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Mittwoch, 27. Februar 2013

Real-Life-Trolle? Fehlanzeige!

Am Abend nach der Rücktrittsankündigung Papst Benedikts XVI. befiel mich noch zu vorgerückter Stunde das Gefühl, ich müsse noch ein wenig unter Menschen gehen und das eine oder andere Bier könne mir auch nicht schaden. Ich suchte also ein Lokal in Kreuzberg auf, in dem eine liebe Freundin von mir (ich erwähnte sie schon an anderer Stelle) montags am Tresen arbeitet. In einer betriebsarmen Phase des Abends setzte sie sich für ein paar Minuten zu mir. "Wie geht's dir, Tobi?"

"Ach", seufzte ich, "ich bin heute ein bisschen geknickt."

"Wie kommt's?"

Kati ist nicht religiös. "Lach mich bitte nicht aus", sagte ich.

Sie sah mich ernst an. "Wegen dieser Papst-Sache? Wirklich?"

Ich bejahte das, und Kati fragte: "Aber ist das denn wirklich so schlimm? Ihr kriegt doch einen neuen!"

Darüber musste ich dann doch fast schon lächeln. "Das stimmt", erklärte ich, "und ich bin ja auch optimistisch, dass 'der Neue' total super wird. Aber traurig bin ich trotzdem. Weil dieser Papst mir sehr viel bedeutet hat."

"Ich hab' zwar persönlich überhaupt keinen Bezug zu dem Thema", erwiderte Kati, "aber natürlich tut mir das leid für dich."

Wir sprachen dann über andere Dinge, und bald darauf musste Kati wieder arbeiten. Als ich mich schließlich zum Gehen wandte, umarmte sie mich und sagte: "Trauer' nicht zu sehr."


Dieses natürliche Fein- und Taktgefühl würde ich gewiss nicht von jedem erwarten. Aber die folgenden Tage hielten noch einige positive Überraschungen für mich bereit.

Am Abend des ersten Fastensonntags saß ich beim "Sonntags-wird-nicht-gefastet"-Bier in einem anderen meiner Stammlokale und unterhielt mich mit zwei anderen Stammgästen, beides Atheisten buw. "religionslos". Als einer der beiden eine scherzhafte Bemerkung à la "Worauf soll man sich in dieser Welt noch verlassen, wenn der Papst zurücktritt?" fallen ließ, konnte ich mich - trotz meines Vorsatzes, mich für die Dauer der Fastenzeit nicht auf Troll-Diskussionen einzulassen - nicht zurückhalten, darauf einzusteigen. Das Ergebnis war verblüffend. Aus der so nebenbei hingeworfenen Bemerkung entwickelte sich eine längere und durchweg ernsthafte Diskussion darüber, wie der Amtsverzicht Benedikts XVI. zu bewerten sei, über das bevorstehende Konklave sowie darüber, was vom nächsten Papst zu erwarten sein mag - wobei meine beiden Gesprächspartner weit mehr Sachkenntnis und Realitätssinn an den Tag legten als so manche Vertreter des "Reformkatholizismus", die sich in den letzten Wochen öffentlich zu diesen Fragen geäußert haben. Im weiteren Verlauf berührte unsere Diskussion dann auch andere Themen wie Kirchensteuer, Beichtgeheimnis und, vielleicht unvermeidlicherweise, sexuellen Missbrauch; aber bei allen Meinungsverschiedenheiten und Auffassungsunterschieden (die übrigens in einigen Einzelfragen gar nicht so groß waren, wie man hätte annehmen können) verlief das Gespräch durchweg sachlich, respektvoll und frei von Polemik.

Warum - so fragte ich mich schon während der Diskussion - ist dergleichen in öffentlichen Debatten so selten möglich? Nun, sicherlich macht es einen entscheidenden Unterschied, wenn man seinen Gesprächspartner persönlich kennt und schätzt: Der Respekt vor der Person des Anderen schließt einen gewissen Respekt vor dessen Überzeugungen ein. Sicherlich ist es kein Zufall, dass gerade in Online-Diskussionen gern alle Hemmungen fallen, wo man erstens seine Kontrahenten nicht einmal sieht und zweitens in der Regel seinen wirklichen Namen nicht preisgeben muss. Max Goldt schrieb einmal sinngemäß, ebenso wie Vegetarier nichts essen, was ein Gesicht hat, solle man als einigermaßen gebildeter Mensch nichts beleidigen, was ein Gesicht hat. Im Kommentarbereich von Online-Medien hat man aber kein Gesicht; da fallen Beleidigungen offenkundig leichter.

Dass zu meinem Freundes- und Bekanntenkreis zwar nicht gerade wenige Personen zählen, die mit Religion im Allgemeinen oder der Katholischen Kirche im Speziellen wenig bis nichts "am Hut haben", dass darunter aber kaum ausgesprochene "Kampfatheisten" sind, hat sich in den letzten Tagen noch verschiedentlich bemerkbar gemacht. Am Nachmittag des Rosenmontags hatte ich auf Twitter und Facebook gepostet:
"Geschätzte Freunde, bitte nehmt zur Kenntnis, dass ich heute keinerlei Papstwitze hören oder lesen möchte. Wirklich nicht."
Nun weiß ich zwar nicht, wie vielen der gut 200 Personen, mit denen ich auf Twitter und/oder Facebook 'connected' bin, der Sinn danach gestanden hätte, mich mit Papstwitzen zu bombardieren - einige sind da ausgesprochen unverdächtig, bei anderen hätte ich da eher Bedenken gehabt -, aber alle, wirklich alle befolgten meine Bitte. Ich war beinahe gerührt.

Zwei weitere recht bemerkenswerte Erlebnisse hatte ich jüngst ausgerechnet im Zusammenhang mit meiner Nebentätigkeit als DJ. Am Dienstag der ersten Fastenwoche hatte ich gewissermaßen ein Gastspiel in einem "alternativen" (allerdings vergleichsweise undogmatischen) Lokal in Friedrichshain. Ich hatte mich kaum an meine Arbeit gemacht, da brachte mir der Barkeeper - ein guter Freund und ambitionierter Cocktailmixer - unaufgefordert ein nach Melonen duftendes Mixgetränk vorbei. Es behagte mir zwar nicht ganz, die freundliche Geste zurückzuweisen, aber ich wies dennoch darauf hin, dass ich in der Fastenzeit keinen Schnaps trinke. "Ach so", erwiderte Freund Phips ohne weitere Umstände, "dann nicht" - und nahm das Glas wieder mit, vermutlich, um es selbst auszutrinken. Als ich mich einige Zeit später mal an der Theke sehen ließ, empfing mich Phips mit den Worten: "Auf dich hab' ich gewartet! Ich mach' dir jetzt 'n Fastencocktail. - Es wird fast'n Cocktail", fügte er grinsend hinzu. "Und du glaubst gar nicht, wie lange ich an dem Wortspiel gearbeitet habe." Dann befragte er mich, was meinem persönlichen Fastenprogramm zufolge alles nicht in den Drink hineindürfe, und hatte offenkundig Spaß an der Herausforderung, aus den verbleibenden Optionen (kein hochprozentiger Alkohol, kein Sirup, keine Cola) etwas Leckeres zu kredenzen. Während ich mir den Drink schmecken ließ, stellte Phips mir Fragen zum katholischen Verständnis des Fastens. "Ich hab' das immer so verstanden", sagte er, "dass es darum geht, bewusst auf bestimmte Dinge zu verzichten, aber ohne sich durch den Verzicht total zu quälen." Das konnte ich bestätigen.

Am Samstag war ich dann wieder in meiner regelmäßigen DJ-"Residenz". Als ich meinen Arbeitsplatz einrichtete, traute ich meinen Augen kaum: Unter dem Tuch, das außerhalb der DJ-Arbeitszeiten über die Plattenspieler gebreitet wird, fand ich einen prachtvollen, voluminösen Bildband vor -- "Päpste seit Anbeginn der Fotografie".

Ein Geschenk der Chefin.

Samstag, 16. Februar 2013

Medien-Fasten

Hätte ich einen Fernseher, dann würde ich mir vorgenommen haben, ihn während der diesjährigen Fastenzeit nicht einzuschalten. Da ich aber schon seit Jahren keinen mehr habe, werde ich wohl andere Maßnahmen ergreifen müssen, um neben dem Körper auch den Geist zu entschlacken.

Nach den diversen, zwar im Fernsehen geführten und mich daher unbehelligt gelassen habenden, aber in einschlägigen Print- und Onlinemedien ausgiebig vor- und nachbereiteten Diskussionsrunden zum Thema "Wie fies, böse, brutal, mittelalterlich, kriminell und gemeingefährlich ist die Kirche?" und den mehr oder minder abstrusen Kommentaren zum Amtsverzicht Papst Benedikts XVI. spricht ja wenig dafür, dass das Beobachten der Medienlandschaft in den kommenden Wochen mehr und Besseres bringen wird als ein paar graue Haare mehr und einige Schritte vorwärts auf dem Weg zum Magengeschwür. Daher habe ich beschlossen, mindestens für die Dauer der Fastenzeit mindestens die folgenden Publikationen weder auf Papier noch online zur Kenntis zu nehmen (letzteres auch dann nicht, wenn mir jemand über die üblichen sozialen Netzwerke in durchaus wohlwollender Absicht einen Link schickt):

SPIEGEL, Stern, FOCUS, ZEIT (außer Stellenangebote), WELT, Berliner Morgenpost, BILD, taz, Neues Deutschland, Junge Welt, Jungle World, Titanic, Eulenspiegel, PLAYBOY.

(Damit soll nicht gesagt sein, dass ich alle diese Periodika bisher regelmäßig - oder überhaupt - verfolgt hätte. Aber das macht ja nichts. Auch Nichtraucher können sich für die Fastenzeit vornehmen, nicht zu rauchen. Auf dass sie nicht in Versuchung geführt werden.)

