Wirst du wieder geweckt.
Konfrontiert man die hierüber empörten Mütter mit der Frage, was denn so falsch daran sei, Kindern frühzeitig ein Bewusstsein ihrer eigenen Sterblichkeit zu vermitteln, wird ihnen wohl erst einmal vor Schreck der Mund offen stehen. Dass man jeden Gedanken an den Tod, ja möglichst das Wissen um die bloße
Existenz des Todes so weit und so lange wie möglich von Kindern fernhalten sollte, erscheint ihnen so evident, dass ihnen gar nicht einfiele, das irgendwie zu begründen. Wahrscheinlich kennen sie es aber auch nicht anders, weil sie selbst so erzogen wurden. Der Tod ist eine Art negativer Weihnachtsmann: Es gibt ihn zwar, aber das Kind soll das erst möglichst spät erfahren.
Wenn hierzulande ein Kind zum ersten Mal in seinem Leben mit dem Tod konfrontiert wird, dann dürfte es sich in den meisten Fällen entweder um den Tod älterer Familienangehöriger - etwa der Großeltern - oder aber um den Tod von Haustieren handeln. Aber wie viele Kinder - gerade in Großstädten - haben noch regelmäßigen Kontakt zu ihren Großeltern? Oder umgekehrt, wie viele Senioren sterben heute noch im Kreis ihrer Familie? Gestorben wird heute im Krankenkhaus oder im Pflegeheim, und dahin müssen besorgte Eltern ihre Kinder ja nicht mitnehmen. Und was die Haustiere betrifft: Liegt der Hamster oder der Wellensittich eines Tages tot im Käfig, während das Kind im Kindergarten, in der Schule oder sonstwie außer Haus ist, dann kann ich mir gut vorstellen, dass viele Eltern den kleinen Kadaver stillschweigend entsorgen und dem Kind später weismachen, das Tier wäre davongelaufen oder -geflogen. Das ist für das Kind nicht unbedingt weniger traurig, aber es erspart den Eltern, das heikle Thema Tod ansprechen zu müssen.
Es liegt auf der Hand, dass Erwachsene, die ihren Kindern gegenüber die Existenz des Todes verleugnen, damit ihre eigene Angst vor dem Tod auf die Kinder projizieren, die diese Angst sonst vermutlich gar nicht hätten. Fragt man Erwachsene,
wie sie gern sterben möchten, dann erhält man häufig zur Antwort: Am liebsten möchten sie ganz plötzlich, von einem Moment auf den anderen, tot umfallen. Ohne Vorwarnung mitten aus dem Leben gerissen zu werden, das gilt als guter Tod. Mit anderen Worten: Die Angst vor dem Tod ist so groß, dass die Leute ihm auch dann noch nicht ins Auge sehen wollen, wenn er schon unmittelbar bevorsteht. Sie wollen leben, als ob es keinen Tod gäbe - und das bis zuletzt.
