, von Republik und Monarchie, von sogenannter nationaler Selbständigkeit oder sogenannter nationaler Unterdrückung, im Leben des Menschen eine gute oder eine schlechte Ernte, gesundes und faules Obst, fruchtbares und kränkliches Vieh, die satte und die magere Weide, den Regen zu Zeit und Unzeit, die fruchtbare Sonne und jene, die Dürre und Unheil brachte; für den jüdischen Händler bestand die Welt aus guten und aus schlechten Kunden; für den Schankwirt aus guten und aus schwachen Trinkern; für den Handwerker wieder war es wichtig, ob die Leute neue Dächer, neue Stiefel, neue Hosen, neue Öfen, neue Schornsteine, neue Fässer brauchen oder nicht. [...] Nachdem sie Zeitungen gelesen, Reden gehört, Abgeordnete gewählt, selber mit Freunden die Vorgänge in der Welt besprochen haben, kehren die braven Bauern, Handwerker und Kaufleute - und in den großen Städten auch die Arbeiter - in ihre Häuser und Werkstätten zurück. Und Kummer oder Glück erwarten sie zu Hause: kranke oder gesunde Kinder, zänkische oder friedliche Weiber, zahlende oder säumige Kunden, zudringliche oder geduldige Gläubiger, ein gutes oder ein schlechtes Essen, ein sauberes oder ein schmutziges Bett. Ja, es ist unsere Überzeugung, daß sich die einfachen Menschen gar nicht um die Weltgeschichte kümmern, mögen sie auch an Sonntagen ein langes und breites von ihr reden."
Das ist natürlich eine gefährliche Aussage - eine Häresie gegen unseren "staatsbürgerlichen Katechismus", wie Rod Dreher das nennen würde -, aber ich glaube, es stimmt. Ich selbst zum Beispiel bin seit einem Vierteljahrhundert wahlberechtigt, und in dieser ganzen Zeit hat es nie irgendwelche signifikanten Auswirkungen auf mein persönliches Wohlergehen gehabt, wer gerade an der Regierung war. Daher gelange ich allmählich zu der Auffassung, im gängigen Verständnis "politische" Nachrichten seien im Großen und Ganzen nicht mehr und nicht weniger "wichtig" als Fußballergebnisse oder Promi-Klatsch. Ach, Ursula von der Leyen ist zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt worden? Gut und schön, aber Miley Cyrus hat sich von Liam Hemsworth getrennt -- was sagen Sie denn dazu? (Das Beispiel ist womöglich schlecht gewählt, denn Miley Cyrus' Trennung von Liam Hemsworth ist sehr wohl ein politisches Thema; aber dazu später.)
- Eric Walz: Die Herrin der Päpste
Man sollte es ja eigentlich nicht für möglich halten, aber dieser 40 Druckbogen starke Wälzer wird zum Ende hin tatsächlich noch schlechter, als er bis dahin sowieso schon war. Um die Romanhandlung bis zur Gründung des Heiligen Römischen Reiches (und noch ein Stückchen darüber hinaus) fortspinnen zu können, lässt er seine Protagonistin 94 Jahre alt werden und erst 984 in einem Kloster sterben, während die echte Marozia laut herrschender Forschungsmeinung bereits spätestens 936 starb, nachdem ihr Sohn Alberich (und nicht, wie im Roman dargestellt, ihr Ex-Mann Hugo) sie in der Engelsburg eingekerkert hatte. Nahezu ein Drittel des Romans spielt mithin in einer Zeit, die die Protagonistin in Wirklichkeit gar nicht mehr miterlebt hat. Eine wichtige Rolle in der Schlussphase der Romanhandlung spielt Marozias Enkel Octavian, der 955 noch als Jugendlicher zum Papst gewählt wurde und sich als solcher Johannes XII. nannte: Bei Walz ist er ein etwas naiver und dadurch allzu leicht beeinflussbarer, aber im Grunde liebenswerter Junge -- und außerdem schwul. Was interessant ist, da die von Kaiser Otto I. einberufene Synode, die Papst Johannes XII. im Jahr 963 absetzte, ihm zwar nahezu alle nur erdenklichen Untaten und Verbrechen vorwarf, aber ausgerechnet das sodomitische Laster war meines Wissens nicht darunter. Aber schnurz, es bietet dem Autor die Gelegenheit, seinen Roman mit einer rührseligen Liebesgeschichte zwischen dem jungen Papst und einem Lustknaben namens Ganymed aufzupeppen und seine Heldin nebenbei als vorbildlich LGBT-tolerante Omma in Szene zu setzen. Damit nicht genug, macht der Autor die Kaiserin