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Freitag, 28. August 2015

Real-Life-Filterbubble...

Gestern Abend fand in einem recht hübschen Café in Berlin-Neukölln mit dem originellen Namen k-fetisch (lies: Kaffeetisch) eine Buchvorstellung mit Diskussion statt; die Veranstaltung stand unter dem Motto "Das Kreuz mit der Norm" und war Teil einer Veranstaltungsreihe "'Die zarteste Versuchung...' - Selbstbestimmung im Zeitalter moderner Reproduktionstechnologien", die sich laut Flyer als "Mobilisierung gegen den 'Marsch für das Leben'" versteht; ich hatte auf diesem meinem Blog bereits auf die Veranstaltungsreihe hingewiesen und auch auf Facebook für die Teilnahme geworben, da ich der Meinung war, es könne nicht schaden, das Meinungsspektrum unter den Teilnehmern etwas zu verbreitern. Thema des Abends sollten "queer-feministische" Standpunkte zum Thema Pränataldiagnostik sein.

Ich war ein bisschen früh dran: Als ich das Café betrat, wurden im separaten Veranstaltungsraum noch Stühle gerückt, also suchte ich mir erst mal einen Fensterplatz und bestellte einen Milchkaffee. Der war übrigens wirklich gut, aber ich konnte ihn nicht lange genießen. Es war ein Déjà-vu-Erlebnis, als zwei junge Damen - die Veranstalterinnen, wie sich zeigte - auf mich zukamen und den klassischen Satz äußerten: "Wir müssen mal mit dir reden."

Sie wüssten, dass ich "zu den sogenannten Lebensschützern" gehöre, ließen sie mich wissen. Und dass ich dazu aufgerufen hätte, die Veranstaltung zu stören. - Das hätte ich nicht, widersprach ich; ich wolle mich lediglich an der Diskussion beteiligen. Dass eine der beiden Damen darauf antwortete "Es gibt keine Diskussion", mag ein Lapsus gewesen sein oder einfach missverständlich ausgedrückt; bezeichnend fand ich es allemal. Jedenfalls wurde mir beschieden, man werde meine Teilnahme an dieser Veranstaltung nicht zulassen: "Die Standpunkte, die du auf deinem Blog äußerst, sind weit -- WEIT jenseits jeglicher Diskussion." Und ich wurde aufgefordert, das Lokal sofort zu verlassen. Meinen (bereits bezahlten) Kaffee durfte ich draußen austrinken. 

Nachdem ich den geordneten Rückzug angetreten und in einer Kneipe ein paar Straßen weiter ein Bier bestellt hatte, musste ich erst einmal selbst nachlesen, was genau ich in dem Blogartikel geschrieben hatte, der auf diese Veranstaltungsreihe hinwies. Ergebnis: Ich hatte ausdrücklich dazu aufgerufen, sich "im Sinne demokratischer Streitkultur" produktiv in die Diskussion einzubringen. Das Problem dürfte sein, dass das in diesen Kreisen als Codewörter für "die Meinungsäußerungen der Gegenseite mit Trillerpfeifen übertönen und ggf. Fensterscheiben einwerfen" verstanden wird.  

Eine andere spannende Frage ist, woher die Veranstalterinnen mich eigentlich kannten. Okay, sie hatten offensichtlich meinen Blog gelesen. Woher aber wussten sie, dass ich dieser Blogger war? - Zugegeben, mein Klarname ist kein Geheimnis. Aber ich trug schließlich kein Namensschild. Und es gibt kaum Bilder von mir im Netz, die sich mit meinem Namen in Verbindungen bringen lassen: Gibt man meinen Namen in die Google-Bildersuche ein, findet man erst mal jede Menge Fotos von Leuten, die zufällig genauso heißen wie ich. Kurz und gut: Herauszufinden, wie der Typ aussieht, dessen  Teilnahme an der Veranstaltung man um jeden Preis verhindern muss, erfordert schon einen gewissen Rechercheaufwand. Es sei denn natürlich, ich stehe in einer Art Datenbank unerwünschter Personen der örtlichen Antifa. Was ja auch schon eine interessante Erkenntnis wäre.

Das war aber noch nicht alles. Wenn ich auch selbst nicht an der Veranstaltung teilnehmen konnte, so gelang es doch Bloggerkollegin Claudia, hineinzukommen; und wie sie später berichtete, wurde mein Auftauchen im k-fetisch sogar in der Anmoderation der Buchvorstellung thematisiert: Man habe bereits "Besuch von einem sogenannten Lebensschützer" gehabt. Sollten sich noch mehr von "solchen Leuten" im Publikum befinden, dann sollten diese sich zu erkennen geben und den Saal verlassen, andernfalls werde man sie, sobald sie sich mit "so einer" Meinung zu Wort meldeten, hinauswerfen.

Das Tragikomische daran ist, dass im Flyer zur Veranstaltungsreihe "lebhafte Auseinandersetzungen in fehlerfreundlicher Atmosphäre" ausdrücklich als erwünscht bezeichnet wurden; und laut dem, was Claudia heute in ihrem im vorigen Absatz verlinkten Blogbeitrag zum Thema berichtet, hätte es in der Diskussion durchaus Anknüpfungspunkte für Lebensschutz-Positionen gegeben, ganz ohne gewollte Provokation und erhobenen Zeigefinger. Theoretisch zumindest. Es ist ja nicht so, dass sich unter den linken Feministinnen alle einig wären über Fragen der Pränataldiagnostik und, damit einhergehend, der selektiven Abtreibung Behinderter. Wären sich alle einig, dann gäbe es ja tatsächlich nichts zu diskutieren. Aber irgendwo muss die Meinungsvielfalt dann eben doch ihre Grenze finden, und ein nicht hinterfragbarer Grundkonsens ist eben, dass Abtreibung ein Frauenrecht sei. Deshalb ist der Marsch für das Leben eine Veranstaltung, die man "verhindern", sprich: "blockieren und sabotieren" müsse. Im Übrigen, so steht's in Claudias Bericht, wurde bei der Anmoderation der Veranstaltung geäußert, Christen verträten die Auffassung, dass "Sexualität kein Ort für Lust und Begehren" sei. Ach, tatsächlich? (Dass das Thema Abtreibung nach christlicher Auffassung nicht primär in den Bereich des 6., sondern des 5. Gebots fällt, sei hier nur am Rande angemerkt.)

Nun gut. Offenbar herrschen in diesen Kreisen z.T. recht verzerrte Vorstellungen darüber, was Menschen umtreibt, die sich für den Lebensschutz einsetzen. Ich würde noch weiter gehen und sagen, dass es Vorurteile und Missverständnisse vermutlich auf beiden Seiten gibt. Nur: Wie sollen diese ausgeräumt werden, wenn die eine Seite sich strikt weigert, mit der anderen auch nur zu reden

Ein Twitter-Bekannter bezeichnete diese Form der Abschottung gegen Andersdenkende treffend als "Real-Life-Filterbubble". Man kennt dieses Phänomen ja aus der Online-Kommunikation: Je nachdem, wie man sich seine Kontakte in Sozialen Netzwerken oder auch die Nachrichtenquellen, denen man z.B. bei Twitter folgt, auswählt, bei Google & Co. personalisierte Sucheinstellungen verwendet und dergleichen mehr - und die jeweiligen Anbieter fördern dies ja ihrerseits durch automatische Personalisierung auf der Basis von Algorithmen -, kann man bis zu einem gewissen Grad sicherstellen, dass man aus dem Netz nur diejenigen Informationen bekommt, die man haben will; d.h., die ins eigene Weltbild passen. In der Offline-Welt, so sollte man denken, ist eine solche Abschottung gegenüber fremden Standpunkten und unerwünschten Informationen tendenziell schwieriger; da lässt sie sich dann eben manchmal nur mit Hilfe von Hausverboten aufrecht erhalten.

Eins ist dabei zu betonen: Wer mich oder auch nur meinen Blog kennt, weiß, dass ich Kontroversen nicht unbedingt scheue. Ich war schon bei unterschiedlichsten Veranstaltungen verschiedenster, sagen wir mal als Oberbegriff, "weltanschaulicher" Ausrichtung und habe mit meinem Standpunkt nicht hinter den Berg gehalten. Ich war mal bei einer Veranstaltung der CDU Alt-Pankow und habe anschließend in ziemlich bissigem Tonfall darüber gebloggt; die CDU Alt-Pankow reagierte darauf mit der Mitteilung, ich sei auch bei zukünftigen Veranstaltungen des Ortsverbands jederzeit willkommen. Ich habe mal einen Artikel über das Institut St. Philipp Neri verfasst, der von Dritten als "Bashing" aufgefasst wurde; dann ging ich mal wieder dorthin und wurde ausgesprochen herzlich empfangen. Das mögen Extrembeispiele sein; aber eine so bedingungslose Diskursverweigerung, so ein totales Abschotten gegenüber anderen Meinungen, wie es in der linksautonomen Szene offenbar üblich ist, habe ich sonst - außer vielleicht bei liberalen evangelischen Theologen ('Tschuldigung, der Seitenhieb musste sein!) - noch nirgends erlebt. Gestern Abend auf dem Heimweg habe ich beschlossen, dass ich das denen nicht mehr durchgehen lassen mag. 

Eine Veranstaltung dieser Reihe - vermutlich sowieso die interessanteste, unter dem Titel "Abtreiben, einfrieren, durchscannen - (Queer-)Feministische Positionen zu Reproduktionstechnologien heute" - kommt ja noch: am 14. September um 19:30 Uhr im Familiengarten (Aile Bahçesi) im Hinterhof der Oranienstraße 34 in Kreuzberg. Da gehe ich selbstverständlich wieder hin. Aber diesmal sollte das Ganze ein bisschen besser organisiert werden - allein kann ich, wie man ja gesehen hat, nicht viel ausrichten. Was wir bräuchten, wären fünf Leute - zehn wären besser, aber fünf würden genügen -, die gemeinsam dort hingehen und es schlicht ablehnen, sich des Saales verweisen zu lassen. Was sollen die Veranstalter*innen dagegen tun? "Die Bullen" rufen? Wohl kaum. Das wäre in diesen Kreisen eine Todsünde. Kurz, die Aufforderung, den Saal zu verlassen, ist gegen passiven Widerstand schlicht nicht durchsetzbar, und somit ergibt sich eine klassische Pattsituation: Entweder man lässt uns an der Veranstaltung teilnehmen wie jeden anderen Gast auch, oder die Veranstaltung wird nicht stattfinden. So einfach ist das. 

Ganz wichtig ist dabei natürlich (und das meine ich auch als Ermahnung an mich selbst): Bleibt ruhig, friedlich und höflich. Greift niemanden persönlich an. Werdet nicht laut. Lasst die Anderen ausreden und geht sachlich auf ihre Argumente ein. Das allein sollte schon genügen, einige vielleicht nicht ganz so ideologisch Verblendete Teilnehmer ins Grübeln zu bringen, ob sie wirklich auf der richtigen Seite stehen. 


Mittwoch, 26. August 2015

That's Adoptianism, Patrick!

Eigentlich bin ich meinen Lesern ja noch die Fortsetzung meiner großen NGL-Evaluation schuldig, und keine Sorge, die ist auch bereits in Arbeit. Aber da der betreffende Artikel bis zu seiner Fertigstellung wohl noch etwas Zeit in Anspruch nehmen wird, muss ich einstweilen etwas Anderes zwischenschieben. Schon vor einigen Wochen forderte mein Kollege W. (der sich, seit er mich zu meinem blogtechnisch enorm erfolgreichen Ausflug zum Martin Luther Grave Rotation Event überredet hat, als meinen "Manager" betrachtet) mich nämlich auf, "mal einen Blogartikel über Conall und Donall" zu schreiben: "Die beiden verdienen mehr Ruhm!" Mit letzterer Einschätzung hat W. unbedingt Recht, daher habe ich dieser Aufforderung eigentlich schon längst nachkommen wollen (mein "Manager" wird bereits ungeduldig). Da trifft es sich günstig, dass ich gestern ein Leseerlebnis hatte, das mich spontan wieder an Conall und Donall erinnert hat und das ich folglich in diesem Zusammenhang auch gleich mit-thematisieren kann. Aber erst mal schön der Reihe nach. 

Conall und Donall sind die Protagonisten einer kleinen Cartoonreihe des insgesamt ausgesprochen sehenswerten YouTube-Kanals Lutheran Satire, auf den ich ursprünglich durch einen Tipp des geschätzten Bloggerkollegen  Peccator quidam aufmerksam wurde. Das Motto von Lutheran Satire lautet "Teach the faith by making fun of stuff" - ein Ansatz, mit dem ich mich prinzipiell schon mal sehr gut anfreunden kann. Hinter diesem YouTube-Kanal steckt ein US-amerikanischer Geistlicher, Pastor Hans Fiene von der River of Life Lutheran Church in Channahon/Illinois, einem Kleinstädchen nahe der Staatsgrenze zu Indiana, also so richtig schön in Heartland America. Pastor Fiene und seine Gemeinde gehören der Lutherischen Kirche der Missouri-Synode an, einer vor allem im Mittleren Westen der USA verbreiteten Glaubensgemeinschaft mit rund 2,2 Millionen getauften Mitgliedern - womit sie die zweitgrößte lutherische Kirche der USA ist; und offenbar ist sie theologisch bedeutend konservativer als viele andere lutherische Gemeinschaften. Die LC-MS lehnt die Frauenordination ab, bekennt sich zur Realpräsenz Christi in der Eucharistie und praktiziert die Säuglingstaufe. Gegründet wurde sie 1847 in Chicago als Zusammenschluss von lutherischen Gemeinden deutscher, speziell sächsischer Einwanderer; ihr erster Präses war Carl Friedrich Wilhelm Walther (1811-1887), der in einer Conall & Donall-Episode eine Hauptrolle spielt und in einer weiteren einen Gastauftritt hat.

In seinen satirischen Animations-Kurzfilmen nimmt Fiene allerlei Verschwörungstheorien über Apokryphen ("Shock! Horror! Jesus' Wife!"), die frühe Kirchengeschichte ("Super True Stories: Best. Conspiracy. Ever") oder vermeintliche mythologische Vorbilder für das Leben Jesu ("Horus Ruins Christmas") aufs Korn und veralbert den hasserfüllten Fanatismus der Westboro Baptist Church ebenso wie die Wohlfühlbotschaften von freikirchlichen Predigern, die christliche Verkündigung mit Motivationstraining verwechseln. Mit der Katholischen Kirche hat Pastor Fiene als Lutheraner natürlich auch so seine Reibungsflächen, und das kommt in einigen Videos auch deutlich zum Ausdruck; im Großen und Ganzen kann man bei Lutheran Satire jedoch vielfach feststellen, dass theologisch konservative Katholiken und ebensolche Lutheraner allemal mehr Gemeinsamkeiten miteinander haben als mit superliberalen Wischiwaschi-Wellness-Christen innerhalb ihrer eigenen Konfession.

Die Charaktere Conall und Donall, zwei frühmittelalterliche Bauerntölpel, die eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem früheren IRA-Aktivisten und jetzigen stellvertretenden nordirischen Ministerpräsidenten Martin McGuinness, sowie mit dem als Miles O'Brien in Star Trek - The Next Generation bekannt gewordenen Schauspieler Colm Meaney (oder einfach ganz allgemein eine typisch irische Physiognomie) aufweisen, erschienen erstmals am 14.03.2013 in dem Cartoon St. Patrick's Bad Analogies:

Hier lassen sie sich vom irischen Nationalheiligen die Dreifaltigkeit erläutern, wobei sie den Heiligen jedoch immer wieder dabei ertappen, dass die Anschauungsbeispiele, die er wählt, häretische Auffassungen implizieren. Erst als Patrick, bereits sichtlich genervt, die Trinitätsdefinition des so genannten Athanasianischen Glaubensbekenntnisses zitiert, sind Conall und Donall zufrieden.

St. Patrick's Bad Analogies hat es auf YouTube bislang auf knapp eine halbe Million Aufrufe gebracht und ist damit mit weitem Abstand das erfolgreichste aller Lutheran Satire-Videos. Kein Wunder also, dass Conall und Donall zu Serienhelden wurden: Am 03.11.2013 erschienen sie in Donall and Conall Meet the Mormon Missionaries, am 20.04.2014 folgte Donall and Conall Meet C.F.W. Walker und am 05.04.2015 schließlich- besonders empfehlenswert - Donall and Conall Meet Richard Dawkins. Ein running gag der Serie besteht darin, dass Conall und Donall unbeirrbar jeden ihrer diversen Gesprächspartner mit 'Patrick' ansprechen.

Das kann ganz schön ansteckend sein, und als mir unlängst auf Facebook ein Video mit dem Titel "Die Dreieinigkeit Gottes einfach erklärt" zu Gesicht kam, in dem bei 01:22 die drei Aggregatszustände von Wasser als Analogie für die Dreifaltigkeit angeboten wurden, entfuhr es mir wie von selbst: "That's Modalism, Patrick!" Damit aber nicht genug. Gestern schaute ich mir mal den oder das Blog eines evangelischen Theologiestudenten an, auf den ich auf Twitter aufmerksam geworden war. Der junge Mann hatte nämlich wesentlich dazu beigetragen, dass einer meiner jüngeren Blogartikel, in dem ich etwas enthemmt über "liberale" Protestanten rantete, wie man das heutzutage wohl nennt, auch bei den gemeinten Personen ankam - indem er den Artikel mit einem süffisanten Kommentar auf Twitter teilte: Er sei "fast neidisch", dass der Pastorin, an der ich meinen Ärger ausgelassen hatte, "ganze Blogbeiträge gewidmet" würden.

Neidisch?, dachte ich. Dem Manne kann geholfen werden!

-- Nein, im Ernst gesagt war das nicht meine primäre Motivation dafür, mir seinen Blog anzuschauen. Ich wollte mich einfach mal informieren, was der Herr Greifenstein für einer ist. Auf Twitter fiel er hauptsächlich dadurch auf, dass er massiv Stimmung gegen den künftigen sächsischen Landesbischof Carsten Rentzing machte, vor allem wegen dessen angeblicher "Homophobie". Auf seinem Blog fand ich aber auch mancherlei Anderes. Darunter auch Predigten; interessant, dass bei den Protestanten auch Studenten predigen dürfen, aber okay - ein Weihepriestertum haben sie ja nicht, also spricht aus ihrer Sicht wohl nicht viel dagegen. Unter den verbloggten Predigten entdeckte ich eine, die mit einem Zitat aus dem Roy-Orbison-Schmachtfetzen "Pretty Woman" überschrieben war: "Are you lonely just like me?" Der Titel machte mich irgendwie neugierig, also las ich mir die Predigt mal durch.

Die Perikope, um die es in der Predigt geht, ist Lukas 7, 36-50 - die Begegnung Jesu mit der Sünderin, wobei "Sünderin", wie die Predigt erläutert, hier als "Prostituierte" zu verstehen ist. Einleitend weist Stud. theol. Greifenstein darauf hin, dass die nachbiblische Tradition die Frau in dieser Bibelpassage mit Maria Magdalena gleichgesetzt hat, was ihn zu einem kleinen Exkurs über biblische Archetypen der Weiblichkeit (wenn man das so nennen kann und will) veranlasst: Auf der einen Seite stehe Maria, die Mutter Jesu, als Prototyp der "reinen Jungfrau, des keuschen Bauernmädels, des reinen Mädchens"; auf der anderen Seite Maria Magdalena als Prototyp der "gefallenen Frau, der femme fatale, der Sünderin": "Wir kennen aus den Geschichten, die wir jeden Tag hören, lesen und im Fernsehen schauen ja vor allem diese beiden Frauengeschichten". Dass er als Beispiel für die popularkulturelle Aufnahme des Motivs der reinen Jungfrau "My Fair Lady" und für das der gefallenen Frau eben "Pretty Woman" mit Julia Roberts und Richard Gere nennt, wirkt etwas an den Haaren herbeigezogen und hinkt auf beiden Beinen, aber okay, Herr Greifenstein ist ja kein Filmkritiker. Sondern Theologe. Dass er mit seinem Pretty Woman-Vergleich wie auch mit der etwas schwülstig geratenen Ausmalung der Zärtlichkeit, mit der die Sünderin in dieser Bibelstelle Jesus berührt, Assoziationen weckt, die in Richtung populär-populistischer Spekulationen über eine Liebesbeziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena gehen, darüber will ich hier nicht viele Worte verlieren; das muss nicht unbedingt Absicht gewesen sein.

Was die im engeren Sinne theologischen Aussagen der Predigt angeht, sorgt der Satz "Denn nicht aus Großzügigkeit hat Gott die Welt geschaffen, sondern aus Sehnsucht seiner Liebe Raum und Gestalt zu geben" bei mir zunächst einmal für eine hochgezogene Augenbraue. Was vielleicht daran liegt, dass ich katholisch bin. Im Katechismus der Katholischen Kirche liest man nämlich schon im Prolog, unter Nr. 1 (!):
"Gott ist in sich unendlich vollkommen und glücklich. In einem aus reiner Güte gefassten Ratschluss hat er den Menschen aus freiem Willen erschaffen". 
Nun gut: Ob das nun wirklich ein Widerspruch ist oder ob ich da bloß mit meinem Laienverstand einen sehe, das zu beurteilen überlasse ich getrost den Fachtheologen. Und wenn es ein Widerspruch ist, kann man immer noch sagen, dass es Herrn Greifenstein als Studenten der evangelischen Theologie nicht zu kümmern braucht, was im katholischen Katechismus steht. Aber die Predigt geht ja noch weiter:
"Aber so viel hat Jesus von Gott verstanden, soviel seines Geistes waltet in ihm, dass wir ihn seinen Sohn nennen" - 
That`s Adoptianism, Patrick!

Halten wir (uns) fest: Da wird in einer Predigt in einer evangelischen Kirche - am 16. August 2015 in Andenhausen - einfach mal so en passant die Gottheit Christi geleugnet, und die Gemeinde lässt das durchgehen. Jedenfalls nehme ich an: Hätten die Andenhausener Protestanten ihren jungen Gastprediger mit Gebetbüchern beworfen, würde man bestimmt etwas auf Google News dazu finden. Auch im Blog gibt es keine Kommentare zu dieser Predigt.

Genau besehen hat - und jetzt versuche ich mich tatsächlich mal im Theologisieren - dieses Bestreiten der Gottheit Christi ja auch Konsequenzen für die oben kurz angerissene Frage, ob Gott die Welt und den Menschen aus Güte oder aus Sehnsucht - zugespitzt könnte man sagen: aus Freiheit oder aus Notwendigkeit - geschaffen habe. Wenn wir sagen, Gott sei Liebe, dann drängt sich natürlich der Gedanke auf, das Liebe ein Gegenüber braucht. Wenn Gott aber vor der Erschaffung der Welt allein war, wen hat Er dann geliebt? Das Dogma der Dreifaltigkeit Gottes gibt auf diese Frage eine Antwort, indem es ausdrückt, "dass es in dem einen und unteilbaren Gott das Phänomen des Dialogs, des Zueinander von Wort und Liebe gibt" (Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum. Neuausgabe 2000, S. 170). Verwirft man den Glauben an die Trinität, dann muss Gott wohl die Welt und den Menschen erschaffen, weil Er sonst niemanden hat, um "seiner Liebe Raum und Gestalt zu geben"...

Sicherlich ist - auch das kann man von Conall und Donall lernen - das Mysterium Gottes letztlich einfach zu groß, um es widerspruchsfrei in Worte zu fassen. Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., zitiert in seiner Einführung in das Christentum (S. 161) den Abbé Saint-Cyran mit der Aussage, "der Glaube bestehe in einer Reihe von Gegensätzen, welche durch die Gnade zusammengehalten werden". Dennoch wird man wohl sagen dürfen: Wenn in einer evangelischen Predigt im Jahre 2015 eine Irrlehre verkündet wird, die das Konzil von Nizäa (das, sagt mir wenn ich mich irre, die evangelischen Kirchen doch wohl auch anerkennen) schon fast 1700 Jahre zuvor verworfen hat, dann ist das ein augenfälliger Beleg für die Wahrheit eines Bonmots von Chesterton, demzufolge neue Ideen in Wirklichkeit meist alte Irrtümer seien...







Montag, 24. August 2015

Notwendiger Nachtrag zu "Widersprich mir nicht..."

Ich hätte es ahnen können, ja vielleicht sogar müssen. Da setzt man sich - aus alles in allem doch eher nichtigem Anlass - mit Wut im Bauch an den Computer und tippt mal eben schnell eine Polemik 'runter, in der so richtig die Fetzen fliegen; und die zieht dann mit Hilfe der Sozialen Netzwerke innerhalb weniger Tage viel größere Kreise, als man erwartet hätte. Und auch viel größere Kreise als manche mit mehr Ruhe und Sorgfalt formulierte, auch inhaltlich eigentlich bedeutendere Blogartikel. Vermutlich ist das ein ganz normales mediales Phänomen. Aber es führt natürlich zu einigen Wahrnehmungsverzerrungen. 

Kurz und gut, ich komme zu dem Schluss, dass dieser Beitrag etwas mehr Überlegung und Sorgfalt hätte vertragen können. Nachträglich ändern mag ich ihn zwar nicht - von einem Detail abgesehen, auf das ich noch näher eingehen werde -, aber ein paar Anmerkungen und Präzisierungen sind wohl doch am Platz. 

Zunächst einmal: Der Artikel liest sich allzu sehr wie ein persönlicher Angriff auf einen einzelnen Menschen; dabei war der Tweet dieser bloggenden Pastorin eigentlich nur der Auslöser des Ganzen. Man hätte stattdessen auch ähnlich lautende Äußerungen anderer Personen heranziehen können; dass ich eine Person in den Mittelpunkt gestellt habe, die ich unlängst schon einmal am Wickel hatte, verstärkt womöglich noch den Eindruck einer persönlichen Vendetta gegen jemanden, der mir persönlich eigentlich gar nichts getan hat. Okay, die Dame ist mir unsympathisch. Ehrlich gesagt zum wohl größten Teil aus Gründen, an denen sie eigentlich nicht schuld ist. Vor allem aber tut es nichts zur Sache. Im Gegenteil, ich hätte besser daran getan, sie persönlich mit umso größerer Schonung zu behandeln, weil sie mir unsympathisch ist und ich somit ihr gegenüber voreingenommen bin. Und wenn es nur um einzelne Personen ginge, wäre das Thema letztlich die ganze Aufregung auch gar nicht wert. 

Worum geht's dann? Letztlich um meinen Ärger darüber, dass Christen, die man als theologisch konservativ bezeichnen könnte oder als bibeltreu (schwerpunktmäßig im protestantischen Bereich) bzw. lehramtstreu (im katholischen Bereich), in jüngerer Zeit gern in die rechte Ecke gestellt werden. Was ich noch einmal besonders ärgerlich finde, wenn das von Menschen ausgeht, die sich ihrerseits als Christen bezeichnen. Da findet so etwas wie ein Kampf um die öffentliche Deutungshoheit über den Begriff "christlich" statt. 

Wenn man nun auf solche Anwürfe in einer Weise antwortet, die jene Leute, die einen sowieso schon für einen "Rechtsaußenkatholiken" halten, in ihrer Wahrnehmung nur bestärkt, ist das zugegebenermaßen irgendwie auch doof. 

Also, genug der Vorrede. Erst einmal zu dem erwähnten Detail meines Artikels, an dem ich dann doch eine äußerlich minimale, aber inhaltlich nicht unwichtige Änderung vornehmen musste. In der ursprünglichen Fassung hatte ich die unterschwellige Botschaft, die ich aus dem inkriminierten Tweet von Frau Auge herauszulesen meinte, mit den Worten paraphrasiert: 
"Leute, die einen Fundamentalisten zum Landesbischof wählen, veranstalten auch Treibjagden auf Flüchtlinge."
In einer längeren Facebook-Diskussion mit einer wohlmeinenden Bloggerkollegin habe ich mich davon überzeugen lassen, dass der Vorwurf, die "bibeltreuen Christ*innen" Sachsens wären dieselben Leute, die Treibjagden auf Flüchtlinge veranstalten, sich nicht schlüssig aus diesem Tweet herauslesen lässt. Deswegen lautet die Passage jetzt: 
"Da, wo ein Fundamentalist zum Landesbischof gewählt wird, veranstalten Menschen auch Treibjagden auf Flüchtlinge." 
Wovon ich nicht abgehe, ist, dass die an den Haaren herbeigezogene Unterstellung, die "bibeltreuen Christ*innen" Sachsens, allen voran der designierte Landesbischof Carsten Rentzing, würden sich nicht oder nicht genügend gegen die eskalierende fremdenfeindliche Gewalt im Freistaat einsetzen, einzig und allein dazu dient, theologisch konservative Kreise innerhalb der Evangelischen Kirche in ein schlechtes Licht zu rücken. Wie ich schon andeutete, liest man derartige Äußerungen "liberaler" Protestanten derzeit auf Twitter öfter. Da sind einige Leute einfach sauer - vielleicht auch durchaus ernsthaft entsetzt - , dass ein "Fundamentalist" zum Landesbischof gewählt worden ist, und suchen nach etwas, womit sie ihm am Zeug flicken können. Vielleicht, soviel muss man einräumen, ist ihnen dabei gar keine böse Absicht bewusst - weil sie wirklich so überzeugt davon sind, dass konservative Christen schlechte Menschen seien. 

Zum nächsten designierten Aufregerzitat: 
"Wer eine post- bzw. pseudochristliche Phantasiereligion verkündigt, ja sogar im Auftrag der Evangelischen Kirche allsonntäglich das Christentum verleugnet" - 
Oouuh ja, ich war wirklich ganz schön sauer. - Klar und deutlich gesagt: Ich weiß nicht, woran Frau Auge und ihr gleichgesinnte evangelische Pastoren glauben. Das kann ich gar nicht wissen, das wissen nur sie selbst und Gott. Im Übrigen geht es mich auch gar nichts an, was sie persönlich glauben. Aber als Pastoren haben sie eben einen Verkündigungsauftrag. Auch das müsste mich persönlich nicht großartig bekümmern, es handelt sich ja nicht um Geistliche meiner Kirche. Aber wenn sie sich als Christen verstehen und bezeichnen und im Dienst einer Kirche stehen, die sich ebenfalls als christlich versteht und bezeichnet, dann will ich das auch in ihrer Verkündigung sehen. Dass sie sich für Flüchtlinge und für Opfer von Gewalt einsetzen, hat meinen Beifall. Hungernde speisen, Durstige Tränken, Fremde beherbergen (!), Nackte bekleiden, Kranke pflegen - das gehört geradezu zu den Kernforderungen christlicher Ethik. Aber Christentum besteht eben nicht nur aus Ethik - darauf werden auch Diejenigen bestehen, die dasselbe tun und sich dabei dezidiert nicht als Christen verstehen und bezeichnen. Und wenn ich mir so manche Predigt anschaue, die aus der gemeinten Richtung kommt - Entschuldigung, wenn ich jetzt wieder ins Polemisieren gerate -, dann kann ich da von einer Verkündigung überhaupt nichts erkennen. Ja, es wird auf biblische Texte rekurriert, insofern spielen Versatzstücke der jüdisch-christlichen Glaubenstradition schon irgendwie mit hinein, aber statt Glaubensaussagen finde ich nur vieldeutiges Geraune. Wenn so die Predigten in evangelischen Gottesdiensten aussehen, dann empfinde ich das in der Tat als eine Verleugnung des Christentums (kann meine obige Aussage also nicht widerrufen).
- "und seine Sakramente schändet"
Ja, das ist sehr scharf formuliert, und ja, ich wollte an dieser Stelle eine knallige Formulierung bringen. Aber was würde es inhaltlich ändern, wenn ich mich zahmer ausdrückte? - Aus strikt katholischer Sicht ist eine evangelische Abendmahlsfeier in jedem Fall ein Sakrileg. Im Zeichen der Ökumene ist es natürlich nicht sehr schick, das zu sagen. Und obendrein wäre es natürlich sinnlos, von Angehörigen der Evangelischen Kirche zu erwarten oder zu verlangen, dass sie sich um das katholische Sakramentenverständnis bekümmern. Wenn jedoch neuheidnisch-esoterisch anmutende Rituale wie die hier und hier gezeigten in christlichen Kirchen zelebriert werden, würde ich eigentlich erwarten, dass auch aufrechte Protestanten das als Sakrileg empfinden (und ich kenne durchaus auch einige, die das tun). 

War noch was? - Ach ja, die "Hausfrauenlyrik". 'Tschuldigung. Da sprach ausnahmsweise mal nicht der Katholik, sondern der Literaturwissenschaftler aus mir. 

Abschließend: Ja, Christen sollen sich für Flüchtlinge einsetzen und gegen Fremdenhass. Neben anderen Dingen. Aber Christen sollen sich auch da für ihren Glauben einsetzen, wo er sperrig ist und "unzeitgemäß" wirkt und nicht den Großteil der öffentlichen Meinung auf seiner Seite hat. Das vermisse ich hierzulande doch vielfach sehr. Und nicht zuletzt sollen sie das Heilige heilig halten und es nicht den Hunden geben. Ups, das war jetzt schon wieder etwas polemisch. Hab aber eigentlich gar nicht ich gesagt. Sondern dieser Andere da

Sonntag, 23. August 2015

Wer kann das anhören? - Ein (nicht) ganz normaler Sonntag

Bei der Messe in St. Adalbert gab es heute morgen eine Überraschung: Anstelle von Pater Emmanuel Pannier, den ich eigentlich am Altar erwartet hatte, zelebrierte ein Gastpfarrer, Hubert von der Heide aus Delmenhorst. Da kamen bei mir direkt Heimatgefühle auf, denn Delmenhorst ist nur rund 70 Kilometer von meiner Geburtsstadt entfernt. Zur Begrüßung erklärte Pfarrer von der Heide, er sei gerade mit seiner "Firmandengruppe" - rund zehn Jugendlichen, die zusammen mit einer Pastoralreferentin und einer weiteren erwachsenen Begleitperson die vordersten Kirchenbänke besetzten - "auf Berlin-Tour", und nun wollten sie mal einen "ganz normalen Berliner Gottesdienst" in einer "ganz normalen Berliner Kirche" mitfeiern. 

Nun wohl. Man könnte freilich finden, etwas mehr von der Berliner Normalität hätten die Delmenhorster mitbekommen, wenn Pfarrer von der Heide sich mit in die Bank gesetzt oder allenfalls konzelebriert hätte; aber hey - es ist Urlaubszeit, und womöglich kam es den Priestern der örtlichen Pfarrei da ganz gelegen, dass ein Amtsbruder von auswärts die Zelebration übernehmen wollte. Und wenn es mich auch juckt, zu behaupten, der "Delmenhorster Ritus" unterscheide sich nur geringfügig vom "Nordenhamer Ritus", würde das dem guten Pfarrer von der Heide doch ein wenig Unrecht tun. Gerade wenn man bedenkt, dass er mit seinen 70 Jahren eigentlich genau das richtige Alter für einen nachkonziliaren Liturgie-Rebellen hat, gab es an seiner Zelebration verhältnismäßig wenig zu bemängeln. Ja, er handhabte die Liturgie insgesamt etwas freihändiger als die relativ jungen Priester der örtlichen Pfarrei. Seine Gesten und sein Sprachduktus wirkten irgendwie weniger "würdevoll". Ja, er kam ein bisschen allzu viel ins Plaudern über seiner "Berlin-Tour" mit den Firmlingen. Bei der Predigt beging er den Fauxpas, zunächst ausdrücklich und ausschließlich seine "Firmandengruppe" anzusprechen, und erst später fiel ihm ein, sich auch an die örtliche Gemeinde zu wenden. Einige der Firmlinge trugen selbst formulierte Fürbitten vor, und dabei handelte es sich durchweg um Mädchen in Hot Pants. Aber geschenkt. Wirklich ärgerlich war im Grunde nur eines; und gerade das war keine Eigentümlichkeit von Pfarrer von der Heidens Zelebration, sondern betraf - wie ich via Twitter erfuhr - landauf, landab zahlreiche Messen dieses Sonntags, bis hin zum ZDF-Fernsehgottesdienst.

Die Zweite Lesung wurde weggelassen.

Dass die örtliche Gemeinde derartige Kürzungsmaßnahmen nicht gewohnt ist, war unter anderem daran zu erkennen, dass sie, nachdem auf die erste Lesung statt des Antwortpsalms ein Choral gefolgt war (überhaupt wurde die musikalische Gestaltung der Messe fast ausnahmslos mit Chorälen bestritten, die im Gotteslob mit einem kleinen "ö" gekennzeichnet waren, aber immerhin waren sie mitsingfreundlich - und keine NGL...) und der Pfarrer sich hinter dem Ambo postierte, erst einmal sitzen blieb - und sich erst erhob, als es unverkennbar wurde, dass wirklich jetzt schon das Evangelium folgte.

In anderen Gemeinden ist es nicht so unüblich, dass in der Sonntagsmesse eine Lesung weggelassen wird. Meist ist das dann allerdings die Erste, aus dem Alten Testament. Nicht so heute. (Nebenbei bemerkt: Ich weiß nicht, ob der Lektor auch zu den Delmenhorstern gehörte; jedenfalls gab es in der 1. Lesung - Josua 24,1-2a.15-17.18b - einen hübschen Versprecher: die "Amoriter, an deren Strand ihr wohnt" - aber vielleicht habe ich mich auch nur verhört.)

Dass an diesem Sonntag jedoch die Zweite Lesung ausgelassen werden würde, hätte man allerdings ahnen können. Genauer gesagt: Manche haben es geahnt.



Als Zweite Lesung wäre heute nämlich Epheser 5, 21-32 dran gewesen:
"Einer ordne sich dem andern unter in der gemeinsamen Ehrfurcht vor Christus. Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie Christus, dem Herrn; denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kirche ist; er hat sie gerettet, denn sie ist sein Leib. Wie aber die Kirche sich Christus unterordnet, sollen sich die Frauen in allem den Männern unterordnen. Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat, um sie im Wasser und durch das Wort rein und heilig zu machen. So will er die Kirche herrlich vor sich erscheinen lassen, ohne Flecken, Falten oder andere Fehler; heilig soll sie sein und makellos. Darum sind die Männer verpflichtet, ihre Frauen so zu lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst. Keiner hat je seinen eigenen Leib gehasst, sondern er nährt und pflegt ihn, wie auch Christus die Kirche. Denn wir sind Glieder seines Leibes. Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein. Dies ist ein tiefes Geheimnis; ich beziehe es auf Christus und die Kirche.
Ich weiß nicht, wie diese Stelle in der Bibel in gerechter Sprache lautet, und ich habe ehrlich gesagt auch keine Lust, das zu überprüfen. Aber es liegt auf der Hand, dass eine Bibelstelle, die von Unterordnung der Frauen unter die Männer spricht, konfliktträchtig ist. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass diese Lesung bei manchen Hörern die Reaktion herausfordern würde, aus diesen Worten des Apostels Paulus spreche die ganze tief verwurzelte Frauenfeindlichkeit der Kirche - oder zumindest, mit weniger Furor ausgedrückt, ein Geschlechterrollenverständnis, das nicht mehr zeitgemäß sei. 

Dazu könnte man - müsste man wohl sogar - Einiges sagen; mehr als ich, als Nichttheologe, hier so ad hoc dazu sagen kann. Ein paar Anmerkungen seien mir dennoch gestattet. Der letzte Satz des Zitats ist zweifellos von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Bibelstelle: Dem Apostel geht es darum, dass die christliche Ehe das Verhältnis zwischen Christus und Seiner Kirche widerspiegeln soll. So ist die Forderung, die Frauen sollten sich ihren Männern unterordnen, wie die Kirche sich Christus unterordnet, untrennbar verknüpft mit der Forderung, die Männer sollten ihre Frauen so lieben, wie Christus die Kirche liebt. Eine Geringschätzung von Frauen lässt sich darin nun gerade nicht erkennen; eine unterschiedliche Rollenzuschreibung an Männer und Frauen allerdings schon. Wie man sich zu dieser Forderung des Apostels verhält, was sie unter den Bedingungen der heutigen und hiesigen Gesellschaft praktisch bedeutet, darüber wäre, wie gesagt, zu reden. Problematisch ist es hingegen, wenn überhaupt nicht darüber geredet wird - wenn der Auseinandersetzung mit dem Sperrigen dieser Bibelstelle ausgewichen wird, indem man die Lesung einfach weglässt. Wem ist damit geholfen? In der Bibel stehen diese Sätze schließlich trotzdem drin. 

Umso ärgerlicher ist dieses Zurückscheuen vor der Kontroverse, wenn man bedenkt, dass das Evangelium des heutigen Sonntags - Johannes 6,60-69 -  eigentlich dazu einlädt, gerade das Schwierige und Sperrige der Lesung in der Predigt zu thematisieren. "Viele seiner Jünger, die ihm zuhörten, sagten: Was er sagt, ist unerträglich. Wer kann das anhören?" Diese Reaktion der Jünger auf die Lehre Jesu sollte uns heute recht bekannt vorkommen: Bei aller theoretischen Hochschätzung der Meinungsfreiheit trifft man auch heute in gesellschaftlichen Debatten immer mal wieder auf die Auffassung, bestimmte Ansichten seien unerträglich und man könne sie nicht anhören. Und das betrifft, sehr passend zu den Worten des Apostels Paulus an die Epheser, nicht zuletzt auch Äußerungen über Geschlechterrollen. So gab es unlängst Bestrebungen, das Schulamt der Stadt Düsseldorf zur Absage einer Lesung der feminismuskritischen Publizistin Birgit Kelle in der Aula eines Gymnasiums zu bewegen; und wenig später wurde eine Folge der WDR-Talkshow Hart aber fair, in der Kritik am Gender Mainstreaming geübt wurde - und an der, wie es der Zufall wollte, ebenfalls Birgit Kelle beteiligt war - wegen "Sexismusvorwürfen" aus der Mediathek gelöscht.

Nur damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Ich habe nicht die Absicht, Birgit Kelle mit dem Apostel Paulus oder gar mit Jesus Christus auf eine Stufe zu stellen. Ich will auch nicht behaupten, dass die Thesen Birgit Kelles (oder meinetwegen der ebenfalls an der inkriminierten Plasberg-Sendung beteiligten Sophia Thomalla) zum Thema Geschlechterrollen mit dem biblischen Geschlechterverständnis deckungsgleich wären. Bezeichnend ist aber das Empörungspotential, das diesem Thema offensichtlich anhaftet - und die bedenkliche Tendenz, konfliktträchtige Standpunkte hierzu möglichst gar nicht erst laut werden lassen zu wollen, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Das Tagesevangelium des heutigen Sonntags - in dem es, zugegebenermaßen, inhaltlich eigentlich um ganz Anderes geht - lehrt uns jedenfalls Eines: Schwierige, sperrige, unpopuläre Aussagen, die Widerspruch erwarten lassen, auszusparen - um so zu vermeiden, dass die verbliebenen Jünger (auf heutige Verhältnisse übertragen heißt das: diejenigen Kirchenmitglieder, die sonntags noch in die Messe kommen) "auch weggehen" -, ist nicht der Weg Jesu. Und deshalb kann und darf es auch nicht der Weg der Kirche sein. 


Samstag, 22. August 2015

Widersprich mir nicht, das kann ich selber - oder: Frau Auge und die bösen Bibeltreuen

[Update: Bitte auch diesem Nachtrag beachten!]

Vormittäglicher Dialog mit der Liebsten: 

Liebste: "Eigentlich ist es doch selbsterklärend, dass Leute, die es gut finden, auf dem Altar zu kochen, keine Christen sind." 
Ich: "Na komm, das kann man so doch nicht sagen. Man darf doch anderen Leuten nicht das Christsein absprechen, nur weil sie..." 
Liebste: "...keine Christen sind?"
Ich: "Äh - genau." 

Was aber war der konkrete Anlass dieses Austauschs an einem ansonsten doch so idyllischen Samstagvormittag? - Kurz gesagt: Die Suppenfrau - äh nein, ich meine: Frau Auge - hatte wieder zugeschlagen. Auf Twitter. Wo sie mich nach der Suppendiskussion vor ein paar Monaten eigentlich geblockt hat, was mich aber nicht davor bewahrte, den folgenden Tweet - als Retweet eines anderen evangelischen Pastors - zu sehen zu bekommen:


Was wollen uns diese Worte sagen? Sinngemäß offenbar Folgendes: Da, wo ein Fundamentalist zum Landesbischof gewählt wird, veranstalten Menschen auch Treibjagden auf Flüchtlinge. Hätte man ja ahnen können.

Sehen wir einmal davon ab, dass Gewalt und Hetze gegen Flüchtlinge und andere Migranten in Deutschland durchaus nicht auf Sachsen beschränkt sind. Sehen wir ebenfalls davon ab, dass nur etwa jeder fünfte Einwohner des Freistaats Sachsen Mitglied der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche ist; 72,6% der dortigen Bevölkerung gehören keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft an. Macht aber ja nichts: Hauptsache, man kann den "bibeltreuen Christ*innen" mal wieder eins reinwürgen. Das müssen einfach schlechte Menschen sein.

Und warum müssen sie das? Im Grunde ist es ganz einfach. Wer eine post- bzw. pseudochristliche Phantasiereligion verkündigt, ja sogar im Auftrag der Evangelischen Kirche allsonntäglich das Christentum verleugnet und seine Sakramente schändet, muss doch irgendwo tief in seinem Innern wissen, dass er im Unrecht ist. Folglich steht er unter einem äußerst starken Rechtfertigungsdruck - jenen gegenüber, die den christlichen Glauben ernst nehmen. Die gilt es also als Fundamentalisten, Ewiggestrige und Finsterlinge darzustellen, und da das irgendwie immer noch nicht zu reichen scheint, müssen sie obendrein in moralischer Hinsicht verdächtig gemacht werden. Theologisch konservative Christen - ich würde sie ja gerne einfach nur Christen nennen, aber, na ja, siehe oben - müssen die sein, die Hass verbreiten; christliche Nächstenliebe gibt es nur bei denen, die sich aus Versatzstücken von Christentum und allerlei anderen Zutaten ihre eigene Wohlfühlreligion basteln. Ist ja auch klar: Dogmen schaffen Spaltung und Zwietracht, das große Credo "Ich bin okay, du bist okay" hingegen macht uns alle zu einer großen Familie.

Nur die bösen Bibeltreuen und fiesen Fundamentalisten nicht. Die sind nicht okay, und das soll auch alle Welt wissen. - Es wird aber noch wirrer: In einer Twitter-Diskussion mit meiner (noch nicht geblockten) Liebsten erklärte Frau Auge, sie verstehe sich selbst auch als bibeltreu. Na ja: Wenn das Treue ist, biblische Texte als Basismaterial für freies Assoziieren und Hausfrauenlyrik zu benutzen... Aber das ist halt die Crux mit so genannten "liberalen Christen": Sie sind verdammt gut im Begriffe Besetzen. Das ist ihr Lieblingssport. Ein Spiel, das eine gewisse Ähnlichkeit mit Schiffe Versenken hat. Indem sie etwa ihren komischen Glauben - wenn man ihn denn einen solchen nennen kann; sagen wir vielleicht neutraler: ihre Spiritualität - als christlich definieren, erklären sie sich zu den wahren Christen; ist der Begriff solchermaßen besetzt, können die, die an das glauben, was das Christentum seit 2000 Jahren lehrt, nicht mehr als Christen gelten, also braucht man für sie einen neuen Begriff. Fundamentalisten zum Beispiel. Und denen wirft man dann vor, sie wollten eigenmächtig festlegen, was christlich sei und was nicht, und damit Anderen (nämlich ihnen, den Liberal'christen') "das Christsein absprechen".

Ein bisschen ist es ja wie bei Orwell. Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke, und sich zur Lehre des Christentums zu bekennen, ist unchristlich. Manchmal muss ich schon sehr aufpassen, bei solchen Debatten keinen Knoten im Hirn zu bekommen.


Dienstag, 18. August 2015

Wenn das Gesetz tötet


HINWEIS: Der folgende Beitrag erschien zuerst am 04.08.2015 in der Zeitung Die Tagespost, S. 9.


Vor 125 Jahren wurde in den USA der Elektrische Stuhl als neues Hinrichtungsinstrument eingeführt. Er wurde zum Symbol für das Scheitern der Idee eines „humanen“ Tötens im Namen der Gerechtigkeit. Aber der Kampf gegen die Todesstrafe ist bis heute nicht gewonnen.

6. August 1890, Auburn Prison, New York. Der 30jährige William Kemmler wird zur Hinrichtung geführt. Knapp eineinhalb Jahre zuvor hat er seine Frau mit einer Axt erschlagen; nun soll an ihm erstmals eine neue Hinrichtungsmethode vollzogen werden, die schneller und schmerzloser zum Tode führen und somit „humaner“ sein soll als das bisher übliche Erhängen: die „Elektrokution“, ein Kofferwort aus „elektrisch“ und „Exekution“.

Kemmler wird auf einem Stuhl festgeschnallt, an seinem Kopf und seinem Rücken werden Elektroden befestigt. Der Elektrische Stuhl ist unter der Ägide des legendären Erfinders Thomas Edison entwickelt worden. Edison ist eigentlich ein Gegner der Todesstrafe, will mit dieser Erfindung jedoch seinen Konkurrenten George Westinghouse diskreditieren, der die Vorteile des Wechselstroms gegenüber dem von Edison favorisierten Gleichstrom propagiert: Mit dem Elektrischen Stuhl will Edison die Gefährlichkeit des Wechselstroms demonstrieren. Er schlägt sogar die Bezeichnung “to westinghouse“ für die neue Hinrichtungsmethode vor.

Der Verurteilte Kemmler erhält einen Stromstoß mit einer Spannung von 1000 Volt; man nimmt an, dies würde einen sofortigen Herzstillstand verursachen. Als nach 17 Sekunden der Strom abgestellt wird, stellen die beiden Ärzte, die die Hinrichtung überwachen, zum Entsetzen der Anwesenden fest, dass Kemmler noch lebt. Ihm wird ein weiterer Stromstoß zugefügt, diesmal mit 2000 Volt Spannung. Kemmlers Körper verkrampft sich, Blutgefäße platzen, es riecht nach verbranntem Fleisch. Nach 70 Sekunden ist er endlich tot. Ein anwesender Reporter beschreibt die Hinrichtung als „entsetzliches Schauspiel, weit schlimmer als Erhängen“. Noch drastischer äußert sich George Westinghouse: „Sie hätten es besser mit einer Axt gemacht.“

Trotz dieser missglückten Premiere etablierte sich der Elektrische Stuhl als Hinrichtungswerkzeug in mehr als 20 Bundesstaaten der USA und später auch auf den Philippinen. Als der äthiopische Kaiser Menilek II. von der Erfindung des Elektrischen Stuhls hörte, bestellte er drei solcher Stühle, obwohl es in seinem Land zwar die Todesstrafe, aber keine Elektrizität gab. Nachdem der Kaiser die Nutzlosigkeit seiner Erwerbung eingesehen hatte, benutzte er einen der Stühle fortan als Thron.

„Pannen“ bei Hinrichtungen mit dem Elektrischen Stuhl blieben auch weiterhin nicht aus. Besonderes Aufsehen erregte die misslungene Hinrichtung des erst 17jährigen Willie Francis am 3. Mai 1946 in St. Martinville/Louisiana: Willie überlebte zwei Stromstöße mit einer Spannung von 2500 Volt; daraufhin wurde die Hinrichtung abgebrochen. Infolge dieser Ereignisse argumentierte der Anwalt Bertrand DeBlanc, mit der fehlgeschlagenen Hinrichtung habe Willie Francis seine Strafe verbüßt und dürfe nicht erneut bestraft werden. Der Fall, in dem DeBlanc sich au mehrere Verfassungszusätze berief, ging bis vor das Oberste Bundesgericht, das schließlich mit äußerst knapper Mehrheit zu Francis‘ Ungunsten entschied. Am 9. Mai 1947 wurde der inzwischen 18jährige Willie Francis erneut hingerichtet.

In acht Bundesstaaten der USA ist die „Elektrokution“ als Hinrichtungsmethode bis heute zugelassen, wird aber nur noch in Ausnahmefällen und nur auf Wunsch des Verurteilten selbst angewandt – zuletzt im Staat Virginia  bei der Hinrichtung von Robert Gleason jr. am 10.01.2013. Als „Standard“-Hinrichtungsart hat sich in den USA seit den 1980er Jahren die Injektion einer tödlichen Medikamentendosis durchgesetzt. Aber ob Guillotine, Elektrischer Stuhl oder Giftspritze: Trotz aller Bemühungen um möglichst „humane“ Hinrichtungsmethoden gibt es bis heute immer wieder Fälle, in denen die Verurteilten einen qualvollen Todeskampf durchleiden müssen. Solche Vorkommnisse heizen die Debatte um die Abschaffung der Todesstrafe ebenso an wie spektakuläre Justizirrtümer, bei denen sich z.T. Jahre später die Unschuld der Verurteilten erweist. Aus Sicht von Befürwortern der Todesstrafe stellen solche Einzelfälle jedoch nicht die grundsätzliche Berechtigung dieser Strafe in Frage. Sie verweisen auf die abschreckende Wirkung, den Schutz der Gesellschaft vor Wiederholungstätern, zuweilen sogar auf die hohen Kosten, die dem Staat durch langjährige Haftstrafen entstehen und die man durch die Todesstrafe einsparen könne. Das Hauptargument der Befürworter bleibt jedoch die Verhältnismäßigkeit der Bestrafung: Für schwerste Verbrechen sei der Tod die einzig angemessene Sühne. Genau dies wird von Gegnern der Todesstrafe bestritten: Ein Rechtsstaat dürfe nicht über das Leben seiner Bürger verfügen – auch nicht über das von Schwerverbrechern.

In der Bundesrepublik Deutschland hat die Abschaffung der Todesstrafe Verfassungsrang. Dies war allerdings zunächst nicht unumstritten: Der betreffende Grundgesetzartikel wurde gegen die Stimmen der CDU beschlossen; das Land Rheinland-Pfalz hatte noch 1949 eine Guillotine in Auftrag gegeben, die jedoch erst drei Tage nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes fertiggestellt wurde, sodass bereits verhängte Todesstrafen nicht mehr vollstreckt werden konnten. In den 1950er Jahren wurden mehrere Gesetzesinitiativen zur Wiedereinführung der Todesstrafe in den Bundestag eingebracht, die jedoch abgelehnt wurden. In West-Berlin, das wegen des Viermächtestatus bis 1990 nicht zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gehörte, wurde die Todesstrafe letztmals 1949 vollstreckt und 1951 gesetzlich abgeschafft. Die DDR schaffte die Todesstrafe erst 1987 ab; insgesamt wurden dort zwischen 1950 und 1981 166 Todesurteile vollstreckt, bis 1958 mit dem Fallbeil, später durch Erschießen.

Seit einigen Jahrzehnten ist die Ächtung der Todesstrafe auch international auf dem Vormarsch. Hatten bis 1976 weltweit erst 16 Staaten die Todesstrafe vollständig abgeschafft, so sind es heute bereits 102. In sechs Staaten ist die Verhängung der Todesstrafe nur in Sondergerichtsverfahren, etwa unter Kriegsrecht, zulässig, in weiteren 34 ist sie zwar formal-juristisch möglich, wird aber nicht vollstreckt. Tatsächlich praktiziert wird die Todesstrafe heute noch in 56 Ländern der Erde; die meisten Hinrichtungen gibt es in der Volksrepublik China, gefolgt von Iran, Irak, Saudi-Arabien – und den USA. Dort war die Anwendung der Todesstrafe zwar 1967 auf Anordnung des Obersten Bundesgerichts ausgesetzt worden, 1976 wurde sie jedoch wieder zugelassen. Seitdem haben 19 der 50 US-Bundesstaaten sowie der District of Columbia die Todesstrafe abgeschafft; Bundesgerichte können jedoch weiterhin auch für Verbrechen, die in diesen Bundesstaaten begangen wurden, die Todesstrafe verhängen. So verurteilte am 15. Mai 2015 ein Bundesgericht den 21jährigen Dschochar Zarnajew wegen seiner Beteiligung am Bombenanschlag auf den Boston-Marathon zum Tode; wäre der Fall vor einem Gericht des Staates Massachusetts verhandelt worden, wäre lebenslange Haft die Höchststrafe gewesen. Der katholische Erzbischof von Boston, Seán Patrick O’Malley, und die drei anderen Diözesanbischöfe des Staates Massachusetts protestierten gegen das Todesurteil. Von Zarnajew gehe keine Gefahr mehr für die Gesellschaft aus, die es rechtfertige, ihn zu töten; zudem habe auch er ein Recht auf Achtung seiner gottgegebenen Menschenwürde.

In ihrer entschiedenen Ablehnung der Todesstrafe beriefen sich die Bischöfe von Massachusetts auf den Katechismus der Katholischen Kirche sowie auf Aussagen von Papst Franziskus. Die Haltung der Katholischen Kirche in dieser Frage ist allerdings nicht immer so eindeutig gewesen. Im Einklang mit den Schriften der Kirchenlehrer Augustinus (De civitate Dei, ca. 413-426) und Thomas von Aquin (Summa contra gentiles, um 1260), die das Recht der staatlichen Autorität, Verbrecher zum Tode zu verurteilen, bejahten, hatte der Römische Katechismus von 1566 die Todesstrafe ausdrücklich aus dem im 5. Gebot formulierten Tötungsverbot ausgenommen. Auch der heute gültige, 1992 veröffentlichte Katechismus der Katholischen Kirche erkennt unter Nr. 2266 „die Rechtmäßigkeit des Rechtes und der Pflicht der gesetzmäßigen öffentlichen Gewalt“ an, „der Schwere des Verbrechens angemessene Strafen zu verhängen, ohne in schwerwiegendsten Fällen die Todesstrafe auszuschließen“, fügt unter Nr. 2267 jedoch hinzu, „unblutige Mittel“ zum Schutz der öffentlichen Ordnung und der Sicherheit der Menschen seien nach Möglichkeit zu bevorzugen, da sie „besser den konkreten Bedingungen des Gemeinwohls“ entsprächen und „der Menschenwürde angemessener“ seien. 1995 konkretisierte der Hl. Papst Johannes Paul II. in seiner elften Enzyklika Evangelium vitae diese Aussage dahingehend, dass die Verhängung der Todesstrafe nur „in schwerwiegendsten Fällen, das heißt, wenn der Schutz der Gesellschaft nicht anders möglich sein sollte“, gerechtfertigt sei, und fügte hinzu: „Solche Fälle sind jedoch heutzutage […] schon sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gegeben.“

Zusammenfassend könnte man also sagen, die derzeitige Lehre der Katholischen Kirche lehne die Todesstrafe zwar in der Theorie nicht gänzlich ab, spreche sich in der Praxis jedoch weitestgehend gegen ihre tatsächliche Anwendung aus. Die Bischofskonferenz der Karibik (Antilles Episcopal Conference, AECRC), zu deren Zuständigkeitsbereich elf Staaten gehören, in denen die Todesstrafe noch praktiziert wird – darunter allerdings nur drei mehrheitlich katholische –, veröffentlichte im Jahr 2000 einen Hirtenbrief, in dem die Todesstrafe als „grausam und unnütz“ bezeichnet und ihre Abschaffung gefordert wurde. Der Erzbischof von Kampala in Uganda, Cyprian Lwanga, kritisierte im Jahr 2009 ein geplantes Gesetz, das die Todesstrafe für homosexuelle Akte vorsah, als „im Widerspruch zu zentralen Werten des christlichen Glaubens stehend“ und betonte, die Kirche rufe ihre Gläubigen dazu auf, die Sünde zu hassen, aber die Sünder zu lieben. 2011 protestierten die katholischen Bischöfe Polens gegen eine Initiative der damaligen rechtskonservativen Regierung zur Wiedereinführung der Todesstrafe. Auch Papst Franziskus hat sich mehrfach für eine weltweite Ächtung der Todesstrafe ausgesprochen: Diese sei „ein Affront gegen die Heiligkeit des Lebens und gegen die Würde des Menschen“. Zudem schaffe sie keine Gerechtigkeit, sondern fördere vielmehr Rachegelüste.

In den USA hat sich die dortige Bischofskonferenz bereits seit 1980 wiederholt gegen die Todesstrafe ausgesprochen; im Jahr 2005 trat sie mit einer Broschüre mit dem Titel A Culture of Life and the Penalty of Death („Eine Kultur des Lebens und die Todesstrafe“) an die Öffentlichkeit, in der sie diese Haltung bekräftigte, und anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Erscheinens dieser Schrift äußerten sich die Bischöfe der USA jüngst erneut in diesem Sinne.

Aktuelle Umfragen zeigen derweil, dass noch immer 56% der US-Bürger die Beibehaltung der Todesstrafe in ihrem Land befürworten; unter den US-amerikanischen Katholiken liegt der Prozentsatz der Befürworter mit 53% nur geringfügig niedriger. Den Bischöfen bleibt also noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.



Montag, 17. August 2015

Das Dienstagsgrauen II - Eine Reise ins Stammhirn der Autorin

"Max war erfrischend anders. Er hatte keine Meinung."

Das ist einer der Momente, in denen einem die Liebste das Buch, das man ihr am Krankenbett vorliest, mit den Worten "Das steht da doch nicht wirklich!" impulsiv aus der Hand reißt. 

Aber das steht da wirklich. Es steht auf S. 134 der Dienstagsfrauen von Monika Peetz. Ja, ich habe mich, obwohl schon die ersten 80 Seiten so mies waren, entschlossen, es weiter zu lesen - oder, genauer: es der Liebsten weiter vorzulesen, die weiterhin an ihrem Bänderriss laboriert. Nicht dass sie das Buch weniger bekloppt fände als ich - eher im Gegenteil -, aber immerhin kann ich sie aufheitern, indem ich die Dialoge mit verstellter Stimme intoniere und hin und wieder die Adjektive und Adverbien in den Sätzen vertausche.
"Mit einer erschöpften Geste lud er die fünf simplen Pilgerinnen ein, auf seinem Anhänger Platz zu nehmen." (S. 81)
"...bis ein himmlisches Telefonklingeln die markerschütternde Ruhe durchschnitt" (S. 99).
"Das nervöse Dauerklingeln seines Telefons machte sie zusätzlich penetrant." (S. 117)
"Arbeiter der ungewöhnlichen Autowerkstatt schoben ihre besseren Baseballmützen nach hinten, um einen öligen Blick auf die danebenliegende Damenformation zu haben." (S. 123)
"Dorthin, wo es peinlich war und man keine stillen Landsleute traf." (S. 125)
"Von den Balken der Häuser sahen grässliche Frauen und schöne Bestien auf Eva herab." (S. 137)
"Quäkend wechselte sie die Hand, als eine ungehaltene Autohupe sie vom Weg jagte." (S. 142)
"Bevor sie die heisere Tat ausführen konnte, bremste das Gefährt mit imposantem grauem Quietschen vor einem industriellen Steinbau mit kecker Ausstrahlung." (S. 145)
"In jeder Frauenzeitschrift las man, dass entsetzliche Beziehungen feste Nebenwirkungen hatten wie Tennissocken unter dem Sofa, sexuelle Zahnpastatuben und offene Monotonie." (S. 154)
Solche kleinen Tricks verbessern den Stil des Romans ungemein. - Nein, ich blogge nicht deshalb erneut über dieses Buch, weil es nach den ersten 80 Seiten besser geworden wäre. Soweit möglich, ist es eher noch schlechter geworden. Am Ende des ersten Viertels hatte sich angedeutet, dass die Angaben in Arnes Pilgertagebuch - oder, wie die genitivscheue Monika Peetz es ausdrücken würde - im Pilgertagebuch von Arne - vorne und hinten nicht stimmen. Bei der Ankunft in der Auberge Sainte Marie am Ende des ersten Pilgertages verdichten sich die Verdachtsmomente, aber kurz darauf verliert die Autorin komplett den Faden und braucht weitere rund 80 Seiten, um ihn wiederzufinden. Zugegeben, so etwas passiert auch erheblich talentierteren Schriftstellern. Karl May zum Beispiel, in seinem legendären Orientzyklus. Der dritte Band, Von Bagdad nach Stambul, ist über weite Strecken grandios; aber kaum haben Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar den asiatischen Teil des damaligen Osmanischen Reiches verlassen und den europäischen betreten, geht dem Erzähler die Luft aus. Über Hunderte von Seiten eiert er herum und behilft sich mit Anekdötchen, die sich inhaltlich und formal eher an seinen frühen Humoresken und Dorfgeschichten orientieren, nur dass sie nicht im Erzgebirge spielen, sondern in Bulgarien. Erst mit dem Auftreten des Heiligen Mübarek, einer der originellsten Schurkengestalten Mays, nimmt die Handlung wieder Fahrt auf. -- Allerdings muss ich anmerken, dass Karl May selbst in seinen schwächsten Momenten immer noch um Längen besser ist als Frau Peetz auf der Höhe ihres, ahem, "Könnens". Im zweiten Viertel der Dienstagsfrauen hat der geneigte Leser vielfach den Eindruck, dass die Verfasserin beim Schreiben nur mehr ihr Stammhirn benutzt, sich rein assoziativ von einem platten Episödchen zum anderen hangelt und jegliche Bemühungen um inhaltliche und formale Stimmigkeit fahren lässt. Die ohnehin nicht durch besondere Stringenz glänzende Handlung fasert nun völlig aus, und auch an logischen Anschlussfehlern mangelt es nicht: So lässt Eva auf S. 111f. ihr Handy bei der Wirtin der Auberge Sainte Marie, um fürderhin nicht mehr von den ständigen Anrufen ihrer Familie behelligt zu werden; aber auf S. 146 erfährt man, dass sie seither trotzdem täglich zu Hause angerufen hat.

Aber wer ist eigentlich dieser Max aus dem obigen Zitat? Von dem war doch bisher nie die Rede?

Richtig. Max wird erstmals auf S. 99 erwähnt, als Kiki, die jüngste der fünf Dienstagsfrauen, auf ihrem Handy die Fotos durchsieht, die sie am ersten Pilgertag gemacht hat, und dabei über vor der Pilgerreise aufgenommene Fotos stolpert, die sie zusammen mit diesem Max zeigen - einem dreizehn Jahre jüngeren Mann, mit dem sie eine Affäre gehabt hat. Entschlossen löscht Kiki alle Fotos von Max von ihrer Speicherkarte. Aber wie der Leser sich denken kann, war's das noch nicht. Auf S. 115, als Kiki gerade "halb nackt durch den Garten" der Auberge Sainte Marie springt - "[b]raun gebrannt die nackten Beine, wohlpropotioniert die Figur, verführerisch der Anblick" -, kreuzt Max leibhaftig auf. Er ist ihr nachgereist. Kiki ist entsetzt - besonders, als er auf S. 118 beiläufig seinen Vater erwähnt. Wer mag wohl sein Vater sein, wenn Kiki auf dessen Erwähnung so allergisch reagiert? Der Leser ahnt es, und schon auf der nächsten Seite wird es ihm Schwarz auf Weiß bestätigt: Max' Vater ist Kikis Chef, das ist, neben dem Altersunterschied, der Hauptgrund, weshalb Kiki diese Affäre beenden wollte. Zum Schlussmachen gehören aber bekanntlich zwei, und Max weigert sich beharrlich, Kikis Trennungswunsch zu akzeptieren. So dackelt er fortan den Dienstagsfrauen auf ihrem Pilgerweg hinterher wie ein gut erzogener Hund und lässt sich nicht davon beirren, dass Kiki ihn komplett ignoriert.

Die eigentliche Hauptfigur dieses zweiten Viertels der Dienstagsfrauen ist jedoch Eva, die Trägerin des Mutterkreuzes in Bronze - äh, ich meine: vierfache Mutter. Entschuldigung. Dass sich bei mir im Zusammenhang mit dieser Romanfigur permanent Nazi-Assoziationen einstellen, begann schon auf S. 11, wo sie als "Jungärztin Eva" betitelt wurde. Ich fand, das wäre ein prima Titel für einen NS-Propagandafilm gewesen: Hitlerjunge Quex, SA-Mann Brand, Jungärztin Eva - hat doch alles irgendwie den gleichen Sound, oder? Wahrscheinlich hat mich auch der Film Schtonk! irgendwie beeinflusst ("Die übermenschlichen Anstrengungen der letzten Tage verursachen mir Blähungen im Darmbereich, und Eva sagt, ich habe Mundgeruch"). Das eigentlich Bemerkenswerte ist aber, dass es der Autorin, was die Nazi-Assoziationen angeht, offenbar genauso geht wie mir. Wenn von Eva die Rede ist - und nur dann -, verfällt Frau Peetz bei der Schilderung der Strapazen der Wanderung regelmäßig in ein auffallend martialisches Vokabular: Wenn Eva sich selbst Mut zuspricht, dann sind das Durchhalteparolen (S. 104); wenn sie schimpft, ist es eine Schimpfkanonade (S. 110). Bei dem Versuch, die Auberge Sainte Marie heimlich durch die Hintertür zu verlassen, muss sie den Inhalt ihres Wanderrucksacks als Waffe (S. 109) einsetzen, um einen Sieg (S. 110) über ein im Grunde ziemlich harmloses Hausschwein namens Rosa zu erringen (nebenbei bemerkt: Seit wann haben Schweine eigentlich feuchte Nasen?). Als sie in der Auberge de la Paix die Bilder der früheren Bewohner betrachtet, findet sich darunter wie selbstverständlich auch ein Bild von "Soldaten in Uniformen des Zweiten Weltkriegs" (S. 148); und selbst beim Sinnieren über die Redensart "für kleine Königstiger [müssen]" fällt ihr unversehens ein, dass Königstiger "der Spitzname eines Wehrmachtspanzers aus dem Zweiten Weltkrieg" war: "Eva hatte keine Idee, was Hitlers Expansionsdrang mit einer Notdurft zu tun haben sollte" (S. 135). Während die vier anderen Protagonistinnen sich mehr oder weniger rasch auf die körperlichen Herausforderungen des Pilgerns einstellen, "kämpfte Eva mit sich" (S. 136); und dies - "Ihr Kampf", so zu sagen, oder, wie Frau Peetz es wohl formulieren würde, "Der Kampf von ihr" - nimmt, wie gesagt, große Teile des zweiten Romanviertels ein. Wenn Eva verbissen registriert "Die Pyrenäen lagen vor ihr" (S. 137), stellt man sich unwillkürlich vor, dass auf der anderen Seite die Russen im Hinterhalt liegen: "Die Gegner hielten sich verborgen" (S. 139). Erstaunlicherweise ist es dennoch kein russischer Schützenpanzer, der Eva aufgabelt, als sie nicht mehr weiter kann, sondern nur "ein dreirädriger knallroter Mini-Pick-up" (ebd.), und der Mann am Steuer heißt auch nicht Igor, sondern Jacques (S. 140); aber immerhin erzählt er ihr von der Bärenjagd (S. 144).

So amüsant man das alles finden mag, so ärgerlich ist es im Grunde doch, dass der Autorin all diese Nazi-Klischees ausgerechnet in Verbindung mit einer Figur einfallen, die sich aus dem Kreis der Protagonistinnen vor allem durch ihre Rolle als treusorgende Hausfrau und Mutter von vier Kindern (sowie durch ein gewisses Übergewicht) heraushebt. Nebenbei bemerkt ist sie auch die einzige praktizierende Katholikin auf dieser Pilgerreise. Als sie glaubt, nicht mehr weiterwandern zu können, schickt sie "ein Stoßgebet zum Himmel" (S. 138), als dessen prompte Erfüllung ihr das Auftauchen des schon erwähnten Mini-Pick-ups erscheint. Dass dessen Fahrer ausgerechnet Jacques, also Jakobus, heißt, scheint dies zu bestätigen, und Eva strahlt, "als wäre ihr die Mutter Gottes persönlich erschienen" (S. 142). Aber ist diesem vermeintlichen Himmelsboten wirklich zu trauen? - In der Auberge de la Paix, in die er Eva bringt, entdeckt sie ein Bild, "das Jacques inmitten eines Dutzends von Männern in langen roten Roben zeigte. Was mochte das für eine merkwürdige Vereinigung sein, der Jacques angehörte? Gab es noch immer Geheimbünde in dieser Gegend? Besonders heilig wirkten die Männer nicht" (S. 148) - und auffälligerweise tragen sie "eine glasierte, runde Tonschale an einem grünen Band um den Hals" (ebd.)...

Ach du Scheiße! Die ADEPTEN DER SCHALE! Ich bin im falschen Buch! 

Im Ernst: In Hinblick auf populär-populistischen Antikatholizismus steht dieser Pilgerroman handelsüblichen Vatikan-Verschwörungs-Thrillern in nichts nach. Da erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die rot gewandeten Gestalten auf dem Foto etwas mit den Katharern zu tun haben, auf deren früherem Territorium man sich ja schließlich befindet - was der Roman nicht müde wird zu betonen: Auf S. 125 begegnen die Dienstagsfrauen einer Senioren-Reisegruppe aus Fulda, die sich auf einer Busreise unter dem Motto "Katharer und Katalanen" befindet; und auf S. 136 hält "die wie immer entsetzlich gut vorbereitet[e]" Caroline ihren Freundinnen einen Vortrag über "die Glaubensgemeinschaft der Katharer [...], die vor achthundert Jahren in Gralsburgen ihr geheimes Wissen pflegten, bis der Papst dazu aufrief, sie als Ketzer auszurotten". Katharer gut, Papst böse: Mehr braucht der geneigte Leser nicht zu wissen.

Dass die Protagonistinnen ihrerseits auch eher der Ketzerei als der Rechtgläubigkeit zuneigen, ist ja bereits aus dem ersten Viertel des Romans bekannt, der Leser wird aber immer mal wieder dran erinnert. Insbesondere Judith, auf deren Mist die ganze Lourdes-Pilgerreise ja gewachsen ist, betet in erster Linie ihren verstorbenen Gatten Arne an: "Auch in Frankreich hatte Judith ihren Altar für Arne aufgebaut", heißt es anlässlich der ersten Übernachtung in der Auberge Sainte Marie (S. 98), und am nächsten Morgen hält Judith "ihre Morgenandacht vor dem etwas ramponierten Pseudoaltar von [!] Arne" (S. 105). Man muss einräumen, dass dies aus christlicher Sicht weit weniger anstößig wirken würde, wenn einfach von einer Andachtsecke für Arne die Rede wäre. Vielleicht weiß die Autorin einfach nicht, was ein Altar ist - was umso glaubwürdiger erscheint, wenn man berücksichtigt, dass sie trotz einer gewissen Vorliebe für esoterische Begrifflichkeiten auch nicht weiß, was ein Astralleib ist (ebd.). Andererseits verweist der Umstand, dass auf diesem "Altar" neben einer Kerze, einem Foto von Arne und frischen Blumen auch "ein volles Gas Wein" steht (S. 98), tatsächlich eher auf heidnische Praktiken der Ahnenverehrung. Überhaupt kennen wir Judith ja schon von den ersten 80 Seiten her als die Esoterik-Expertin des Quintetts. "Jede Begegnung mit der Schöpfung ist ein Wunder. Selbst mit der allerkleinsten Kreatur", belehrt sie ihre Freundinnen, woraufhin Estelle, die gerade mittels Insektenspray "eine kleine Kreatur, die sich mitsamt ihrer Großfamilie in ihre Bett versteckt hatte, ins Jenseits" befördert hat, "reumütig" anmerkt: "Wir könnten zum Buddhismus konvertieren [...]. Die glauben an Reinkarnation" (S. 91). Ebendiese Estelle erinnert sich jedoch an anderer Stelle an ihre "Kommilitonen", die "als Rucksacktouristen bei hinduistischen Gurus ihren Seelenfrieden suchten" (S. 141) - und gibt zu erkennen, dass sie schon damals nichts davon hielt. Dem Leser, der seine Gehirntätigkeit bis zu diesem Punkt noch nicht völlig eingestellt hat, fällt an dieser Stelle unwillkürlich Evas Mutter Regine ein, von deren wiederholten Ashram-Aufenthalten er schon früher erfahren hat. Auch Eva selbst kommt immer mal wieder darauf zurück. "Selbstfindung war nie meine Sache. Meine Mutter sucht sich heute noch. Alles hat sie ausprobiert. Überleben mit Mao [!?], esoterischen Tanz, Tantrasex" (S. 110). - Nur mal so nebenbei: Als auf S. 46 schon einmal Mao im Zusammenhang mit fernöstlicher Spiritualität erwähnt worden war, habe ich das für einen Witz gehalten. Nun fange ich an mich zu fragen, ob die Autorin das ernst meint.

Besonders traumatisch für Eva scheint das Aufkreuzen ihrer Hippiemutter bei der "Kommunion" - gemeint ist die Erstkommunion - "von Evas Erstgeborenem David, die groß gefeiert wurde", gewesen zu sein: "Evas Mutter war fassungslos, dass ihre Tochter eine Familientradition [!!] hochhielt, aus der sie sich mühsam freigekämpft hatte" (S. 94). "Zwischen Regine und der streng katholischen Familie von [Evas Mann] Frido [...] kam es zu unschönen Wortwechseln" - denn Regine hat ein ausgewachsenes "katholisches Kindheitstrauma aufzuarbeiten" und kann es "so gar nicht nachvollziehen, dass die Tochter, die sie zu Weltoffenheit erzogen hatte, ihrem Enkel David so etwas Dogmatisches wie eine Kommunion zumutete" (S. 95).
"Alleine die Beichte [...]. Ich musste mich als Kind sogar für die Sünden entschuldigen, an die ich mich nicht mehr erinnerte. Immer diese Angst. Gott weiß schon, was du zu beichten haben wirst, bevor du etwas getan hast." (ebd.) 
Bloß gut, dass so eine Pilgerreise - wenngleich auch dabei immer mal wieder die Rede vom "Ringen um Sündenerlass" (S. 81) ist - so total undogmatisch ist, heutzutage jedenfalls. "Es gibt so viele Jakobswege und alle führen nach Santiago de Compostela", verkündet Küken Kiki fröhlich (S. 90) - als habe sie momentan vergessen, dass sie und ihre Freundinnen eben gerade nicht dorthin unterwegs sind. Sondern nach Lourdes. Nicht wissen können das natürlich die "spöttisch amüsiert[en] Beobachter am Wegesrand, von denen die Autorin meint: "Vermutlich konnten sie gerade noch nachvollziehen, dass man nach Graceland pilgerte, zur letzten Ruhestätte von Elvis. Aber zum Grab eines Apostels laufen, der seit zweitausend Jahren tot war?" (S. 123) Nur gibt es in Lourdes, anders als in Santiago, eben gar kein Grab eines seit zweitausend Jahren toten Apostels. Die Autorin weiß das natürlich, und mit ihr weiß es auch Caroline, die Kluge unter den fünf Protagonistinnen. Die Marienstatue in einer Mauernische der Auberge Sainte Marie, wo die Dienstagsfrauen übernachten, ist den Schilderungen der Hl. Bernadette Soubirous über die "Dame" nachempfunden, die ihr erschienen ist: "Maria war dargestellt als weiß gekleidete Dame, deren fließendes Kleid mit einem blauen Gürtel festgehalten wurde. Auf jedem Fuß trug sie eine goldene Rose" (S. 85). Diese Statue veranlasst Caroline, darüber zu reflektieren, was sie über die Marienerscheinungen von Lourdes "im Internet nachgelesen" hat:
"Richtig einleuchtend fand Caroline die Geschichte der Bernadette nicht. 'Ich verspreche Ihnen nicht, Sie in dieser Welt glücklich zu machen, wohl aber in der anderen", soll die Erscheinung dem Kind mitgegeben haben. Da war man als Maria natürlich fein raus, denn so etwas entzog sich jeder Nachprüfbarkeit." (ebd.) 
Weiterhin meint Caroline, es sei "ein merkwürdiger Zufall, dass die rätselhafte Erscheinung in Lourdes so gut in das vier Jahre zuvor verabschiedete [!] Dogma von der unbefleckten Empfängnis Marias passte" (S. 86) - räumt allerdings ein, dass sie dieses Dogma "nicht verstand":
"Unbefleckte Empfängnis bezog sich nämlich nicht auf Jesus. Es ging um Maria selbst. In dem Dogma hatte Pius IX. als Glaubensgrundsatz fixiert, dass nicht nur [!?] Jesus das Produkt einer Jungfrauengeburt gewesen sei. Durch einen Akt göttlicher Gnade war auch Maria vom ersten Moment an von der Erbsünde ausgenommen. Auch wenn die Schwangerschaft von Jesu Großmutter Anna ansonsten ganz natürlich war. Caroline runzelte die Stirn: Normaler Geschlechtsverkehr? Und trotzdem eine unbefleckte Empfängnis? Um so etwas zu verstehen, musste man wohl katholisch sein" (ebd.). 
Nun ja, vielleicht. Vielleicht reicht es aber auch schon, nicht wie selbstverständlich davon auszugehen, dass Geschlechtsverkehr Befleckung sei - oder diese Auffassung gar der Kirche zu unterstellen. (Mehr dazu bei Josef Bordat.) - Später am Abend setzt Caroline ihre Reflexionen fort:
"Die Jungfrau Maria belächelte sie milde. Die hatte gut lachen. Dabei war sie es gewesen, die die Menschen aufgerufen hatte, zu der Grotte in Lourdes zu pilgern. 'Sagen Sie den Priestern, dass man in Prozessionen hierherkommen und eine Kapelle bauen soll', hatte Maria der Bernadette bei ihrem dreizehnten Auftauchen mitgeben. Nach der achtzehnten Erscheinung blieb Maria verschwunden und ließ die Menschen mit dem alleine, was sie ihnen eingebrockt hatte" (S. 96f.). 
Unter solchen Voraussetzungen ist es nicht weiter erstaunlich, dass die Marienerscheinungen von Lourdes im weiteren Verlauf des Romans nur mehr für fade Witzeleien gut sind. Als Kiki vom plötzlichen Auftauchen ihres Hals über Kopf verlassenen Lovers Max überrumpelt wird, heißt es "So ähnlich musste die kleine Bernadette sich gefühlt haben, als ihr die Jungfrau Maria erschien" (S. 116); und als Eva sich geneigt zeigt zu glauben, dass das Verhältnis zwischen Kiki und Max rein beruflich sei, spottet Estelle: "Du glaubst sicher auch an die unbefleckte Empfängnis" (S. 119).

Estelle selbst hat allerdings, wie der Leser staunend erfährt auch eine katholische Vergangenheit: Mit zwölf Jahren war sie auf einer "katholischen Mädchenschule" gewesen - wenn auch, aus Gründen, nur drei Monate lang. "Die Liebe von Jesus Christus" - da ist sie wieder, die Genitivschwäche der Autorin! - "zeigt sich in seiner außergewöhnlichen Opferbereitschaft", hatten die "Nonnen" in der Mädchenschule sie gelehrt; aber Opferbereitschaft war schon damals nicht nach Estelles Geschmack, sodass sie sich - mit zwölf Jahren! - weigerte, "ihre Süßigkeiten mit der ganzen Klasse zu teilen" (S. 158).
"Etwas Anderes aber teilte sie gerne. Zu ihren Konditionen: Gegen einen kleinen Obolus gestattete Estelle ihren Mitschülerinnen einen Blick in ganz besondere Bücher. Estelle unterhielt einen lebhaften Verleih mit den schwül erotischen Liebesromanen, die ihre Mutter heimlich las und im Bügelkorb versteckte." (S. 158f.) 
Gähn. - Aber irgendwie war es ja von vornherein klar: Postfeministische Powerfrauen und Pilgern, das passt nicht - und aus dieser Diskrepanz bezieht der Roman das, was Autorin und wohlwollende Rezensenten für seine Komik halten. - Als sie am ersten Tag der Wanderung, erschöpft und hoffnungslos verfranzt, von einem Viehtransporter aufgegabelt werden, sind die Dienstagfrauen zwar durchaus dankbar für diesen "Akt christlicher Nächstenliebe" (S. 81); ein paar Tage später sieht das jedoch schon anders aus, als zwei Feldarbeiterinnen "mit Migrationshintergrund" ihnen "um jeden Preis etwas Gutes tun" wollen: "Sie glaubten offensichtlich, alle Jakobspilger seien mittellos und auf Almosen angewiesen, und ließen es sich nicht nehmen, ihnen wort- und gestenreich ihre Verpflegung aufzudrängen" (S. 151). Für wohlsituierte "Damen aus der große weiten Welt" (S. 85) ist das natürlich eine Zumutung - als hätten sie das nötig! Wo sie sich doch bereits an der "Backstation eines Intermarché-Supermarktes" mit fettigem croque monsieur vollgestopft haben! Aber da hilft nun alles nichts:
"Sofern Caroline den gebrochenen und dialektgefärbten Sprachfetzen etwas entnehmen konnte, lief es darauf hinaus, dass die beiden der tiefen Überzeugung waren, dass Pilgern zu helfen kaum weniger heilsbringend war, als sich selbst auf den Weg zu machen. Gott merkte sich gute Taten. Ob die Pilger tatsächlich erschöpft, hungrig und hilfsbedürftig waren, spielte in der Gedankenwelt der Feldarbeiterinnen eine untergeordnete Rolle" (S. 151). 
Schlimm, sowas. Aber für etwas sind die Arbeiterinnen am Wegesrand dann doch gut: Als Estelle, die mit ihrem schweren Rollkoffer die Nachhut des Pilgerzuges bildet, ihnen ebenfalls begegnet, sieht sie eine günstige Gelegenheit gekommen, ihr Gepäck zu leichtern - und verschenkt, trotz ihres zuvor beschriebenen Mangels an Opferbereitschaft, bereitwillig "Tiegel und Tuben, Cremes und Augenmaske".
"Die Arbeiterinnen bekreuzigten sich. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass der Lohn Gottes sich so unmittelbar materialisierte. Die Botschaft Mariens, Gläubige erst in einer anderen Welt glücklich zu machen, erwies sich an diesem Tag als leere Drohung" (S. 161). 
Dass die frommen Feldarbeiterinnen mit Migrationshintergrund sich über die abgelegten Kosmetika von Luxusweib Estelle freuen wie Eingeborene über die Glasperlen der weißen Eroberer, erscheint mir in ähnlichem Maße von rassistischem bzw. neokolonialistischem Gedankengut angehaucht wie die Erwähnung von Klöstern, die "nur noch [!] von Philippininnen bewohnt werden", auf S. 136; auf jeden Fall aber macht diese Episode unmissverständlich deutlich, dass Katholizismus nur etwas für Doofe ist. - Unmittelbar im Anschluss an diese Szene beendet die Autorin das Kapitel mit einem Cliffhanger, indem sie dem Leser in Aussicht stellt, er werde endlich Näheres über Das Geheimnis von Arne erfahren.

Aber - wollen wir das wirklich wissen?

Nun, man wird sehen.