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Montag, 26. August 2019

Kaffee & Laudes - Das Wochen-Briefing (21. Woche im Jahreskreis)

Was bisher geschah: Es ist nicht zu leugnen -- die Liebste, das Kind und ich müssen nach den langen Ferien erst einmal den Rhythmus des Alltags wiederfinden, und dieser Prozess ist im Detail oft anstrengender, als es im Ganzen aussieht. Einen großen Teil der zurückliegenden Woche war ich so ausgiebig mit dem "Papa-Sein" beschäftigt, dass die Zeit und Energie, die mir diese Aufgabe noch übrig ließ, gerade noch ausreichte, um meine Leseliste weiter abzuarbeiten. Das allerdings tat ich ausgiebig, weshalb die "Lektüre"--Rubrik in dieser "Kaffee & Laudes"-Folge besonders umfangreich zu werden verspricht. -- Die Veranstaltung im "Baumhaus" am Donnerstag, die mich eventuell interessiert hätte, war eher ausgebucht, als ich mir eine Meinung darüber gebildet hatte, ob ich da bin will -- geschweige denn dass ich bis dahin auch nur mitgekriegt hätte, dass die Teilnehmerzahl begrenzt war und man sich hätte anmelden müssen. Volles Programm gab's dagegen am Wochenende -- sogar so voll, dass wir gar nicht alles, was wir theoretisch gern gemacht hätten, zeitlich unter einen Hut bekamen. Keine Zeit blieb etwa für das "Schollenfest" - angeblich "Berlins ältestes Volksfest", komisch, ich hatte gedacht, dieser Titel gebühre dem "Stralauer Fischzug"; da war ich allerdings auch noch nie - und leider auch für den "linken Bücherflohmarkt" an der Weberwiese. Stattdessen fuhren wir zuerst zum "veganen Sommerfest" auf dem Alex, da wir über das Foodsharing-Netzwerk den Tipp bekommen hatten, dort könne man große Mengen veganer Eiscreme (auf Lupinen-Basis!) für lau abgreifen. Auf dem Weg zur U-Bahn kamen wir an einer Straßenmusikerin vorbei, die sinnigerweise vor einem Hörgeräte-Laden auftrat; bei genauerem Hinsehen entpuppte sie sich als die australische Singer-Songwriterin Georgie Fisher, und ihr Auftritt war Teil eines von der Hörgerätefirma gesponserten "Musiksommers". Gute Musik gab's auf dem veganen Sommerfest auch, und dazu außer dem Lupinen-Eis noch allerlei andere Leckereien, diese allerdings nicht gratis. Eis erbeuteten wir reichlich und machten uns dann auf den Weg zur Kirche, wo eine Hochzeit inklusive Taufe zweier Kinder des Brautpaars stattfand; wir hatten uns in den Kopf gesetzt, dort Präsenz zu zeigen und gewissermaßen die Gemeinde zu repräsentieren, auch wenn wir nicht unbedingt repräsentativ für sie sind. Die ganze Veranstaltung war ein bisschen deprimierend, aber das wäre eigentlich ein Thema für sich; allmählich, denke ich, könnte ich zum Thema "Sakramente als Dienstleistung für Kirchenferne" ein ganzes Buch schreiben, oder wenigstens ein bis drei Kapitel eines Buches. Am Abend hatte meine Liebste wieder einmal einen Foodsaving-Einsatz in einem Biomarkt; und am Sonntag war dann wieder mal Büchertreff. Das war schön. So schön, dass ich danach von einem so tiefen Gefühl der Zufriedenheit erfüllt war wie schon lange nicht mehr. 

Was ansteht: Meine Liebste hat heute einen extralangen Arbeitstag inklusive Dienstbesprechung und Elternabend; deshalb werde ich, damit sie wenigstens in den Pausenzeiten dazwischen etwas von ihrem Kind sieht (und umgekehrt), wohl am frühen Nachmittag das Kind und mich in die S-Bahn setzen und meine Liebste an ihrem Arbeitsplatz besuchen; das war wohlgemerkt ihre Idee. Am Donnerstag, dem Gedenktag der Enthauptung Johannes des Täufers, kollidieren zwei recht interessant aussehende Veranstaltungen terminlich miteinander. Im Garten der Apostolischen Nuntiatur findet ein "Picknick mit Papst Franziskus" statt, was indes nicht ganz wörtlich zu verstehen ist; der Papst wird dort lediglich in Gestalt seiner Schriften zugegen sein, wobei der Schwerpunkt wohl auf dem nachsynodalen Schreiben "Christus vivit" liegen soll. Die Einladung richtet sich zwar ausdrücklich an "junge Menschen zwischen 16 und 30 Jahren", aber vielleicht bekämen wir ja Familienrabatt: Im Durchschnitt sind meine Liebste, das Kind und ich schließlich erst 27. Als größeres Problem dürfte es sich erweisen, dass ich es nicht geschafft habe, Christus vivit zu Ende zu lesen, weil der Text mich einfach zu sehr genervt hat. Vielleicht also doch lieber zur Bibliothek des Konservatismus, wo Caroline Sommerfeld über zehn Grundsätze der Erziehung spricht? Schauen wir mal. Sehr ereignisreich verspricht erneut das Wochenende zu werden, denn da steht für meine Liebste ein Kollegiumsausflug ins Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin einschließlich einer Fahrt mit dem Forschungsschiff "Solar Explorer" auf dem Programm, und das Kind und ich dürfen mit. Ganz in der Nähe gibt es übrigens die "Kommunität Grimnitz", eine überkonfessionell christliche Gemeinschaft, die auf dem Gelände einer ehemaligen Oberförsterei Selbstversorger-Landwirtschaft betreibt und von deren Existenz ich erstmals durch Anja Hradetzkys "Cowgirl"-Buch erfahren habe. Vielleicht kann man da ja mal vorbeischauen. Wär aber wahrscheinlich sinnvoll, vorher mal dort anzurufen, statt einfach unangekündigt auf der Matte zu stehen. Ob wir es am Sonntag dann noch zum Gemeindefest in Heiligensee schaffen, bleibt abzuwarten... 

aktuelle Lektüre: Unerwartet und sehr zu meiner Zufriedenheit wurde ich bereits am Mittwoch mit meiner bisherigen Leseliste fertig und konnte folglich schon am Donnerstag eine neue beginnen. Es gibt also eine ganze Menge zu bilanzieren:

  • Joseph Roth: Die Büste des Kaisers 
Sonderbarerweise hatte ich ja irgendwie gehofft, die letzte der vier Joseph-Roth-Novellen, die auf meiner Leseliste standen, wäre nicht so besonders toll, aber diese Hoffnung hat sich ganz und gar nicht erfüllt. Kann man - analog zur gängigen Redewendung "Ich wurde bitter enttäuscht" -- von einer "süßen Enttäuschung" sprechen? Jedenfalls finde ich diese Erzählung ganz großartig, und zwar in erster Linie wegen ihres politischen - oder, wenn man so will, vielleicht eher "antipolitischen" - Gehalts. Der folgende Auszug mag verdeutlichen, was ich damit meine: 
"Denn es ist einer der größten Irrtümer der neuen - oder, wie sie sich gerne nennen: modernen - Staatsmänner, daß das Volk (die 'Nation') sich ebenso leidenschaftlich für die Weltpolitik interessiert wie sie selber. [...] 
Immer gibt es, unabhängig von allem Wechsel der Weltgeschichte, von Republik und Monarchie, von sogenannter nationaler Selbständigkeit oder sogenannter nationaler Unterdrückung, im Leben des Menschen eine gute oder eine schlechte Ernte, gesundes und faules Obst, fruchtbares und kränkliches Vieh, die satte und die magere Weide, den Regen zu Zeit und Unzeit, die fruchtbare Sonne und jene, die Dürre und Unheil brachte; für den jüdischen Händler bestand die Welt aus guten und aus schlechten Kunden; für den Schankwirt aus guten und aus schwachen Trinkern; für den Handwerker wieder war es wichtig, ob die Leute neue Dächer, neue Stiefel, neue Hosen, neue Öfen, neue Schornsteine, neue Fässer brauchen oder nicht. [...] Nachdem sie Zeitungen gelesen, Reden gehört, Abgeordnete gewählt, selber mit Freunden die Vorgänge in der Welt besprochen haben, kehren die braven Bauern, Handwerker und Kaufleute - und in den großen Städten auch die Arbeiter - in ihre Häuser und Werkstätten zurück. Und Kummer oder Glück erwarten sie zu Hause: kranke oder gesunde Kinder, zänkische oder friedliche Weiber, zahlende oder säumige Kunden, zudringliche oder geduldige Gläubiger, ein gutes oder ein schlechtes Essen, ein sauberes oder ein schmutziges Bett. Ja, es ist unsere Überzeugung, daß sich die einfachen Menschen gar nicht um die Weltgeschichte kümmern, mögen sie auch an Sonntagen ein langes und breites von ihr reden." 
Das ist natürlich eine gefährliche Aussage - eine Häresie gegen unseren "staatsbürgerlichen Katechismus", wie Rod Dreher das nennen würde -, aber ich glaube, es stimmt. Ich selbst zum Beispiel bin seit einem Vierteljahrhundert wahlberechtigt, und in dieser ganzen Zeit hat es nie irgendwelche signifikanten Auswirkungen auf mein persönliches Wohlergehen gehabt, wer gerade an der Regierung war. Daher gelange ich allmählich zu der Auffassung, im gängigen Verständnis "politische" Nachrichten seien im Großen und Ganzen nicht mehr und nicht weniger "wichtig" als Fußballergebnisse oder Promi-Klatsch. Ach, Ursula von der Leyen ist zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt worden? Gut und schön, aber Miley Cyrus hat sich von Liam Hemsworth getrennt -- was sagen Sie denn dazu? (Das Beispiel ist womöglich schlecht gewählt, denn Miley Cyrus' Trennung von Liam Hemsworth ist sehr wohl ein politisches Thema; aber dazu später.) 