Theophanu kurzerhand zu einer Enkelin von Marozia, womit Kaiser Otto III. also ihr Urenkel wäre -- und hat noch die Stirn, im Anhang zum Roman zu behaupten, diese frei erfundene verwandtschaftliche Beziehung sei zwar nicht belegt, aber immerhin möglich. Über die Reichsidee Ottos III. schreibt er allen Ernstes, seine "Pläne für ein in Frieden geeintes Europa" muteten "im Zeitalter der Europäischen Union geradezu modern" an (S. 628); schrieb ich nicht neulich schon mal, der Mann habe den geistigen Horizont eines durchschnittlichen Spiegel-Lesers? -- Das Frappierendste und zugleich Lächerlichste an dieser Sorte trivialer Historienschinken ist und bleibt aber, dass die Hauptcharaktere darin stets denken, reden und handeln, als seien sie aus einer heutigen Soap Opera durch einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum ins Mittelalter katapultiert worden. Es ist mir ganz und gar unbegreiflich, wie jemand annehmen kann, im Mittelalter hätte es Leute mit solchen Anschauungen gegeben, ja geben können, wie sie hier von der Titelheldin des Romans und einiger ihr nahe stehender Figuren vertreten werden. Wobei ich zugeben muss, dass es mir schon schwer genug fällt, mir vorzustellen, dass es solche Leute heute gibt.
- Kurt Tucholsky: Politische Justiz
Dieses in der vorigen "Kaffee & Laudes"-Episode so hart beurteilte Büchlein wird in seinem letzten Drittel tatsächlich wieder graduell besser; insbesondere der Abschnitt, in dem es um politische Justiz im engeren Sinne geht, also um den Umgang der Justiz mit politisch motivierten Straftaten, ist schon aus historischer Perspektive sehr interessant. Im Abschnitt "Der Zivilprozess" folgen zwei bissige Satiren auf die berüchtigte Lust des Deutschen am Prozessieren, aber ach -- als allerletzten Einzelbeitrag musste der Herausgeber partout ein Gedicht anfügen, das in larmoyantem Ton gesetzliche Erleichterungen für Ehescheidung und Abtreibung fordert. Der Text ist von 1929, zu diesem Zeitpunkt war Tucholsky schon einmal geschieden und wurde es 1933 nochmals; er wusste also, wie's geht. Darüber, ob für seine Haltung zum Thema Abtreibung Ähnliches gilt, möchte ich lieber nicht spekulieren. Kurz und gut, obwohl das Buch in Teilen durchaus lesenswert ist, kommt es im Ganzen nicht für den Bestand "meiner" Bücherei in Frage, nicht einmal "vorläufig"; und was noch schlimmer ist, auch meine persönliche Sympathie für Tucholsky hat unter diesem Buch erheblich gelitten. Aber er bekommt ja eine Chance zur Rehabilitation --- siehe unten.
- Erik Neutsch: Spur der Steine
So interessant ich dieses Buch in mehrfacher Hinsicht fand und finde, so sehr hat es sich als ein Kraftakt erwiesen, es tatsächlich zu Ende zu lesen. Der Versuch des Autors, in seinem Roman gewissermaßen die gesamte DDR abzubilden, hat etwas sehr Beeindruckendes, zuweilen aber auch Ermüdendes. Während es in der Haupthandlung um den Industrieanlagenbau geht, dreht sich ein umfangreicher Nebenhandlungsstrang um die Kollektivierung der Landwirtschaft, und in episodischen Ströngen kommen auch die Kulturpolitik (in Gestalt eines vom Parteiapparat wiederholt wegen angeblicher spätbürgerlicher Dekadenz gemaßregelten Malers) und der Sport (anlässlich der Radsport-Weltmeisterschaft des Jahres 1960 auf dem Sachsenring) zum Zuge, und wenngleich der Hauptschauplatz des Romans eine Großbaustelle im Bezirk Halle ist, decken verstreute Episoden so ziemlich das gesamte Territorium des damaligen realsozialistischen deutschen Staates ab, von der Ostsee bis zum Erzgebirge und vom Harz bis an die Oder. Aufschlussreich für die Beurteilung der Handlungsführung ist übrigens der Umstand, dass der erste Teil des Romans seinerzeit in der Zeitschrift Forum vorab veröffentlicht und damit der öffentlichen Kritik unterworfen wurde; wie es heißt, verging dem Autor daraufhin beinahe die Lust zum Weiterschreiben, aber offenbar hat er Autor sich dann doch redlich bemüht, sowohl die Kritik von staatlicher bzw. parteiamtlicher Seite