Ein bisschen über das Weltgeschehen auf dem Laufenden bleiben werde ich zwar trotzdem müssen, und hin und wieder braucht man ja (gerade in der Fastenzeit!) auch mal was gegen niedrigen Blutdruck; aber auch nach Ausschluss der genannten Quellen bleiben da ja immer noch der Tagesspiegel, die Rheinische Post, die Mittelbayerische, die Mainpost, die Nordwest-Zeitung und die Kreiszeitung Wesermarsch. Eine willkürliche Auswahl, ich gebe es zu; aber irgendwo muss man ja die Grenze ziehen.

Außerdem und vor Allem habe ich mir für die Fastenzeit vorgenommen, keine Trolle zu füttern, weder on- noch offline. Wie ich mich kenne, wird mir das am Schwersten fallen. Aber es wird mir gut tun...


Donnerstag, 14. Februar 2013

Gefühlte Sedisvakanz

Jüngst tauchte vor meinem geistigen Auge eine skurrile Erinnerung an die Sedisvakanz nach dem Tod Johannes Pauls II. auf: In der Fernsehshow TV Total wurde ein Ausschnitt aus dem kurz zuvor in der ARD ausgestrahlten Frühlingsfest der Volksmusik mit Florian Silbereisen gezeigt. Zu sehen war in diesem Ausschnitt, wie zwei als Braut und Bräutigam verkleidete Hunde in einer albern-abgeschmackten Zeremonie miteinander "getraut" wurden. TV Total-Moderator Stefan Raab kommentierte: "So weit ist es gekommen. Kaum haben wir mal eine Woche lang keinen Papst, und schon schändet die ARD das heilige Sakrament der Ehe."

Meine Sympathien für Stefan Raab halten sich in Grenzen, aber für diesen Satz hatte er meine volle Zustimmung.

Im Augenblick erscheint es geboten, darauf hinzuweisen, dass wir sehr wohl noch einen Papst haben: Benedikt XVI. hat angekündigt, bis zum Ende des Monats im Amt zu bleiben, und da dank dieser Ankündigung frühzeitig Vorbereitungen für ein Konklave getroffen werden können, dürfte die Sedisvakanz recht kurz ausfallen. Im öffentlichen Bewusstsein scheint der Umstand, dass Benedikt XVI. immer noch Papst ist, allerdings keine große Rolle zu spielen. Kaum war die Ankündigung des Amtsverzichts an die Öffentlichkeit gedrungen, da erhoben sich auch schon die Kommentar-Geier in die Lüfte und begannen über dem zu Ende gehenden Pontifikat zu kreisen.

Ein Großteil der vorzeitigen Nachrufe auf Benedikt XVI., die in den letzten Tagen die deutsche Medienlandschaft geprägt haben, gab ein eher deprimierendes Bild ab. Groß kommentieren muss man das wohl nicht. Wer zu dem Fazit gelangt, die knapp acht Jahre des Pontifikats Benedikts XVI. seien "verlorene Jahre" für die Kirche gewesen, hat offensichtlich nicht das Geringste vom Wirken dieses großen Papstes kapiert, und ich fühle mich nicht dazu ausersehen, den betreffenden Kommentatoren Nachhilfeunterricht zu erteilen. Das kann - beispielsweise - Matthias Matussek besser.

Ebenfalls typisch für das herrschende Klima der "gefühlten Sedisvakanz" ist es, dass allerorten über mögliche Nachfolger spekuliert wird - und vielfach auch über unmögliche. Während Vatikan-Experten diverser Medienformate allerlei Argumente dafür zusammentragen, welche Kardinäle als papabile gelten können und was andererseits doch wieder gegen ihre Wahl sprechen könnte, malen gestandene Kirchenkritiker, Grünen-Politikerinnen sowie Otto und Frieda Normalkartoffel Bilder ihres Wunschpapstes an die Wand, die darauf schließen lassen, dass sie einmal zu oft den Film Ein Papst zum Küssen mit Robbie Coltrane gesehen und erheblich zu ernst genommen haben.

Was die Einschätzungen der Experten angeht, so scheint es, dass die Kardinäle Ouellet aus Kanada, Scherer aus Brasilien und Turkson aus Ghana am häufigsten genannt werden; falls es doch wieder ein Italiener werden sollte, scheint der Mailänder Erzbischof Angelo Cardinal Scola der Favorit zu sein. Vereinzelt wird auch der Erzbischof von New York, Timothy Cardinal Dolan, als papabile eingeschätzt; zwar glaube ich irgendwie nicht so recht, dass er ernsthafte Aussichten auf das Amt hat, aber allein die Vorstellung hat für mich etwas ausgesprochen Aufmunterndes.

Letztendlich haben all diese Spekulationen aber natürlich wenig zu besagen; nicht von ungefähr erinnerte Alipius unlängst an die alte Weisheit "Wer als Papst ins Konklave geht, kommt als Kardinal wieder heraus". Einigermaßen sicher scheint hingegen zu sein, dass "auch der neue Papst katholisch" sein wird (Norbert Kebekus). Auch wenn das einigen nicht passt.

Claudia Roth zum Beispiel. In einem Gastkommentar im Handelsblatt träumt sie von einem "Reformpapst", der auf die Stimme der "Kirchenbasis" hört - vor allem "beim Zölibat, bei der Frauenordination, beim ökumenischen Abendmahl, beim kirchlichen Arbeitsrecht, beim Umgang mit Geschiedenen, mit Lesben und Schwulen, mit Forderungen nach einer weniger abgehobenen und weniger autoritären Sexualmoral und einer anderen Bewertung von Empfängnisverhütung". Was die "Kirchenbasis" über diese Themen denkt, scheint für Frau Roth außer Frage zu stehen; aber ganz abgesehen davon, ob sie mit dieser Einschätzung richtig liegt oder nicht, frage ich mich, ob sich mal jemand die Mühe machen könnte, Frau Roth in Ruhe auseinanderzusetzen, dass die Glaubens- und Sittenlehre der Katholischen Kirche nicht auf Mehrheitsbeschlüssen basiert.

Noch reizender finde ich die Äußerung von Simone Tolle - ihres Zeichens Landtagsabgeordnete der Grünen in Bayern - in der Mainpost: "Ich hoffe darauf, dass dieser Rücktritt den Weg frei macht für einen neuen Papst, der hoffentlich endlich mal aus Afrika kommt." Jawohl - endlich mal! Wird auch Zeit! Kardinäle aus Afrika gibt's schließlich schon seit den Tagen Pauls VI.[*]; dass dann Johannes Paul II. so übertrieben lange das Amt blockierte, war ja schon eine ziemliche Unverschämtheit, und als sich dann mal wieder eine neue Gelegenheit bot, wählte das Konklave -- schon wieder einen Weißen! Das kann so nicht weiter gehen! - Die Vorstellung, mit einem Papst aus Afrika würde alles besser, scheint durchaus verbreitet zu sein; aber, Frau Tolle, Sie müssen jetzt ganz tapfer sein: Ein ganz klein bisschen rassistisch ist das schon. Spannend ist allerdings, was Frau Tolle sich konkret von einem afrikanischen Papst erhofft: nämlich, dass er "mit der Bewegung 'Kirche von unten' in den Dialog tritt, [...] die Missbrauchsskandale rigoros aufklärt, [...] sofort und entschieden solche Bewegungen wie kreuznet oder gloria tv unterbindet und [...] einen Dialog aufnimmt mit schwulen und lesbischen Menschen". Auf das souveräne In-einen-Topf-Werfen der verschiedenen Themen, das hier betrieben wird, will ich gar nicht näher eingehen; aber warum es für die genannten Maßnahmen notwendig oder auch nur vorteilhaft sein soll, aus Afrika zu kommen, wird wohl Frau Tolles Geheimnis bleiben. Nun, vielleicht geht ja zumindest ihr erster Wunsch in Erfüllung, wenn beispielsweise der oben schon erwähnte Kardinal Turkson gewählt wird (in Frage kämen eventuell auch noch andere); ich habe allerdings die Ahnung, dass diejenigen, die von einem Papst aus der "3. Welt" (sagt man das heute überhaupt noch, oder spielt mir da meine 80er-Jahre-Sozialisation einen Streich?) "Refomen" im oben skizzierten Sinne erwarten, sich dann ganz schön umschauen würden. (Das glaubt übrigens auch Herr Drewermann, mit dem ich ansonsten selten einig bin.)

Mehr Basisdemokratie in der Kirche wüncht sich neben Claudia Roth übrigens auch der BDKJ-Bundesvorsitzende Dirk Tänzler: Die Kardinäle sollten vor dem Konklave die "Meinung der Gläubigen" einholen, regt er an. Wie das konkret vor sich gehen soll, lässt er offen, gibt aber gleich eine Einschätzung darüber ab, wie diese Meinung aussehen dürfte: "Gerade junge Menschen erwarten von Kirche keine Verbote. Sie wollen Vorbilder, Orientierung, sie wollen Kirche als Ratgeberin und Begleiterin." Sind wir überrascht? Sind wir nicht. Wer will schon Verbote, wenn er Vorbilder, Orientierung, Rat und Begleitung haben kann. Aber Polemik beiseite: Selbstverständlich ist es von eminenter Wichtigkeit, dass die Kirche den Gläubigen all dies bietet. Die implizite Unterstellung hingegen, sie täte das nicht oder nicht in ausreichendem Maße, weil sie sich zu sehr auf Verbote konzentriere, empfinde ich aus dem Mund des Vorsitzenden eines kirchlichen Verbandes schon etwas befremdlich; und wenn es hier um die Person des Papstes geht, möchte ich zudem anmerken, dass diese Einschätzung weder Benedikt XVI. noch Johannes Paul II. (als den beiden bislang einzigen Päpsten, deren Wirken ich bewusst miterlebt habe) gerecht wird.

