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Samstag, 8. Dezember 2012

Der Piranesi-Code

Schon lange bevor ich den am 30.08.12 in der Tagespost erschienenen, äußerst empfehlenswerten Artikel "Die Kirche - ein Krimi?" von Barbara Wenz (alias Elsa Laska) gelesen habe,  hatte ich mich mit dem Gedanken getragen, hier in meinem Blog ein Buch aus meiner an anderer Stelle schon einmal erwähnten "Klobibliothek" zu rezensieren - eines, das ich als eins von ganz wenigen der in meinem Besitz befindlichen Bücher als eindeutigen Fehlkauf einstufen würde. Es steht im Grunde nur noch deshalb in meiner Klobibliothek, weil ich mir schon vor Jahren vorgenommen habe, irgendwann einmal etwas darüber zu schreiben. Danach darf es dann gern auf den Flohmarkt wandern.

Wohlan denn! -  Bei dem Buch, das ich mich zum Zwecke der Rezension erneut zu lesen überwunden habe, handelt es sich um Das Haus des Daedalus von  Kai Meyer (München 2000); für die Taschenbuchausgabe (München 2005) wurde der Roman in Die Vatikan-Verschwörung umbenannt. Hätte das Buch von Anfang an diesen Titel getragen, hätte ich es vermutlich gar nicht erst gekauft.

Aber anstatt damit fortzufahren, meinen geschätzten Lesern ebenso ungeschickter- wie aufdringlicherweise im Vorhinein zu diktieren, was sie von dem Buch zu halten haben, fange ich lieber mal vorne an: Das Haus des Daedalus spielt in Rom, und die Handlung beginnt in einem Taxi. Der junge Taxifahrer ist ein stereotyper italienischer ragazzo, liebenswürdig, dabei redselig bis zur Aufdringlichkeit, erotischen Abenteuern nicht abgeneigt und natürlich ein rücksichtsloser, ja waghalsiger Fahrer. Man sieht, der Autor lässt keine Gelegenheit aus, sämtliche Klischees über Italiener und/oder insbesondere Römer zu evozieren, die dem Leser, der womöglich auch schon mal in Italien war, vertraut sind. Mit bemerkenswerter Offenheit bekennt er sich zu diesem Vorgehen, indem er seinen Protagonisten auf S. 9 reflektieren lässt "Klischees sind Klischees wegen ihrer grundsätzlichen Wahrheit"; man wünscht sich aber bald, der Autor hätte auch seinen Nachsatz "aber man muss sie nicht auch noch laut aussprechen" etwas mehr beherzigt.

Allerdings muss man anerkennen, dass die Gesprächigkeit des Taxifahrers durchaus eine erzähltechnische Funktion erfüllt: Der Fahrer bringt seinen Fahrgast - den Protagonisten des Romans - auf diese Weise dazu, einiges über sich zu verraten, womit er sich gewissermaßen auch dem Leser vorstellt. Man erfährt unter anderem, dass er "Kunstdetektiv" sei. Und was tut ein Kunstdetektiv? Er spürt "verschollene Kunstwerke auf. Im Auftrag von Sammlern und Museen." Hier wird für den geneigten Leser also absehbar, dass es in diesem Roman um verschollene Kunstwerke gehen wird (was er allerdings auch schon dem Klappentext entnehmen konnte), und es taucht der Verdacht auf, dass dieses Werk Kai Meyers eine gewisse Nähe zu dem einen oder anderen Weltbestseller aus der Feder Dan Browns aufweisen könnte. Ehe man hier aber mit Plagiatsvermutungen bei der Hand ist, ist man gut beraten, einen Blick auf die jeweiligen Erscheinungsdaten der Romane zu werfen, die einem hier in den Sinn kommen mögen. Das Haus des Daedalus erschien, wie schon erwähnt, im Jahr 2000; im selben Jahr kam Dan Browns Angels & Demons in den USA heraus (deutsche Ausgabe u.d.T. Illuminati erst 2003!); Browns Da Vinci Code datiert im Original von 2003, die deutsche Fassung u.d.T. Sakrileg von 2004. Meyer müsste also schon Hellseher oder Zeitreisender sein, um Dan Brown plagiiert haben zu können; das gilt es im Hinterkopf zu behalten - ich komme noch darauf zurück.

Meyers Protagonist heißt übrigens Jupiter; es wird nie ganz klar, ob das ein Vor- oder Nachname sein soll, ja, der 'Kunstdetektiv' scheint nur diesen einen Namen zu haben. Warum der Autor sich gerade diesen doch recht ungewöhnlichen Namen für seinen Protagonisten ausgesucht hat, wird auf S. 71 deutlich, als Jupiter mit den Worten begrüßt wird: "Das ist interessant. Der oberste der alten Götter bringt den Fall des neuen." Was aus dem bisherigen Handlungsverlauf noch nicht einmal andeutungsweise ersichtlich war, wird hier immerhin erahnbar: dass Jupiters Detektivarbeit zu Enthüllungen führen wird, die das gesamte Christentum in Frage stellen. Darunter macht's ein Verfasser von Mystery-Thrillern mit Kirchenbezug heutzutage einfach nicht mehr. Aber wir wollen nicht vorgreifen.

Erst einmal muss der Autor seinen Helden nämlich mit einem privaten Schicksalsschlag ausstatten, um die Teilnahme des Lesers für ihn zu stärken; und ein bisschen Erotik darf in der Storyauch nicht fehlen. So erfährt man zunächst, dass Jupiter mit einer japanischen Kollegin namens Miwaka, kurz Miwa, liiert gewesen ist, die ihn jedoch kürzlich nicht nur Knall auf Fall verlassen, sondern im selben Atemzug auch seine berufliche Existenz an den Rand des Abgrunds gebracht hat, indem sie ihm "all seine Kundenunterlagen, Forschungsergebnisse und Computerdateien" gestohlen und ihn obendrein "bei nahezu all seinen Kunden verleumdet" hat, um deren Aufträge zukünftig selbst zu übernehmen (S. 16). Diese Verknüpfung des Beruflichen mit dem Privaten bietet zweifellos prächtige Voraussetzungen dafür, Miwa im weiteren Verlauf der Handlung als Gegenspielerin Jupiters wieder auftauchen zu lassen; für das böse Weib, das der Protagonist gleichwohl einmal geliebt hat (und noch nicht richtig darüber hinweg ist) ist also schon mal gesorgt, aber nun braucht der Held natürlich eine neue Liebe. Für diese Position bietet sich die junge Restauratorin Coralina an, deretwegegn Jupiter überhaupt nach Rom gekommen ist: Sie hat bei Restaurierungsarbeiten in einer Kirche eine sensationelle Entdeckung gemacht, die sie ihm unbedingt zeigen muss. Jupiter und Coralina sind sich vor zehn  Jahren schon einmal begegnet: Sie, damals ein fünfzehnjähriger Backfisch, war stürmisch in ihn verliebt gewesen und hatte einmal des Nachts versucht, sich zu ihm ins Bett zu schleichen - und ihn hatte es die Aufbietung all seiner Selbstdisziplin gekostet, sie mehr oder minder wortwörtlich 'von der Bettkante zu schubsen'. Aber jetzt ist Coralina erwachsen, sodass Jupiter "sich ihre Schönheit eingestehen" darf (S. 13). Für erotisches Knistern ist also von Anfang an gesorgt; zudem ist Coralina malerischerweise Schlafwandlerin, was dazu führt, dass Jupiter - und mit ihm der Leser - sie bereits auf S. 57ff., nur in ein "enges weißes Sleepshirt" gehüllt (was ist eigentlich aus dem guten alten Wort "Nachthemd" geworden?) auf einem Hausdach antreffen darf, wo "die Kälte ihre Brustwarzen [aufrichtet]" (S. 60). Man ahnt, dass es dabei nicht bleiben wird.

Zunächst haben Jupiter und Coralina aber Anderes zu tun, als ihrer Leidenschaft füreinander die Zügel schießen zu lassen: Bei der sensationallen Entdeckung, die Coralina in einer Mauernische der Kirche Santa Maria del Priorato gemacht hat, handelt es sich um die Original-Druckplatten der 16 weltberühmten Carceri-Radierungen von Giovanni Batista Piranesi (1720-1778); Jupiter kann sie überreden, den Fund zu melden, statt etwa zu versuchen, die Platten illegal zu verscherbeln. Aber erst danach gesteht sie ihm, dass sie eine 17. Druckplatte, die ein bisher unbekanntes Motiv zeigt, beiseite geschafft hat, zusammen mit einer offenbar antiken Tonscherbe mit Schriftzeichen, die jenen auf dem minoischen Diskos von Phaistos ähneln.

Parallel dazu entspinnt sich ein zweiter Handlungsstrang um einen Kapuzinermönch namens Santino (='kleiner Heiliger'); dieser ist zunächst hauptsächlich damit beschäftigt, Videobänder anzusehen, deren Inhalt anmutet wie eine sakral angehauchte Variation des Blair Witch Project: Drei Mitbrüder Santinos hatten, mit einer Kamera ausgerüstet, eine heimliche Expedition in ein bis in unabsehbare Tiefen hinabreichendes unterirdisches Gewölbe angetreten, in dem sie den Eingang zur Hölle vermuteten. (Der versierte Leser ahnt bereits den Zusammenhang zwischen den Handlungssträngen: Die Mönche haben das reale Vorbild für Piranesis Carceri-Bilderserie entdeckt!) Nur einer der drei war jedoch lebend von dort zurückgekehrt und hatte gerade noch vermocht, Santino die Videobänder auszuhändigen, bevor er seinen schweren Verletzungen erlag. Nun ist Santino in gestohlener Zivikleidung auf der Flucht - vor wem? Man wagt es kaum zu fragen; dass es sich bei den Verfolgern womöglich um einen "Geheimbund" handeln könnte, der "im Auftrag der Kirche über Leichen geht", würde man freilich wohl selbst dann ahnen, wenn ein solcher nicht schon im Klappentext erwähnt worden wäre.