zu beherzigen als auch den an ihn herangetragenen Publikumserwartungen gerecht zu werden. Zeitweilig könnte man den Eindruck haben, in dem Maße, wie der ursprüngliche Haupt-Sympathieträger, der Parteisekretär Horrath, im Handlungsverlauf demontiert wird, werde der Roman auf der Erzählebene, gewissermaßen zum Ausgleich, desto propagandistischer; aber tatsächlich wird eine (womöglich durchaus angestrebte) Eindeutigkeit in der Aussageabsicht bis zum Schluss immer wieder unterlaufen durch die Vielschichtigkeit seiner Hauptcharaktere. Kurz, wenngleich der Roman zum Ende hin für mein Empfinden spürbar schwächer wird - was, wie Tante Wiki weiß, "schon zur Entstehungszeit" so empfunden wurde -, sehe ich keine Veranlassung, mein positives Gesamturteil zu revidieren. Interessant ist das Buch schließlich gerade auch in seinen Widersprüchen und lehrreich gerade auch dank seiner ideologischen Irrtümer.
Abschließend ein schönes Zitat:
"Du bist Parteimitglied. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß wir uns nicht allein gehören. Persönlicher Verdruß oder gar Feigheit werden uns nicht gegönnt. Ich will nicht sagen, daß sie uns nicht anfielen wie jeden anderen. Doch so schwer es auch zu erfüllen sein mag, von uns wird immer nur ein gerechter Mut verlangt." (S. 687)
- Adrian Plass: A Smile on the Face of God
Definitiv ein Glücksgriff, sowohl für das Büchereiprojekt als auch für mich persönlich. Wobei ich zugeben muss, dass meine Begeisterung für dieses Buch in dessen zweiter Hälfte auf eine harte Probe gestellt worden ist, nämlich in dem Abschnitt, der die Amtszeit des Protagonisten als Priester auf der Isle of Wight schildert. Es sind die 70er-Jahre, und die Welle der Charismatischen Erneuerung schwappt übers Land und trifft auch Reverend Ilott mit voller Wucht. Nun ist es wohl kein großes Geheimnis, dass meine persönliche Einstellung zur Charismatischen Bewegung mitunter heftig zwischen Faszination, Sympathie, Skepsis und einer distanzierten "Also mein Ding ist das eher nicht so"-Haltung oszilliert. So auch hier. Bei der Schilderung einer überkonfessionellen "informellen Kommunionfeier", bei der die Teilnehmer Brot und Wein an ihren jeweiligen Sitznachbarn weiterreichen, malte ich mir aus, mich mit einem actionfilmmäßigen Zeitlupen-Hechtsprung und langgezogenem "NEEEEIIIIN!!!" dazwischen zu werfen. -- Nach sieben Jahren auf der Isle of Wight verschlägt es den Reverend Ilott dann aber in eine Gemeinde gutbürgerlicher, saturierter "Kulturchristen", woraufhin seine Tochter prompt Punk wird; das ist, wie man sich vorstellen kann, wiederum ein Abschnitt des Buches, der für meinen Geschmack gern ausführlicher hätte geraten dürfen. Insgesamt hat sich das Buch den Büchereistempel jedenfalls redlich verdient!
So, und nun zur neuen Leseliste:
- Christy Brown: Mein linker Fuß
Man kennt ja den Film. Daniel Day-Lewis hat für die Hauptrolle einen Oscar bekommen, nominiert war im selben Jahr auch Tom Cruise für "Geboren am 4. Juli", die Filmkritiker kriegten sich gar nicht mehr ein über dieses Duell der Rollstuhlfahrer-Darsteller. Die Buchvorlage habe ich einige Jahre später zum Geburtstag geschenkt bekommen, aber, soweit ich mich erinnere, nie gelesen, das Buch muss noch irgendwo sein, wahrscheinlich in einem nicht ausgepackten Umzugskarton in der Abstellkammer unter der Treppe (familienintern "Harry-Potter-Zimmer" genannt). Das Exemplar, das ich nunmehr zu lesen begonnen habe, habe ich aus einer Büchertelefonzelle. Es ist eine Großdruck-Ausgabe und hat ein anderes Umschlagbild. Nun gut, ich habe angefangen, es zu lesen, und finde es - im guten Sinne des Wortes - (be-)rührend. Auch wenn das Vorwort in mir den Verdacht geweckt hat, der Umstand, dass dieses Buch überhaupt veröffentlicht wurde, verdanke sich nicht irgendwelchen inhärenten Qualitäten des Texts, sondern vielmehr der medizinischen Sensation, dass jemand mit einer so schweren Behinderung überhaupt in der Lage ist, ein Buch zu schreiben.