Für diesmal schließen möchte ich, wie ich begonnen habe: mit einer persönlichen Erinnerung an das Jahr 2005. Wenige Tage nach dem Amtsantritt Benedikts XVI. erlebte ich eine Diskussion im Kreise von Arbeitskollegen mit; ein mit mir etwa gleichaltriger Kollege - evangelisch getauft und nach eigenem Bekunden nicht sonderlich religiös - überraschte dort mit der Aussage, er finde es richtig, wenn ein Papst konservativ sei: "Wäre doch langweilig, wenn die katholische Kirche sich an den Zeitgeist anpassen und genauso lasch werden würde wie unsere." Er fügte hinzu, ein gewisser Konservatismus liege nun mal im Wesen dieses Amtes, und obendrein sei eine Papstwahl, wenn man es mit dem Glauben ernst meine, doch in letzter Konsequenz als eine Art Gottesurteil zu betrachten.

Aus diesem Mund überraschte mich diese Aussage damals doch beträchtlich. Aber ich ertappe mich seitdem immer mal wieder bei dem Wunsch, diese Auffassung wäre auch unter den hiesigen Katholiken etwas verbreiteter...



[*] Wie ich gerade nachgelesen habe, gab es mindestens einen schwarzafrikanischen Kardinal sogar schon unter Johannes XXIII.: Laurean Cardinal Rugambwa aus Tansania, ernannt 1960, verstorben 1997.

Single-Selbstmord am Valentinstag

Aus kalendarischem Anlass möchte ich hier wieder einmal einen Lesebühnentext von mir veröffentlichen. Geschrieben habe ich ihn anno 2010 anlässlich einer "Horror-Lesung" an Halloween - auch so ein importierter, kommerzieller Pseudo-Feiertag, daher rührte wohl die Assoziation... (Aber keine Sorge: Der Horror-Aspekt des Texts ist nicht allzu ausgeprägt.)


Single-Selbstmord am Valentinstag

Früher hatte Anton sich nie viel aus dem Valentinstag gemacht. Aber das war gewesen, bevor er mit Monika zusammen war. Monika hatte immer großen Wert darauf gelegt, diesen Tag ausgiebig zu zelebrieren; und nachdem Anton immerhin fünf Valentinstage mit Monika verlebt hatte, war er schlechterdings nicht mehr in der Lage, dieses Datum zu ignorieren. Obendrein arbeitete sein Nachbar Jörg – der einzige andere Mieter im Haus, zu dem Anton einigermaßen regelmäßigen Kontakt hatte – bei Fleurop, und Jörg sprach schon seit Wochen vom ‚V-Day‘, stets begleitet von der entsprechenden Geste. Der andere Großkampftag der Branche war ‚M-Day‘, Muttertag. „Natürlich halte ich diese Tage in Ehren“, pflegte Jörg, selbst Single, zu sagen. „Valentinstag und Muttertag sind von der Floristenbranche und zu Nutz und Frommen der Floristenbranche erfunden worden – was wäre denn das für eine Berufsauffassung, wenn ich diese Tage nicht würdigen wollte? – Aber vor allem“, pflegte Jörg hinzuzufügen und dabei sein Bierglas zu erheben, „machen diese Tage einen Haufen Arbeit.“

Anton graute vor dem diesjährigen Valentinstag, dem ersten seit seiner Trennung von Monika – oder, genauer gesagt: Monikas Trennung von ihm. Er hatte gedacht, Monika wäre die Frau seines Lebens. Er hatte sie heiraten wollen, hatte gedacht, sie würden Kinder bekommen und in Zukunft auch den ‚M-Day‘ zusammen feiern. Und dann, vor gut einem halben Jahr, war alles vorbei gewesen, ganz plötzlich. Nun gut: ganz so plötzlich wohl nicht. Jede Trennung hat ihre Vorgeschichte, dessen war Anton sich durchaus bewusst, auch ohne die klugen Sprüche seiner Psychotherapeutin. Aber Vorgeschichte hin oder her, letztlich traf einen so etwas wohl doch immer unvorbereitet.

Je näher der Valentinstag rückte, umso mehr Sorgen machte Anton sich, wie er diesen Tag überstehen sollte. Weihnachten war schon schlimm genug gewesen – auch so ein ‚Fest der Liebe‘, aber doch in einem allgemeineren und nicht so auf Paarbeziehungen eingeengten Sinne. Der Valentinstag war der Tag der Liebenden, und das war schlimm. Für ihn jedenfalls. Das Gefühl, dass ihm eine Hälfte dazu fehlte, ein Ganzes zu sein, und dass Monika diese Hälfte war – ein Gefühl, das ihn im letzten halben Jahr nie gänzlich losgelassen hatte –, musste an diesem Tag zwangsläufig eine schmerzhafte Deutlichkeit annehmen. Noch dazu fiel der Valentinstag in diesem Jahr ausgerechnet auf einen Samstag, was bedeutete, dass er nicht zur Arbeit gehen musste. Nicht zur Arbeit gehen konnte, nicht zur Arbeit gehen durfte. Das hätte ihn vielleicht abgelenkt.

Wenigstens waren die Geschäfte geöffnet, also beschloss Anton, an diesem Tag – und nicht, wie sonst, am Freitag – die Einkäufe für die kommende Woche zu erledigen. Er hoffte, diese prosaische Tätigkeit würde ihn davon abhalten, zu viel und über die falschen Dinge nachzudenken. Tapfer ignorierte er die grellen Werbetafeln voller knutschender Pärchen und pinkfarbener Herzchen, an denen er auf seinem Weg zum Supermarkt vorbeikam, die Blumenverkäufer auf dem Vorplatz des Supermarkts und die aufdringlich ausgestellten Pralinenpackungen im Supermarkt und lud mit eiserner Konsequenz und Konzentration nichts als ganz prosaische Lebensmittel in unaufdringlichen, absolut valentinstagsfreien Verpackungen in seinen Einkaufswagen. Zum Abschluss seines Einkaufs ging er zur Backwarentheke, bestellte ein halbes großes Graubrot und ließ es sich in Scheiben schneiden. Mit einem Schmunzeln dachte er daran, dass es, als er gerade nach Ostberlin gezogen war – kurz nach der Wende –, absolut unmöglich gewesen war, sich an der Backwarentheke im Supermarkt (oder in der „Kaufhalle“, wie einige Alteingesessene bis heute sagten) einen Laib Brot in Scheiben schneiden zu lassen. Bei seinem ersten Versuch hatte ihn die Verkäuferin angeschnauzt, wenn er geschnittenes Brot haben wolle, solle er das abgepackte aus dem Regal nehmen. Das war in einem Edeka-Markt gewesen, der mitten auf dem Gelände der ehemaligen Stasi-Zentrale in Lichtenberg lag und den er fortan nur noch die „Stasi-Kaufhalle“ genannt hatte. Inzwischen war er längst aus Lichtenberg weggezogen, erst nach Mitte, dann nach Prenzlauer Berg, und er hatte keine Ahnung, ob es die Stasi-Kaufhalle noch gab; aber wenn ja, dann war er sich sicher, dass es selbst dort mittlerweile völlig normal war, dass ein Kunde sich einen Laib Brot in Scheiben schneiden lassen konnte. Bei diesem Gedanken fühlte Anton sich als Pionier des Brotschneidenlassens in Ostberlin, ach was, in der gesamten Ex-DDR, und war nicht wenig stolz auf sich.

Antons Erwachen aus diesem kurzen Tagtraum fiel unsanft aus. Vor lauter Stolz auf seine kulturelle Pionierleistung hatte er nicht aufgepasst, was für einen Brotlaib die Verkäuferin in die Schneidemaschine geschoben hatte – und jetzt, als sie ihm einen Klarsichtbeutel voll geschnitten Brot auf die Theke legte, sah er, dass es ein herzförmiger Laib gewesen war, nunmehr feinsäuberlichst in herzförmige Scheiben geschnitten. „Was ist das denn?“ herrschte Anton die Verkäuferin entgeistert an. – „Das ist unser Valentinstags-Special“, erwiderte die Verkäuferin zuckersüß. „Valentins-Brot. In Herzform.“ – „Ich will Ihr Scheiß-Valentins-Brot nicht!“ protestierte Anton und knallte die Tüte wutentbrannt auf den Tresen. „Ich hatte ein stinknormales halbes großes Graubrot bestellt!“ – „Das ist ein normales Graubrot“, beharrte die Verkäuferin, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. „Nur eben in Herzform.“
Bemüht, seine Fassung wiederzufinden, schüttelte Anton den Kopf und sagte: „Das will ich nicht. Nehmen Sie es zurück.“
Spürbar indigniert, aber ohne den Firnis professioneller Freundlichkeit gänzlich abzustreifen, erwiderte die Verkäuferin: „Entschuldigung, aber jetzt habe ich es für Sie geschnitten – jetzt müssen Sie es auch kaufen.“
Verärgert knallte Anton ihr das Geld auf den Tresen, nahm den Brotbeutel und verließ den Supermarkt.

Auf dem Heimweg klatschten die Werbetafeln Anton ihre aufdringlichen Romantik-Botschaften gnadenlos ins Gesicht. Hin und wieder fiel sein Blick auf den Klarsichtbeutel voll herzförmiger Brotscheiben, den er in der Hand trug, weil er ihn nicht mit seinen anderen Einkäufen in dieselbe Tüte hatte packen wollen. Am liebsten hätte er ihn in den nächsten Mülleimer geworfen und sich irgendwo ein anständiges Brot gekauft; aber Brot wegwerfen, das tat man einfach nicht, das war eine Sünde, eine unverzeihliche Sünde wie Selbstmord. À propos Selbstmord, dachte Anton. Möchte doch mal wissen, ob es eine Statistik über Single-Selbstmorde am Valentinstag gibt. Gibt’s bestimmt. Muss ich mal im Internet recherchieren, wenn ich nach Hause komme. Vielleicht muntert mich das ein bisschen auf.