Ein solcher finsterer vatikanischer Geheimbund ist natürlich ein ganz ganz alter Hut. In der Unterhaltungsliteratur des 19. Jhs. spielten häufig die Jesuiten, die weithin als das "Urbild aller geheimen Gesellschaften" angesehen wurden (vgl. Volker Neuhaus, Der zeitgeschichtliche Sensationsroman in Deutschland 1855-1878. Berlin 1980, S. 89), diese Rolle; ein zentrales Element zahlreicher antijesuitischer Romane jener Zeit bildeten die Bemühungen des Ordens, reiche Erbschaften in seinen Besitz zu bringen, indem die Jesuiten oder in ihrem Dienst stehende Agenten die rechtmäßigen Erben entweder beseitigten oder für den Orden rekrutieren. Als geradezu prototypische Gestaltung dieses Motivs kann Eugène Sues Feuilletonroman Le Juif errant (1844/45) angesehen werden, der schon im Jahr seines Erscheinens unter dem Titel Der ewige Jude ins Deutsche übertragen wurde und zahlreiche Auflagen erreichte. Im Mittelpunkt dieses Romans steht eine weltumspannende Verschwörung der Jesuiten mit dem Ziel, "das gewaltige Vermächtnis der Familie de Rennepont in ihren Besitz zu bringen" (Neuhaus, ebd.). Der seinerzeit populäre deutsche Romanautor Balduin Möllhausen (1825-1905) variierte dieses Handlungsschema in nicht weniger als drei Romanen, Der Halbindianer (1861), Die Mandanen-Waise (1865) und Das Monogramm (1874); Ähnliches las man auch in Sir John Retcliffes Romanzyklus Villafranca (1862-66) und in E. Marlitts Die zweite Frau (1974). Im 20. bzw. zu Beginn des 21. Jhs. konnte dieses Schema somit schon als reichlich ausgelutscht betrachtet werden; Dan Brown aktualisierte es, indem er in seinem Da Vinci Code anstelle der Jesuiten das Opus Dei als kriminellen Geheimbund darstellte. In Kai Meyers Haus des Daedalus agiert hingegen ein fiktiver Geheimbund mit dem etwas skurril anmutenden Namen Die Adepten der Schale - über den man auf S. 187 des Romans liest:
"Wissen Sie, der Einfluß der geheimen Logen auf den Papst hat den Beigeschmack des Trivialen bekommen, seit jedermann glaubt, darüber bescheid zu wissen. [...] Irgendein eifriger Journalist wird immer die nächste Enthüllung veröffentlichen, das nächste Buch über verdeckte Finanzgeschäfte, Verstrickungen mit der Mafia, über angebliche Giftmorde, P2, das Opus Dei, die Ritter vom Heiligen Grabe - all das ist gut argumentiert. Doch es ist gerade diese angebliche Durchschaubarkeit, die den besten Deckmantel für die Adepten der Schale abgibt."
 Als Oberbösewicht wird schon früh Kardinal von Thaden erkennbar, ein "Schweizer Erzbischof" und "Leiter der Glaubenskongregation" (S. 66) - wer war es noch gleich, der anno 2000, als der Roman erschien, dieses Amt innehatte? Von Thadens Handlanger Landini fällt durch seine ungewöhnlich hellen Haare und Augen auf, auch "seine Haut [ist] auffallend pigmentlos" (S. 67); ab S. 246 wird er wiederholt ausdrücklich als "Albino" bezeichnet, eine merkwürdige Parallele zum Opus Dei-Killer aus Dan Browns wie gesagt erst einige Jahre später entstandenen Da Vinci Code, dem Albino Silas.

Die Selbstverständlichkeit, mit der der Autor seinen Lesern die offenbar als bekannt vorausgesetzten Klischees von der klerikalen Mafia auftischt, wirkt jedenfalls entwaffnend: Von dem Moment an, als erstmals eine schwarze Limousine mit abgedunkelten Scheiben und Vatikan-Nummernschild auf der Bildfläche erscheint - und das geschieht auf der 64. von 382 Seiten! -, steht es außer Zweifel und wird von keiner der handelnden Personen in Frage gestellt, dass "der Vatikan" ein Netzwerk zutiefst krimineller Organisationen sei, deren Hauptbeschäftigung anscheinend darin besteht, die Mitwisser dunkler Geheimnisse zu ermorden. Bis die erste Leiche im Tiber treibt, dauert es immerhin 118 Seiten, aber dann geht es Schlag auf Schlag: Ein Gebäude geht in Flammen auf, ein halbseidener Kunsthändler wird in aller Öffentlichkeit - am Tisch eines Straßencafés! - erschossen, ohne dass es jemandem auffällt. Derweil tappen die Protagonisten Jupiter und Coralina derart naiv und unbeholfen durch die sie umgebenden Gefahren, dass der Leser sich fragen muss: Wenn dieser obskure vatikanische Geheimdienst angeblich so gut informiert ist, so schnell und effizient arbeitet und so absolut keine Skrupel kennt, wie kommt es dann, dass dieses amateurhaft agierende Kunstdetektivpärchen nicht schon unter der Erde ist, ehe es auch nur ahnt, einem Geheimnis auf der Spur zu sein (was, nebenbei bemerkt, lange genug dauert)? - Man mag versucht sein, sich das damit zu erklären, dass die Dummen einen besonderen Schutzengel haben, aber der eigentliche Grund ist natürlich der, dass's Büchel sonst allzu schnell aus wär'.

Der Kette der Ereignisse, die durch den Fund der Carceri-Druckplatten und der geheimnisvollen Tonscherbe (man ahnt es: eines Bruchstücks jener Schale, nach der die besagten Adepten sich benannt haben) in Gang gesetzt wird, steht das Protagonistenpaar weitgehend ratlos gegenüber; anstatt aktiv, gar initiativ ins Geschehen einzugreifen, werden Jupiter und Coralina über weite Strecken des Romans lediglich zwischen verschiedenen Fraktionen innerhalb des Vatikans, sogar verschiedenen Fraktionen innerhalb des Geheimbunds der 'Adepten', hin- und hergeschubst wie eine Flipperkugel. Kaum haben die beiden begriffen, dass sie infolge ihrer Entdeckung in Lebensgefahr schweben, da steht auch schon Felipe Estacado vor der Tür, der Bruder und Mitarbeiter des Leiters der Vatikan-Bibliothek. Er warnt sie vor den 'Adepten' und schlägt ihnen vor, sie im Vatikan zu verstecken, wo man sie am wenigsten vermuten würde; ihrem anfänglichen Misstrauen begegnet er mit dem souveränen Hinweis, ihnen bleibe gar nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen. Karl-May-Leser jedoch dürften schon anhand des Namens Estacado argwöhnen. dass der smarte, kultivierte Bibliothekar in Wahrheit ein Pfahlmann ist, einer, der Wegmarkierungen umsteckt, um Reisende in die Falle zu locken. Genauer gesagt ist er, wie sich bald herausstellt, sogar das - wenn auch in den eigenen Reihen nicht unangefochtene - Oberhaupt der 'Adepten der Schale'; somit haben Jupiter und Coralina sich mehr oder weniger freiwillig nicht nur in die Höhle, sondern geradezu in den Rachen des Löwen begeben und müssen als nächstes vor ihrem vermeintlichen Retter gerettet werden. Das übernimmt ein ältlicher Geistlicher namens Janus - ein Name, der eigentlich auf eine gewisse Doppelgesichtigkeit schließen ließe, aber diese Assoziation läuft ins Leere. Janus ist ein ehemaliger Missionspriester, der bei der vatikanischen Nomenklatura in Ungnade gefallen ist - die unterschwellige Kirchenkritik, die sich hier andeutet, ist allzu banal, um darüber viele Worte zu verlieren -, als Mitwisser der Geheimnisse der 'Adepten der Schale' um sein Leben fürchten muss und seither als eine Art 'Phantom des Vatikans' in der Wasserleitung haust. Von Janus erfahren Jupiter und Coralina auch, was der Leser längst weiß (und sich schon mehr als einmal darüber ärgern durfte, dass Jupiter so begriffsstutzig ist, es nicht wenigstens zu ahnen): dass Piranesis Carceri ein reales Vorbild in Form eines unermesslich riesigen unterirdischen Gewölbekomplexes haben.

Die Vorstellung, die frühe Kirche habe die gigantische etruskische Nekropole unter dem Vatikan für den Eingang der Hölle gehalten und die Gebeine des Hl. Petrus deshalb dort bestattet, weil dieser das Höllentor quasi "bewachen" sollte, hat durchaus ihren Reiz - man denkt unwillkürlich an das Schriftwort von den "Pforten der Hölle", die die auf den Felsen Petri gebaute Kirche "nicht überwinden" werden (Mt 16,18), aber diese Bibelstelle zitiert Kai Meyer nicht - womöglich deshalb, weil er in seinem Roman lieber auf die Option setzt, dass die Pforten der Hölle die Kirche irgendwann eben doch überwinden werden. Dies schon innerhalb der Romanhandlung geschehen zu lassen, davor schreckt er dann aber doch zurück - obwohl er dem Leser auf S. 233, gänzlich unberufen, erneut die obskure Prophezeiung "Der oberste der alten Götter" - also Jupiter - "bringt den Fall des neuen" in Erinnerung ruft.

Ironischerweise hat es zunächst den Anschein, als fürchte die Kirche in erster Linie die Entdeckung, dass es keine Hölle gibt. Der bereits erwähnte Janus, der das Ziel verfolgt, die Existenz des vermeintlichen Höllentores publik zu machen, meint zwar: "Heutzutage nimmt das auch niemand mehr ernsthaft an" (nämlich, dass das 'Daedalusportal' tatsächlich der Eingang der Hölle sei); gleichzeitig gibt er aber zu bedenken: ""Was erzählt man in einem solcxhen Fall den zig Millionen Gläubigen? Daß die Kirche einem Irrtum aufgesessen ist? Daß es gar keine Hölle gibt, oder zumindest nicht hier, an diesem Ort? Können Sie sich den weltweiten Spott vorstellen, wenn der Papst vor die Mikrofone treten und zugeben müßte, daß seine Vorgänger sich geirrt haben, als sie den Vatikan wie einen Pfropfen auf dieses Tor setzten?" (S. 234f.)