  • Eric Walz: Die Herrin der Päpste 
Man sollte es ja eigentlich nicht für möglich halten, aber dieser 40 Druckbogen starke Wälzer wird zum Ende hin tatsächlich noch schlechter, als er bis dahin sowieso schon war. Um die Romanhandlung bis zur Gründung des Heiligen Römischen Reiches (und noch ein Stückchen darüber hinaus) fortspinnen zu können, lässt er seine Protagonistin 94 Jahre alt werden und erst 984 in einem Kloster sterben, während die echte Marozia laut herrschender Forschungsmeinung bereits spätestens 936 starb, nachdem ihr Sohn Alberich (und nicht, wie im Roman dargestellt, ihr Ex-Mann Hugo) sie in der Engelsburg eingekerkert hatte. Nahezu ein Drittel des Romans spielt mithin in einer Zeit, die die Protagonistin in Wirklichkeit gar nicht mehr miterlebt hat. Eine wichtige Rolle in der Schlussphase der Romanhandlung spielt Marozias Enkel Octavian, der 955 noch als Jugendlicher zum Papst gewählt wurde und sich als solcher Johannes XII. nannte: Bei Walz ist er ein etwas naiver und dadurch allzu leicht beeinflussbarer, aber im Grunde liebenswerter Junge -- und außerdem schwul. Was interessant ist, da die von Kaiser Otto I. einberufene Synode, die Papst Johannes XII. im Jahr 963 absetzte, ihm zwar nahezu alle nur erdenklichen Untaten und Verbrechen vorwarf, aber ausgerechnet das sodomitische Laster war meines Wissens nicht darunter. Aber schnurz, es bietet dem Autor die Gelegenheit, seinen Roman mit einer rührseligen Liebesgeschichte zwischen dem jungen Papst und einem Lustknaben namens Ganymed aufzupeppen und seine Heldin nebenbei als vorbildlich LGBT-tolerante Omma in Szene zu setzen. Damit nicht genug, macht der Autor die Kaiserin Theophanu kurzerhand zu einer Enkelin von Marozia, womit Kaiser Otto III. also ihr Urenkel wäre -- und hat noch die Stirn, im Anhang zum Roman zu behaupten, diese frei erfundene verwandtschaftliche Beziehung sei zwar nicht belegt, aber immerhin möglich. Über die Reichsidee Ottos III. schreibt er allen Ernstes, seine "Pläne für ein in Frieden geeintes Europa" muteten "im Zeitalter der Europäischen Union geradezu modern" an (S. 628); schrieb ich nicht neulich schon mal, der Mann habe den geistigen Horizont eines durchschnittlichen Spiegel-Lesers? -- Das Frappierendste und zugleich Lächerlichste an dieser Sorte trivialer Historienschinken ist und bleibt aber, dass die Hauptcharaktere darin stets denken, reden und handeln, als seien sie aus einer heutigen Soap Opera durch einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum ins Mittelalter katapultiert worden. Es ist mir ganz und gar unbegreiflich, wie jemand annehmen kann, im Mittelalter hätte es Leute mit solchen Anschauungen gegeben, ja geben können, wie sie hier von der Titelheldin des Romans und einiger ihr nahe stehender Figuren vertreten werden. Wobei ich zugeben muss, dass es mir schon schwer genug fällt, mir vorzustellen, dass es solche Leute heute gibt. 

  • Kurt Tucholsky: Politische Justiz 
Dieses in der vorigen "Kaffee & Laudes"-Episode so hart beurteilte Büchlein wird in seinem letzten Drittel tatsächlich wieder graduell besser; insbesondere der Abschnitt, in dem es um politische Justiz im engeren Sinne geht, also um den Umgang der Justiz mit politisch motivierten Straftaten, ist schon aus historischer Perspektive sehr interessant. Im Abschnitt "Der Zivilprozess" folgen zwei bissige Satiren auf die berüchtigte Lust des Deutschen am Prozessieren, aber ach -- als allerletzten Einzelbeitrag musste der Herausgeber partout ein Gedicht anfügen, das in larmoyantem Ton gesetzliche Erleichterungen für Ehescheidung und Abtreibung fordert. Der Text ist von 1929, zu diesem Zeitpunkt war Tucholsky schon einmal geschieden und wurde es 1933 nochmals; er wusste also, wie's geht. Darüber, ob für seine Haltung zum Thema Abtreibung Ähnliches gilt, möchte ich lieber nicht spekulieren. Kurz und gut, obwohl das Buch in Teilen durchaus lesenswert ist, kommt es im Ganzen nicht für den Bestand "meiner" Bücherei in Frage, nicht einmal "vorläufig"; und was noch schlimmer ist, auch meine persönliche Sympathie für Tucholsky hat unter diesem Buch erheblich gelitten. Aber er bekommt ja eine Chance zur Rehabilitation --- siehe unten. 

  • Erik Neutsch: Spur der Steine 
So interessant ich dieses Buch in mehrfacher Hinsicht fand und finde, so sehr hat es sich als ein Kraftakt erwiesen, es tatsächlich zu Ende zu lesen. Der Versuch des Autors, in seinem Roman gewissermaßen die gesamte DDR abzubilden, hat etwas sehr Beeindruckendes, zuweilen aber auch Ermüdendes. Während es in der Haupthandlung um den Industrieanlagenbau geht, dreht sich ein umfangreicher Nebenhandlungsstrang um die Kollektivierung der Landwirtschaft, und in episodischen Ströngen kommen auch die Kulturpolitik (in Gestalt eines vom Parteiapparat wiederholt wegen angeblicher spätbürgerlicher Dekadenz gemaßregelten Malers) und der Sport (anlässlich der Radsport-Weltmeisterschaft des Jahres 1960 auf dem Sachsenring) zum Zuge, und wenngleich der Hauptschauplatz des Romans eine Großbaustelle im Bezirk Halle ist, decken verstreute Episoden so ziemlich das gesamte Territorium des damaligen realsozialistischen deutschen Staates ab, von der Ostsee bis zum Erzgebirge und vom Harz bis an die Oder. Aufschlussreich für die Beurteilung der Handlungsführung ist übrigens der Umstand, dass der erste Teil des Romans seinerzeit in der Zeitschrift Forum vorab veröffentlicht und damit der öffentlichen Kritik unterworfen wurde; wie es heißt, verging dem Autor daraufhin beinahe die Lust zum Weiterschreiben, aber offenbar  hat er Autor sich dann doch redlich bemüht, sowohl die Kritik von staatlicher bzw. parteiamtlicher Seite zu beherzigen als auch den an ihn herangetragenen Publikumserwartungen gerecht zu werden. Zeitweilig könnte man den Eindruck haben, in dem Maße, wie der ursprüngliche Haupt-Sympathieträger, der Parteisekretär Horrath, im Handlungsverlauf demontiert wird, werde der Roman auf der Erzählebene, gewissermaßen zum Ausgleich, desto propagandistischer; aber tatsächlich wird eine (womöglich durchaus angestrebte) Eindeutigkeit in der Aussageabsicht bis zum Schluss immer wieder unterlaufen durch die Vielschichtigkeit seiner Hauptcharaktere. Kurz, wenngleich der Roman zum Ende hin für mein Empfinden spürbar schwächer wird - was, wie Tante Wiki weiß, "schon zur Entstehungszeit" so empfunden wurde -, sehe ich keine Veranlassung, mein positives Gesamturteil zu revidieren. Interessant ist das Buch schließlich gerade auch in seinen Widersprüchen und lehrreich gerade auch dank seiner ideologischen Irrtümer. 
Abschließend ein schönes Zitat: 
"Du bist Parteimitglied. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß wir uns nicht allein gehören. Persönlicher Verdruß oder gar Feigheit werden uns nicht gegönnt. Ich will nicht sagen, daß sie uns nicht anfielen wie jeden anderen. Doch so schwer es auch zu erfüllen sein mag, von uns wird immer nur ein gerechter Mut verlangt." (S. 687) 

  • Adrian Plass: A Smile on the Face of God 
Definitiv ein Glücksgriff, sowohl für das Büchereiprojekt als auch für mich persönlich. Wobei ich zugeben muss, dass meine Begeisterung für dieses Buch in dessen zweiter Hälfte auf eine harte Probe gestellt worden ist, nämlich in dem Abschnitt, der die Amtszeit des Protagonisten als Priester auf der Isle of Wight schildert. Es sind die 70er-Jahre, und die Welle der Charismatischen Erneuerung schwappt übers Land und trifft auch Reverend Ilott mit voller Wucht. Nun ist es wohl kein großes Geheimnis, dass meine persönliche Einstellung zur Charismatischen Bewegung mitunter heftig zwischen Faszination, Sympathie, Skepsis und einer distanzierten "Also mein Ding ist das eher nicht so"-Haltung oszilliert. So auch hier. Bei der Schilderung einer überkonfessionellen "informellen Kommunionfeier", bei der die Teilnehmer Brot und Wein an ihren jeweiligen Sitznachbarn weiterreichen, malte ich mir aus, mich mit einem actionfilmmäßigen Zeitlupen-Hechtsprung und langgezogenem "NEEEEIIIIN!!!" dazwischen zu werfen. -- Nach sieben Jahren auf der Isle of Wight verschlägt es den Reverend Ilott dann aber in eine Gemeinde gutbürgerlicher, saturierter "Kulturchristen", woraufhin seine Tochter prompt Punk wird; das ist, wie man sich vorstellen kann, wiederum ein Abschnitt des Buches, der für meinen Geschmack gern ausführlicher hätte geraten dürfen. Insgesamt hat sich das Buch den Büchereistempel jedenfalls redlich verdient!

So, und nun zur neuen Leseliste: 

  • Christy Brown: Mein linker Fuß 
Man kennt ja den Film. Daniel Day-Lewis hat für die Hauptrolle einen Oscar bekommen, nominiert war im selben Jahr auch Tom Cruise für "Geboren am 4. Juli", die Filmkritiker kriegten sich gar nicht mehr ein über dieses Duell der Rollstuhlfahrer-Darsteller. Die Buchvorlage habe ich einige Jahre später zum Geburtstag geschenkt bekommen, aber, soweit ich mich erinnere, nie gelesen, das Buch muss noch irgendwo sein, wahrscheinlich in einem nicht ausgepackten Umzugskarton in der Abstellkammer unter der Treppe (familienintern "Harry-Potter-Zimmer" genannt). Das Exemplar, das ich nunmehr zu lesen begonnen habe, habe ich aus einer Büchertelefonzelle. Es ist eine Großdruck-Ausgabe und hat ein anderes Umschlagbild. Nun gut, ich habe angefangen, es zu lesen, und finde es - im guten Sinne des Wortes - (be-)rührend. Auch wenn das Vorwort in mir den Verdacht geweckt hat, der Umstand, dass dieses Buch überhaupt veröffentlicht wurde, verdanke sich nicht irgendwelchen inhärenten Qualitäten des Texts, sondern vielmehr der medizinischen Sensation, dass jemand mit einer so schweren Behinderung überhaupt in der Lage ist, ein Buch zu schreiben. 

  • Joachim Seyppel: Ein Yankee in der Mark 
Ebenfalls ein Fundstück aus einer Büchertelefonzelle. Bei dem Titel dachte ich zunächst an Mark Twain ("Ein Yankee aus Connecticut an König Artus' Hof"). Nun, ein Mark Twain ist der 2012 verstorbene Autor Seyppel sicherlich nicht, aber allemal eine interessante Gestalt: Nach Kriegsteilnahme und sowjetischer Gefangenschaft ging er 1949 als Harvard-Stipendiat in die USA, wo er zwölf Jahre lang als Literaturdozent tätig war und die dortige Staatsbürgerschaft erwarb, kehrte dann zunächst nach West-Berlin zurück, siedelte aber 1973 in den Ostteil der Stadt um und wurde DDR-Bürger, geriet jedoch bald mit dem Regime in Konflikt, wurde 1979 quasi in den Westen "abgeschoben" und 1982 aus der DDR ausgebürgert. Sein vorliegendes Buch ist 1969 erschienen, also zu einer Zeit, als er noch mit dem real existierenden Sozialismus sympathisierte. Schon die bibliographischen Angaben im Buch sind bezeichnend, erschienen ist es bei einem westdeutschen Verlag (in Wiesbaden), jedoch als Lizenzausgabe des "mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlages Berlin und Weimar" und gedruckt in der DDR. Das inhaltliche Konzept des Buches besteht in etwa darin, Fontanes "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" rund ein Jahrhundert später "nachzuwandern". Ungefähr vier Seiten habe ich gebraucht, um mich mit dem etwas manierierten Stil anzufreunden, und jetzt bin ich schon ein bisschen verliebt in das Buch. Hier ein schönes Zitat: 
"Idylle ist ja nur da, wo sie als solche noch nicht entdeckt ist; wo der Ort naiv ist; und wo man erst bei der Abfahrt plötzlich bemerkt, daß dies eine Idylle war." (S. 23) 
Übrigens spielt in Seyppels Impressionen aus dem Brandenburgischen auch die Kirche - die evangelische zumeist, aus naheliegenden geographisch-historischen Gründen - immer mal wieder eine Rolle, und zwar eine recht ambivalente, wie man es sich leicht vorstellen kann bei einem Autor, der sich einerseits zum Atheismus bekennt, andererseits aber Paul Gerhardt schätzt, als Dichter jedenfalls. Weiteres dann nächste Woche... 