Als er jedoch nach Hause kam und die eingekauften Lebensmittel in die Küche bringen wollte, da stand in seiner Küche ein dicklicher nackter Knabe mit lockigem Haar und zwei lächerlich mickrigen goldenen Flügelchen an den Schulterblättern, zwischen denen ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen hingen – Pfeile mit herzförmigen Spitzen. Einen davon hielt das kleine Dickerchen eben in der Hand, um die Spitze zu schärfen – und zwar am Sägeblatt von Antons Brotschneidemaschine.

Anton erkannte den kleinen Schelm sofort, obwohl der sich schon lange nicht mehr bei ihm hatte blicken lassen. „Amor!“ fuhr er ihn an. „Was machst du hier?“
Ohne auf die Frage einzugehen, entgegnete Amor: „Sieh mal an, Anton, du hast ja eine Brotschneidemaschine! Und trotzdem musst du bei jeder Gelegenheit arme, überarbeitete Bäckereifachverkäuferinnen behelligen?“
Genervt schmiss Anton die Brottüte auf den Küchentisch. „Es geht überhaupt nicht darum, dass ich mir mein Brot auch selbst schneiden könnte. Es geht um Service, um Kundenfreundlichkeit. Das ist einfach eine Stilfrage! Und übrigens“ – er bemerkte, dass seine Stimme schrill wurde, konnte es aber nicht ändern. „Die Brotschneidemaschine hab‘ ich mir in den Neunzigern gekauft, als es hier unmöglich war, Brot geschnitten zu bekommen; und behalten habe ich sie für den Fall, dass der Sozialismus zurückkommt!“
Amor ließ von der Schnitzerei an seinem Pfeil ab und wandte sich zu Anton um. „Sieh an, deinen Humor hast du also noch nicht ganz verloren“, bemerkte er spöttisch. „Schön für dich. Aber ich kann es nicht tolerieren, dass du meinen Feiertag boykottierst – bloß weil du einmal Pech in der Liebe hattest…“
Anton fuhr auf und wollte heftig protestieren, aber Amor schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. „Findest du nicht, du hast allmählich lange genug deine Wunden geleckt? Wie willst du eigentlich jemals eine neue Frau finden, wenn du nichts anderes tust als arbeiten, einkaufen und mit deinem Nachbarn Jörg am Tresen in der Eckkneipe versumpfen, und ansonsten miesepetrig in deiner Wohnung hockst? – Na gut, vielleicht brauchst du ein paar Anregungen. Ich hab‘ dir ein Buch mitgebracht. Liegt da drüben.“

Er deutete auf den Küchentisch, und da lag ein Taschenbuch: About A Boy von Nick Hornby. Anton lachte bitter auf. „Du willst mir jetzt aber nicht erzählen, ich soll mir ein Kind ausleihen, um mich als alleinerziehender Vater auszugeben, nein?“
„Ach“, erwiderte Amor überrascht, „du kennst das Buch?“
„Ich hab‘ den Film gesehen“, brummte Anton knapp.
„Den Film gesehen“, höhnte Amor. „Na klar. Ich sag‘ dir, lies das Buch. Das ist sehr lehrreich.“

Allmählich hatte Anton genug von diesem Gespräch. „Jetzt hör‘ mal zu“, polterte er los, „ich glaube wirklich nicht, dass ich es nötig habe, mir von einem kleinen Fettsack mit Flügeln und einem winzigen Schniedel kluge Ratschläge –“
 Weiter kam er nicht: Blitzschnell war Amor herumgewirbelt und hatte einen Pfeil auf ihn abgeschossen, und das war keiner mit herzförmiger Spitze. Er zauberte Anton auch keine Schmetterlinge in den Bauch, sondern nagelte ihn umstandslos an die gepolsterte Rückenlehne seines Küchenstuhls.
Das letzte, was Anton sah, war, wie Amors pausbäckiges Kindergesicht sich in eine dämonische Fratze verwandelte. „Dich werd‘ ich lehren, die wahre Bedeutung des Valentinstags zu begreifen“, zischte er. „Dich werden heute drei Geister besuchen. Erwarte den ersten zur Mittagszeit!“

„Lass mich doch in Ruhe mit diesem Charles-Dickens-Scheiß“, murmelte Anton kraftlos; dann schwanden ihm die Sinne...

Montag, 11. Februar 2013

Ciao, Benedetto!

Im Lichte der heutigen Ereignisse ist mir mein gestriger Beitrag schon einigermaßen peinlich.

Aber das konnte ja nun wirklich keiner ahnen.

Nachdem die Schockstarre, die mich heute gegen Mittag überfallen hat, als ich aus dem Internet von der Rücktrittsankündigung Papst Benedikts XVI. erfuhr, einigermaßen nachgelassen hat, habe ich das Gefühl, ich muss noch ein paar Worte darüber schreiben, ehe dieser Tag zu Ende geht.

Darüber, wie dieser Rücktritt zu bewerten ist, was er für die Kirche bedeutet und wie es nun weitergehen soll, ist heute schon viel geschrieben worden - einige Wortmeldungen aus der Blogoezese haben mich sehr bewegt, mir aus der Seele gesprochen und gut getan; beispielhaft genannt seien hier die Beiträge auf


Mit Ärger über das, was die Medien und die unvermeidlichen innerkirchlichen "Reform"-Gruppierungen dem scheidenden Papst so alles nachrufen (von Internet-Trollen ärgerer Art ganz zu schweigen), möchte ich diesen Tag bzw. Abend nicht belasten, ebensowenig mit Spekulationen über die Nachfolge Benedikts XVI.; für all das wird in den Tagen und Wochen bis zum Konklave noch Zeit genug sein. Was mir also heute noch zu sagen bleibt, das ist ein persönliches Wort - darüber, wie tief das Pontifikat Benedikts XVI. mich geprägt hat.

Vor acht Jahren war mein Verhältnis zur Kirche und zum Glauben um einige Grade distanzierter als heute. Das hatte verschiedene Gründe, auf die ich vielleicht ein andermal näher eingehen werde; jedenfalls würde ich mich zwar auch damals jederzeit als gläubigen Katholiken bezeichnet haben, aber ich ging selten zur Kirche, betete nicht regelmäßig und beschäftigte mich im täglichen Leben nur gelegentlich mit Fragen des Glaubens und der Kirche. Zu zahlreichen konkreten Glaubensfragen war meine Einstellung diffus und von Zweifeln geprägt.

Dann starb Papst Johannes Paul II., den ich - der oben beschriebenen Distanz zur Kirche zum Trotz - zutiefst verehrt und bewundert hatte; und ich saß stundenlang vor dem Fernseher und hatte Tränen in den Augen. So richtig fließen wollten sie nicht, aber sie waren da.

Das Konklave des Jahres 2005 verfolgte ich mit großer Spannung (auch wenn es da gar nicht viel zu "verfolgen" gab, da ja nichts davon an die Öffentlichkeit drang; die einschlägigen 24-Stunden-Nachrichtenkanäle zeigten dennoch stundenlang Live-Bilder vom Schornstein der Sixtinischen Kapelle...). Vom Ergebnis des Konklaves erfuhr ich dann jedoch - ich war bei der Arbeit - per SMS: "Habemus Ratzinger", lautete ihr Inhalt.

Ich muss gestehen, ich war nicht begeistert.

Offenbar hatte mich die schlechte Presse, die Joseph Ratzinger während seines Wirkens als Präfekt der Glaubenskongregation regelmäßig bekommen hatte, allzu sehr beeindruckt. Der "Panzerkardinal", der "Rottweiler" - das sollte nun der Nachfolger Johannes Pauls II. sein? Ein paar Tage hielt dieses Unbehagen an, dann sagte ich mir: Entweder du glaubst daran, dass die Entscheidung des Konklaves vom Heiligen Geist inspiriert ist, oder du lässt es halt bleiben; in jedem Fall ist er jetzt auch dein Papst, also akzeptier' das gefälligst.

Als nächstes dachte ich mir: Dem Vernehmen nach hat Joseph Ratzinger an die 100 Bücher geschrieben. Anstatt mir von den Medien vorschreiben zu lassen, was ich von ihm zu halten habe, sollte ich mir vielleicht lieber mal anschauen, was er selbst zu sagen hat. - Denselben Gedanken hatten offenbar eine ganze Menge anderer Leute in Berlin auch. Wochenlang waren alle, wirklich sämtliche Ratzinger-Bücher in allen öffentlichen Bibliotheken Berlins entliehen. Es dauerte wohl so vier Wochen, bis ich die ersten Bücher des nunmehrigen Papstes in die Hände bekam: "Eschatologie - Tod und ewiges Leben", "Glaube - Wahrheit - Toleranz", schließlich die "Einführung in das Christentum".

Ich war verblüfft und begeistert. Der Autor dieser Bücher war offenbar ein ganz Anderer, als die ewige Mär vom "Panzerkardinal" glauben machen wollte! Und die Lektüre dieser (und später dann weiterer) Bücher veranlasste mich nicht allein dazu, den neuen Papst in einem anderen Licht zu sehen, sondern ließ mich den katholischen Glauben insgesamt ganz neu entdecken. Mir schien, dass diese Bücher mir Antworten auf Fragen gaben, die ich in meinem Kopf noch nicht ausformuliert hatte, die mich aber dennoch bedrängt hatten. Wäre Joseph Ratzinger nicht Papst geworden, hätte ich mich vielleicht nie veranlasst gesehen, sie zu lesen. Dann sähe mein Leben heute anders aus.

Es waren aber nicht allein die Bücher, die mich für Benedikt XVI. einnahmen, auch nicht nur seine Predigten und Ansprachen. Seine ganze Persönlichkeit hat mich, bei allen bedeutenden Unterschieden, nicht weniger beeindruckt als die seines Vorgängers.