Noch besteht allerdings für liberale Theologen à la Uta Ranke-Heinemann kein Grund zum Jubeln: Zwar sind auch die drei Kapuzinermönche, die das unterirdische Gewölbe erkunden, irritiert darüber, nicht das vorzufinden, was sie erwartet haben (wobei ihre Erwartungen eine recht naive Auffassung der Eschatologie verraten: "Immer hat man uns gepredigt, die Hölle sei ein Ort des Feuers [...] Ein Ort ewiger Flammen und Glutöfen. Aber warum spüren wir dann nichts davon? Warum sehen wir nichts? Warum ist hier nur Leere und Dunkelheit? Entspricht all das nicht viel eher unserem Bild vom Tod ohne ewiges Leben? Und ist dieser Ort hier vielleicht sogar der Beweis, daß überhaupt nichts auf uns wartet, wenn wir sterben?", S. 92); aber dass da unten irgendetwas ist, spüren sie nur zu bald umso deutlicher.

Und was verbirgt sich nun wirklich hinter dem vom Vatikan streng bewachten 'Daedalusportal' und jenem geheimen Nebeneingang, den Piranesi einst entdeckt hat und auf den dann Jahrhunderte später die Kapuzinermönche stießen? Nicht die Hölle nach christlichem Verständnis, auch sonst kein Ort, an dem sich die Seelen der Menschen nach ihrem Tode wiederfinden - aber dennoch eine Art Jenseits: ein gewaltiges Labyrinth, das der sagenhafte Baumeister Daedalus angelegt hat, das er so tief wie möglich ins Innere der Erde getrieben hat, in der Hoffnung, so seinen Sohn Ikarus aus dem Hades zurückholen zu können - was ihm schließlich auch gelungen ist, nur dass dem Ikarus die brennenden Schwingen, die er sich bei seinem hybriden Versuch geholt hat, in die Sonne zu fliegen, nun in alle Ewigkeit bleiben und er als lebende Fackel, als "Kreuz aus Feuer" (so die Überschrift des 5. Kapitels, S. 136) durch die unterirdischen Gewölbe schwebt. Und der Minotaurus, für den - oder gegen den - Daedalus sein erstes Labyrinth gebaut hat, ist irgendwie auch wieder mit von der Partie, sodass da unten geradezu eine heidnische Gegen-Dreifaltigkeit haust: "Der Geist [des Daedalus] und das Feuer und der Stier [...]. Eine unheilige Dreifaltigkeit als Herrscher über den schwarzen Schlund." (S. 372)

Dass der Vatikan solch heidnisches Unwesen unter Verschluss zu halten bestrebt ist, leuchtet ein; die Hüter des christlichen Glaubens wären indes nicht die Einzigen, die so zu sagen in Teufels Küche kämen, wenn die Pforten der Unterwelt geöffnet würden. Wird der Geist des Daedalus nämlich freigesetzt, so beginnt er seine Umwelt zu affizieren - wie ein "Virus" (S. 289), der allerdings nicht die Menschen befällt, "sondern die Bauten" (S. 290): "Die Welt wird neu geschaffen nach dem Bilde des Baumeisters. Sie wird, wenn Sie so wollen, labyrinthisiert." (S. 237). Genau dies ist der Traum des größenwahnsinnigen Vatikan-Architekten Trojan, der wegen seiner kühnen, aber unverwirklichten Entwürfe zuweilen spöttisch der "Albert Speer des Heiligen Vaters" genannt wird (S. 165 u.ö.), sich selbst aber anscheinend eher als eine Art Wiedergänger Piranesis sieht, dem es ebenfalls nicht vergönnt war, seine architektonischen Visionen zu verwirklichen. Wenn es ihm schon verwehrt bleibt, "einst selbst in einer Reihe mit Michelangelo und Bernini und Domenico Fontana zu stehen, selbst einer der Baumeister des Vatikans zu sein, von der Historie auf den Olymp der Kunst erhoben" (S. 287), dann will er wenigstens "dabeisein, wenn der Geist des Daedalus die Stadt zu etwas Neuem formt, zu etwas Besserem, Großartigem! Die Stadt und die ganze Welt!" (S. 370) Deshalb will er das zweite Tor zum 'Haus des Daedalus' um jeden Preis finden und öffnen, und um dieses Ziel zu erreichen, geht er buchstäblich über Leichen - fällt aber schließlich, wie sollte es anders sein, selbst seiner Obsession zum Opfer. Nach einem dramatischen Showdown in der zum Kapuzinerkloster an der Via Vittorio Veneto gehörenden Kirche Santa Maria della Concezione wird das hinter der berühmten Knochengruft verborgene Tor wieder verschlossen, und die noch verbliebenen 'Adepten der Schale', die nun plötzlich gar nicht mehr so eindeutig 'die Bösen' sind, werden dafür Sorge tragen, dass das auch so bleibt.

Es ist vom Autor offenbar als symbolische Zusammenfassung des Geschehens rund um das 'Haus des Daedalus' gemeint, wenn er in einer Pssage des Epilogs den Obelisken auf dem Petersplatz beschreibt: "In der Metallkugel auf der Spitze des Obelisken wurde, so die Legende, das Herz Julius Cäsars aufbewahrt, vielfach durchstochen von den Klingen der Verräter. Ein heidnisches Herz im Zentrum des Katholizismus. Man hatte ein Kreuz auf die Kugel gesetzt, das vorerst letzte Wort im uralten Kampf der Religionen." (S. 378)

Die Fülle handelsüblicher antichristlicher und antikirchlicher Klischees, Vorurteile und Verdrehungen, in denen der Roman schwelgt, wird naturgemäß manche Leser mehr stören als andere. Aber auch davon abgesehen ist Das Haus des Daedalus in vielerlei Hinsicht ein lausiges Stück Arbeit. Die Handlung wirkt über weite Strecken wirr und in vielen Details unglaubwürdig - auch wenn das Genre 'Mystrey-Thriller' dem Autor natürlicherweise allerlei Ausreden für Verstöße gegen die Wahrscheinlichkeit an die Hand gibt. So scheint Kai Meyer durchaus den Einwand vorausgesehen zu haben, wie es denn möglich sein solle, anhand der bloßen Umrisszeichnung eines Schlüssels einen funktionierenden Nachshclüssel anzufertigen: Der Kapuziner-Abt Dorian spricht in diesem Zusammenhang vom "Hauch eines Wunders" (S. 348).

Was die Integration der notwendigen kunsthistorischen und mythologischen Hintergundinformationen in die Romanhandlung betrifft, kann man beim besten Willen nicht behaupten, dass der Autor dabei besonderes Geschick oder auch nur besondere Mühe walten ließe. Informationen über das Leben und Werk Piranesis, über den Diskos von Phaistos oder über den Mythos vom Minotaurus werden als Monologe vorgetragen, nur sporadisch unterbrochen von Zwischenfragen und Randbemerkungen; meist ist es Coralina, die die Fakten referiert, sodass der Leser sich irgendwann fragt, wie Jupiter 'Kunstdetektiv' sein kann, wenn er so gut wie überhaupt nichts weiß. (Immerhin wird es dadurch aber plausibel, dass Miwas Diebstahl seiner Unterlagen beinahe das Ende seiner Karriere bedeutet hätte: Seiner Aufzeichnungen beraubt, war Jupiter auf das angewiesen, was er im Kopf hat - und das ist, wie der Leser immer wieder feststellen kann, nicht viel.) - Coralinas kunsthistorische Referate sind zum Teil von spätpubertärer Flapsigkeit gekennzeichnet, zum Teil lesen sie sich aber auch so trocken wie mittelprächtige Wikipedia-Artikel. À propos Wikipedia: Eingedenk der Tatsache, dass dieser Roman aus dem Jahr 2000 stammt und in der Gegenwart spielen soll, möchte man den Protagonisten angesichts ihrer unbeholfenen Recherhcemethoden manches Mal zurufen: "Habt ihr denn kein Internet?!" - Haben sie aber offenbar doch, denn um herauszufinden, was es mit der Bezeichnung 'Haus des Daedalus' für das unterirdische Labyrinth auf sich hat, recherchiert Coralina sehr wohl auch online. Ein paar Kapitel zuvor haben sie und Jupiter aber noch das Antiquariat von Coralinas Großmutter auf den Kopf gestellt, um ein Buch mit einer Abbildung des Diskos von Phaistos zu finden.

Der Protagonist Jupiter ist überhaupt der größte Schwachpunkt des Romans. Ein blasser, schwankender, mit dem Geschehen, in das er unversehens verwickelt wird, völlig überforderter Charakter, der aktiv kaum etwas anderes zur Handlung beiträgt als fade Witzeleien, die der Autor wohl für Sarkasmus gehalten hat, die aber tatsächlich eher wie teenagerhafte Patzigkeit wirken. Sollte der Autor gemeint haben, mit einem farblosen Durchschnittstypen könne der Leser sich besser identifizieren als mit einem überlebensgroßen Helden, dann muss man leider erwidern: Mit einem derartigen Waschlappen will man sich nicht identifizieren. Farbiger ist dem Verfasser die Co-Heldin Coralina geraten; nur dass er sich nicht recht entscheiden kann, ob er sie als rehäugige Kindfrau, als scharfzüngige Zicke oder als souveräne 'Frau der Tat' zeichnen will. Vielleicht meinte er aber auch, bei einer jungen Frau von Mitte Zwanzig seien solche charakterlichen Ambivalenzen ganz natürlich, und ich würde nicht einmal völlig ausschließen, dass da was Wahres dran ist.

Gegen Ende mutiert Coralina dann gänzlich zur Actionheldin im Comic-Format, deren Verve der phlegmatische Jupiter hilflos hinterher eiert. An Action fehlt es dem Roman insgesamt nicht, es gibt Verfolgungsjagden zu Fuß durch unterirdische Wasserleitungen und über baufällige Dächer und mit dem Auto durch das berüchtigte Verkehrschaos Roms, es gibt Schießereien und Explosionen, und zuweilen driftet der Roman geradezu ins Genre der Actionkomödie ab, wo die Helden, wie weiland Chuck Norris und Louis Gossett jr., noch in größter Bedrängnis stets einen flotten Spruch auf den Lippen haben müssen - so etwa, wenn Coralina mit ihrem Lieferwagen durch eine Schranke brettert und dies mit den Worten kommentiert: "Das wollte ich schon immer mal tun" (S. 333). Das Problem ist, dass all das auf einer Buchseite längst nicht so wirkt wie auf der Leinwand. Gut möglich, dass Das Haus des Daedalus als Film besser funktionieren würde als in Buchform; womit ich aber wahrhaftig niemandem nahe legen möchte, dieses Machwerk zu verfilmen.

Die völlige Unfähigkeit des Autors, Spannung anders als durch Action zu erzeugen, und seine ebenso große Unfähigkeit, auch nur einem einzigen der auf dem Wege liegenden Klischees auszuweichen, machen Das Haus des Daedalus über weite Strecken zu einer sehr zähen Lektüre. Kai Meyer hat seither eine Vielzahl weiterer Romane publiziert, und ich kann ihm nur wünschen, dass sie ihm besser gelungen sein mögen; noch einen davon zu lesen, ist mir die Lust allerdings gründlich vergangen. Alles in allem habe ich den Verdacht, dass gerade der populäre, um nicht zu sagen populistische Antiklerikalismus des Romans die einzige 'Qualität' ist, die dieses Buch zu einem Verkaufsschlager machen konnte; die oben angesprochene Titeländerung für die Taschenbuchausgabe, die dem prospektiven Käufer und Leser diesen Aspekt geradezu ins Gesicht klatscht, scheint jedenfalls dafür zu sprechen.

(Und jetzt bin ich froh, mit diesem Buch fertig zu sein. Allerdings warten in meiner Klobibliothek noch andere Romane ähnlich fragwürdiger Qualität darauf, von mir rezensiert zu werden; der Stoff für Beiträge wie diesen dürfte mir also nicht so bald ausgehen...)

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Bärtige Männer mit komischen Kopfbedeckungen

Na, meine Lieben - habt Ihr gestern Abend auch brav Eure Stiefel vor die Tür gestellt? Und, war heute Morgen was Schönes drin - oder waren die Stiefel geklaut? Ich jedenfalls habe mein Schuhwerk schön in der Wohnung behalten, denn ich verspüre ein gewisses Misstrauen gegenüber bärtigen Gestalten mit Zipfelmützen, die Gerüchten zufolge nachts um die Häuser schleichen. Denken wir nur mal ans Sandmännchen. Seit Jahrzehnten wird diese mythische Gestalt den Kindern in Ost und West als liebenswerter kleiner Gesell verkauft, der ihnen noch eine hübsche Gutenachtgeschichte mitbringt, ehe sie ins Bett müssen - was aber liest man in E.T.A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann (1817) über diese Gestalt?
"Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, daß sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf."
Mich schaudert! Wer garantiert mir da, dass der Nikolaus nicht eine ähnlich zwielichtige Figur ist? Nun, wenigstens hatte ich letzte Nacht nicht zu befürchten, dass er oder sein dämonischer Sidekick Knecht Ruprecht zum Kamin hereinkämen - zum Glück hab' ich Zentralheizung.

Nun aber mal Scherz beiseite: Wie in der volkstümlichen Überlieferung aus dem Hl. Nikolaus von Myra (oder von Bari) der nächtliche Geschenkebringer der Vorweihnachtszeit wurde, mag ein kulturhistorisch interessantes Thema sein, aber darauf will ich hier nicht groß eingehen; zumal man davon ausgehen darf, dass zumindest hierzulande der Nikolaus in seiner Funktion  als Kinderbeschenker schon seit Langem im Schatten seines säkularen Doppelgängers, des Weihnachtsmanns, steht. Ein Stiefel voller Süßigkeiten am Morgen des 6. Dezember mag geeignet sein, den lieben Kleinen die Wartezeit auf Weihnachten zu verkürzen, aber die richtig große Bescherung gibt's dann ja wohl doch erst am Heiligabend. Man geht wohl kaum fehl, anzunehmen, dass der Weihnachtsmann gewissermaßen aus der volkstümlichen Figur des Hl. Nikolaus, kombiniert mit Zügen seines oben erwähnten Begleiters, entstanden ist, aber ohne Zweifel hat der rotbemäntelte Rauschebart ein Eigenleben entwickelt, das den christlichen Hintergrund der Nikolaus-Figur längst abgeschüttelt hat - und ebenso auch die düsteren Züge des Knecht Ruprecht, oder kennt jemand ein Kind, das in den letzten Jahren eine Rute (und nur eine solche) zu Weihnachten bekommen hat?

Unter Kritikern der Kommerzialisierung des Weihnachtsfest hält sich hartnäckig die Behauptung, der (insgesamt wohl nicht zu Unrecht) als Symbolfigur dieser Entwicklung betrachtete Weihnachtsmann sei in den 1930er Jahren von Coca Cola erfunden worden; es ist ja auch sehr auffällig, das seine mit weißem Pelz verbrämte rote Kleidung so perfekt zum corporate design dieses Braune-Brause-Herstellers passt. Tatsächlich setzt Coca Cola den Weihnachtsmann seit 1931 als Werbeträger ein, und man kann wohl davon ausgehen, dass diese Werbung sehr erheblich zur weltweiten Vereinheitlichung der Weihnachtsmann-Ikonographie beigetragen hat. Hoffmann von Fallerslebens bis heute populäres Weihnachtslied "Morgen kommt der Weihnachtsmann" entstand allerdings schon 1840, und da gab es Coca Cola noch gar nicht; bereits aus dem Jahr 1823 datiert das anonym veröffentlichte Gedicht The Night Before Christmas, in dem Santa Claus mit seinem von Rentieren gezogenen fliegenden Schlitten auftritt; alle acht Rentiere haben Namen - Dasher und Dancer, Prancer und Vixen, Comet und Cupid, Donner und Blitzen -; das (heute wohl berühmteste) neunte Rentier, der rotnasige Rudolph, wurde hingegen erst 1939 erfunden, als Werbeträger für die Kaufhauskette Montgomery Ward aus Chicago - so viel zum Thema Kommerzialisierung.

Wie dem auch sei: Unlängst erinnerte mich ein Beitrag auf dem Blog Das hörende Herz , in dem zu Recht betont wurde, dass es an Weihnachten doch eigentlich um etwas ganz Anderes als "um einen dickbäuchigen, rotgewandeten und -bemützten alten Mann geht, der am Nordpol lebt und für die Spielzeug- bzw. Geschenkeindustrie arbeitet", an ein interessantes Fernseherlebnis, das ich vor einigen Jahren hatte; es handelte sich um die Weihnachtsepisode der im Ganzen durchaus charmanten Cartoonserie "Disneys Große Pause". (Ja, ich bekenne mich dazu, dass ich bis weit ins Erwachsenenalter hinein sehr gern Zeichentrickserien gesehen habe, die eigentlich für Kinder gedacht sind, und zuweilen habe ich noch heute Spaß daran. Und das, obwohl ich keine eigenen Kinder habe, mit denen zusammen ich mir diese Sendungen ansehen könnte. Zu meiner Verteidigung kann ich vorbringen, dass ich sie natürlich aus einem anderen Blickwinkel betrachte als die primäre Zielgruppe. Und wer mir das nicht glaubt, der wird mir dafür umso eher glauben, dass ich irgendwo tief in meinem Innern ein unverbesserlicher Kindskopf bin.) Die Serie, wie gesagt, finde ich gar nicht übel; sie stellt Kinder mit ganz unterschiedlichen Charakteren,  Interessen, Fähigkeiten und ethnischen Hintergründen dar und demonstriert, dass sie trotz all dieser Unterschiede gute Freunde sein können, und zudem hat die Serie einige hübsch skurrile Züge - so wird der Pausenhof von einem Sechstklässler als "König" beherrscht, der auf dem Klettergerüst thront und einen Hockeyschläger als Zepter trägt, und die Kinder des angrenzenden Kindergartens werden als archaischen Riten frönender Barbarenstamm dargestellt. - Die besagte Weihnachtsfolge entlockte mir aber doch das eine oder andere Stirnrunzeln. Zu Beginn der Episode verliert ein Weihnachtsmanndarsteller vor den Augen der Kinder Mütze und Bart und weckt damit verstörende Zweifel an der Existenz des Weihnachtsmanns - derartige Zweifel und ihre Widerlegung sind speziell in der US-amerikanischen Weihnachtsfolklore ein beliebtes Thema, wofür der berühmte Leitartikel "Is There a Santa Claus?", der 1897 in der New York Sun erschien, ein ebenso prägnantes Beispiel darstellt wie der Spielfilm Das Wunder von Manhattan (1947, Remake 1994). Doch zurück zur Große Pause-Episode: Diese gipfelt in einer multikulturellen Schul-Weihnachtsfeier, bei der die jüdischen Kinder das Brauchtum des Chanukka-Fests und die afroamerikanischen Kinder jenes des ebenfalls Ende Dezember gefeierten Fests Kwanzaa vorstellen; ein irgendwie keltisch/germanisch sein sollendes Sonnenwendritual kommt ebenfalls vor. Den Höhepunkt der Feier bildet jedoch der Auftritt eines Schülers in der Verkleidung des - ausdrücklich als Repräsentant des christlichen Weihnachtsfests bezeichneten! - Weihnachtsmanns. Vom Jesuskind, von Maria und Joseph, von Ochs und Esel keine Spur. Man muss wohl nicht unbedingt besonders christlich gesonnen sein, um das zumindest sonderbar zu finden. Sicher ist es nett, dass die Zuschauer der Sendung etwas über Chanukka und Kwanzaa lernen, und den Hinweis auf das heidnische Sonnenwendfest lasse ich mir auch noch gefallen; den impliziten Hinweis darauf, dass kulturelle Vielfalt auch religiöse Vielfalt bedingt, finde ich vom Ansatz her durchaus lobenswert. Aber warum wird ausgerechnet der christliche Gehalt von Weihnachten unterschlagen und durch die Symbolfigur des säkularisierten und kommerzialisierten Weihnachtsfests ersetzt? Soll man daraus lernen, dass lediglich Minderheiten ihre pittoresken religiösen Traditionen öffentlich zelebrieren dürfen, während die christlich geprägte Bevölkerungsmehrheit sich mit einer 'weltanschaulich neutralen' Symbolfigur bescheiden soll, durch die sich kein Andersgläubiger auf die Füße getreten fühlen muss?

Noch eine andere Erinnerung kommt mir dabei in den Sinn: Vor einigen Jahren, und nicht zur Weihnachtszeit, war ich bei einem türkischstämmigen - muslimisch erzogenen, aber atheistischen - Freund zum Essen eingeladen. Dieser Freund hatte zwei kleine Töchter, die es sehr spannend fanden, dass ein Christ zum Essen kommt; und die jüngere der beiden Töchter konfrontierte mich allen Ernstes mit der Frage, ob ich an den Weihnachtsmann glaube. Auch wenn ich wohl davon ausgehen konnte, dass mein Freund seine Kinder nicht zum Glauben an den Weihnachtsmann erzogen haben dürfte, hatte ich irgendwie Hemmungen, diese Frage, wenn ein Kind sie mir stellte, schlicht zu verneinen; ich gab mir jedoch alle Mühe, den Mädchen zu erläutern, worum es im Christentum an Weihnachten eigentlich geht. - Tatsächlich scheint es auch bei durchaus erwachsenen Atheisten - oder allgemeiner gefasst: Nichtchristen - einigermaßen verbreitet zu sein, den christlichen Glauben mit dem Glauben an den Weihnachtsmann in Verbindung zu bringen, dies aber wohl weniger in der Annahme, der Weihnachtsmann sei eine Gestalt des Christentums, sondern eher in der Absicht, den Glauben an "Höhere Mächte", deren Wirken und Walten sich dem naturwissenschaftlich orientierten Verstand entzieht, allgemein lächerlich zu machen. Darauf, was den Glauben an den Weihnachtsmann vom christlichen Verständnis des Glaubens an Gott unterscheidet, ist erst kürzlich Josef Bordat eingegangen, sodass ich mich damit begnügen kann, hier auf seinen diesbezüglichen Beitrag zum Blog Das Ja des Glaubens zu verweisen.

Zu Pfingsten machen sich diverse Fernsehsender alle Jahre wieder einen Spaß daraus, Passanten zu befragen, worum es bei diesem Fest denn gehe - stets mit demselben Ergebnis: Die meisten Befragten - jedenfalls soweit ihre Antworten denn im Fernsehen gezeigt werden - haben keine Ahnung. Ich nehme mal an, zu Weihnachten gibt es die entsprechenden Umfragen ebenfalls, und bin verhalten optimistisch, dass die Antworten zu diesem Fest aus christlicher Sicht tendenziell befriedigender ausfallen dürften. Aber eben auch nur tendenziell. Und befriedigend, das weiß jedes Schulkind, heißt noch lange nicht gut. Die christliche Botschaft von Weihnachten im öffentlichen Bewusstsein zu halten, ist - trotz "Stille Nacht" und "Kommet Ihr Hirten" - in unseren Tagen offenkundig eine keineswegs gering zu schätzende Aufgabe.

Freitag, 30. November 2012

Was glaubst denn du??

Hurra: Trotz erheblicher Computerprobleme (4 Abstürze!) ist es mir geradezu in letzter Minute gelungen, meinen zweiten Beitrag zum Gemeinschaftsblog Das Ja des Glaubens fertigzustellen und hochzuladen, bevor ein neuer Monat und damit ein neues Oberthema im Gemeinschaftsblog beginnt. Der Beitrag rägt den Titel

"Glauben ist kein Ponyhof"

und ist hier zu finden.

Ich räume ein, dass ich - nicht nur des Zeitdrucks wegen - längst nicht alle Gedanken, die ich in diesem Artikel angeschnitten habe, auch nur halbwegs erschöpfend habe ausführen können. Wie der alte Lessing sagen würde, es handelt sich eher um fermenta cognitionis als um eine systematische Abhandlung. Gerade deshalb möchte ich diesen Text aber auch und nicht zuletzt meinen nicht- und andersgläubigen Lesern ans Herz legen -- durchaus nicht in der Hofnung, sie damit überzeugen oder gar "bekehren" zu können, aber als Gesprächsgrundlage, wenn es mal wieder zu Diskussionen über Glaubensfragen kommt.

Übrigens ist mir bewusst, dass ich meinen Stammlesern noch eine hoffentlich unterhaltsame Buchbesprechung schulde. Ich arbeite dran...

Donnerstag, 29. November 2012

Das Märchen von der traurigen Traurigkeit

Vorgestern Abend traf ich einen langjährigen Bekannten - den ich ehrlich gesagt ziemlich regelmäßig sehe, aber bei den meisten dieser Gelegenheiten kommen wir, aus unterschiedlichen Gründen, kaum dazu, mehr als das Alleroberflächlichste miteinander zu reden. das war diesmal anders; wir unterhielten uns ausführlich über verschiedenste Themen, und mittendrin fragte er auf einmal:

"Det Märchen vonner Traurigkeit kennste?"

Ich hatte zwar das vage Gefühl, von einem solchen Märchen schon einmal etwas gehört zu haben, aber ganz sicher war ich mir nicht. Und den Text, den mein bekannter mir daraufhin präsentierte, kannte ich tatsächlich nicht. Aber er bewegte mich ganz außerordentlich; ich bekam beim lesen Gänsehaut, vor allem gegen Schluss.

"Ist das von dir?" fragte ich beeindruckt.

"Nee", wehrte er ab, "nich' so wirklich. Det ha'ick ma allet so hier un' da zusamm'jeklaut."

"Aber in dieser Form", insistierte ich, "in dieser Textgestalt ist es von dir?"

"Schonn. Aba da sinn keene Rechte druff. Kannzte ruhich verwend'n."

Das hatte ich ja nur hören wollen; somit fühle ich mich ermächtigt, diesen, wie ich finde, sehr anrührenden Text mit meinen Bloglesern zu teilen. Mit einem herzlichen Dankeschön an meinen ungenannt bleibenden Bekannten, der nicht der Autor sein will, es aber ja wohl irgendwie doch ist.

Das Märchen von der traurigen Traurigkeit
Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht, und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens.
Bei der zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte nicht viel erkennen.
Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen. Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte:
"Wer bist du?"
Zwei fast leblose Augen blickten müde auf.
"Ich? Ich bin die Traurigkeit", flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum zu hören war.
"Ach, die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte begrüßen.
"Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit misstrauisch.
"Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet."
"Ja, aber...", argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn keine Angst?"
"Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst. - Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?"

"Ich.....ich bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.
Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Erzähl mir doch, was dich so bedrückt."
Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht!
"Ach, weißt du", begann sie zögernd und äußerst verwundert, "es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest." Die Traurigkeit schluckte schwer. "Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter. Und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: "Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: Man muss sich nur zusammenreißen.Und sie spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken.Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen."
"Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir schon oft begegnet."
Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen.
"Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh. Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu."
Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt. Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel.

"Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt."
Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin: "Aber...aber - wer bist eigentlich du?"

"Ich?" sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd, und dann lächelte sie wieder so unbekümmert wie ein kleines Mädchen. "Ich bin die Hoffnung!"

Donnerstag, 22. November 2012

Von der Grünen Insel: Kann Abtreibung Leben retten?

Eigentlich hatte ich ja vorgehabt, nach meinem letzten Beitrag erst einmal von aktuellen Aufreger-Themen Abstand zu nehmen und mal wieder etwas Entspannendes zu schreiben, eine Buchkritik zu einem Roman aus meiner Klobibliothek zum Beispiel. Die wird nun warten müssen, denn erstmals in meiner noch jungen Blogger-Karriere hat mich ein Leserkommentar auf ein Thema aufmerksam gemacht, das mir ansonsten womöglich entgangen wäre. Zwar handelte es sich bei dem Kommentator offenbar eher um eine Art Troll, den man bekanntlich nicht füttern soll; aber das von ihm angeschnittene Thema verdient dennoch eine Stellungnahme, und ich denke mir, die ist in einem eigenständigen Beitrag besser aufgehoben als im Kommentarbereich eines Texts, der damit, wenn überhaupt, nur ganzganz am Rande etwas zu tun hat. Die Pimpfe, die ebenfalls Besuch vom Troll hatten, haben sich bereits kurz und pointiert zur Sache geäußert; bei mir wird's, so kennen mich meine Leser, wohl eher etwas ausführlicher geraten.

Also: Worum geht's? - Am Montagabend erreichte mich ein anonymer Kommentar zu meinem letzten Blogpost, in dem es unter Bezugnahme auf das in meiner Überschrift etwas dreist verballhornten Paul-Celan-Zitat hieß: "Und im Moment dürfte der Tod ein Meister aus Irland sein, der Muttertod zumindest." Zunächst konnte ich damit nichts anfangen, und auch eine Google-Recherche zu den Begriffen "Irland + Muttertod" half nicht viel weiter: Zwar fand Google so allerlei, von einer angeblich keltischen mythologischen Getstalt namens Mutter Tod bis hin zu einem Artikel über die Kelly Family ("Der Muttertod ist der erste schwere Schlag in der Kinderwelt von Kellys"), aber nichts davon erklärte mir den anonymen Kommentar. Als richtungsweisend erwies sich schließlich meine vage Vermutung, der Kommentar habe womöglich irgend etwas mit Abtreibung zu tun. So stieß ich auf folgende, von mir hier kurz paraphrasierte Meldung:
Savita Halappanavar, eine 31jährige in Irland lebende Inderin, war in der 17. Woche schwanger, als sie mit schweren Rückenschmerzen in die Universitätsklinik Galway eingeliefert wurde. Es wurde eine beginnende Fehlgeburt diagnostiziert; als der Zustand der Patientin sich verschlimmerte, bat sie um eine Abtreibung, die die Ärzte jedoch verweigerten, da Abtreibung in Irland illegal sei. Als drei Tage nach der Einlieferung der Tod des Fötus festgestellt wurde, wurde dieser aus Savita Halappanavars Gebärmutter entfernt; inzwischen hatte sie sich jedoch eine Blutvergiftung zugezogen, an der sie vier Tage später starb.

Wir haben es also erneut, wie im Fall Jens Pascal, mit einer hochsensiblen,. hoch emotionalen Materie zu tun. Das faktische Ergebnis der Vorgänge im Klinikum von Galway ist katastrophal: Mutter und Kind sind tot. Es ist nur allzu menschlich, dass bei solchen Tragödien ein Schuldiger gesucht wird. Wenn ein zumindest dem äußeren Anschein nach kurz zuvor noch völlig gesunder Mensch im Krankenhaus stirbt, wird die Schuld meist - ob zu Recht oder zu Unrecht - bei den Ärzten gesucht. Im vorliegenden Fall gehen die öffentlichen Reaktionen aber weit darüber hinaus: Da die behandelnden Ärzte - laut Aussage von Savita Halappanavars Ehemann - eine Abtreibung mit der Begründung "Dies ist ein katholisches Land" abgelehnt haben, wird die Schuld am Tod der Frau nicht allein ihnen zugewiesen, sondern dem in Irland geltenden strikten Abtreibungsverbot und in letzter Konsequenz der Katholischen Kirche. Auf diese Weise wird der tragische Todesfall in einer Vielzahl von öffentlichen Stellungnahmen dazu instrumentalisiert, für ein liberaleres Abtreibungsrecht zu agitieren und all jene zu attackieren, die sich für den Schutz des ungeborenen Lebens einsetzen.