Und noch ein weiteres Fundstück aus einer Büchertelefonzelle, aber was für eins! Natürlich hatte mich zunächst der Titel neugierig gemacht, aber so richtig begriff ich erst auf den zweiten oder dritten Blick, was für ein Fang mir da ins Netz gegangen war. Der Titelheld dieses Buches ist laut Klappentext der "Sohn des neuen Pastors in der Standard Christian Church [!]", der sich "nicht zufrieden damit [gibt], wie seine Umgebung den christlichen Glauben lebt", und dadurch "dem gewohnten Trott der Sonntagsgemeinde kräftig durcheinander wirbelt". Guck an, ein echtes christliches Jugendbuch -- und der Autor war übrigens, wie ich inzwischen in Erfahrung gebracht habe, in den späten 60ern neben dem weitaus bekannteren Larry Norman einer der Begründer der christlichen Rockmusik. Kurz und gut: Dieses Buch müsste sich schon als eine sehr arge Enttäuschung entpuppen, um nicht in den Büchereibestand aufgenommen zu werden! Und danach, also nach einer Enttäuschung, sieht es nach der Lektüre der ersten Kapitel absolut nicht aus. Ich mag das Buch; auch weil es so amerikanisch ist, inhaltlich wie stilistisch. Eine einfache und gute Geschichte einfach und gut erzählen, das liegt den Deutschen nicht, das ist ein typisch amerikanisches Talent. Nebenbei ein interessantes Zitat: 
"Eric war katholisch und besuchte die Konfessionsschule, und meine Eltern wollten nicht, dass ich zu viel Zeit mit ihm verbrachte. Ich wuchs in dem Glauben auf, dass bei Katholiken irgendetwas nicht stimmte, auch wenn mir nie jemand erklärte, was bei ihnen anders sein sollte." (S. 25f.) 
Schauen wir mal, wie's weitergeht! 

  • Kurt Tucholsky: Panter, Tiger & Co 
Wie gesagt, der Autor kriegt Bewährung. Dieser Auswahlband, den seinr zweite Ex-Frau (nicht Witwe!) Mary Gerold - Tucholskys Priscilla gewissermaßen, aber nein, der Vergleich hinkt wohl ziemlich - zusammengestellt hat, vereint allerlei Beiträge, die unter den Pseudonymen Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel und Kaspar Hauser vorwiegend in der "Weltbühne" erstveröffentlicht wurden. Offenbar ist es eine ziemlich gute Auswahl, denn mein Wohlwollen gegenüber Herrn Tucholsky, das, siehe oben, unlängst ziemlich gelitten hatte, hat sich im Zuge der Lektüre der ersten rd. 60 Seiten dieses Bändchens wieder ziemlich gut erholt. Absolut herrlich sind etwa die "Rezepte gegen Grippe"; oder dieses schöne Zitat:
"Da war Frau Otto aus Magdeburg, die sah aus wie die protestantische Moral. Die Moral hatte eine Tochter... wenn man sich schon von der Mutter schwer vorstellen konnte, wie sie zu einer Tochter gekommen war, so konnte man sich von der Tochter gar nichts vorstellen, und man wollte das auch nicht." (S. 24, aus "Der schiefe Hut".
Beide hier angeführten Textbeispiele erschienen übrigens unter dem Namen Peter Panter, und ich glaube, in dieser Rolle gefällt Tucholsky mir am besten; da wirkt er auf mich zuweilen wie ein Vorläufer von Max Goldt, manchmal sogar von Horst Evers. -- Mancher wird nun sagen, das müsse man aber andersherum ausdrücken, gemäß der Hackordnung des literarischen Kanons wäre ein Vergleich mit Tucholsky ein Kompliment für Goldt und Evers und nicht umgekehrt; aber weißt Du was, Leser: Ich pfeife auf die Hackordnung des literarischen Kanons, und wenn ich als promovierter Germanist das kann, kannst Du das auch. -- Und Theobald Tiger ist der mit den Gedichten, aus denen oft eine trocken-desillusionierte Sicht auf bürgerliche Moral, bürgerliche Ehe und bürgerliches Geschlechtsleben spricht. Ach, das muss eine schlimme Zeit gewesen sein, als man dachte (und Grund hatte zu denken): Wenn das Moral sein soll, was die braven Bürgerlein da praktizieren oder doch zu praktizieren vorgeben, dann möchte ich lieber keine haben. Verstehen kann ich diesen Impuls, aber er (ver)führt eben leicht zu ganz falschen Schlüssen. 

Dieses Buch habe ich nicht aus einer Büchertelefonzelle, sondern aus dem Bücherpaket, das mein Bruder meiner Liebsten und mir am Rande des Familientreffens in Nordenham im Juli überlassen hat. Das dritte Buch aus dieser Quelle, das ich lese; und nachdem das erste ausgesprochen grausig und das zweite ausgesprochen großartig war, bin ich ziemlich gespannt. Vielversprechend liest sich auch der Klappentext:
"Die Centerville Christian Church in Kalifornien ist eine sterbende Gemeinde. Fast nur noch Alte, die Kirche verfällt, die Finanzen am Ende. [...] Eigentlich müsste sich die Gemeinde jetzt auflösen. Aber Samuel, einer der Gemeindeältesten, kann nicht glauben, dass dies Gottes Weg sein soll. [...] Wie macht man aus einer sterbenden Gemeinde eine wachsende? [...] Die dramatische Geschichte einer Gemeinde, die vielleicht die unsere sein könnte." 
Ist klar, warum mich das Buch interessiert, oder? Meine Liebste hat es bereits in Nordenham gelesen und fand es trotz gewisser Kritikpunkte ("Es ist nun mal ein Trivialroman") im Ganzen gut; das lässt hoffen. 


Linktipps: 
Wieder einmal stellt sich die Frage: Kann denn von häretisch.de (oder von der KNA,  for that matter) etwas Gutes kommen? -- Nun, ob dieses KNA-Interview mit Frater Richard Schmidt, dem Ökonom der Benediktinerabtei Plankstetten - des "grünen Klosters" in der Oberpfalz, das seit nunmehr 25 Jshren Öko-Landbau betreibt - im vollen Umfang des Wortes "gut" ist, darüber mag man streiten, aber interessant ist es, doch doch. Gewiss, die in der Überschrift aufgegriffene Formulierung ist arg hemdsärmelig. Auch die Aussage Frater Richards, die Kirche solle sich lieber mehr um die Umwelt kümmern, als darüber zu streiten, "ob Jesus hü oder hott gesagt hat", ist sicher kritikwürdig. Und zu allem Überfluss setzt häretisch.de mitten in den Text einen Link zu einem anderen Interview desselben KNA-Mitarbeiters - mit dem Abt von Plankstetten, Beda Maria Sonnenberg, der meint, "[a]uch in der Seelsorge müsse auf den 'ökologischen Fußabdruck' geachtet werden" und deshalb solle man die Weltjugendtage abschaffen, die seien nämlich eine "ökologische Katastrophe". Ich sag mal so: Ein Blick in die Kirchengeschichte lehrt, dass die meisten Irrlehren als Überbetonung von etwas an sich Richtigem zu Lasten von etwas ebenso Richtigem und Wichtigem begonnen haben, und hier kann man live miterleben, wie so etwas passiert. Was Frater Richard aber beispielsweise über Autarkie, über die Anpflanzung von Grünstreifen zum Schutz vor Bodenerosion, feste Essenszeiten, Vorratshaltung und saisonale Ernährung sagt, das ist alles gar nicht doof, und besonders seine These, der Mensch habe infolge der Industrialisierung seinen Sinn für ökologische Zusammenhänge und natürliche Kreisläufe verloren, spricht mich sehr an.

Ich denke ja immer mal wieder halb lachend und halb weinend daran zurück, wie mir vor Jahren mal - im Rahmen einer Veranstaltung im Café J - ein katholischer Jugendleiter erzählen wolle, eine "Gender-Ideologie" gebe es ja gar nicht, die sie nur ein "Hirngespinst rechter Verschwörungstheoretiker". Gegen solche Behauptungen hilft es, sich mal anzuschauen, was die Gender-Ideologen (die angeblich keine sind) selbst so zu sagen haben; und in diesem Sinne knöpft sich der Pastor einen auf NBC News veröffentlichen Artikel von Marcie Bianco vor, in dem es um Heterosexualität als Stützpfeiler des Patriarchats (oder, anders ausgedrückt, als Instrument zur Unterdrückung der Frau) geht. Anhand der Thesen Biancos erläutert Burk, wieso Homosexualität aus feministischer Perspektive als "progressiv" gilt und dass das noch einmal eine ganz andere Aussage ist als die, die sexuelle Orientierung eines Menschen sei eine natürliche Veranlagung, die man so annehmen müsse, wie sie nun mal sei. Burk hält diesen Thesen das biblische Konzept der Komplementarität der Geschlechter entgegen, das sich in dem Satz "Als Mann und Frau schuf er sie" (Genesis 1,27) ausdrückt; im Prinzip ist das "Theologie des Leibes" in a nutshell, auch wenn Burk Baptist ist. Abschließend betont er, die christlichen Kirchen müssten in diesen Zeiten sehr viel mehr dafür tun, ihren Mitgliedern das christliche Verständnis von Geschlechtlichkeit, Sexualität und Ehe zu vermitteln. 


Heilige der Woche: 

Dienstag, 27. August: Hl. Monika (ca. 332-387), Mutter des Hl. Augustinus (s.u.). Ihre kirchengeschichtliche Bedeutung bestand vor allem darin, unermüdlich für die Bekehrung ihres Sohnes zu beten.

Mittwoch, 28. August: Hl. Augustinus (354-430), Bischof und Kirchenvater. Braucht hier wohl kaum näher vorgestellt zu werden: einer der bedeutendsten Theologen und Philosophen an der Grenze von der Spätantike zum Mittelalter. 

Samstag, 31. August: Hl. Paulinus (ca. 300-358), Bischof von Trier ab ca. 346. Bekämpfte den Arianismus, ergriff auf dem Konzil von Arles (355) Partei für Athanasius von Alexandrien und wurde deshalb von Kaiser Konstantius II. nach Phrygien verbannt, wo er starb. 