Benedikt XVI. hat den Anstoß dazu gegeben, dass ich eine so innige Liebe zu meinem Glauben und meiner Kirche entwickelt habe, wie ich sie, wenn überhaupt je, mindestens seit meinen frühen Teenagerjahren nicht empfunden hatte. Ohne ihn würde ich keinen katholischen Blog schreiben. Ohne ihn würde ich mich nicht für meine Überzeugung aus Kneipen schmeißen lassen...

Ich bin traurig, diesen Papst zu verlieren, gleichzeitig gönne ich ihm einen ruhigen Lebensabend von Herzen, und wenn er nach reiflicher Überlegung, Gebet und Meditation zu dem Schluss gekommen ist, dass es ihm für die Aufgaben, die der Papst heute zu bewältigen hat, an Kraft fehlt, dann wird das auch richtig sein -- und wir werden einen Nachfolger auf dem Stuhl Petri erleben, der uns womöglich ebenso in Erstaunen versetzt, wie es für mich bei Benedikt XVI. der Fall war.

Zum Abschluss: Zur, wie man so sagt, "Bewältigung" der Eindrücke des heutigen Tages habe ich vor ein paar Stunden eine Passage aus Franz Werfels beeindruckendem Roman "Der veruntreute Himmel" nachgelesen, die ich ermutigend finde. Ich möchte sie hier gern zitieren; geschildert wird da, wie der junge und von seiner Kirche mehr oder minder desillusionierte Kaplan Seydel, der eine Seniorenwallfahrt nach Rom begleitet hat, im Petersdom eine von Papst Pius XI. zelebrierte Messe miterlebt:

"Mit seinem Herzschlag stärker als mit seinem Verstand begreift Seydel plötzlich das Geheimnis der Menschwerdung der Gottheit, an dem die Päpste in ihrer Art teilnehmen. Achille Ratti, ein gewöhnlicher Mensch und Priester, kein gottbegnadeter Geist, sondern ein stiller Gelehrter, zärtlicher Bibliothekar und tüchtiger Alpinist in seinen kräftigen Jahren. Eines Tages treten die Kardinäle zusammen, gewöhnliche Erdenmenschen alle siebzig, und erheben Achille Ratti auf Petri Stuhl. Und nun ist der Mensch Pius nicht mehr nur Mensch allein. Ein Tropfen des köstlichen Balsams, der sich seit dem Tage des Galiläischen Fischers, der mit dem Herrn umging, angesammelt hat, verwandelt den gewöhnlichen Menschen und fügt etwas zu seiner Natur hinzu, das nicht von dieser Welt ist. Einem flachköpfigen Intellektuellen könnte Seydel dies nicht erklären, aber er ist überzeugt davon, daß auch dieser flachköpfige Intellektuelle es jetzt und hier in allen Nerven spüren würde wie er selbst."
 
Mehr habe ich für heute nicht zu sagen...

Sonntag, 10. Februar 2013

Glänzende Karriereaussichten

Nachts an der Imbissbude: Zwei recht sympathische, mir aber gänzlich unbekannte (und im Übrigen nicht direkt notleidend wirkende) junge Damen versuchen mich zu überreden, ihnen etwas zu essen zu kaufen.

Ich (spontan und ohne mir viel dabei zu denken): "Na klar. Und demnächst werde ich dann Papst, oder so."

Dame 1 (überraschend ernst): "Ja, das habe ich mir übrigens gleich gedacht."

Dame 2: "Man kann ja mal mit Bischof anfangen."

Ich bin irritiert.

Mittwoch, 6. Februar 2013

Von "Lagern" und "Pogromen"

Ich habe mal wieder ein schockierendes Geständnis zu machen: Ich habe einige Jahre lang im Versandhandel gearbeitet. Genauer gesagt, im Kundenservice eines Teleshopping-Senders. Einen festen Leitfaden für Kundengespräche hatten wir da nicht, jedenfalls nicht in systematischer, schriftlich fixierter Gestalt; aber die Abteilungsleitung legte einige Sprachregelungen fest, an die wir uns strikt zu halten hatten. So wurden wir zum Beispiel angehalten, jene Abteilung unseres Unternehmens, die intern stets nur "das Lager" genannt wurde, im Kundengespräch grundsätzlich als "die Versandabteilung" zu bezeichnen. Grund: Das Wort "Lager" sei negativ konnotiert und könne unerwünschte Assoziationen hervorrufen.

Wir fanden das damals alle reichlich albern und machten untereinander unsere Scherze darüber; aber es scheint wohl doch was an der Sache dran gewesen zu sein.

Kürzlich, am 01.02.2013, erschien in der WELT ein von Paul Badde und Gernot Facius geführtes Interview mit dem Präfekten der Glaubenskongregation, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller. Darüber, dass dieses Interview im Ganzen nicht gerade eine journalistische Glanzleistung darstellt, hat Alipius bereits das Nötige gesagt; lediglich eine Aussage des Erzbischofs war geeignet, größere Aufmerksamkeit zu erregen, und tat das natürlich auch:
"Gezielte Diskreditierungskampagnen gegen die katholische Kirche in Nordamerika und auch bei uns in Europa haben erreicht, dass Geistliche in manchen Bereichen schon jetzt ganz öffentlich angepöbelt werden. Die daraus entstandene Stimmung sieht man in vielen Blogs. Auch im Fernsehen werden Attacken gegen die katholische Kirche geritten, deren Rüstzeug zurückgeht auf den Kampf der totalitären Ideologien gegen das Christentum. Hier wächst eine künstlich erzeugte Wut, die gelegentlich schon heute an eine Pogromstimmung erinnert."
Tags darauf meldete sich Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) zu Wort und beschwerte sich, die vom Erzbischof angestellten "Vergleiche mit dem Holocaust" seien "geschmacklos".

Holocaust?

Die deutschsprachige Wikipedia definiert den Begriff "Pogrom" als "die gewaltsame Ausschreitung gegen Menschen, die entweder einer abgrenzbaren gesellschaftlichen Gruppe angehören oder aber von den Tätern einer realen bzw. vermeintlichen gesellschaftlichen Gruppe zugeordnet werden. Häufig sind es politische Gruppen [...] oder religiöse Gruppen". Das ist schon noch etwas Anderes als der systematische Massenmord der Nazis an den Juden Europas; aber richtig ist, dass die Nazis durchaus auch Pogrome veranstaltet haben - am Bekanntetsen sicher jenes vom 9. November 1938 ("Reichskristallnacht"). Und wenn ein durchschnittlich (halb-)gebildeter Deutscher einen Begriff hört, der ihm unter anderem im Zusammenhang mit den Nazis geläufig ist, dann verbindet er ihn - wie das oben genannte Beispiel "Lager" zeigt - gern in erster Linie mit den Nazis. Über die psychologischen Ursachen dieses Phänomens will ich hier nicht spekulieren; entscheidender ist die Frage: Kann man - kommunikationstheoretisch ausgedrückt - den Sender einer Botschaft für die Assoziationen verantwortlich machen, die diese beim Empfänger auslöst?

Keine Bange: Man kann und wird. "In seiner Position hätte er wissen müssen, wie seine Äußerungen in der Öffentlichkeit ankommen", so wird argumentiert. Im bereits zitierten Wikipedia-Artikel heißt es zwar "Früher verwendete man den Begriff nur, um Ausschreitungen gegenüber Juden zu benennen; der Sprachgebrauch hat sich ausgedehnt"; aber was soll's - dann wird der Sprachgebrauch jetzt eben wieder eingeengt, damit man dem Erzbischof einen geschmacklosen Holocaust-Vergleich ankreiden kann.

Bleibt man hingegen beim "ausgedehnten" Verständnis des Begriffs "Pogrom", dann bleibt festzuhalten, dass es in Nordamerika unbd Europa - jenen Weltteilen also, von denen Erzbischof Müller sprach - anders als etwa im Irak, in Syrien oder Ägypten (noch) keine gewaltsamen Ausschreitungen gegen Christen in solchen Ausmaß gibt, dass sie die Bezeichnung "Pogrom" rechtfertigen würden. Das hat der Präfekt der Glaubenskongregation aber auch gar nicht behauptet. Sondern, um es noch einmal zu wiederholen: "Hier wächst eine künstlich erzeugte Wut, die gelegentlich schon heute an eine Pogromstimmung erinnert." Wer auch das noch für übertrieben hält, dem empfehle ich, sich die Leserkommentare zu einem beliebigen SPIEGEL- oder WELT-online-Artikel mit Kirchenbezug anzuschauen und sich daneben ein wenig über die jüngsten Fälle von Brandstiftung in Kirchen zu informieren.

Darüber hinaus möchte ich auf die folgenden Blog-Artikel verweisen:

-- Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, dass kontroverse Äußerungen gern Reaktionen auslösen, die in ihrem Furor gerade das bestätigen, was sie bestreiten wollen. Als im Herbst 2006 ein aus dem Kontext gerissenes und dadurch missverständliches Zitat aus der Regensburger Rede Papst Benedikts XVI. durch die Medien der Welt ging, fanden sich sogleich Muslime, die vor lauter Empörung darüber, dass der Islam als gewalttätig und inhuman dargestellt wurde, Kirchen anzündeten und Ordensfrauen ermordeten. So weit sind wir, wie gesagt, hierzulande noch nicht; aber hierzulande genügt Erzbischof Müllers Wort von der "Pogromstimmung" schon, um einige Kommentatoren zu veranlassen, ebendiese Pogromstimmung - von der sie ja sagen oder meinen, dass es sie gar nicht gibt - weiter anzuheizen.