- Joachim Seyppel: Ein Yankee in der Mark
Ebenfalls ein Fundstück aus einer Büchertelefonzelle. Bei dem Titel dachte ich zunächst an Mark Twain ("Ein Yankee aus Connecticut an König Artus' Hof"). Nun, ein Mark Twain ist der 2012 verstorbene Autor Seyppel sicherlich nicht, aber allemal eine interessante Gestalt: Nach Kriegsteilnahme und sowjetischer Gefangenschaft ging er 1949 als Harvard-Stipendiat in die USA, wo er zwölf Jahre lang als Literaturdozent tätig war und die dortige Staatsbürgerschaft erwarb, kehrte dann zunächst nach West-Berlin zurück, siedelte aber 1973 in den Ostteil der Stadt um und wurde DDR-Bürger, geriet jedoch bald mit dem Regime in Konflikt, wurde 1979 quasi in den Westen "abgeschoben" und 1982 aus der DDR ausgebürgert. Sein vorliegendes Buch ist 1969 erschienen, also zu einer Zeit, als er noch mit dem real existierenden Sozialismus sympathisierte. Schon die bibliographischen Angaben im Buch sind bezeichnend, erschienen ist es bei einem westdeutschen Verlag (in Wiesbaden), jedoch als Lizenzausgabe des "mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlages Berlin und Weimar" und gedruckt in der DDR. Das inhaltliche Konzept des Buches besteht in etwa darin, Fontanes "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" rund ein Jahrhundert später "nachzuwandern". Ungefähr vier Seiten habe ich gebraucht, um mich mit dem etwas manierierten Stil anzufreunden, und jetzt bin ich schon ein bisschen verliebt in das Buch. Hier ein schönes Zitat:
"Idylle ist ja nur da, wo sie als solche noch nicht entdeckt ist; wo der Ort naiv ist; und wo man erst bei der Abfahrt plötzlich bemerkt, daß dies eine Idylle war." (S. 23)
Übrigens spielt in Seyppels Impressionen aus dem Brandenburgischen auch die Kirche - die evangelische zumeist, aus naheliegenden geographisch-historischen Gründen - immer mal wieder eine Rolle, und zwar eine recht ambivalente, wie man es sich leicht vorstellen kann bei einem Autor, der sich einerseits zum Atheismus bekennt, andererseits aber Paul Gerhardt schätzt, als Dichter jedenfalls. Weiteres dann nächste Woche...
Und noch ein weiteres Fundstück aus einer Büchertelefonzelle, aber was für eins! Natürlich hatte mich zunächst der Titel neugierig gemacht, aber so richtig begriff ich erst auf den zweiten oder dritten Blick, was für ein Fang mir da ins Netz gegangen war. Der Titelheld dieses Buches ist laut Klappentext der "Sohn des neuen Pastors in der Standard Christian Church [!]", der sich "nicht zufrieden damit [gibt], wie seine Umgebung den christlichen Glauben lebt", und dadurch "dem gewohnten Trott der Sonntagsgemeinde kräftig durcheinander wirbelt". Guck an, ein echtes christliches Jugendbuch -- und der Autor war übrigens, wie ich inzwischen in Erfahrung gebracht habe, in den späten 60ern neben dem weitaus bekannteren Larry Norman einer der Begründer der christlichen Rockmusik. Kurz und gut: Dieses Buch müsste sich schon als eine sehr arge Enttäuschung entpuppen, um nicht in den Büchereibestand aufgenommen zu werden! Und danach, also nach einer Enttäuschung, sieht es nach der Lektüre der ersten Kapitel absolut nicht aus. Ich mag das Buch; auch weil es so amerikanisch ist, inhaltlich wie stilistisch. Eine einfache und gute Geschichte einfach und gut erzählen, das liegt den Deutschen nicht, das ist ein typisch amerikanisches Talent. Nebenbei ein interessantes Zitat:
"Eric war katholisch und besuchte die Konfessionsschule, und meine Eltern wollten nicht, dass ich zu viel Zeit mit ihm verbrachte. Ich wuchs in dem Glauben auf, dass bei Katholiken irgendetwas nicht stimmte, auch wenn mir nie jemand erklärte, was bei ihnen anders sein sollte." (S. 25f.)