Aus dem Stundenbuch: 

Alle sollen sich freuen, die auf dich vertrauen, * und sollen immerfort jubeln. (Psalm 5,12)



Montag, 19. August 2019

Kaffee & Laudes - Das Wochen-Briefing (20. Woche im Jahreskreis)

Was bisher geschah: Der größte Teil der zurückliegenden Woche war eher wenig ereignisreich -- abgesehen davon, dass meine kleine Tochter sich nach den langen Ferien erst wieder daran gewöhnen muss, dass ihre Mami den halben Tag nicht zu Hause ist. Damit sie sich nicht langweilt, habe ich ziemlich viel Zeit mit ihr auf Spielplätzen verbracht, was auch ganz gut geeignet war, Kontakte zu anderen Eltern zu knüpfen. An Mariä Himmelfahrt gingen wir nicht zur Infoveranstaltung für Erstkommunion-Eltern, sondern stattdessen zur Abendmesse in St. Joseph; wir waren ein bisschen spät dran und ließen uns ganz hinten in der Kirche nieder. In der Reihe vor uns war ebenfalls eine junge Familie, die Eltern schätzungsweise in den Dreißigern, mit drei reizenden Töchtern, von denen die älteste wohl im Grundschulalter und die jüngste schätzungsweise noch kein halbes Jahr alt war. Ein auffallender Anblick in dieser ansonsten so überalterten Gemeinde, und das an einem Werktag. Vielleicht haben wir ja Glück und sie sind gerade neu zugezogen, dachten meine Liebste und ich und sprachen die Eltern am Ende der Messe an, aber ach: Sie waren nur zu Besuch und wohnen eigentlich in Aschaffenburg. Tja. Am Samstag war zum vierten Mal Krabbelbrunch; ausgesprochen nett, auch wenn der große Durchbruch in Sachen Teilnehmerzahl weiter auf sich warten lässt. Im Rahmen der Vorbereitungen für den Brunch stand auch mal wieder eine Foodsaving-Aktion in einem Biomarkt an, an der ich indes nur insoweit beteiligt war, dass ich währenddessen mit meiner Tochter einen nahegelegenen Spielplatz erkundete. Zur Messe am Sonntag gingen wir ausnahmsweise in Heiligensee, unter anderem, weil anschließend im dortigen Pfarrhaus Bücher aus dem Nachlass des kürzlich verstorbenen Pfarrers Michael Silvers gegen Spende veräußert wurden. 


Was ansteht: Erneut steht für den größten Teil der Woche nicht viel Besonderes auf dem Programm, und das kommt mir gar nicht so ungelegen; ereignisreichere Zeiten zeichnen sich schon am Horizont ab, aber darauf komme ich zu gegebener Zeit zu sprechen. Am Donnerstag ist im "Baumhaus" eine Informationsveranstaltung über Finanzierungs- und Beteiligungsmodelle zur Unterstützung ökologischer Landwirtschaft, ich könnte mir vorstellen, dass es interessant wäre, da hinzugehen.  Am Samstag findet in Berlin ein konspiratives Treffen exilierter russischer Aristokraten statt, die über die Restauration der Monarchie beraten. Okay, ehrlich gesagt sind es gar keine russischen Aristokraten, sondern ganz gewöhnliche deutsche Bourgeois, aber, #sorrynotsorry, ich muss bei diesen Leuten immer an eine Passage aus der "Benedikt-Option" denken; wer das Buch gelesen hat, wird wissen, welche Stelle ich meine. Mir ist über zwei Ecken eine Einladung zu dieser supergeheimen Veranstaltung zugespielt worden, und ich habe überlegt, hinzugehen -- meine Liebste wäre dafür gewesen. Wäre ja vielleicht ganz interessant, zumindest um drüber zu schreiben. Aber schon angesichts des pompösen Tonfalls des Einladungsschreibens wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Mir scheint, diese Leute hoffen immer noch auf die "geistig-moralische Wende", die Helmut Kohl ihnen schon 1982 versprochen hat. Und dann gibt es Leute, die meine Visionen für realitätsfern halten... Okay, vielleicht sollte ich mal den Fuß ein bisschen vom Polemik-Gaspedal nehmen. Der Punkt ist, ich verstehe Leute nicht, die sich als "wertkonservativ und wirtschaftsliberal" bezeichnen; und ich verstehe sie auf mehreren Ebenen nicht. Zuerst einmal wundere ich mich, dass sie zwischen "wertkonservativ" und "wirtschaftsliberal" keinen Widerspruch sehen; und im nächsten Schritt frage ich mich dann, was für "Werte" es eigentlich sein sollen, die diese Leute konservieren wollen, abgesehen von solchen, die sich in Heller und Pfennig beziffern lassen. Wie dem auch sei, wahrscheinlich gehe ich am Samstag lieber zum "linken Bücherflohmarkt" an der Weberwiese. Vielleicht kann man da interessanten Stoff für unser Büchereiprojekt abgreifen.  Und à propos Büchereiprojekt: Am Sonntag ist wieder "Büchertreff". Diesmal präsentiert meine Liebste dort ihr "Hiob"-Programm -- eine (wie ich finde) sehr bemerkenswerte Kombination aus Lyrikvortrag und persönlichem Zeugnis. Ich bin sehr gespannt auf die Publikumsresonanz. 

aktuelle Lektüre: Die Bücher, mit deren Lektüre ich vorletzte Woche begonnen habe, werden mich wohl noch den größten Teil der aktuellen Woche beschäftigen; hier die derzeitige Zwischenbilanz:

Es ist doch wirklich wie verhext: Da versuche ich mich für einen von zwei sich inhaltlich stark überschneidenden Roth-Novellenbänden zu entscheiden, und es will mir einfach nicht gelingen! Die zuletzt gelesene Erzählung "Triumph der Schönheit" fand ich zwar inhaltlich weniger spannend als den "Leviathan"; aber der sarkastische Tonfall des Ich-Erzählers ist einfach unschlagbar. Ich habe mich köstlichstens amüsiert. Was den Prozess der Entscheidungsfindung zusätzlich erschwert, ja fast schon verunmöglicht, ist der Umstand, dass es in Gestalt der zwielichtigen Nebenfigur Jenö Latakos eine obskure Querverbindung zwischen dem "Leviathan" und dem "Triumph der Schönheit" gibt. Ich sehe es schon kommen, ich werde mich nach einem Roth-Novellenbänden umsehen müssen, in dem beide Texte enthalten sind. "Stationschef Fallmerayer" finde ich im direkten Vergleich eher verzichtbar, und nun habe ich noch "Die Büste des Kaisers" vor mir -- und die sonderbare Hoffnung, dass diese Erzählung auch nicht sooo toll sein möge.

  • Eric Walz: Die Herrin der Päpste 
Ziemlich sicher eins der schlechtesten Bücher, die ich je gelesen habe. Plumpe, dilettantische Geschichtsklitterung, schauderhafte Gesinnung und dazu Dialoge wie in einer RTL-Soap. Etwas beunruhigend, dass es Leute gibt, die so etwas gut finden; aber das sagte ich wohl schon.

  • Kurt Tucholsky: Politische Justiz 
Meine Wertschätzung für dieses Buch hat seit letzter Woche ganz rapide abgenommen. Zum Teil liegt das daran, dass diese Textsammlung etwas allzu deutlich verrät, dass Tucholsky in den über einen Zeitraum von fast 20 Jahren wohl hauptsächlich in der "Weltbühne" erschienenen Einzelbeiträgen (ein detailliertes Quellenverzeichnis fehlt) ziemlich oft dasselbe geschrieben hat. Gut, vielleicht tue ich das auch, aber wenn aus meinem Nachlass mal ein Sammelband zusammengestellt wird, dann möchte ich doch hoffen, dass die Herausgeber darauf achten, dass es nicht zu redundant wird. Davon abgesehen wird mir mit fortschreitender Lektüre immer klarer, dass Tucholsky bei all seiner schätzenswerten analytischen Schärfe und allem Witz eine ziemlich schauderhafte Gesinnung hatte. Beispielsweise zeigt sich diese in der mehrfach geäußerten Einschätzung, die Schuld eines Verbrechers an seinen Taten "verteile sich gleichermaßen auf das soziale Milieu [...] und auf seine biologischen Anlagen" (S. 79 u.ö.). Unterscheidet sich dieses Menschenbild wirklich so sehr von dem der von Tucholsky so sehr verabscheuten Nazis? Wo sich marxistische Klassenkampftheorie im Denken Tucholskys mit Psychoanalyse und den Thesen der zeitgenössischen Sexualforschung vereint, kommen auch schon mal Forderungen wie die nach einem Recht auf regelmäßigen Geschlechtsverkehr zustande. Und anlässlich seiner (im Übrigen gut begründeten) Kritik an einer gegen den Karikaturisten George Grosz erhobenen Anklage wegen Blasphemie lässt er einem nun wirklich plumpen und dummdreisten Antiklerikalismus die Zügel schießen. Nee, nee, Herr Tucholsky -- so wird das nichts mit uns beiden. 

Gänzlich anders liegt der Fall bei 
  • Erik Neutsch: Spur der Steine 
Frei heraus gesagt: Ich hätte nicht übel Lust, dieses Buch zur Pflichtlektüre für #BenOp-Aktivisten und -Agitatoren zu erklären; allerdings nur für solche, die geistig rege genug sind, um es gründlich "gegen den Strich" zu lesen. Ich halte es tatsächlich in vielfältiger Weise für lehrreich; eines von mehreren Aha-Erlebnissen war für mich eine Passage, in der der Parteisekretär dem eher kümmerlich vor sich hin ackernden Kleinbauern den Eintritt in die LPG schmackhaft machen will: 
"Er sprach von weiten Flächen, die nur noch vom Horizont begrenzt wurden, schaffte die Zugochsen und die Pferde ab, ließ ferngelenkte Maschinen den Weizen mähen und baute Ställe mit elektrischen Melkanlagen für tausend Rinder. So könnte es sein, wenn sich alle Bauern entschlössen..." (S. 361)
Nun bin ich ja, u.a. dank Rod Drehers "Crunchy Cons" und Anja Hradetzkys "Cowgirl"-Buch, ziemlich sensibilisiert für die Schattenseiten der Industrialisierung der Landwirtschaft und dachte unwillkürlich: Heute sieht man, dass der Kapitalismus besser darin ist, die Visionen des Sozialismus zu verwirklichen, als der Sozialismus selbst, und das wird ja auch von nicht wenigen Apologeten des Kapitalismus so gesehen und verfochten; der viel entscheidendere Punkt ist aber, dass die Vision falsch ist. -- Die Liebesgeschichte zwischen dem verheirateten Parteisekretär und der jungen, praktisch eben erst dem Elternhaus entwachsenen Ingenieurin, die im mittleren Drittel des Romans leider ziemlich breiten Raum einnimmt, ist schwer zu ertragen, aber ein Teil von mir findet das im Kontext dieses Romans gerade gut -- weil es zeigt, dass Sozialisten nichts von Liebe verstehen. Erst einige Zeit nachdem mir dieser Gedanke gekommen war, las ich auf S. 550: "Ein Kollektiv hat Grenzen, die Liebe übersteigt sein Urteilsvermögen, denn die Liebe ist nicht kollektiv." Na, guck an! -- Im Ernst: Man vergleiche mal die etwa von Tucholsky so sehr gescholtene (und zum Teil, auch wenn er aus ihren Unzulänglichkeiten die falschen Schlüsse zieht, nicht zu Unrecht gescholtene) bürgerliche Sexualmoral mit der sich als sozialistisch bezeichnenden Pseudomoral bei Neutsch, die es im Übrigen, nur eben ohne ideologische Schönrednerei, im Westen vor wie nach '68 auch gab: Selbstverständlich muss der junge Mann sich die Hörner abstoßen, geheiratet wird, wenn ein Kind unterwegs ist, und wenn die Gefühle füreinander verblasst sind, wäre es der größte Betrug, trotzdem zusammen zu bleiben. Fortschritt des moralischen Bewusstseins? Na besten Dank.