Nachdem die bereits erwähnte Stellungnahme der Bundesjustizministerin eher wirr und hilflos ausgefallen war - Frau Leutheusser-Schnarrenberger sprach wolkig und kontextfern von "unterschiedliche[n] Auffassungen in unserer Gesellschaft zu aktuellen Fragen wie auch der Rolle der Ehe, Familie und eingetragenen Lebenspartnerschaften" und davon, dass die Kirche "sich nicht durch Verweis auf vermeintliche Sonderstellung ihrer Verantwortung entziehen" könne -, schlug, wiederum einen Tag später, die Bündnis 90/Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth bedeutend schärfere Töne an. Ihre Kritik galt nicht allein dem bösen Wort von der "Pogromstimmung", sondern zugleich dem Umstand, dass der Präfekt der Glaubenskongregation "den Modernisierungsanstrengungen von liberalen Kräften und Laien in der katholischen Kirche, die sich für die und in der Gesellschaft von heute engagieren wollen", den Boden entziehen und "die katholische Kirche am liebsten wieder ins Mittelalter zurückbeamen" wolle; sodann machte Frau Roth den in ihren Augen zutiefst reaktionären Kurs des obersten Glaubenshüters mehr oder weniger direkt für die (angebliche) "eiskalte Abweisung einer vergewaltigten Frau durch eine katholische Klinik" in Köln verantwortlich und ging dazu über, der Kirche unverhohlen zu drohen: "Wenn die katholische Kirche so auftreten soll, wie es sich Erzbischof Müller wünscht, braucht sie sich über scharfe Kritik in demokratischen Gesellschaften von heute nicht zu wundern."

Raue Zeiten für die Kirche also; aber das war ja nicht nur für Erzbischof Müller schon länger absehbar. Klar ist: Was die Kirche jetzt braucht, das sind engagierte Katholiken - ob Geistliche oder Laien -, die den Mut haben, öffentlich aufzustehen und zu sagen --
-- die Kritiker der Kirche haben Recht, die Kirche ist selbst schuld an der Feindseligkeit, die ihr entgegenschlägt, und soll sich bloß nicht noch darüber beschweren.
Tatsächlich? Ist es das, was wir brauchen? - Es scheint so; jedenfalls wird ein Blogbeitrag des katholischen Priesters Carsten Leinhäuser, dessen Thesen sich leicht zugespitzt so zusammenfassen lassen  wie oben geschehen, seit Tagen in sämtlichen mir zugänglichen sozialen Netzwerken gefeiert wie eine Offenbarung. "Endlich sagt's mal einer", scheint der Tenor der Reaktionen zu lauten; ich aber sitze da und schüttle den Kopf.

Gewiss: Kirche braucht Selbstkritik, immer, und in schweren Zeiten ganz besonders. Ich kann und will auch nicht leugnen, dass Hochwürden Leinhäusers Kritikpunkte an der öffentlichen Selbstdarstellung der Kirche zum Teil (!) durchaus stichhaltig sind. Etwa, wenn er - gleich an erster Stelle - beklagt, wie schlecht die Aufkündigung der Zusammenarbeit der Deutschen Bischofskonferenz mit Christian Pfeiffers Institut KFN bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals öffentlich kommuniziert worden sei. In der Tat könnte man die Kritik hier sogar noch weiter treiben, könnte die Frage aufwerfen, ob man einen solchen Eklat nicht hätte vermeiden können, wenn man schon früher Konsequenzen aus den offenkundigen Differenzen zu Pfeiffer gezogen hätte, oder ob es nicht von vornherein Indizien dafür gegeben habe, dass Pfeiffer nicht der geeignete Kooperationspartner für das Projekt "Missbrauchsstudie" war. Freilich ist es leicht, im Nachhinein gute Ratschläge zu geben, wenn man nicht zu den Entscheidungsträgern gehört hat; dennoch ist der Ärger darüber, dass die Deutsche Bischofskonferenz durch ihr ungeschicktes Vorgehen selbst zur negativen Wahrnehmung der Kirche in der Öffentlichkeit beiträgt, verständlich und legitim.

In anderen Punkten ist Carsten Leinhäuser vorzuwerfen, dass er nicht differenziert, seine Kritik nicht konkret (und damit überprüfbar) macht und z.T. die Sichtweise der Kirchengegner allzu unhinterfragt übernimmt - so im Fall des Kölner Klinikskandals, wo man, wenn man es denn zur Kenntnis nehmen wollte, inzwischen wissen könnte, dass die Behauptung, zwei katholische Krankenhäuser hätten einem Vergewaltigungsopfer die medizinische Versorgung verweigert, einfach nicht stimmt.

Und zu guter Letzt schießt Hochwürden Leinhäuser sich dann auf die "'katholische[n]' Blogs und Nachrichtenseiten" ein, die seiner Meinung nach alles nur schlimmer machen, indem sie "aus vollen Kanonenrohren auf die böse Presse" schießen: "Dabei wird verbal hochgerüstet und mit Tiefschlägen nicht gespart." Dass er das Wort "katholische" hier in Anführungszeichen setzt, gibt bereits zu denken - zumal er den Betreibern jener Blogs und Nachrichtenportale, die er hier meint (ohne Beispiele zu nennen), wenige Zeilen darauf vorwirft, sie würden sich für "die wahren Katholiken" halten. Findet hier ein Wettbewerb im Einander-das-Katholischsein-Absprechen statt?

Derartige Generalangriffe auf die katholische Blogoezese, der er selbst doch irgendwie auch angehört, liest man bei Carsten Leinhäuser übrigens nicht zum ersten Mal. In einem Blogbeitrag zum 13jährigen Bestehen seiner Seite vaticarsten.de sagt er von sich selbst: "Einer der 'Vorreiter' im kirchlichen Kontext in Deutschland zu sein fand ich absolut spannend"; fügt dann hinzu, er blogge selbst nur noch "sporadisch"; und nutzt sein Jubiläum, um bei seinen Lesern für das Bloggen zu werben: "Das wäre doch mal eine Aufgabe für motivierte, glaubensbegeisterte junge Menschen, oder?" - Das ist es zweifellos, und nicht unbedingt nur für junge. Wer sich etwa ansieht, wie häufig die über 300 deutschsprachige Blogs (und darunter durchaus auch vaticarsten.de!) umfassende Blogliste des Predigtgärtners Neuzugänge zu verzeichnen hat, der könnte den Eindruck bekommen, Vaticarsten renne mit seinem Aufruf offene Türen ein. Dass es "[m]ittlerweile [...] jede Menge 'katholische' & christliche Blogs" gibt (auch hier wieder bzw. schon "katholische" in Anführungszeichen!), ist Hochwürden L. durchaus bewusst , aber deren Qualität schätzt er als "extrem unterschiedlich" ein - was dem Wortlaut nach bestimmt eine zutreffende Feststellung ist, aber im Kontext klingt es nach "der Großteil taugt nichts". Zu Hochwürden L.s Einschätzung der Qualität der katholischen Bloggerszene stand in einer früheren Fassung des Jubiläumsartikels zu lesen: "In manchen Bereichen arbeitet man hauptsächlich mit Unterstellungen, Beschimpfungen, Bashing und Trollerei, was mehr als fragwürdig ist"; da war es also wieder, das beliebte Klischee von der "stramm rechtskatholischen sogenannten Blogoezese". Diese Passage wurde vom Autor später gestrichen; womöglich war ihm aufgegangen, dass sie selbst ein wenig nach "Bashing und Trollerei" aussah...

Was (mir) hier (unangenehm) auffällt, ist Vaticarstens ausgeprägtes -- ich nähere mich begrifflich wieder meinem Ausgangspunkt -- "Lagerdenken". Dass er den Begriff "Lager" nur mit einem gewissen Unbehagen in den Mund bzw. unter die Finger nimmt ("Sorry, mir fällt kein besseres Wort ein"), ändert nichts daran, dass er die katholische Bloggerszene in diesen Kategorien sieht; in einer Zwischenbilanz zur Rezeption seines oben angesprochenen Artikels Zwischen Kopfschütteln und Fremdschämen - aus der ich auch das letzte Zitat entnommen habe - äußert er, "Katholiken (und Christen) aus ALLEN theologischen 'Lagern'" hätten ihm auf seinen Beitrag geantwortet; woher weiß er das? Hat er eine Sinus-Mileustudie seiner Blogleser und -kommentatoren durchführen lassen? Und wieviele solcher "Lager" gibt es? Aber weiter: Von den Reaktionen seien "[w]eniger als 5% negativ", und diese stammten "ausschließlich aus einer theologischen 'Ecke'", auf die er aber leider "nicht näher eingehen möchte". Man ahnt, dass es diejenige "Ecke" ist, über die er sich schon in weiter oben aufgeführten Zitaten echauffiert hat. Die Hardliner, die Ultras. Hier erscheinen sie nur als Randgruppe (unter 5%), aber sie scheinen doch stark genug zu sein, um ihnen bei jeder Gelegenheit den Kampf ansagen zu müssen.