Man muss gar nicht besonders religiös sein, um diese Haltung gegenüber dem Tod - die an das Verhalten kleiner Kinder erinnert, die glauben, wenn sie nur fest genug die Augen schließen, verschwinden die Dinge, vor denen sie Angst haben, von allein - unreif und ein bisschen lächerlich zu finden. Aus christlicher Perspektive kommen jedoch noch allerlei andere Aspekte hinzu. Für den Christen ist der Tod nicht nur ein selbstverständlicher Bestandteil des Lebens, sondern sogar ein ganz zentraler - der Übergang zu einem anderen, einem
ewigen Leben. Daraus folgt nicht automatisch, dass der Christ
mehr oder
weniger Angst vor dem Tod hat als der Nichtchrist - denn einerseits erwartet er, dass er nach dem Tod für sein Tun und Lassen auf Erden
gerichtet wird, andererseits vertraut er auf die Liebe und Barmherzigkeit Gottes -; in jedem Fall aber ist der Tod für den Christen ein allzu bedeutendes Ereignis, als dass er sich nicht darauf sollte
vorbereiten wollen. Berühmt wurden die
letzten Worte des Renaissancefürsten und Papstsohnes
Cesare Borgia: "Ich habe für alles Vorsorge getroffen im Laufe meines Lebens, nur nicht
für den Tod, und jetzt muss ich völlig unvorbereitet sterben." Das
memento mori - die permanente Erinnerung daran, dass der Mensch sterben müsse - war vom Mittelalter bis ins Barock allgegenwärtig; so fanden sich Sinnsprüche, die den Gedanken an den Tod wach halten sollten, häufig auf Sonnenuhren, und so erklären sich auch häufige Abbildungen von Gerippen, Totenschädeln usw. in Kirchen, auf Gemälden, Reliefs und Siegeln. Gerade aus der Tatsache, dass
der Tod gewiss, sein Zeitpunkt jedoch ungewiss ist, ergab sich nach damaligem Verständnis die Notwendigkeit,
jederzeit auf den Tod vorbereitet zu sein. Wie wir gesehen haben, ist diese Auffassung - bedingt vielleicht zum Teil durch eine stark gestiegene statistische Lebenserwartung, mindestens ebensosehr aber durch das Schwinden des Glaubens an ein Leben nach dem Tod - unmodern geworden. Das heißt aber nicht, dass sie deshalb weniger richtig und beherzigenswert wäre. So gesehen kann man es aus christlicher Sicht eigentlich nur begrüßen, wenn Kinder schon frühzeitig, wenn auch behutsam, an eine Auseinandersetzung mit dem Tod herangeführt werden, beispielsweise etwa durch Schlaflieder oder Nachtgebete wie die oben zitierten.
Ein interessantes Erlebnis in diesem Zusammenhang hatte ich am vergangenen Donnerstag in der
St. Antonius-Kirche in Berlin-Friedrichshain. Dort fand eine Messe für Schulanfänger statt, gleichzeitig war es aber eben auch der Gedenktag der
hl. Theresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein), und ich war sehr gespannt, wie Pfarrer Hans-Joachim Birkhahn das unter einen Hut bekommen würde. Tatsächlich gestaltete der Pfarrer dann seine Predigt als eine Art Frage-und-Antwort-Spiel mit den Kindern, und seine erste Frage war, warum er denn wohl heute ein
rotes Gewand trage. Einige der anwesenden Kinder bewiesen für ihr Alter sehr beachtliche Kenntnisse, und so kam Pfarrer Birkhahn ganz zwanglos auf das Thema des
Martyriums und auf die Vita der Heiligen des Tages zu sprechen. Wer gemeint hätte, solche Themen seien Kindern im Schulanfängeralter nicht zuzumuten, wurde hier eindrucksvoll eines Besseren belehrt.
Ein anderes Beispiel: Zu meiner
Erstkommunion vor nunmehr bald dreißig Jahren schenkte meine aus Schlesien stammende Großmutter mir das Buch
Fromme Geschichten für kleine Leute von
Josef Quadflieg (12. Auflage Düsseldorf 1977), das noch heute einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal hat. Viele der 46 Geschichten in diesem Band sind als moralische Beispielerzählungen angelegt, in anderen geht es ganz konkret um die katholische Sakramentenlehre - und in auffallend vielen geht es um den Tod. Gleich die erste Geschichte, "Gemeinschaft der Heiligen", die den Ausflug einer Schulklasse schildert, beginnt damit, dass die Schüler sich zum Beginn ihres Klassenausflugs am Grab eines ehemaligen Mitschülers versammeln. Der Lehrer erklärt:
"Wir sind seit seinem Tod schon oft an sein Grab gekommen, wenn wir dem Harald etwas sagen mußten, was wir auf dem Herzen hatten. Er gehört ja immer noch zu unserer Klasse, wenn er auch nicht mehr in unseren Bänken sitzt. Denn alle Christen, die Lebenden und die Toten, die im Fegefeuer und die im Himmel, sind eine große Familie, die man die Gemeinschaft der Heiligen nennt. Sie helfen einander und bitten füreinander. So hat Harald bei Gott für uns gebetet, als wir ihm vor drei Wochen erzählten, daß en Kind in unserer Klasse zum Dieb geworden war und ein Federmäppchen gestohlen hatte; und vorige Woche, als die Hannelore so schwer krank war. Alles, was wir dem Harald aus unserer Klasse erzählten, hat er dem lieben Gott weitererzählt." (S. 10)
Gegen Ende des Bandes folgt eine Geschichte, von der ich noch sehr wohl weiß, dass sie mich als Kind eher befremdet hat, die ich heute aber als eine der bewegendsten des Buches empfinde; sie trägt den Titel "Lebe täglich sterben". Darin geht es um einen Jungen, der während eines Familienurlaubs ertrinkt und in dessen Hosentasche man den Totengedenkzettel einer gewissen Frau Lindfart findet, der (auf Lateinisch) die Inschrift "Lerne täglich sterben; es ist die Kunst aller Künste!" trägt. Als die Eltern des verunglückten Knaben seinen Leichnam aus dem Leichenschauhaus abholen, sind sie verhältnismäßig gefasst. Angesichts des Totengedenkzettels erklärt der Vater:
"Die Frau Lindfart ist weder die Mutter noch die Großmutter des Kindes. Sie ist gar nicht mit uns verwandt. Der Junge hat den Zettel zufällig mal bekommen, als er in einer Totenmesse war. Es ging ihm nicht um den Zettel oder die tote Frau. Er hatte sich vielmehr den lateinischen Spruch von seinem Pastor übersetzen lassen. Seitdem hat er sich diesen Spruch als seinen Leitspruch überallhin mitgenommen. Er hat versucht, danach zu leben; so zu leben, daß Gott ihn täglich holen dürfte. Wir haben deshalb auch guten Mut und frohe Hoffnung, daß er wohl jetzt, wo wir diesen unglücklichen Ort verlassen, schon im Himmel ist." (S. 140f.)
Dass mir diese Geschichte kürzlich wieder in den Sinn kam, war bedingt durch die
öffentliche Stellungnahme Kardinal Meisners zum aktuellen
Gesetzentwurf zur Sterbehilfe. Darin äußerte der Kölner Erzbischof, "[d]as Christentum habe im Mittelalter den Begriff einer 'ars moriendi',
der 'Kunst des guten Sterbens' noch gekannt, die immer auch eine
Lebenskunst meine: weil sie den Tod nicht verschwiege und verdränge". Dass Kardinal Meisner sich gerade angesichts des Themas Sterbehilfe veranlasst sieht, an die
Sterbekunst zu erinnern, die auch eine
Lebenskunst sei, erscheint mir ausgesprochen bezeichnend: Die Sterbehilfe-Debatte zeigt, dass die Verleugnung des Todes, die Weigerung, sich dem Tod zu stellen und mit ihm auseinanderzusetzen, paradoxerweise gerade dazu führt, den Selbstmord und die Beihilfe zum Selbstmord konsensfähig zu machen. Anders ausgedrückt: Die Ausblendung des Todes beeinträchtigt auch den Respekt vor dem
Leben - dem eigenen wie auch dem der Mitmenschen. Das entbehrt, wenn man einmal darüber nachdenkt, nicht einer gewissen Folgerichtigkeit: Die Unausweichlichkeit des Todes beinhaltet die ultimative Mahnung daran, dass das Leben nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen liegt. Aus dem verzweifelten Versuch, diese Wahrheit zu leugnen, resultiert die Absicht, auch den Tod, wenn man ihm schon nicht entgehen kann, wenigstens selbst in die Hand zu nehmen. Für Christen ist dieses Streben des Menschen nach völliger Autonomie in Fragen des Lebens und des Todes (das, wie nur am Rande angemerkt sei, neben dem Thema Sterbehilfe auch das Thema
Abtreibung betrifft) unannehmbar, und nicht zuletzt deshalb tun Christen gut daran, an dem so unpopulär gewordenen
memento mori festzuhalten. Auch und gerade in der Kindererziehung.