Exemplarisch für diese Strategie ist, wen sollte es überraschen, ein am 15.11. erschienener SPIEGEL online-Artikel mit dem Titel "Tod einer Schwangeren - Irland streitet über Abtreibungsgesetz", verfasst von Carsten Volkery. Dem aufmerksamen Leser teilt dieser Artikel eine Reihe bemerkenswerter Fakten mit: so etwa, dass die Müttersterblichkeit auf der Grünen Insel ausgesprochen gering ist; dass die Gesetzeslage in Irland es Ärzten sehr wohl erlaubt, operative Eingriffe an schwangeren Frauen durchzuführen, die faktisch eine Abtreibung der Leibesfrucht bedingen, sofern diese Eingriffe notwendig sind, um das Leben der Mutter zu retten; und schließlich auch, dass es keinesfalls sicher ist, ob ein solcher Eingriff Savita Halappanavars Leben hätte retten können bzw. ob das Unterbleiben des Eingriffs für ihren Tod verantwortlich ist. Zusammenfassend kann man sagen, die puren Fakten des Falles lassen die Behauptung, das auf dem Menschenbild und der Morallehre der Katholischen Kirche aufbauende irische Abtreibungsstrafrecht habe Savita Halappanavar getötet, gegenstandslos erscheinen. Das stört den SPIEGEL aber nicht im Geringsten. Mit frappierender Offenheit argumentiert der Artikel vielmehr, die allgemeine Trauer, Wut und Empörung über diesen Todesfall biete einen guten Anlass, endlich mal gegen das lästige und anachronistische Abtreibungsverbot vorzugehen. (Auch der Hinweis, die Gelegenheit sei auch deshalb günstig, weil die Katholische Kirche in Irland durch den Missbrauchsskandal viel an moralischer Autorität verloren habe, fehlt nicht.) Verräterisch ist hier nicht zuletzt der Satz: "Schwangere Irinnen müssen ins benachbarte Großbritannien reisen, um abzutreiben." Dieser Sachverhalt, den man in Deutschland auch aus eigener Erfahrung kennt - so lange ist es noch nicht her, dass deutsche Frauen Abtreibungen, die nach damaligem deutschen Recht strafbar waren, in den Niederlanden vornehmen ließen -, wird hier so lapidar dargestellt, als gehe es um ein Dorf ohne Supermarkt, desse Einwohner zum Einkaufen in die 16 Kilometer entfernte Kreisstadt fahren müssen. Abtreibung, so wird hier suggeriert, ist etwas ebenso Selbstverständliches und Alltägliches wie Shoppen - wenn man es zu Hause nicht tun kann, geht man eben woanders hin, aber bequemer wäre es allemal, man müsste dafür nicht so weit fahren.

Mit dem traurigen Schicksal von Savita Halappanavar hat all das erkannbar wenig zu tun. Sie und ihr Mann wollten ihr Kind schließlich, haben sich darauf gefreut, und nur die Angst um ihr eigenes Leben hat die Mutter veranlasst, einen Schwangerschaftsabbruch zu verlangen. Komplikationen in der Schwangerschaft, die für die Mutter lebensbedrohlich sind, kommen in unseren Breiten glücklicherweise selten vor, aber sie kommen vor, und wenn den Ärzten nur die Wahl bleibt, entweder das Leben der Mutter oder das des Kindes zu retten, werden sie sich in der Regel für das der Mutter entscheiden. Ein moralisches Dilemma bleibt es allemal. In dem hier in Frage stehenden Fall haben die Ärzte anders entschieden und haben schließlich weder die Mutter noch das Kind retten können. Ob es sich medizinisch gesehen um eine objektive Fehlentscheidung gehandelt hat, für die die Ärzte zur Verantwortung zu ziehen wären, kann und will ich nicht beurteilen; Fakt ist so oder so, dass es keiner Legalisierung von Abtreibung bedarf, um das Leben schwangerer Frauen in Konfliktfällen wie diesem zu schützen.

Der zitierte SPIEGEL online-Artikel klärt seine Leser dankenswwerterweise darüber auf, dass es in Irland seit 1983 einen Verfassungszusatz gibt, der klarstellt, dass jedem Menschen ab dem Moment der Zeugung - also auch schon als Embryo und später als Fötus - die vollen Menschenrechte zustehen. Unter diesen steht das Recht auf Leben, als Voraussetzung für alle anderen Rechte, logischerweise an erster Stelle. Dass der Mensch vom Moment der Zeugung an ein vollwertiger Mensch ist, entspricht durchaus nicht nur der Lehre der Katholischen Kirche; es ergibt sich auch schlicht und ergreifend aus den biologischen Fakten, denn wenngleich ein Fötus frühestens einige Wochen vor dem "normalen" Geburtszeitpunkt in der Lage ist, außerhalb des Mutterleibs zu überleben, steht es doch außer Zweifel, dass er auch schon im Embryonalstadium ein von der Mutter verschiedenes Lebewesen ist, und zwar eines, das der Spezies "Mensch" angehört. Da diese simple Tatsache aber weithin nicht anerkannt wird, wäre ein Verfassungszusatz wie in Irland auch andernorts, z.B. auch in Deutschland, ein begrüßenswerter Fortschritt. Die im deutschen Abtreibungsrecht gültige Fristenregelung, die jährlich rund 100.000 Abtreibungen ermöglicht, wäre dann allerdings wohl kaum mehr aufrecht zu erhalten...

(Weitere Stellungnahmen zum Thema gibt es hier, hier und hier.)

Sonntag, 18. November 2012

Der Tod ist Deutscher Meister [*]

Eins vorweg: Ich bin kein Fußballfan, bin nie einer gewesen und werde wohl auch keiner mehr werden. Das heißt nicht, dass ich mich nicht für Fußball interessiere. Ich schaue mir durchaus gern mal Spiele im Fernsehen an (allerdings nicht allzu oft, zumal ich keinen eigenen Fernseher besitze), und bei einem spannenden Spielverlauf bin ich auch sehr wohl fähig, "mitzufiebern" - wobei ich zumeist spontan entscheide, welcher Mannschaft meine Sympathie gilt. Es ist also nicht der Fußball an sich, der mir suspekt ist, sondern das "Fan-Sein".

"Fan" kommt von "Fanatiker", und tatsächlich löst der Profifußball bei vielen Zuschauern einen Fanatismus aus, den ich befremdlich und oft erschreckend finde. Natürlich muss man hier differenzieren. Ich kenne so einige Menschen, die leidenschaftliche Anhänger eines bestimmten Fußballvereins sind, Dauerkarten fürs Stadion besitzen, in der kalten Jahreszeit Schals und Mützen in den Vereinsfarben und im Sommer Vereinstrikots, gern mit dem Namen und der Rückennummer ihres Lieblingsspielers geschmückt, tragen und für die es am jeweiligen Spieltag und eventuell auch noch einen Tag später kein wichtigeres oder auch nur annähernd so wichtiges Gesprächsthema gibt als bzw. wie Fußball - die aber davon abgesehen durchaus vernünftige und angenehme Menschen sind. Gut, sie haben ein Hobby, das mir in dieser Form und Ausprägung fremd und unverständlich erscheint. Aber sicherlich habe ich auch Eigenarten, die in ihren Augen genauso sonderbar sind. Das ist kein Grund, sich nicht gegenseitig zu respektieren und eventuell sogar anzufreunden.

Mein Verständnis und meine Sympathie für Fußballfans wächst, wenn es sich um Menschen handelt, die einen besonderen Bezug zu "ihrem" Verein haben. Ich habe da z.B. einen schon recht bejahrten Arbeitskollegen, der aus Dortmund stammt und in seiner Jugend selbst mal für die Borussia gespielt hat, bis er seine Träume von einer Profikarriere infolge einer Knieverletzung begraben musste. Dass der nun glühender BVB-Anhänger ist und jeden Montagmorgen erst mal einen Kollegen beiseite nehmen muss, um mit ihm den zurückliegenden Bundesliga-Spieltag durchzudiskutieren, das kann ich vollkommen verstehen.

Letztendlich ist das Fußballfansein ja ein Hobby wie andere Hobbys auch. Es gibt schließlich auch leidenschaftliche Briefmarken- oder Streichholzbriefchensammler, ganz zu schweigen von Menschen, die ein enormes Maß an Zeit, Geld und Energie darauf verwenden, historische Schiffsmodelle zu basteln oder ihre Kellerräume in gigantische, von Modelleisenbahnstrecken durchpflügte Berg-und-Tal-Landschaften zu verwandeln. Gegen all das ist grundsätzlich nicht viel einzuwenden, allerdings fände ich es in allen diesen Fällen alarmierend, wenn das Hobby zum hauptsächlichen, ja zum annähernd einzigen Lebensinhalt wird.

Im Gegensatz zu den genannten, weithin als eigenbrötlerisch und verschroben belächelten Hobbys wird die Fußballbegeisterung allerdings in hohem Maße öffentlich zelebriert. Kaum jemand scheint sich darüber zu wundern oder Anstoß daran zu nehmen, was für einen großen Stellenwert der Profifußball in den Medien beansprucht, nicht nur in speziellen Formaten für Fans, sondern auch in ganz regulären, als seriös geltenden Nachrichtensendungen und Tageszeitungen. Und wenn man sieht oder liest, dass eine Politikerin, weil sie sich abfällig über den FC Bayern München geäußert hat, mit Rücktrittsforderungen aus dem bayerischen Landesverband ihrer eigenenen Partei konfrontiert wird, dann bekommt man eine Ahnung davon, welchen gesellschaftlichen Einfluss Fußballfans haben. Mehr noch: Fußball ist nicht nur Politik, Fußball ist - für ganz ganz hartgesottene Fans, von denen es aber gar nicht so wenige gibt - auch Religion. Nicht umsonst ist so oft vom "Fußballgott" die Rede. Man muss hinzufügen, dass es sich um eine Religion handelt, die in einem Maße zu Intoleranz und (in den meisten Fällen glücklicherweise "nur" verbaler) Aggressivität neigt, wie man sie an echten Religionsgemeinschaften zu Recht scharf tadeln würde.

Der (pseudo-)religiöse Charakter des Fußballfan-Wesens wird besonders deutlich, wenn man sieht, dass manchen Fans ihre Fußballleidenschaft noch im Angesicht des Todes wichtiger zu sein scheint als alles andere. Wenn ein eingefleischter Fan etwa testamentarisch verfügt, dass er in seiner Vereinskluft beerdigt werden will, dass bei seiner Beerdigung Stadionhymnen (etwa "Steh auf, wenn du ein Schalker bist"...) gesungen werden sollen oder dass man ihm einen Grabstein mit dem Logo "seines" Vereins setzen soll. An anderer Stelle schrieb ich einmal, ohne den Glauben an irgendeine Form von "Leben nach dem Tod" seien jegliche Begräbnisrituale sinnlos; im Umkehrschluss lasse die Art der Begräbnisrituale aber eben auch Rückschlüsse auf die Art der Jenseitsvorstellungen zu. Wenn sich nun jemand in Trikot und Fußballschuhen beerdigen lässt und womöglich noch einen Ball mit in den Sarg bekommt, dann erinnert das vage an die Grabbeigaben ägyptischer Pharaonen. Glaubt der Betreffende aber wirklich, er komme nach dem Tod in ein gigantisches Fußballstadion, und seine Grabbeigaben würden sicherstellen, dass er Zugang zum richtigen Fanblock erhält? - Wahrscheinlich eher nicht. Aber er tut so, als würde er das glauben. Man könnte sich erdreisten zu sagen, er macht sich einen Jux mit dem Tod. Wenn das ein erwachsener Mensch tut, stellt er damit zwar seiner geistigen Reife ein schlechtes Zeugnis aus, aber okay, er ist erwachsen und wird schon wissen, was er tut. Was aber, wenn es sich um ein neunjähriges Kind handelt?

Wie die Debatten um den letzten Wunsch des an Krebs gestorbenen Jens Pascal aus Dortmund gezeigt haben, scheint der Umstand, dass es sich um ein Kind handelt, für viele Betrachter von vornherein jegliche Kritik auszuschließen. Traurig genug, dass ein Kind so jung sterben muss - wer wird da so grausam sein, ihm die Erfüllung seines letzten Wunsches zu verweigern? Nun haben wir es im Fall Jens Pascal aber nicht mit einem Kind zu tun, das vom Auto angefahren wurde oder unglücklich mit dem Fahrrad gestürzt ist und gerade noch genug Zeit hatte, einen spontanen letzten Wunsch zu äußern; der Junge hatte, wie gesagt, Krebs, er ist, wenn man das so formulieren darf, über einen längeren Zeitraum hinweg gestorben. Man hätte Zeit gehabt, ihn ernsthaft und besonnen auf seinen Tod vorzubereiten. Wenn sein letzter Wunsch dennoch darin bestanden hat, einen Grabstein mit BVB-Logo zu bekommen, dann zweifle ich daran, dass ihm jemals wirklich bewusst geworden ist, was für eine ernste Angelegenheit der Tod ist. Mancher wird nun sagen, genau das könne man einem Kind gar nicht zumuten - ich schrieb schon einmal etwas dazu und habe dort, wie ich glaube, hinlänglich dargelegt, dass und warum ich das anders sehe. Eine besondere Pointe der öffentlichen Debatte über den Fall Jens Pascal liegt für mich darin, dass sie ausgerechnet in die Wochen zwischen Allerseelen und Totensonntag fiel und sich auch mit der ARD-Themenwoche "Leben mit dem Tod" überschnitt. Dieser Umstand hätte durchaus dazu anregen können, darüber zu diskutieren, ob es nicht sinnvollere Arten gibt, einen Menschen, auch ein Kind, auf den Tod vorzubereiten, als die Mannschaft des BV Borussia Dortmund einschließlich als Weihnachtsmann verkleidetem Trainer am Krankenbett aufmarschieren zu lassen.

(Ich muss zwischendurch mal die Klarstellung einschieben, dass es mir hier nicht darum geht, die Eltern zu kritisieren. Die haben es schon schwer genug. Mir geht es vielmehr um das in meinen Augen arg einseitige und unreflektierte Echo, das dieser traurige Fall in der Öffentlichkeit gefunden hat.)

Die Einstellung gegenüber dem Tod, die sich darin äußert, dass man es dem sterbenskranken Kind möglichst "leicht" machen will, indem man ihm allerlei bizarre Wünsche erfüllt, mag man persönlich gutheißen oder auch nicht; offensichtlich ist, dass sie mit einer christlichen Jenseitshoffnung wenig zu tun hat. Nun gehören die Eltern des verstorbenen Jens Pascal auch tatsächlich keiner christlichen Religionsgemeinschaft an, der Junge war auch nicht getauft; dennoch wollten die Eltern ihn auf einem katholischen Friedhof bestatten lassen. Über die Gründe dafür kann man nur spekulieren: Gefiel ihnen dieser Friedhof einfach besonders gut, unabhängig von seinem kirchlichen Charakter - oder steckte doch so etwas dahinter wie der Gedanke, ein Begräbnis in geweihter Erde könne, auch wenn man nicht so richtig an die christliche Botschaft glaubt, zumindest "nicht schaden"? Wie dem auch sei, die zuständige Kirchengemeinde hatte gegen eine Bestattung des konfessionslosen Jens Pascal auf ihrem Friedhof nichts einzuwenden, und das finde ich ausgesprochen respektabel und richtig. Sehr wohl hatte die Friedhofsverwaltung aber etwas dagegen, dass der Junge, seinem letzten Wunsch entsprechend, einen Grabstein mit BVB-Logo bekommen sollte. Das sei dem christlichen Charakter des Friedhofs nicht angemessen. Welche Reaktionen diese Haltung der Friedhofsverwaltung in der Öffentlichkeit ausgelöst hat, ist allgemein bekannt und wurde auch schon ausgiebig kommentiert (siehe z.B. hier, hier und hier). Mittlerweile ist der Streit um die Gestaltung des Grabsteins durch einen Kompromiss beigelegt worden, aber ich bin wohl nicht der Einzige, bei dem das Ganze einen faden Nachgeschmack hinterlassen hat. Mir jedenfalls hat noch niemand überzeugend darlegen können, warum eine Kirchengemeinde auf ihrem Friedhof (wo es in Dortmund, wie auch in anderen großen Städten, doch genug nicht-kirchliche Friedhöfe gibt) partout ein Grabmal tolerieren muss, das in offenem Widerspruch zum christlichen Todes- und Jenseitsverständnis steht; ja, warum es geradezu ein Erfordernis "christlicher Nächstenliebe" sein soll, diese Huldigung an den oben erwähnten Fußballgott auf einem katholischen Friedhof zu dulden. Über die Lawine bösartigster antikirchlicher, antikatholischer und allgemein antichristlicher Polemik, die die causa Jens Pascal in den einschlägigen sozialen Netzwerken und Diskussionsforen losgetreten hat, will ich hier lieber gar nicht erst reden. Wenn jetzt noch jemand kommt, der argumentiert, gerade weil solche Reaktionen vorhersehbar gewesen seien, hätte die Kirchengemeinde von vornherein kompromissbereiter sein sollen, um Schaden vom öffentlichen Ansehen der Kirche abzuwenden, dann erhält er von mir bestenfalls ein entgeistertes Kopfschütteln zur Antwort.

Letztlich läuft die ganze Debatte in meinen Augen - wieder einmal - darauf hinaus, dass die Kirche froh und zufrieden sein dürfe, wenn man sie als nostalgischen Farbtupfer in ansonsten gründlich durchsäkularisierter Umgebung toleriert und von Fall zu Fall sogar als "Anbieter von Spiritualität" (diese grausige Formulierung habe ich mir nicht ausgedacht, ich musste sie mir schon verschiedentlich in einschlägigen Diskussionen anhören) in Anspruch nimmt, beispielsweise für Trauungen oder eben Beerdigungen; sie solle sich aber bloß nicht anmaßen, Ansprüche an die Menschen zu stellen und ihre eigenen Lehren ernster und wichtiger zu nehmen als die Befindlichkeiten Einzelner.

Wie schließe ich diesen Text ab? Vielleicht am besten mit dem Eingeständnis, dass die hier behandelten Vorgänge mich tagelang extrem gallig gestimmt haben und ich intensiv darum ringen musste, darüber schreiben zu können, ohne mich im Ton zu vergreifen. Ich hoffe, dass mir das nun halbwegs gelungen ist. Für den kleinen Jens Pascal tut mir das Ganze sehr leid. Ich denke, das Beste, was man jetzt noch tun kann, ist, für ihn und für seine Eltern zu beten. Und das tue ich.


[* Ich entschuldige mich vorsorglich bei allen, die diese Überschrift als geschmacklos empfinden mögen, und betone, dass damit keine Veralberung des großen Dichters Paul Celan, keine Relativierung des Holocausts oder Herabwürdigung der Opfer desselben beabsichtigt ist.]


Update (22.11.12):
In den Tagen seit dem Erscheinen dieses Beitrags bin ich von aufmerksamen Lesern auf ein paar sachliche Fehler und Ungenauigkeiten in meinem Text hingewiesen worden, die ich, wie ich zu meiner Entschuldigung vorbringen möchte, aus den von mir herangezogenen Quellen übernommen hatte. So wurde mir mitgeteilt, es stimme nicht, dass die Eltern von Jens Pascal "keiner christlichen Religionsgemeinschaft" angehören: Die Mutter sei evangelisch, der Vater neuapostolisch. Zudem habe die Friedhofsverwaltung ein BVB-Logo auf dem Grabstein nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern lediglich das Fehlen eines christlichen Bezugs bemängelt; dem entspricht ja auch der nun gefundene Kompromiss, das Design des Grabsteins um ein christliches Motiv zu ergänzen.