Schauen wir mal, wie's weitergeht!
- Kurt Tucholsky: Panter, Tiger & Co
Wie gesagt, der Autor kriegt Bewährung. Dieser Auswahlband, den seinr zweite Ex-Frau (nicht Witwe!) Mary Gerold - Tucholskys Priscilla gewissermaßen, aber nein, der Vergleich hinkt wohl ziemlich - zusammengestellt hat, vereint allerlei Beiträge, die unter den Pseudonymen Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel und Kaspar Hauser vorwiegend in der "Weltbühne" erstveröffentlicht wurden. Offenbar ist es eine ziemlich gute Auswahl, denn mein Wohlwollen gegenüber Herrn Tucholsky, das, siehe oben, unlängst ziemlich gelitten hatte, hat sich im Zuge der Lektüre der ersten rd. 60 Seiten dieses Bändchens wieder ziemlich gut erholt. Absolut herrlich sind etwa die "Rezepte gegen Grippe"; oder dieses schöne Zitat:
"Da war Frau Otto aus Magdeburg, die sah aus wie die protestantische Moral. Die Moral hatte eine Tochter... wenn man sich schon von der Mutter schwer vorstellen konnte, wie sie zu einer Tochter gekommen war, so konnte man sich von der Tochter gar nichts vorstellen, und man wollte das auch nicht." (S. 24, aus "Der schiefe Hut".)Beide hier angeführten Textbeispiele erschienen übrigens unter dem Namen Peter Panter, und ich glaube, in dieser Rolle gefällt Tucholsky mir am besten; da wirkt er auf mich zuweilen wie ein Vorläufer von Max Goldt, manchmal sogar von Horst Evers. -- Mancher wird nun sagen, das müsse man aber andersherum ausdrücken, gemäß der Hackordnung des literarischen Kanons wäre ein Vergleich mit Tucholsky ein Kompliment für Goldt und Evers und nicht umgekehrt; aber weißt Du was, Leser: Ich pfeife auf die Hackordnung des literarischen Kanons, und wenn ich als promovierter Germanist das kann, kannst Du das auch. -- Und Theobald Tiger ist der mit den Gedichten, aus denen oft eine trocken-desillusionierte Sicht auf bürgerliche Moral, bürgerliche Ehe und bürgerliches Geschlechtsleben spricht. Ach, das muss eine schlimme Zeit gewesen sein, als man dachte (und Grund hatte zu denken): Wenn das Moral sein soll, was die braven Bürgerlein da praktizieren oder doch zu praktizieren vorgeben, dann möchte ich lieber keine haben. Verstehen kann ich diesen Impuls, aber er (ver)führt eben leicht zu ganz falschen Schlüssen.
Dieses Buch habe ich nicht aus einer Büchertelefonzelle, sondern aus dem Bücherpaket, das mein Bruder meiner Liebsten und mir am Rande des Familientreffens in Nordenham im Juli überlassen hat. Das dritte Buch aus dieser Quelle, das ich lese; und nachdem das erste ausgesprochen grausig und das zweite ausgesprochen großartig war, bin ich ziemlich gespannt. Vielversprechend liest sich auch der Klappentext:
"Die Centerville Christian Church in Kalifornien ist eine sterbende Gemeinde. Fast nur noch Alte, die Kirche verfällt, die Finanzen am Ende. [...] Eigentlich müsste sich die Gemeinde jetzt auflösen. Aber Samuel, einer der Gemeindeältesten, kann nicht glauben, dass dies Gottes Weg sein soll. [...] Wie macht man aus einer sterbenden Gemeinde eine wachsende? [...] Die dramatische Geschichte einer Gemeinde, die vielleicht die unsere sein könnte."Ist klar, warum mich das Buch interessiert, oder? Meine Liebste hat es bereits in Nordenham gelesen und fand es trotz gewisser Kritikpunkte ("Es ist nun mal ein Trivialroman") im Ganzen gut; das lässt hoffen.