Dann gibt es aber auch wieder Stellen, an denen Neutsch schlicht großartig ist, womöglich sogar wider Willen. Zum Beispiel, wenn der Parteisekretär seiner etwa achtjährigen Tochter erklären will, seine schulischen Leistungen von einst seien mit ihren nicht zu vergleichen, weil zu seiner Zeit die Lehrer ja Nazis gewesen seien -- und er sich gegenüber ihrer glasklaren kindlichen Logik in Widersprüche verstrickt, bis sie ihn schließlich fragt, ob die Ohrfeige, die sie ihm mal verpasst hat, bedeute, dass er Faschist sei (S. 301).

Auch hier wäre übrigens noch etwas zum Thema Antiklerikalismus zu erwähnen. Mit dem Onkel des Ingenieurs Hesselbart liefert Neutsch eine grobe und böswillige Karikatur eines hochrangigen evangelischen Geistlichen ab, wenn auch nur als Randfigur; gleichzeitig legt gerade Hesselbart, der Neffe des Superintendenten, einen sehr scharfen und kritischen Blick für den quasi-religiösen Charakter der offiziellen staatstragenden Ideologie an den Tag -- und lässt, übrigens nicht als einzige Romanfigur, gelegentlich biblische Metaphern in seine Äußerungen einfließen. 

  • Adrian Plass: A Smile on the Face of God
Ich kann es kurz machen: Ich liebe dieses Buch. Nachdem ich es gut zur Hälfte durch habe, habe ich eigentlich nur eins daran zu bemängeln: Es ist zu kurz. Beispielsweise hätte ich liebend gerne mehr Details über die rund zweijährige Tätigkeit des Protagonisten als Wohnwagen-Missionar in Cornwall erfahren. Ich meine, hallo: Wohnwagen-Mission! In Cornwall! Ich würde denken, das allein ergäbe schon Stoff für ein ganzes Buch. Aber das wäre dann eben nicht dieses Buch, also will ich mal nicht meckern. 

Als nächstes habe ich dann "Mein linker Fuß" von Christy Brown und "Ein Yankee in der Mark" von Joachim Seyppel auf meiner Leseliste stehen. Wieder einmal Irland und wieder einmal DDR. Seien wir gespannt.

Linktipps: 

Eine Pfarrei in Portland im US-Bundesstaat Oregon hat einen neuen Pfarrer bekommen, der - offenbar mit Rückendeckung des Erzbischofs - angefangen hat, mit allerlei in der Gemeinde fest verwurzelten Unsitten und liturgischen Missbräuchen aufzuräumen: so etwa mit der Umformulierung liturgischer Texte und biblischer Lesungen im Sinne "inklusiver Sprache" oder der Ergänzung des Glaubensbekenntnisses durch ein "community commitment" der Gemeinde. Als der Priester dann auch noch einen Haufen eigenwillig gestalteter Messgewänder, Altardecken und Banner kurzerhand in die Tonne entsorgte, war das Maß voll: Die Alteingesessenen der Gemeinde befinden sich in offenem Aufruhr. -- Interessant an Freund Rods Schilderung des Falles ist es nicht zuletzt, dass er in einem Nachtrag zum Artikel ein gewisses Maß an Verständnis für die rebellierenden Althippies artikuliert: Der "bizarre linksgerichtete Halb-Katholizismus", der in dieser Gemeinde seit Jahrzehnten praktiziert worden sei, sei nun mal das, was diese Leute gewohnt sind, "und nun wird es ihnen weggenommen". Kein Wunder, dass sie sich wehren. Allerdings stellt Rod klar: "Es war nötig, ihnen das wegzunehmen, denn das ist nicht katholisch, und die Leute in dieser Gemeinde verdienen den echten katholischen Glauben."

Ich gebe zu, mein erster spontaner Gedanke, als ich von den Vorgängen in Portland las, war: Na guck, St. Willehad ist überall. Dann wiederum fand ich, verglichen mit dem Krawall, den die verärgerten Gemeindemitglieder in Portland veranstalten, sei das, was sich vor ein paar Jahren in Nordenham abgespielt hat, ja geradezu harmlos gewesen. Andererseits lag das aber vielleicht auch bloß daran, dass die Nordenhamer, oder überhaupt die Wesermärschler - konfessionsübergreifend - wohl schlichtweg subtilere Methoden haben, mit missliebigen Geistlichen fertig zu werden. Und vergessen wir nicht, der Pfarrer in Portland hat offenbar die Rückendeckung seines Erzbischofs. Man stelle sich mal vor, was in Deutschland los wäre, wenn hier ein rechtgläubiger Gemeindepfarrer im Konflikt mit einer "wackadoodle progressive parish" Rückendeckung von seinem Bischof bekäme! -- Eher nicht erleben werden wir das, allem Anschein nach, im folgenden Fall: 

Zu dieser Nachricht fällt mir ein kleiner Dialog ein, der, wie ich finde, erheblich an Reiz gewinnt, wenn man ihn komplett unerläutert lässt:
"Die Blumenfrau ist auf unserer Seite." -- "Die Blumenfrau ist IMMER auf der richtigen Seite!"
Dass dies keinesfalls für alle Pfarreien gilt, zeigt sich derzeit in der Pfarreiengemeinschaft St. Sebastian am Main in Schonungen, Bistum Würzburg. Denn dort ist Gabi Gressel nicht nur für den Blumenschmuck in der Kirche zuständig, sondern auch Ortsvorsitzende des Katholischen Frauenbundes und "Maria 2.0"-Aktivistin. In dieser Eigenschaft hat sie unlängst in einer Vorabendmesse den oder das Ambo gekapert, um ein Statement zu verlesen, und sich der Aufforderung des Pfarrers widersetzt, dies zu unterlassen. Der Pfarrer hat daraufhin den Gottesdienst abgebrochen. "Das ist nicht im Sinne von 'Maria 2.0'", beklagt sich Gabi Gressel. Ach was. Stell dir vor.

In der Darstellung der Presse ist natürlich der Pfarrer der Bösewicht dieser Geschichte. Und, wie schon angedeutet, seitens der Bistumsleitung hat er keine Unterstützung zu erwarten. Schreib ihm doch mal eine nette Postkarte, Leser. Und bete für ihn -- und dafür, dass andere Priester seinem Beispiel folgen. 


Heilige der Woche: 

Heute, Montag, 19. August: Hl. Johannes Eudes (1601-1680), Priester und Ordensgründer. Gehörte ab 1622 der vom Hl. Philipp Neri gegründeten Priestergemeinschaft der Oratorianer an, die er jedoch 1643 verließ, um die "Kongregation von Jesus und Maria" (CJM) zu gründen. Widmete sich u.a. der Seelsorge für Pestkranke, hielt Volksmissionen ab und gründete eine Einrichtung zur Betreuung ehemaliger Prostituierter. Bedeutender Förderer der Herz-Jesu-Verehrung; in "meiner" Pfarrkirche Herz Jesu Tegel ist er daher auf einem der Buntglasfenster in der Apsis abgebildet. 

Dienstag, 20. August: Hl. Bernhard von Clairvaux (ca. 1090-1153), Ordenspriester, Kirchenlehrer, Mystiker. Bedeutender Reformer des Zisterzienserordens, berühmter Prediger, lehnte insgesamt fünfmal die Berufung zum Bischof ab. Offizieller Kirchenpatron der Nachbarpfarrei in Tegel-Süd, die den Namen St. Bernhard aber tatsächlich wohl eher in Erwartung einer Heiligsprechung Bernhard Lichtenbergs (Gedenktag: 5. November) gewählt hat. 

Freitag, 23. August: Hl. Rosa von Lima (1586-1617), geweihte Jungfrau und Mystikerin, Tertiarin des Dominikanerordens, Patronin der Gärtner und Blumenhändler. Wurde 1671 als erste auf dem amerikanischen Doppelkontinent geborene Person heiliggesprochen. 

Samstag, 24. August: Hl. Bartholomäus, Apostel. Im Neuen Testament erscheint sein Name lediglich in den Apostellisten bei Matthäus, Markus und Lukas, er wird jedoch gemeinhin mit dem im Johannesevangelium etwas (wenn auch nicht viel) einlässlicher dargestellten Nathanael gleichgesetzt. Der Überlieferung zufolge wirkte er nach der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu als Glaubensbote in Mesopotamien und Armenien und starb als Märtyrer. Vor seiner Hinrichtung soll ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen worden sein.


Aus dem Stundenbuch: 

Ehe die Berge geboren wurden, die Erde entstand und das Weltall, * bist du, o Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. (Psalm 90,2)



Sonntag, 18. August 2019

And Then Along Comes Mary


Vor wenigen Tagen haben wir das Hochfest der Aufnahme Mariens in den Himmel, landläufig "Mariä Himmelfahrt" genannt, gefeiert. Ein "typisch katholisches" Fest, könnte man sagen – und eines, bei dem es darum geht, dass sich, wie es in einem bekannten Kirchentagsschlager heißt, "Himmel und Erde berühren". Möglicherweise liegt jedoch gerade darin – in dieser Vereinigung der irdischen, leiblichen und der überirdisch-geistigen Sphäre – das Sperrige und Provozierende des im Jahr 1950 von Papst Pius XII. dogmatisierten Glaubenssatzes von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel: Da wächst etwas zusammen, was dem gängigen menschlichen Verständnis zufolge nicht zusammenzugehören scheint. Es ist wohl einigermaßen bezeichnend, dass in der seit 1970 im deutschen Sprachgebiet liturgisch verwendeten Übersetzung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses die "Auferstehung des Fleisches" nicht explizit vorkommt, sondern mit "Auferstehung der Toten" wiedergegeben wird. Dass die Seele des Menschen in den Himmel aufgenommen wird, während der Leib zerfällt, scheint leichter vorstellbar zu sein als eine leibliche Auferstehung am Ende der Zeiten. 