Davon abgesehen möchte ich nochmals unterstreichen, was in meinem ursprünglichen Text vielleicht nicht deutlich genug geworden ist: dass es mir keinesfalls darum geht, ein Urteil über Jens Pascals Eltern zu fällen - sei es über die Art ihres Umgangs mit der tödlichen Krankheit ihres Sohnes oder über ihren Kampf um die Erfüllung seines letzten Wunsches. So ein Urteil stünde mir als Außenstehendem auch gar nicht zu, und selbst wenn dies der Fall wäre, wären Vorwürfe sicherlich das Letzte, was Eltern, die um ihr Kind trauern, brauchen können. Was mich an dieser ganzen Geschichte beschäftigt und mich dazu veranlasst hat, darüber zu schreiben, ist - wenn man das so sagen kann - nicht das Spezifische dieses Falles, sondern das, was an ihm, so, wie er sich in der öffentlichen Debatte dargestellt hat bzw. dargestellt wurde, exemplarisch ist: exemplarisch für den quasi- bzw. pseudoreligiösen Kult, der um profane Dinge wie Fußball getrieben wird, für die letztlich rat- und hilflose Haltung des "modernen Menschen" gegenüber dem Tod und nicht zuletzt für eine Einstellung gegenüber der Kirche, die diese nur als Dienstleister sehen will und von ihr erwartet, den Menschen das zu geben, was sie wollen - und möglichst noch froh zu sein, dass sie überhaupt noch etwas von ihr wollen. In dieser Hinsicht habe ich von meinen Ausführungen, unbeschadet der obigen Richtigstellungen, nichts zurückzunehmen.

Til Schweiger, ich will deine Organe nicht

Da ich in letzter Zeit wieder verstärkte Diskussionen über das Thema Organspende aufgeschnappt habe und man ja nun wohl verpflichtet werden soll, bei seiner Krankenkasse anzugeben, ob man im Todesfalle bereit ist, Organe zu spenden, habe ich einen kleinen Text ausgegraben, den ich anno 2010 zum Vortrag auf Lesebühnen geschrieben habe, und möchte ihn nun auch meinen Bloglesern vorstellen. An die Werbekampagne, die seinerzeit den Anlass zu diesem Text gab, wird sich wohl noch Mancher erinnern. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass auf der inhaltlichen Seite noch Manches zu ergänzen oder zu differenzieren wäre - so bin ich z.B. nicht auf die Problematik des Hirntodkriteriums eingegangen -, aber der Text ist ohnehin eher satirisch angelegt, und für sachliche Ergänzungen steht ja das Kommentarfeld weit offen... Also, Vorhang auf für:

Til Schweiger, ich will deine Organe nicht

Darf ich Sie mal etwas Persönliches fragen? – Was halten Sie eigentlich von Organspende? Oder, präziser gefragt: von der aktuell laufenden Werbekampagne zu diesem Thema? Ich muss gestehen, ich finde die ziemlich penetrant. Ich kann ja kaum zwei Stationen mit der U-Bahn fahren, ohne dass irgendein B-Prominenter via Bildschirm oder Plakat Anspruch auf meine Organe anmeldet. Außerdem hasse ich es, wenn Werbung mir ein schlechtes Gewissen einzureden versucht. „Schau dich um: Nur jedem Siebten hier ist dein Leben nicht egal.“ Das ist eine sonderbare Aussage. Wenn von den Menschen, die zufällig mit mir in der U-Bahn sitzen (oder stehen), tatsächlich jeder Siebte an meinem persönlichen Wohl und Wehe Anteil nähme, erschiene mir das schon sehr viel. Aber so ist es ja gar nicht gemeint. Gemeint ist vielmehr: Wer nicht im Besitz eines Organspenderausweises ist, beweist damit, dass seine Mitmenschen ihm scheißegal sind. Im Umkehrschluss wird damit unterstellt, die rund 14 Prozent der Bevölkerung, die einen Organspenderausweis haben, hätten tatsächlich ein genuines persönliches Interesse an mir. Eine irritierende Vorstellung, insbesondere wenn zu diesen 14 Prozent solche Knallchargen wie Til Schweiger gehören.

Davon, dass ein allzu ausgeprägtes Interesse am Leben derAnderen ja auch seine totalitären und/oder psychopathischen Züge haben kann, will ich hier gar nicht erst anfangen – schließlich geht es hier in Wirklichkeit weniger um das Leben als vielmehr um die Leber der Anderen. In den 70er und 80er Jahren gab es mal den Slogan „Mein Bauch gehört mir“ – womit gebärunwillige Frauen proklamierten: Wenn so ein kleines Wesen meint, es könnte sich ohne meine Einwilligung neun Monate lang mietfrei bei mir einquartieren, drohe ich mit Eigenbedarfskündigung. Das galt damals als fortschrittlich. Wer hingegen heute darauf besteht, seine Innereien für sich zu behalten und gegebenenfalls mit ins Grab zu nehmen, muss sich als reaktionär verschreien lassen. Unser Bauch gehört nicht mehr uns: Leber, Herz, Nieren – alles nur geliehen, gemietet, geleast. Von wem? – Von der „Allgemeinheit“. Das mag schwammig klingen, aber konkreter geht es nicht. Noch so ein Spruch aus den 80ern: „Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geliehen.“ Das fand ich schon als Kind bescheuert. Wieso von unseren Kindern? Wie können die uns etwas leihen, noch dazu etwas, was ihnen ja nun wohl auch bzw. erst recht nicht gehört? Ich hatte schon damals den Verdacht, diese Metapher mit den „Kindern“ sei nur ein Ausweichmanöver, um nicht von Gott sprechen zu müssen. Selbst der evangelischen Kirche scheint es ja heutzutage peinlich zu sein, von Gott zu sprechen. Aber ich schweife ab.

Zurück zum Thema: Ein ganz eigenes Dilemma bei der Organspende ist ja, dass man, um ein geeigneter Spender zu sein, möglichst gesund sterben müsste. Und wer will schon gesund sterben? Eine tödliche Krankheit ist vielleicht nicht sehr schön, aber gesund sterben erscheint so sinnlos: Solange man gesund ist, könnte man doch auch am Leben bleiben. - „Na, für dich ist es vielleicht sinnlos, wenn du gesund stirbst“, höre ich den Chor der Organspende-Propagandisten rufen, „aber nicht für die Allgemeinheit!“ Da ist sie wieder: meine alte Freundin, die Allgemeinheit.
Man könnte ja fast vermuten, die Organspende-Lobby stecke auch hinter dem Rauchverbot. Wann sehen wir die erste Zigarettenschachtel mit dem Aufdruck „Rauchen fügt Ihnen und späteren Nutzern Ihrer Organe erheblichen Schaden zu“? Auch bei alkoholischen Getränken wäre so ein Warnhinweis nicht schlecht: „Schonen Sie Ihre Leber – sie wird noch gebraucht!“
Zum Beispiel, womöglich, von Til Schweiger. Aber der ist dafür ja auch bereit, seine eigenen Organe auf den Markt zu werfen, wenn ihm die Stunde schlägt. Anders als viele andere: „Obwohl die meisten Menschen im Falle eines Falles ein Spenderorgan akzeptieren würden“, heißt es in der Kampagne, „ist nur jeder Siebte bereit, nach seinem Tod selbst Organspender zu sein.“ Na gut: Es wäre ja durchaus diskutabel, eine Regelung einzuführen, dass Menschen, die selbst Organspender sind, bei der Zuteilung lebenswichtiger Spenderorgane bevorzugt behandelt werden. Das hätte dann auch den Vorteil, dass man ein und dasselbe Organ mehrmals hintereinander transplantieren könnte. Wie viele Menschen können wohl nacheinander dasselbe Organ benutzen, ehe es kaputt geht? Drei, vier, fünf? Da gewinnt der Begriff „Wanderniere“ eine ganz neue Bedeutung!

Was ich mich jedoch frage: Kann ich auch irgendwo unterschreiben, dass ich im Ernstfall keinesfalls ein Organ von Til Schweiger eingepflanzt bekommen möchte? Ich fürchte nämlich, das würde heftige Abstoßungsreaktionen meines restlichen Körpers auslösen. Und wenn nicht – wenn, umgekehrt, das Schweiger-Organ sich durchsetzt und meinen gesamten Organismus unterwandert? Fange ich dann an zu nuscheln und nur noch zwei verschiedene Gesichtsausdrücke zu beherrschen?

Noch etwas, was mich an dieser Kampagne ärgert, ist ihr Name: „Pro“. Einfach nur „Pro“, ohne Zusätze. „Pro“ irgendwas will ja heutzutage jeder sein. In den USA lautet der Slogan der Abtreibungsbefürworter „Pro Choice“, derjenige der Abtreibungsgegner „Pro Life“. In Berlin gab’s vor ein paart Jahren „Pro Reli“, und die Gegenkampagne nannte sich nicht etwa „Anti Reli“, was sachlich korrekt gewesen wäre, aber einen schlechten Eindruck gemacht hätte, sondern „Pro Ethik“. So ist das heutzutage: Wer mit seinem Anliegen ernst genommen werden will, muss nicht gegen etwas sein, sondern für etwas. Ist man nicht für das eine, dann ist man für das andere. Indem die Organspende-Befürworter sich aber einfach nur „Pro“ nennen, lassen sie ihren Gegnern nur die Möglichkeit, einfach nur „Anti“ zu sein.

Aber sehen wir den Tatsachen ins Auge: Da ist was Wahres dran. Es gibt keine Argumente gegen Organspende. Sogar der Papst befürwortet sie, was mir jede Möglichkeit nimmt, zu behaupten, ich wäre aus religiösen Gründen dagegen. Da müsste ich schon Zeuge Jehovas werden, und davon möchte ich ja nun doch lieber absehen. Nein, wirklich: Organspende rettet Leben und schadet niemandem. Dagegen zu sein, ist tatsächlich eine reine Anti-Haltung. Mit anderen Worten: Gegen Organspende zu sein, ist Punk. Die pure Negation, ohne positive Alternativen zu bieten. Eine stolze, eine schöne Haltung, wenn auch vielleicht ein wenig asozial. Ich sollte Johnny Rotten anrufen und ihn fragen, ob er einen Organspenderausweis besitzt. Und wenn er „Ja“ sagt, verstehe ich die Welt nicht mehr.