Mich erinnert das stark an einen unlängst bei Cicero verlinkten und kommentierten, auf dem Internetportal "Kreuz und Quer" wiedergegebenen Artikel des "Kirchenboten für das Bistum Osnabrück", in dem es über die "Macher" von "Kreuz und Quer", die "mehrheitlich eng mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) verbunden" seien, heißt, sie wollten "auch ein Zeichen setzen gegen den gegenwärtigen Rechtsruck im Internet. Nach Ansicht der Herausgeber dominieren dort seit einigen Jahren eher die Blogs von Christen aus dem konservativen und zum Teil sogar extremistischen Spektrum das Meinungsbild." Zu Recht kritisiert Cicero in seiner Stellungnahme die "pauschale[n] Zuweisungen von rechtsgeruckt, konservativ, extremistisch", die den Eindruck erweckt, alles, was in Kirchenfragen konservativer sei als der Mainstream des deutschen Gremienkatholizismus von ZdK, BDKJ & Co., stehe mehr oder weniger auf einer Stufe mit dem mittlerweile verdientermaßen im Orkus verschwundenen kreuz.net oder der Piusbruderschaft. Und genau diesen Eindruck erweckt auch Carsten Leinhäuser, wenn er jene knapp 5%, die es wagen, nicht seiner Meinung zu sein, undifferenziert "einer" theologischen "Ecke" zurechnet, auf die er aber "nicht näher eingehen" mag.
Wie schädlich dieses "Lagerdenken" ist, erfahre ich gerade am eigenen Leibe. Ich habe mich nie als "Hardliner" gesehen und möchte keiner sein; auch ich stolpere hin und wieder auf Blogbeiträge, -kommentare und Artikel auf katholischen Nachrichtenportalen, die mir zu extrem sind, sei es in der Sache oder im Tonfall. Diese betrachte ich aber keinesfalls als repräsentativ für die deutschsprachige katholische Blogoezese.  Wenn jedoch eine Trennlinie gezogen wird zwischen denen, die sich permanent für ihre Kirche entschuldigen zu müssen glauben ("Wir sind zwar katholisch, aber wir sind gar nicht so! Habt uns lieb!"), und denen, die die Kirche gegen tendenziöse Berichterstattung, Verleumdungen und Beschimpfungen verteidigen und sich auch da zur authentischen Lehre der Katholischen Kirche bekennen, wo das unpopulär ist (und wo, möchte man bald fragen, wäre es das nicht?), dann unterliegt es für mich keinem Zweifel, in welches "Lager" mich das treibt. Zumal ich diese strikte und polemische Abgrenzung fast ausschließlich auf der "liberal-katholischen" Seite sehe, während jene Blogs aus dem eher konservativen Lager, die ich bevorzugt verfolge - welche Blogs ich meine, davon mag meine Blogroll einen wenn auch unvollständigen Eindruck vermitteln -, in der Tendenz sehr viel mehr Dialogbereitschaft, Sachlichkeit, differenzierte Argumentation und übrigens auch mehr Humor an den Tag legen. Wenn meine Leser nun finden, ich klinge hier gerade selbst sehr polemisch, parteiisch und pauschalisierend, dann kann ich darauf nur gesenkten Hauptes erwidern: Ja, genau das meinte ich gerade, als ich schrieb, ich erführe die Schädlichkeit dieses "Lagerdenkens" am eigenen Leibe. 

In seiner schon zitierten Zwischenbilanz schreibt Carsten Leinhäuser: "Leute, ich kämpfe FÜR die Kirche. Wenn Ihr das nicht verstehen wollt, lasst es eben bleiben". Ich glaube ihm, dass er das so sieht. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das dieselbe Kirche ist, für die ich kämpfen möchte.

Abschließend bleibt mir nur noch, auf einen aktuellen Blogbeitrag von Cicero zu verweisen, den ich in diesem Zusammenhang als wesentlich betrachte. Und mir ansonsten fest vorzunehmen, mich in Zukunft wieder erfreulicheren Themen zu widmen. Die gibt es ja schließlich auch noch.

Samstag, 2. Februar 2013

Ich bin die Rosa Parks des Katholizismus! ;)

Nein, bin ich natürlich nicht. Im Ernst gesprochen gäbe es ganz Andere, die diesen Titel für sich beanspruchen dürften. Aber gefühlt habe ich mich in der letzten Woche ein bisschen so. Zumindest als die Rosa Parks des Katholizismus in der linksautonomen Kneipenszene Berlins.

Wer die Klosterneuburger Marginalien, Jobo72's Weblog und/oder Elsas Nacht(b)revier regelmäßig verfolgt - und wer täte das nicht? ;) -, wird von dem Vorgang, auf den ich mich hier beziehe, bereits gehört bzw. gelesen haben. Teils trotz, teils wegen des großen Echos, das dieser Fall in der Blogoezese wie auch in meinem persönlichen Umfeld vor Ort gefunden hat, habe ich mich entschlossen, auch noch selbst etwas dazu zu schreiben - und dabei auch auf ein paar Aspekte einzugehen, die über den konkreten Anlass hinausgehen.

Beginnen wir mal historisch: Zur Zeit der "Wende" in der DDR wurden in Ostberlin (und auch andernorts) zahlreiche leerstehende Häuser von linken Aktivisten besetzt und zu alternativen Wohnprojekten gestaltet. Ein Großteil der besetzten Häuser wurde noch in den 90er Jahren teilweise gewaltsam geräumt, einige wenige erhielten sich wesentlich länger, und eine ganze Reihe dieser alternativen Wohnprojekte wurden legalisiert, indem die Hauskollektive sich mit den Eigentümern der Immobilien gütlich einigten, sich die Rechtsform von Vereinen gaben und die Häuser seither nach ihren eigenen Regeln verwalten. Oft gibt es in diesen Häusern Lokale, die sowohl für Veranstaltungen (Vorträge, Filmvorführungen, Konzerte) als auch ganz einfach als Kneipe genutzt werden, und viele dieser Lokale bieten auch wöchentlich oder monatlich eine "Volksküche" (kurz "VoKü"; in einigen dieser Lokale - wegen ideologischer Vorbehalte gegenüber dem Begriff "Volk" - auch "Bevölkerungsküche"/"BeVöKü" genannt) an, d.h., man kann dort gegen eine i.d.R. sehr bescheidene Spende ein leckeres, von Mitgliedern oder Freunden des Hauskollektivs zubereitetes Essen zu sich nehmen. Teilweise gibt es da für um die 3 Euro veritable 3-Gänge-Menüs, aus ideologischen Gründen meist vegan oder zumindest vegetarisch.

Der ideologische Charakter dieser Lokale ist übrigens durchaus unterschiedlich stark ausgeprägt. Sie verstehen sich durchweg als antifaschistisch, antirassistisch, antikapitalistisch, antimilitaristisch und antisexistisch, sind gegen Atomkraft, für ein umfassendes Asylrecht, gegen den Überwachungsstaat und so weiter, woran die dort ausgehängten Plakate und ausliegenden Flyer den geneigten Gast permanent erinnern; ein gewisser linker Minimalkonsens wird vorausgesetzt, aber damit ist es dann in den meisten Fällen auch gut. Das war jedenfalls bis vor Kurzem mein Eindruck.

Ich bin seit Jahren gern und regelmäßig in einigen Lokalen dieser Art zu Gast gewesen, habe dort Menschen kennen gelernt, die ich sehr mag und schätze und mit denen ich mich in vielen Punkten sehr gut verstehe. Daraus, dass ich praktizierender Katholik bin und dass sich daraus in einigen Punkten bzw. zu einigen Themen auch fundamentale Meinungsverschiedenheiten ergeben, habe ich diesen Menschen gegenüber nie einen Hehl gemacht, und das wurde auch problemlos akzeptiert; nicht wenige meiner Bekannten aus diesem Milieu schätzen mich gerade deswegen als Gesprächspartner.

Ein Lokal, das ich seit etwa sechs Jahren sehr regelmäßig besucht habe - vor allem freitags zur VoKü -, war das Bandito Rosso in der Lottumstraße 10a. Einige der Bewohner dieses Hauses kenne ich aus einer anderen - "normalen", d.h. kommerziellen, wenn auch außergewöhnlich preisgünstigen - Kneipe ein paar Straßen weiter, wo ich noch häufiger Zeit verbringe; dagegen kenne ich die meisten Mitglieder des Bandito-Barkollektivs und auch einen Großteil der anderen Stammgäste mehr oder weniger nur "vom Sehen" - und sie mich auch.

Vorletzten Freitag war ich wieder dort - unmittelbar nach der Abendmesse, was mir selbst ein bisschen witzig vorkam, aber ich hatte später am Abend noch einen DJ-Gig in der Nähe und dachte mir, es böte sich an, in der Zwischenzeit noch ein fastentagstaugliches, da fleischloses Abendessen zu mir zu nehmen. Als ich eintrat, war kein Tisch mehr frei, also fragte ich zwei mir persönlich Unbekannte, die an einem großen Tisch mit noch zwei oder drei freien Stühlen saßen, ob ich mich zu ihnen setzen dürfe. Sie bejahten das, aber ich kam gar nicht dazu, mich zu setzen, denn plötzlich stand ein Vertreter des Barkollektivs neben mir, der mir - sehr ernst, aber nicht direkt unfreundlich - mitteilte: "Wir müssen mal mit dir reden." "Wir" waren in diesem Fall der, der mich angesprochen hatte, und eine junge Kollegin, die sich mehr im Hintergrund hielt. Das Gespräch fand im Nebenraum statt, im Stehen, aber ich durfte mir vorher noch etwas zu trinken kaufen.

Der Vertreter des Barkollektivs eröffnete das Gespräch mit dem Hinweis, es sei aufgefallen, dass ich vor dem Essen bete. "Ist das ein Problem?" fragte ich, aber dies wurde verneint. Dann jedoch leitete der Wortführer über zu der Bemerkung, er habe mich vor einigen Monaten am Rande des Marschs für das Leben (er nannte ihn allerdings den "1000-Kreuze-Marsch") gesehen - offenbar hatte er zu den Gegendemonstranten gehört und hatte, wie er zu erkennen gab, zunächst (wohlwollend, aus seiner Sicht) angenommen, das habe auch für mich gegolten. Dass ich dabei beobachtet worden sei, vor dem Essen zu beten, habe aber dann doch Zweifel an dieser Annahme erweckt, und daraufhin habe er sich - man höre und staune! - Videoaufzeichnungen vom Marsch für das Leben angesehen und mich daraufhin als Teilnehmer des "1000-Kreuze-Marsches" entdeckt, und zwar, horribile dictu, mit einem Kreuz in der Hand! Nun wollte er von mir eine Stellungnahme dazu hören, und ich erwiderte schlicht, meine Teilnahme an der Demonstration sei als "Stellungnahme" doch wohl eindeutig genug gewesen.

Da war der Ofen dann aus.

Ob mir denn nicht bewusst sei, dass im Bandito Rosso massiv gegen den Marsch für das Leben mobilisiert worden sei. Dochdoch, erwiderte ich, das sei mir sehr wohl aufgefallen, ich hätte es aber, nun ja, toleriert. Die darin enthaltene Andeutung, ich hätte mir umgekehrt ähnliche Toleranz gewünscht, stieß aber auf keinerlei Gegenliebe. Man könne ja Mancherlei tolerieren, nicht aber die Teilnahme an einer derart anti-emanzipatorischen, frauen- und schwulenfeindlichen, fundamentalistischen Veranstaltung, die im Übrigen auch rechtsextreme Züge trage. Das Bandito sei schließlich ein linker, emanzipativer Freiraum, ein Schutzraum geradezu gegen solche Zumutungen, wie ich sie verkörpere. Die junge Dame vom Barkollektiv sekundierte, sie würde es als persönliche Beleidigung auffassen, einen Frauenfeind (=wie mich) bedienen zu müssen. Vor Empörung bebend teilte mir der Wortführer mit, ich solle jetzt gehen und nicht wiederkommen. Mein Getränk dürfe ich mit 'rausnehmen, nicht aber an Ort und Stelle austrinken. Abschließend bemerkte er noch, er werde meinen "Fall" vor dem Hausplenum thematisieren. Ich verzichtete auf weitere Auseinandersetzungen und ging.

Aber fassen wir mal kurz zusammen:
  • Die Tatsache, dass ein Gast in diesem Lokal vor dem Essen betet, macht ihn verdächtig.
  • Dieselben Leute, die auf den "Überwachungsstaat" schimpfen, werten Videoaufzeichnungen aus, um ihre Gäste einer Gesinnungskontrolle zu unterziehen.
  • Der Einsatz für das Lebensrecht schwacher und wehrloser Menschen, seien sie ungeboren, behindert, chronisch krank oder alt und hinfällig, wird als "anti-emanzipatorisch", "frauen- und schwulenfeindlich", "fundamentalistisch" und in letzter Konsequenz als rechtsextrem eingestuft.
  • Eine inhaltliche Auseinandersetzung über diese Einschätzung ist nicht erwünscht.
Enorm emanzipatorisch, libertär und progressiv, meine lieben Freunde! Kaum war ich wieder an der frischen Luft, musste ich mein Erlebnis gleich mal als Facebook-Statusmeldung in den virtuellen Äther schicken, und die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Der Zuspruch, den ich von verschiedensten Seiten erfahren habe, hat mich sehr ermutigt, und ich möchte mich bei allen Beteiligten herzlich bedanken. Besonders bemerkenswert fand ich, dass ich auch von solchen Freunden Rückendeckung erhielt, die in der Frage des Lebensschutzes teils nicht unbedingt, teils ausdrücklich gar nicht mit mir übereinstimmen. Ein paar Stellungnahmen möchte ich hier - anonym, da sie mich als persönliche, nicht-öffentliche Mitteilungen erreichten - zitieren:

"Ich bin für das Recht auf Abtreibung [...]. Aber trotzdem finde ich es erschreckend, wenn das der Grund für ein Hausverbot ist, ein Zeichen dafür, dass es keine Bereitschaft für sachliche Auseinadersetzungen gibt, nicht mehr diskutiert wird und so der einfachste Weg gegangen wird, einfach ausgrenzen, ein Armutszeugnis für eine Kneipe, in der Menschen aus dem linken Spektrum [...] verkehren."

"Aber einem Menschen aufgrund seiner eindeutigen Aussprache für den Schutz eines Lebens Hausverbot zu erteilen, gehört zu den verrücktesten Dingen, die ich je gehört habe. [...]
Auf jeden Fall verstehe ich es nicht. Manche Linke sind schon so weit links angekommen, dass sie wieder rechts angelangt sind."
Kritische Stimmen gab es auch, genauer gesagt: eine. Ein langjähriger Freund, den ich just aus dem linken Kneipenmilieu kenne, fand, mit der öffentlichen Thematisierung meines Hausverbots im Bandito würde ich mich "feiern lassen". Ich möchte betonen, dass ich das nicht so sehe. Wenn ich der Meinung bin, dieser Vorgang gehöre öffentlich gemacht, geht es mir dabei nicht um mich als Person, sondern um die Sache selbst. Genauer gesagt sogar gleich um mehrere "Sachen": einerseits die Ignoranz der Linken gegenüber dem Thema Lebensschutz, andererseits ganz allgemein um die restriktiven (oder, wie ich gern sage, "basisdiktatorischen") Strukturen in so genannten "alternativen" Hausprojekten.

Zu letzterem Aspekt hatte ich schon verschiedentlich Absonderliches gehört, und in diesem Zusammenhang muss ich noch einmal auf das oben erwähnte Stichwort "Hausplenum" zurückkommen. Mehrere Freunde und Bekannte haben mir nahe gelegt, das Hausverbot nicht einfach so zu akzeptieren, sondern es auf eine Verhandlung vor dem Hausplenum ankommen zu lassen. Man könnte denken, da hätte ich gar nicht so schlechte Chancen, zumal im Haus ja auch einige Personen leben, die mich lange und gut kennen. Nun ja: Vielleicht wäre das so, wenn so ein Hausplenum eine demokratische Einrichtung im Sinne des allgemein verbreiteten Verständnisses von Demokratie wäre. Dem ist aber nicht so. Wie ich aus anderen Fällen - die nicht die Lottum 10a, sondern andere, vergleichbar organisierte Hausprojekte betrafen - weiß, genügt für die Verhängung eines Hausverbots eine einzige Stimme, es muss noch nicht einmal eine Aussprache darüber geben, geschweige denn, dass dem vom Hausverbot Betroffenen die Chance gegeben werden müsste, für sich selbst zu sprechen. Wozu man den Fall dann überhaupt noch vor das Plenum bringen muss, ist mir schleierhaft, aber lassen wir das mal so stehen.

(Die hier nur skizzierten Strukturen führen naturgemäß zu einer abstrusen Intransparenz der Entscheidungen im Hausplenum. Ich weiß von Fällen, in denen langjährige Mitbewohner wegen eines einzigen Ausrasters in betrunkenem Zustand, ohne dass jemand ernstlich verletzt worden wäre, von heute auf morgen aus dem Haus geworfen wurden, wohingegen jemand, dem mehrere versuchte Vergewaltigungen vorgeworfen wurden, lediglich für ein halbes Jahr Alkoholverbot in der hauseigenen Kneipe erhielt. Nur nebenbei sei erwähnt, dass die betroffenen Frauen "natürlich" auch in Acht und Bann geraten wären, hätten sie die versuchten Vergewaltigungen bei der Polizei anzeigen wollen: Mit Bullen spricht man nicht. Das ist, ich betone es nochmals, nicht in der Lottum 10a passiert, sondern in anderen Häusern. Ich bitte dennoch darum, die "emanzipatorischen" und "frauenfreundlichen" Aspekte des letztgenannten Falles scharf ins Auge zu fassen.)

Eine andere interessante Erfahrung der letzten Tage: In der oben schon erwähnten "normalen, d.h. kommerziellen Kneipe ein paar Straßen weiter", in der mehrere Bewohner der Lottum 10a verkehren und z.T. arbeiten, werde ich nicht nur nach wie vor bedient, sondern so freundlich behandelt wie eh und je; ich darf hier auch das kostenose WLAN nutzen und sogar von hier aus bloggen. Was ich im Moment gerade tue.

Gestern stach mich dann der Hafer, eine andere linksautonome VoKü zu besuchen, um zu testen, wie weite Kreise meine negative Prominenz in diesen Kreisen bereits gezogen hat. Nun, ehrlich gesagt war es wohl unrealistisch und ein bisschen eitel, anzunehmen, dass man mich in einem Lokal "erkennen" würde, in dem ich noch nie gewesen war. Dass ich noch die Anstecknadel am Revers trug, die mir der Berliner Landesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben, Stefan Friedrich, ein paar Tage zuvor im Anschluss an eine Veranstaltung geschenkt hatte, fiel mir erst ein bzw. auf, als ich bereits auf dem Weg war, aber natürlich nahm ich sie nicht ab.

Als ich das Lokal - das Syndikat in Berlin-Neukölln - betrat, empfing mich dieses reizende Plakat:


Erst nachdem ich es fotografiert hatte, fiel mir ein weiteres Plakat auf, das darauf hinwies, dass Fotografieren in diesem Lokal verboten sei. Mein Verstoß dagegen wurde aber offenbar ebensowenig registriert wie meine Anstecknadel oder der Umstand, dass ich es mir auch hier nicht nehmen ließ, vor dem Essen ein Kreuzzeichen zu machen (das allerdings - ich räume ein Minimum an Opportunismus ein - etwas kleiner und unauffälliger ausfiel als sonst, schließlich hatte ich mein Essen schon bezahlt und obendrein Hunger). Die Gemüsebratlinge waren ein bisschen angebrannt und die Kartoffeln ziemlich geschmacksarm - kurz dachte ich daran, an der Theke nach Salz zu fragen, aber ich fürchte, dann wäre ich wirklich rausgeflogen...

(Übrigens habe ich auf Qype gerade eine interessante Kritik über das Syndikat gelesen, die ich unbedingt zitieren muss: "Fast 20 Jahre Nightlife-Erfahrung in Hamburg - ohne Probleme! Eine Nacht in Berlin - und aus dem Syndikat geflogen! Nie zuvor habe ich einen Laden erlebt, in dem Punk und Spießigkeit so nah beieinander liegen. Hammer!")

Zusammenfassend gesagt ergibt sich der Eindruck, dass gerade dort, wo eine Gruppe des Sagen hat, die sich selbst als Fundamentalopposition zum herrschenden System definiert, die Tyrannei an jeder Ecke lauert...