Hinter dieser Feststellung steckt möglicherweise noch mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Wäre der christliche Glaube eine rein geistige Angelegenheit – ein philosophisches System, ein ethisches Programm, ein Kanon von "Werten" – dann täte sich der moderne oder postmoderne Mensch womöglich weniger schwer mit ihm; ja, man kann davon ausgehen, dass nicht wenige, die sich selbst als Christen definieren, ihren Glauben genau so, oder jedenfalls in erster Linie so, verstehen. Tatsächlich hat das Christentum aber eine sehr handfeste leiblich-diesseitige Komponente: Zentrale Elemente seiner Glaubenslehre, so vor allem die Menschwerdung, der Kreuzestod und die Auferstehung Jesu Christi, sind reale, in Raum und Zeit verankerte Ereignisse, die zugleich aber auch nicht einfach abgeschlossen in ferner Vergangenheit liegen, sondern in die Gegenwart hinein weiterwirken. Dass Gottes Wort Fleisch geworden ist, Menschennatur angenommen hat – und diese auch nicht etwa, wie die Gnostiker meinten, am Kreuz wieder abgelegt hat wie einen zerschlissenen Mantel, sondern mitsamt dieser Menschennatur auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist und zur Rechten des Vaters sitzt, hat schon der frühen Kirche zu den Zeiten der ersten Konzilien Kopfzerbrechen bereitet, und natürlich hat all dies auch Konsequenzen für die Frage nach der Bedeutung Marias, der leiblichen Mutter Jesu, im Heilsgeschehen. So bestätigte das Konzil von Ephesus im Jahre 431, dass Maria den schon seit dem 3. Jahrhundert bezeugten Titel "Gottesgebärerin" zu Recht trage – und traf so eine Aussage über das Verhältnis zwischen den zwei Naturen Jesu: Verworfen wurde damit die Auffassung, Jesus sei nur seiner menschlichen, nicht aber seiner göttlichen Natur nach der Sohn der Maria. 

Die Schwierigkeiten, die es dem menschlichen Verstand bereitet, Jesus gleichzeitig als wahren Menschen und als wahren Gott anzuerkennen, finden ihren Ausdruck seit dem Zeitalter der Aufklärung auch in Versuchen, den historischen Jesus und den Christus des Glaubens auseinanderzudividieren und gegeneinander auszuspielen. Schon damals entstand das Bild des Wanderpredigers Jesus aus Nazaret, der zwar ein bedeutender Weisheitslehrer gewesen sei, vergleichbar etwa mit Buddha und Sokrates, der aber niemals beansprucht habe, Gott zu sein. Bereits 1906 urteilte Albert Schweitzer in seiner "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung", dieser quasi gegen den Strich der Glaubensverkündigung gelesene Jesus sei "eine Gestalt, die vom Rationalismus entworfen, vom Liberalismus belebt und von der modernen Theologie in ein geschichtliches Gewand gekleidet wurde": Letztlich habe jeder Autor, der dem vermeintlich unter dem Sedimentgestein der christlichen Dogmatik verborgenen "historischen Jesus" nachgespürt habe, nur seine eigenen Idealvorstellungen auf diesen projiziert, sich also je nach persönlichem Geschmack einen eigenen Jesus zurechtspekuliert. Dieser Einwand Schweitzers hat indes nicht verhindern können, dass bis heute gern nach dieser Methode erfahren wird: Jeder baut sich den Jesus, der ihm passt: Mal sanftmütig, mal militant, mal streng, mal tolerant. Jesus der Hippie, Jesus der Kommunist, Jesus der Flüchtling, Jesus der Vegetarier. Der wirkliche Jesus, den nicht wir zu beurteilen haben, sondern der vielmehr uns richten wird, scheint in solchen Spekulationen überhaupt keine Rolle zu spielen. Sogar die besonders in evangelikalen Kreisen populäre Frage "Was würde Jesus tun?" reduziert Jesus, wenn man es recht bedenkt, auf ein bloßes Vorbild für ethisch richtiges Handeln und zieht gar nicht in Betracht, dass Er tatsächlich, und nicht nur im Konjunktiv, lebt und wirkt

Mit Maria verhält es sich ähnlich. Zwar ist die Marienverehrung bis heute in der Hauptsache eine Bastion der als konservativ geltenden Volksfrömmigkeit geblieben, aber schon vor Jahrzehnten gab es vereinzelte Versuche, Maria in einem "fortschrittlichen" Sinne umzudeuten und zu vereinnahmen. "Maria, ich nenne dich Schwester", dichtete etwa die feministische Lyrikerin Christa Peikert-Flaspöhler: "Ich sehe dein Frauengesicht, ich spüre dein Fragen und Handeln, wir trauen gemeinsam dem Licht, wir tragen gemeinsam das Wort der Befreiung, wir bringen es zur Welt" – dieses Gedicht oder Gebet hat es sogar bis ins Gotteslob geschafft. Ein Musical von Wilhelm Willms und Peter Janssens mit dem Titel "Ave Eva oder Der Fall Maria", das, wie es in einer Pressemitteilung hieß, Maria als "selbstbewusste junge Frau" zeigt, die "durch ihre Schwangerschaft zur gesellschaftlichen Außenseiterin wird", erhielt in den 70er und 80er Jahren wiederholt Aufführungsverbote in kirchlichen Einrichtungen. Und neuerdings gibt es "Maria 2.0" – eine Bewegung, deren Name bereits mehr über sie verrät, als ihr lieb sein dürfte. Der Name Maria erscheint hier bloß noch als Symbol oder Metapher für das Frauenbild der Kirche oder die Rolle der Frau in der Kirche, und dieses Frauenbild, so machen die Initiatoren durch den Namensbestandteil "2.0" deutlich, benötige ein "Update". Natürlich ist dieser Gebrauch des Namens Maria insofern nachvollziehbar, als Maria in der traditionellen Lehre der Kirche tatsächlich eine bedeutende Rolle als Symbolfigur spielt: als Urbild der Kirche – so schon beim Kirchenvater Ambrosius im 4. Jahrhundert und noch im Schlusskapitel der Dogmatischen Konstitution "Lumen Gentium" des II. Vatikanischen Konzils im Jahr 1964 – und durchaus auch als Rollenvorbild für die christliche Frau. Wenn die Bewegung "Maria 2.0" jedoch schon durch ihren Namen die Auffassung verrät, das tradierte Marienbild der Kirche – "Maria 1.0" gewissermaßen – sei nicht mehr zeitgemäß und müsse an die Erfordernisse der heutigen Zeit angepasst werden, dann stellt sich die Frage, was eigentlich die echte Maria, deren leibliche Aufnahme in den Himmel wir gerade gefeiert haben, dazu sagt. Und man hat den Eindruck, dass die Kirchen-Rebellinnen sich diese Frage überhaupt nicht stellen

HT: Tea with Tolkien 
Mit der Frage "Was würde die echte Maria sagen?" will ich allerdings nicht zwingend auf eine Diskussion über Marienerscheinungen hinaus. Dass gegenüber angeblichen Botschaften der Gottesmutter, die von kirchlicherseits nicht anerkannten Erscheinungen stammen, Vorsicht angebracht ist, dürfte auf der Hand liegen; aber auch da, wo die Kirche – wie im Falle der Erscheinungen von Lourdes und Fátima – den übernatürlichen Charakter der Erscheinungen bestätigt hat, sind die Mitteilungen der Gottesmutter an die jeweiligen Seher als Privatoffenbarungen zu betrachten und damit nicht Bestandteil des verbindlichen Glaubensguts. Für uns einfache Gläubige mag es daher genügen, darauf zu schauen, was uns die Evangelien über Maria verraten; und dort besteht ihre Rolle in erster Linie darin, auf Jesus hinzuweisen. Wenn wir uns fragen, was Maria uns heute zu sagen hat, dann finden wir die wohl beste Antwort darauf im Johannesevangelium, Kapitel 2, Vers 5: "Was ER euch sagt, das tut." 



Freitag, 16. August 2019

Und hat's dir nicht gefall'n, dann bohr dir doch ein Loch ins Knie

"Seid ihr zum ersten Mal hier?" Das war eine Frage, die einem beim "Forum Altötting" der Gemeinschaft Emmanuel sehr häufig gestellt wurde, zumindest dann, wenn man tatsächlich zum ersten Mal da war und folglich kaum jemanden kannte. Auf eine bejahende Antwort folgte dann meistens die Anschlussfrage: "Und wie seid ihr hergekommen?" In aller Regel war damit nicht gemeint "Mit dem Auto oder mit der Bahn?", sondern "Wie habt ihr überhaupt von der Veranstaltung erfahren?" 

Das fand ich faszinierend. Es handelte sich um eine Veranstaltung mit rd. 1.200 Teilnehmern, die öffentlich beworben worden war und die quasi mitten in der Öffentlichkeit stattfand (soweit das Wetter es zuließ, spielte das Hauptprogramm sich unter freiem Himmel auf dem Kapellplatz im Herzen Altöttings ab), aber trotzdem irgendwie unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung blieb. Soviel zum Thema "Magnus Striet weiß nicht, was Neuevangelisation ist, weil er sie noch nie gesehen hat"

Okay, häretisch.de hat über das Forum Altötting berichtet. Sogar ziemlich positiv. Liegt vermutlich daran, dass eine Praktikantin den Text geschrieben hat. 

Bei meinem Faible fürs Konspirative dauerte es eine Weile, bis mir dämmerte, dass das Prinzip "Hiding in Plain Sight" - will sagen: der Umstand, dass das Forum Altötting trotz seines öffentlichen Charakters letztlich doch eine Insider-Veranstaltung ist - auch seine Schattenseiten hat. Zum Beispiel die Gefahr, im eigenen Saft zu schmoren, wenn die Vernetzung mit Gleich- oder Ähnlichgesinnten außerhalb des eigenen Zirkels fehlt. Zahlreiche Einzelgespräche vermittelten mir den Eindruck, dass ebenso wie kein Uneingeweihter etwas vom Forum Altötting weiß, umgekehrt die Klientel des Forums nicht weiß, was es sonst noch so alles gibt. Dass von den Leuten, mit denen meine Liebste und ich während dieser vier Tage ins Gespräch kamen, fast niemand etwas von der "Benedikt-Option" gehört hatte, mag, so bedauerlich es auch ist, noch verständlich sein; aber die meisten kannten auch das Gebetshaus Augsburg, die MEHR-Konferenz und das Mission Manifest nicht. Nun gut, vielleicht sind diese Initiativen auch schon zu "radikal" für den durschnittlichen Forum-Teilnehmer. Aber dazu später.


Darüber, wie wir denn nun tatsächlich zu dieser Veranstaltung gekommen waren, auch darüber, dass sich uns im Vorfeld einige Hindernisse in den Weg stellten, die uns aber nur umso mehr davon überzeugten, wir müssten da hin, hat meine Liebste ja bereits berichtet; und als wir die Anreise glücklich hinter uns gebracht hatten, war auch erst einmal alles schön. Wir wurden am Bahnhof vom Förster abgeholt und in einer echten Mühle untergebracht; am frühen Nachmittag holten wir uns am Kapellplatz unsere Teilnehmerunterlagen, und meine Liebste führte ein langes und interessiertes Gespräch am Infostand der Missionsgesellschaft Fidesco, während ich die Auslagen des benachbarten Bücherstands studierte (und dabei das Fehlen der "Benedikt-Option" registrierte). Dann suchten wir uns erst einmal ein ruhiges Plätzchen, wo das Kind Mittagsschlaf machen und auch wir uns von der langen und praktisch mitten in der Nacht begonnenen Reise ausruhen konnten, und fanden einen solchen im Garten der "Josefsburg". Auf dem Weg dorthin kamen wir an einer Lourdes-Madonna vorbei und fühlten uns gut behütet. Unsere Tochter heißt schließlich nicht ohne Grund Bernadette.


In einem anderen Teil des Gartens fand einige Zeit später das "Willkommensfest" statt, und das war sehr schön -- nicht nur, weil es Freibier gab. Wir kamen mit vielen netten Leuten ins Gespräch, ein paar (wenige) bekannte Gesichter sahen wir auch, und ich wurde von ein paar Lesern meines Blogs angesprochen, die ich zuvor nicht persönlich gekannt hatte. Das Abendessen war auch sehr okay. Als dann auf der Hauptbühne am Kapellplatz das "Abendprogramm" begann, war ich allerdings bereits todmüde, und das wurde dadurch, dass das Programm zumindest anfangs hauptsächlich aus Grußworten und organisatorischen Ansagen zu bestehen schien, nicht gerade besser. Die Live-Musik von der Bühne riss mich auch nicht unbedingt vom Hocker. Mit den Teilnehmerunterlagen hatten wir ein Liederheft mit etwas über 40 Liedtexten bekommen, es handelte sich ausschließlich um Eigen-Liedgut der Gemeinschaft Emmanuel, und besonders taufrisch schienen die Lieder auch nicht gerade zu sein. Ich sag mal so: Vor knapp 30 Jahren hat mein Bruder in Braunschweig in einem baptistischen Pop-Chor gesungen, und ungefähr so klangen die Lieder hier auch. Ich habe ja schon vor einiger Zeit mal darüber geschrieben, "wie weit das Lobpreis-Genre es in den letzten Jahren gebracht hat"; und das heißt im Umkehrschluss eben auch, dass ältere Lieder dieses Genres vielfach eher nicht so doll sind. Oft sind sie nämlich in ihrem Bemühen, so zu klingen wie "richtige" Rock- und Popmusik, auf eine Weise "halb-erfolgreich", die im Ergebnis klingt wie Will-und-kann-nicht, und dabei dann auch noch so aufdringlich "happy-clappy", dass man sofort denkt: Alles klar, Sektenmusik eben. Zudem haben diese Lieder infolge ihres fortgeschrittenen Alters einen ähnlich peinlichen Effekt wie der Einsatz von NGL in Jugend- und Familiengottesdiensten. Dass das Moderatoren-Duo sich anhörte wie Rudi Carrell und Uschi Glas, rundete den Gesamteindruck sehr effektvoll ab. Ich sag mal so: Wenn die MEHR gewissermaßen das "Rock am Ring" der Neuevangelisations-Szene ist, dann ist das Forum Altötting eher eine Kaffeefahrt mit Verkaufsveranstaltung.


Der zweite Tag des Forums begann - abgesehen vom okayen Frühstück - so, wie der erste geendet hatte: mit uncooler Musik, betulicher Moderation und nicht enden wollenden Orga-Ansagen. Dann folgte laut Programmheft ein sogenannter "Impuls", beigesteuert von einem mittelalten Ehepaar aus Münster. Sollte wohl eine Art Zeugnis sein, aber inhaltlich kann ich nicht viel dazu sagen, da ich nach maximal einem Drittel des Vortrags meine Ohren auf Durchzug schaltete. Was bis dahin bei mir angekommen war, war eine in ihrer Plattheit geradezu unglaubwürdige Ansammlung banal-gefühliger Phrasen. Und just damit gab dieser Impuls leider tatsächlich die Tonart für das weitere Programm des Forums an. 

Dem Programmheft hatten wir entnommen, dass jeder Teilnehmer sich eine von zwölf "Themengruppen" aussuchen sollte; diesen Themengruppen war am Freitag und am Samstag ein recht großer Teil des Tagesprogramms gewidmet, das heißt, sie bildeten insgesamt den Schwerpunkt der "inhaltlichen Beiträge" des Forums (eine bessere Bezeichnung dafür fällt mir gerade nicht ein). Am Abend nach unserer Ankunft hatte ich es noch schwierig gefunden, mich für ein Thema zu entscheiden (was zum Teil, wenn auch nicht in erster Linie, daran lag, dass die TPG nicht MECE waren), und dachte, es würde mir besser gefallen, wenn das Programmangebot so strukturiert wäre wie z.B. bei dem Hausbesetzungs-Workshop-Wochenende, bei dem ich mal war: mit Workshops, die jeweils nur eine halbe Stunde dauerten, dafür aber mehrmals nacheinander stattfanden, sodass jeder Teilnehmer mehrere Workshops in beliebiger Reihenfolge besuchen konnte. Nach dem Morgenimpuls hingegen hatte ich auf überhaupt keine der Themengruppen mehr Lust. Nach einigem Abwägen entschieden meine Liebste und ich uns für die Themengruppe "Abenteuer Alltag". Ich glaube nicht, dass das ein Fehler war. Damit meine ich: Ich glaube nicht, dass eine der anderen Themengruppen, die wir in der engeren Auswahl gehabt hatten, weniger doof gewesen wäre. 

"Wie verbindet man [...] Karriereplanung, Familienmanagement, Freunde, Hobbies, Weltpolitik, Sehnsucht nach erfülltem Leben? Den Alltag zu bestehen gehört wohl zu den großen Abenteuern des Lebens", hieß es in der Themengruppenbeschreibung im Programmheft. Na ja. Es hätte mir zu denken geben können, dass in dieser Aufzählung von Prioritäten im Alltag so gar nichts explizit Religiöses vorkam, aber... Na ja. Der erste der drei Programmblöcke der Themengruppe begann wieder mit jeder Menge substanzlosem Gelaber; schon einigermaßen paradox, wenn jemand einen Vortrag über Zeitmanagement hält und dabei ewig nicht auf den Punkt kommt. Kernstück dieser gut einstündigen Sitzung war dann das bekannte Modell-Experiment zum Thema "Lege die großen Steine zuerst in den Topf". Davon kursieren ja allerlei verschiedene Varianten, und obwohl das Referenten-Duo die Version wählte, in der am Ende noch Bier in den Topf geschüttet wird, schafften sie es mit ihrer bieder-betulichen Art, die Pointe zu vergeigen. (Mein persönliches Highlight des Vormittags war es an dieser Stelle, dass meine kleine Tochter die Bühne erklomm und auch Steine in den Topf tun wollte; aber das nur nebenbei.) Gravierender als die schwache Performance der Referenten fand ich jedoch die inhaltliche Schwerpunktsetzung. Eine Variante der "Lege die großen Steine zuerst in den Topf"-Geschichte ist ja sogar in dem Buch "Gott oder nichts" von Kardinal Sarah enthalten, und dort wird sehr deutlich betont, dass es nicht einfach nur um Zeitmanagement geht, sondern um Prioritäten. "Das Gebet muss tatsächlich der große Stein sein, der den Topf unseres Lebens erfüllen muss", resümiert Kardinal Sarah (S. 171). Nicht so hier; ganz im Gegenteil meinten die Referenten, welches die großen Steine seien, müsse jeder für sich selbst entscheiden. Wie bitte? dachte ich. Wo bin ich denn hier gelandet? Geht es hier nur um Selbstoptimierung? Spätestens als allen Ernstes die Vokabel "Work-Life-Balance" fiel, stieg ich innerlich aus. Ganz allmählich dämmerte mir, dass es in den Neuen Geistlichen Gemeinschaften - die man leicht für Oasen der Rechtgläubigkeit und der Glaubensstärke in der Wüstenei der sterbenden Volkskirche halten könnte - auch eine Art MTD-Wellness-Spiritualität gibt. Sie kommt etwas frömmer daher als Klimafasten, Kochen auf dem Altar oder Lyrik von Susanne Niemeyer respektive Birgit Mattausch (alias Frau Auge), aber letztlich ist sie doch nichts anderes als ein spirituelles Sahnehäubchen auf der bürgerlichen Existenz. 

Zum zweiten Programmabschnitt der Themengruppe ließ ich meine Liebste allein gehen und schaute mir mit meiner Tochter stattdessen lieber die Oldtimer-Traktoren an, die im Rahmen einer "Traktorenwallfahrt" auf dem Kapellplatz parkten. Zur dritten und längsten Sitzung unserer Themengruppe am Samstagnachmittag gingen wir dann von vornherein gar nicht mehr, sondern verbrachten die Zeit stattdessen lieber im "Gasthaus zu den zwölf Aposteln". Themengruppe Bier, wie ich es nannte.


Allerdings beschränkte sich der MTD-Charakter - bei dem ganz klar nicht das M, sondern das T, also das "Therapeutische", im Vordergrund stand - nicht auf die oben beschriebene Themengruppe oder überhaupt auf die Themengruppen, sondern prägte das gesamte Programm, als dessen Leitmotiv die Veranstalter "die vier G des  Christseins" ausgeheckt hatten: "gewollt, geliebt, gebraucht, gerufen". Mir fällt da - wieder einmal - ein Songtext von  Kettcar ein:
"Das Gegenteil von gut ist gut gemeint 
In Empfindsamkeit vereint 
Ein befindlichkeitsfixierter Aufstand." 
(Man beachte übrigens, dass der erste der hier zitierten Verse ebenfalls vier Wörter enthält, die mit G beginnen!) Das schrottige Motto wirkte sich bis in die Predigten hinein aus. In der Messe am Freitag predigte Franziskus von Boeselager, der "Valerie-Priester"; riss mich nicht gerade vom Hocker, war aber vergleichsweise okay. Die "Impuls-Predigt" von Markus Zurl bei der Messe am Samstag (die wegen Regenwarnung vom Kapellplatz in die St.-Annen-Basilika verlegt worden war) war hingegen völlig substanzloses Geschwalle. Ich empfand es geradezu als willkommene Abwechslung, dass ich mittendrin meiner Tochter die Windel wechseln musste. Nachdem ich mit ihr rausgegangen war, um einen Mülleimer für die volle Windel zu suchen, entschloss ich mich kurzerhand, draußen auf einer Bank die Terz zu beten, und ging erst zur Gabenbereitung wieder rein. 

Wohlgemerkt: Daran, zu betonen, dass Gott uns liebt, ist an und für sich natürlich überhaupt nichts falsch. Ganz im Gegenteil, das ist eine sehr wichtige Aussage, gerade in der Erst-Evangelisation. Sich von Gott geliebt zu wissen ist geradezu die Voraussetzung für jegliches Wachstum im Glauben. Nur hätte ich bei einer geistlichen Gemeinschaft, deren Mitglieder offenbar zum allergrößten Teil, siehe oben, nicht "zum ersten Mal da waren" (und überwiegend wohl auch nicht erst zum zweiten), eigentlich angenommen, dass man da ein bisschen mehr an bereits stattgefunden habendem geistlichen Wachstum voraussetzen dürfen sollte. Dass man den Leuten also, wie der Apostel Paulus es formuliert haben würde, nicht nur Milch, sondern auch etwas feste Nahrung anbieten könnte. Aber nix da. 


Rückblickend würde ich sagen, dass solche Eindrücke, wie ich sie vom Forum Altötting mitgenommen habe, durchaus als lehrreiche Warnung verstanden werden können. Gerade was das oben schon angeklungene Stichwort "Oase" angeht. Bei der #BenOp geht es schließlich auch darum, "Oasen des Glaubens" zu schaffen, aber problematisch wird's, wenn man diese Oasen nur als Orte versteht, wo man sich's wohl sein lässt und die Beine hochlegt, und nicht als Stützpunkte, von denen aus man aufbricht, um die Wüste zum Blühen zu bringen. -- So hörten wir beispielsweise von einigen Leuten aus "unserer" Themengruppe Klagen über fehlende Angebote in ihren jeweiligen Pfarrgemeinden, aber offenbar kamen sie nicht auf die Idee, sie könnten selbst etwas tun, um diesen Mängeln abzuhelfen. Stattdessen betrachteten sie die Treffen der Gemeinschaft Emmanuel als einen Ausgleich für das, was ihnen in ihren Pfarreien fehlt. Sorry, da läuft was falsch. Neuevangelisation kann nur gelingen, wenn geistliche Gemeinschaften und Ortsgemeinden sich gegenseitig befruchten. Es kann und darf nicht die Praxis geistlicher Gemeinschaften sein, Potentiale aus den Ortsgemeinden abzuziehen.

Davon, dass die Gemeinschaft Emmanuel - wie ich neulich schon einmal angemerkt habe - zur Charismatischen Bewegung gerechnet wird bzw. aus dieser hervorgegangen ist, war nur gelegentlich etwas zu bemerken, und dann vielfach auf eine so halbherzig anmutende Art, dass es schon etwas Tragikomisches hatte. Vom Heiligen Geist war oft die Rede, aber der weht bekanntlich, wo Er will, und das war an diesem Wochenende wohl eher woanders. Einmal beim Abendprogramm hörte ich am Ende eines Lobpreisliedes ein paar vereinzelte Leutchen in Zungen beten. Ziemlich regelmäßig und mit bürokratisch anmutendem Pflichtbewusstsein gab in den Anmoderationen zu einzelnen Programmteilen jemand kund, er habe "ein Bild gehabt"; gemerkt habe ich mir nur eins davon: Da hatte jemand eine Wolldecke voller Löcher gesehen. Toll. Erinnerte mich natürlich an das "Tagebuch eines frommen Chaoten":
"Ich sah eine Zielscheibe, und auf der Scheibe war mittels eines Fahrtenmessers eine kleine Qualle aufgespießt, und als ich weiter zusah, wurde mir offenbart, daß der Name der Kreatur Stewart war." (S. 44)
Na dann. Wie sagt der Gemeindeälteste Edwin daraufhin so treffend? "Die Sache mit diesen Bildern ist die: Ab und zu hat man eins, das wirklich von Gott kommt. Dann muß man einfach darüber nachdenken und beten, und am Ende muß man selbst seine Schlüsse ziehen." (S. 45)

À propos beten: Am Samstag gerieten wir zufällig in die Gruppe der sogenannten "Young Professionals", die sich angesichts eines heftigen Gewitterschauers unter einer Brücke untergestellt hatte. Die Gruppenleiterin schlug vor, die Unterbrechung durch das Gewitter dazu zu nutzen, in persönlichen Anliegen paarweise füreinander zu beten. Das fand ich gut, und dass es den "Young Professionals" sichtlich nicht gerade leicht fiel, war mir gar nicht unsympathisch, denn mir fällt so etwas in meiner ganzen charakterlichen Anlage her ebenfalls nie leicht. Aber auch der Gruppenleiterin war anzumerken, dass sie es schon etwas gewagt fand, überhaupt diesen Vorschlag zu machen, und das schien mir dann doch bezeichnend. Bei der MEHR (zum Beispiel) wäre so etwas völlig normal gewesen.

Aber erst einmal zurück zur chronologischen Reihenfolge: Zum Abendessen am Freitag kaufte ich mir, um mich an der Getränkebude nicht zweimal anstellen zu müssen, gleich zwei Flaschen Bier, trank dann aber doch nur eine und machte die zweite erst auf, als wir von der Josefsburg wieder in Richtung Kapellplatz gingen. Es dauerte nicht lange, da hielt neben uns ein Auto, und der in nach Ordnungsamt oder privatem Sicherheitsdienst aussehende Funktionskleidung gehüllte Fahrer teilte mir durchs Fenster - durchaus freundlich - mit, Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit sei in Altötting verboten. Glücklicherweise hatte die Bierflasche einen Bügelverschluss und war somit wiederverschließbar, also verstaute ich sie im Gepäckkorb des Kinderwagens.

Auf dem Weg zum Kapellplatz trafen wir- schon zum wiederholten Male an diesem Tag - "Maria 1.0"-Initiatorin Johanna und ihre Familie. Auf einer Wiese unweit der Bühne waren einige Spielgeräte für Kinder aufgebaut; das war eine positive Überraschung, nachdem es am ersten Abend ausdrücklich verboten worden war, auf dieser Wiese Fußball zu spielen.


Während die Kinder spielten, unterhielten meine Liebste und ich uns mit Johanna, aber plötzlich stellten wir fest, dass, ohne dass wir es mitbekommen hatten, die Spielgeräte abgebaut und in einem Zelt verstaut worden waren. Meine Liebste ließ sich nicht ins Bockshorn jagen, öffnete den Reißverschluss des Zelts und baute kurzentschlossen einen Teil der Spielgeräte wieder auf. Anarchy in Altötting, dachte ich amüsiert und holte nun auch meine Bierflasche wieder hervor. -- Auf der Hauptbühne spielte an diesem Abend die "Priest Band". In meinem Heimatstädtchen hatte es zu meiner Gymnasiastenzeit eine "Lehrerband" gegeben, das war wohl einigermaßen vergleichbar. Immerhin muss man anerkennen, dass die "Priest Band" erheblich mehr rockte als alles andere, was einem hier so an Musik geboten wurde, aber auch das war seinerzeit bei der "Lehrerband" schon genauso gewesen, wenn man's recht bedenkt. -- Wie dem auch sei: Als wir auf dem Rückweg zu unserer Unterkunft an der "Roxy-Bar" vorbeikamen und registrierten, dass es dort Live-Musik gab, waren wir entzückt und kehrten auf ein Getränk dort ein. Zwei junge Männer performten Rock-Klassiker mit Akustikklampfe und Cajón. Kein Lobpreis, aber gut.


Außerdem unterhielten wir uns in der "Roxy-Bar" gut mit ein paar Einheimischen, die natürlich auch wissen wollten, wo wir herkämen und was uns nach Altötting verschlagen habe. Merke: In einem Ort wie Altötting sind auch die Stammgäste der örtlichen Rockerkneipe gut katholisch.

Zu den Ärgernissen im Zusammenhang mit der Fußwallfahrt und dem "Abend der Barmherzigkeit" am Samstag hat sich meine Liebste ja bereits geäußert, und dem habe ich nicht unbedingt viel hinzuzufügen; außer vielleicht dies: Wie man hört und liest, war der "Abend der Barmherzigkeit" der Gemeinschaft Emmanuel gewissermaßen das Vorbild für das Veranstaltungskonzept "Nightfever" (den Nightfever-Gründer Andreas Süß meine ich übrigens unter den zahlreichen Konzelebranten der Messe am Freitag erkannt zu haben, aber das nur nebenbei). Da frage ich mich nun: Nachdem Nightfever sich in den letzten rd. eineinhalb Jahrzehnten als weltweites Erfolgsmodell in Sachen Neuevangelisation etabliert hat, wieso kann man dann nicht auch beim Forum Altötting ein Nightfever veranstalten? Nur weil der "Abend der Barmherzigkeit" zuerst da war und eine genuine Erfindung der Gemeinschaft Emmanuel ist? Wenn's danach ginge, würden wir unsere Wäsche immer noch im Fluss waschen. Das Geniale an Nightfever ist ja gerade, dass es nicht das "Eigentum" einer bestimmten Gemeinschaft, eines Verbands oder einer sonstigen Gruppierung ist, sondern - wie es in dem Sammelband "Nightfever. Theologische Grundlegungen" (München 2013) heißt - gerade von seinem "Charakter als gemeinschaftliches und zugleich offenes Projekt" (S. 20) sowie "vom gemeinsamen Engagement der verschiedenen Neuen Geistlichen Gemeinschaften, Bewegungen, Priesterseminare sowie katholischer Jugend- bzw. Studentengruppen" lebt (S. 151). In Berlin zum Beispiel sind, man höre und staune, sogar BDKJ-Leute an der Organisation und Gestaltung von Nightfever beteiligt. Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr erscheint mir der Ansatz, "projektbezogen" mit Leuten aus verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften zusammenzuarbeiten, auch erheblich #benOppiger, als unbedingt selbst die dreiundzwanzigste oder vierundzwanzigste Neue Geistliche Gemeinschaft gründen zu wollen. Zwar bin ich, wie unlängst schon einmal erwähnt, von Natur aus eher skeptisch gegenüber "Big Tent"-Strategien; wahrscheinlich bin ich dafür auch einfach zu polarisierend (ich habe schon immer polarisiert, schon seit meiner Grundschulzeit, wenn nicht sogar schon früher). Trotzdem gelange ich mehr und mehr zu der Überzeugung, dass es, um sich gegen die kommende deutschsynodale Unkirche zu behaupten, einer möglichst breiten Koalition bedarf; schlagwortartig ausgedrückt: von den Petrusbrüdern bis zur Charismatischen Erneuerung. Irgendwie, denke ich, müsste man da auch Leute wie die von der Gemeinschaft Emmanuel "mitnehmen", und deshalb ärgert es mich, dass diese Gemeinschaft, so wie ich sie in Altötting erlebt habe, so erpicht darauf scheint, ihr eigenes Süppchen zu kochen. Umso mehr, als dieses Süppchen dann auch noch so fad schmeckt. 

Wie dem auch sei: Am Sonntag nahmen wir nicht mehr am Forums-Programm teil, sondern konzentrierten uns lieber darauf, was der Wallfahrtsbezirk von Altötting sonst noch so zu bieten hat. Von der Abschlussmesse auf dem Kapellplatz bekamen wir aber rein akustisch trotzdem noch so einiges mit, und nach den unvermeidlichen organisatorischen Abmoderationen wurde plötzlich die Musik besser. Also, ein bisschen besser zumindest. Ich war inzwischen dahinter gekommen, dass mein anfänglicher Eindruck, die Lieder der Gemeinschaft Emmanuel klängen alle irgendwie gleich, irrig gewesen war: Vielmehr hatte die Band die wenigen Nummern des Liederhefts, die wenigstens ein bisschen rockten - Nr. 4, Nr. 6, Nr. 11 - besonders oft gespielt, und die spielten sie auch jetzt wieder, aber, so schien es mir jedenfalls, mit deutlich mehr Schwung und Schmiss als zuvor. Und nun wurde mir auch klar, woran die Nr. 11 des Liederhefts - "Ihm sei die Ehre" - mich die ganze Zeit erinnert hatte: an den Titelsong der Puppentrick-Serie "Die Fraggles"! Sing und schwing das Bein, lass die Sorgen Sorgen sein. In das Lied stimm ein, froh nach Fraggle-Art. Und hat's dir nicht gefall'n, dann bohr dir doch ein Loch ins Knie! Denn manchen kann man's recht oft tun, doch allen eben nie. Irgendwie ja auch ein schön versöhnlicher Schlussakkord zu der ganzen Veranstaltung...