Linktipps:
Wieder einmal stellt sich die Frage: Kann denn von häretisch.de (oder von der KNA, for that matter) etwas Gutes kommen? -- Nun, ob dieses KNA-Interview mit Frater Richard Schmidt, dem Ökonom der Benediktinerabtei Plankstetten - des "grünen Klosters" in der Oberpfalz, das seit nunmehr 25 Jshren Öko-Landbau betreibt - im vollen Umfang des Wortes "gut" ist, darüber mag man streiten, aber interessant ist es, doch doch. Gewiss, die in der Überschrift aufgegriffene Formulierung ist arg hemdsärmelig. Auch die Aussage Frater Richards, die Kirche solle sich lieber mehr um die Umwelt kümmern, als darüber zu streiten, "ob Jesus hü oder hott gesagt hat", ist sicher kritikwürdig. Und zu allem Überfluss setzt häretisch.de mitten in den Text einen Link zu einem anderen Interview desselben KNA-Mitarbeiters - mit dem Abt von Plankstetten, Beda Maria Sonnenberg, der meint, "[a]uch in der Seelsorge müsse auf den 'ökologischen Fußabdruck' geachtet werden" und deshalb solle man die Weltjugendtage abschaffen, die seien nämlich eine "ökologische Katastrophe". Ich sag mal so: Ein Blick in die Kirchengeschichte lehrt, dass die meisten Irrlehren als Überbetonung von etwas an sich Richtigem zu Lasten von etwas ebenso Richtigem und Wichtigem begonnen haben, und hier kann man live miterleben, wie so etwas passiert. Was Frater Richard aber beispielsweise über Autarkie, über die Anpflanzung von Grünstreifen zum Schutz vor Bodenerosion, feste Essenszeiten, Vorratshaltung und saisonale Ernährung sagt, das ist alles gar nicht doof, und besonders seine These, der Mensch habe infolge der Industrialisierung seinen Sinn für ökologische Zusammenhänge und natürliche Kreisläufe verloren, spricht mich sehr an.
Ich denke ja immer mal wieder halb lachend und halb weinend daran zurück, wie mir vor Jahren mal - im Rahmen einer Veranstaltung im Café J - ein katholischer Jugendleiter erzählen wolle, eine "Gender-Ideologie" gebe es ja gar nicht, die sie nur ein "Hirngespinst rechter Verschwörungstheoretiker". Gegen solche Behauptungen hilft es, sich mal anzuschauen, was die Gender-Ideologen (die angeblich keine sind) selbst so zu sagen haben; und in diesem Sinne knöpft sich der Pastor einen auf NBC News veröffentlichen Artikel von Marcie Bianco vor, in dem es um Heterosexualität als Stützpfeiler des Patriarchats (oder, anders ausgedrückt, als Instrument zur Unterdrückung der Frau) geht. Anhand der Thesen Biancos erläutert Burk, wieso Homosexualität aus feministischer Perspektive als "progressiv" gilt und dass das noch einmal eine ganz andere Aussage ist als die, die sexuelle Orientierung eines Menschen sei eine natürliche Veranlagung, die man so annehmen müsse, wie sie nun mal sei. Burk hält diesen Thesen das biblische Konzept der Komplementarität der Geschlechter entgegen, das sich in dem Satz "Als Mann und Frau schuf er sie" (Genesis 1,27) ausdrückt; im Prinzip ist das "Theologie des Leibes" in a nutshell, auch wenn Burk Baptist ist. Abschließend betont er, die christlichen Kirchen müssten in diesen Zeiten sehr viel mehr dafür tun, ihren Mitgliedern das christliche Verständnis von Geschlechtlichkeit, Sexualität und Ehe zu vermitteln.
Heilige der Woche:
Dienstag, 27. August: Hl. Monika (ca. 332-387), Mutter des Hl. Augustinus (s.u.). Ihre kirchengeschichtliche Bedeutung bestand vor allem darin, unermüdlich für die Bekehrung ihres Sohnes zu beten.
Mittwoch, 28. August: Hl. Augustinus (354-430), Bischof und Kirchenvater. Braucht hier wohl kaum näher vorgestellt zu werden: einer der bedeutendsten Theologen und Philosophen an der Grenze von der Spätantike zum Mittelalter.
Samstag, 31. August: Hl. Paulinus (ca. 300-358), Bischof von Trier ab ca. 346. Bekämpfte den Arianismus, ergriff auf dem Konzil von Arles (355) Partei für Athanasius von Alexandrien und wurde deshalb von Kaiser Konstantius II. nach Phrygien verbannt, wo er starb.
Aus dem Stundenbuch: