Interessant an den diversen Spekulationen über den zu erwartenden Wahlausgang war Verschiedenes - neben der Tatsache, dass sie sich allesamt als falsch herausstellten. Dass man nicht allzu viel auf solche Voraussagen geben konnte, zeigte sich ja schon daran, wie widersprüchlich die verschiedenen Einschätzungen waren - nicht nur hinsichtlich der Namen, die genannt wurden, sondern auch hinsichtlich der Kriterien für die Wahl eines neuen Papstes: Italiener oder Nichtitaliener sollte er sein, jung oder alt, aus der Kurie oder nicht aus der Kurie, dem Vorgänger möglichst ähnlich oder möglichst unähnlich. Selbst da, wo dieselben "Kandidaten" favorisiert wurden - kurz vor Beginn des Konklaves hatten sich die meisten Medien offenbar auf die Kardinäle Scola (Mailand) und Scherer (Sao Paulo) als Topfavoriten geeinigt -, herrschte heillose Unklarheit darüber, wofür diese Kandidaten eigentlich stehen bzw. was jeweils für oder gegen ihre Wahl sprach. Den einen galt Scola als der in Kontinuität zu Benedikt XVI. stehende Konservative und Scherer als der moderate Erneuerer, die anderen urteilten, Scherer sei der Kandidat der Kurie und Scola der Favorit jener Kardinäle, die eine Reform (oder auch "Entmachtung") der Kurie anstrebten. Den Gipfel der Hilflosigkeit markierte ein Artikel - Quelle kann ich hier nicht angeben, habe ich vergessen -, in dem Kardinal Scola als "konservativ und volksnah", Kardinal Scherer dagegen (!) als "konservativ, aber auch weltoffen" beschrieben wurde. Vielleicht liegt's an mir, aber der diametrale Gegensatz zwischen Volksnähe und Weltoffenheit erschließt sich mir nicht ganz.
Bemerkenswert war auch, wie unterschiedliche Erwartungen an den neuen Papst aus Stellungnahmen aus Deutschland und aus dem Rest der Welt sprachen, wenn es etwa um notwendige Refomen in der Kirche ging. In der deutschen Öffentlichkeit scheint man bei diesem Stichwort in erster Linie an die Klassiker "Zölibat, Frauenpriestertum, Haltung zu Verhütung, Abtreibung, Homosexualität, Ehescheidung" zu denken, während in der internationalen Presse eher an strukturelle und/oder personelle Veränderungen in der Kurie gedacht wurde. Welche dieser Auffassungen mich mehr langweilt, dürfte auf der Hand liegen, aber wenn die letztere Einschätzung dahingehend zugespitzt wird, dass die letzten drei bis vier Päpste von mafiösen Seilschaften in der Kurie am Gängelband gehalten worden seien, dann wird mir auch das zu bunt - ist es etwa nicht der jeweilige Papst selbst, der die Ämter in der Kurie vergibt?
Wie dem auch sei: Nachdem schon während des Vorkonklaves meine gespannte Erwartung praktisch von Stunde zu Stunde angewachsen war, war bei mir ab Dienstag früh "Extreme-Konklave-Mitfiebering" angesagt. Obwohl der Einzug in die Sixtinische Kapelle ja erst am Nachmittag anstand und im ersten Wahlgang ohnehin noch nicht ernsthaft mit einer Entscheidung zu rechnen war, stand ich extra früh auf, um mich frühzeitig "in Stimmung zu bringen" - und verbrachte den Tag so zu sagen mit dem Mobilgerät in der einen und dem Rosenkranz in der anderen Hand. Es war eine verblüffende Erfahrung für mich, was für ein intensives Gemeinschaftsgefühl mit Menschen, die ich zum größten Teil nur "virtuell" kenne, dadurch erzeugt wurde - und das setzte sich am Mittwoch natürlich fort bzw. intensivierte sich noch. Besonders - so albern das vielleicht klingt - als sich am Nachmittag diese
Möwe am Schornstein der Sixtinischen Kapelle niederließ. Was diese Möwe allein auf
Twitter an launigen Kommentaren und wohl überwiegend nicht ganz ernst gemeinter Zeichendeuterei auslöste, spottet jeder Beschreibung - binnen Kurzem hatte die Möwe ihren
eigenen Twitter-Account, und findige Twitterer gingen rasch sämtliche Kardinalswappen durch, um zu überprüfen, wer da alles einen irgendwie möwenähnlichen Vogel im Wappen trägt. Bei all diesen Späßen war es aber nicht zu verkennen, dass eine enorme Spannung in der Luft lag: Auch wenn man nun nicht
unbedingt der Meinung sein muss, der Heilige Geist habe sich hier ausnahmsweise mal in Gestalt einer Möwe statt einer Taube materialisiert, war das Gefühl, dass gerade etwas
passiert - etwas
Wesentliches -, mit Händen zu greifen. Und dann stand der fünfte und letzte Wahlgang des Mittwochs an. Obwohl ich noch kurz zuvor überzeugt gewesen war, das Konklave würde sich noch länger hinziehen, hatte ich die geradezu unheimlich intensive Ahnung:
Jetzt fällt eine Entscheidung. Ich rang mit mir, ob ich den Rauch abwarten oder, wie eigentlich geplant, in die Abendmesse gehen solle, entschied mich dann aber für Letzteres. Da es nach dem dritten Wahlgang ja früher als erwartet schwarzen Rauch gegeben hatte, dachte ich noch, vielleicht geht's diesmal ja auch wieder so schnell, und trödelte auf dem Weg zur Kirche ein wenig, weil ich alle soundsoviel Schritte "mal kurz" auf mein Mobilgerät schauen "musste". Jedoch: nada. Nun war mir klar, dass es völlig inakzeptabel gewesen wäre, die Messe mit dem Mobilgerät in der Hand mitzufeiern, aber ich legte es - lautlos geschaltet - neben mir auf die Bank. Und als ich unmittelbar nach den Fürbitten einen raschen Blick darauf warf, las ich es:
"Weißer Rauch!"
Ich kann gar nicht mit Worten beschreiben, in was für eine Erregung mich das versetzte. Am liebsten wäre ich sofort auf den Pfarrer zugegangen und hätte ihn ersucht, im Hochgebet für den neuen Papst zu beten, auch wenn dessen Name noch nicht bekannt sei. Ich ließ es dann aber sein und wartete das Ende der Messe ab, ehe ich dem Pfarrer und der Gemeinde die große Neuigkeit mitteilte. Und dann beeilte ich mich, einen Computerbildschirm zu erreichen, um mir den ersten Auftritt des neuen Papstes anzusehen (Livestream kann mein Mobilgerät nicht).
Ich kam noch rechtzeitig. Als Kardinalprotodiakon Tauran den (latinisierten) Vornamen des gewählten Kardinals nannte, hatte ich keine Ahnung, wer das sein sollte. Jedenfalls keiner von den überall genannten Favoriten, keiner meiner persönlichen Lieblingskardinäle, auch keiner von meiner "lieber-nicht-Liste" (ja, ich muss es gestehen, auch eine solche hatte ich). Als dann, eine gefühlte Ewigkeit später, der Nachname genannt wurde, war ich extrem verblüfft - aber das ging in diesem Moment wohl annähernd der ganzen Welt so. Und die Verblüffung wuchs bei der Nennung des Papstnamens:
Franziskus.
Binnen Kurzem wich meine Verblüffung einer unbändigen Freude. Dass in so vergleichsweise wenigen Wahlgängen ein Papst gewählt worden wurde, den so gut wie keiner der "Experten" auf der Rechnung gehabt hatte, sah ich als ermutigendes Zeichen, dass all jene, die im Konklave eine rein politische Wahl oder gar ein von ganz diesseitigen Machtinteressen gelenktes Intrigenspiel sehen wollten, falsch gelegen hatten und dass hier ganz unmittelbar der Heilige Geist gewirkt hatte. Erzsympathisch war mir Papst Franziskus auf den ersten Blick obendrein. Für den Rest des Abends war ich in ausgezeichneter Stimmung.
Am nächsten Tag kam ich trotz weiteren Festhaltens am Medienfasten nicht umhin, die ersten Reaktionen auf das Wahlergebnis zumindest ausschnittsweise wahrzunehmen. Viel Freude über den neuen Papst, aber auch schon erste zum Teil scharfe Kritik. Auf unschöne Weise bezeichnend fand ich es, dass im rasch von "Jorge Mario Bergoglio" zu "Franziskus (Papst)" umbenannten
deutschsprachigen Wikipedia-Artikel die Abschnitte über seine Positionen zur Sexualmoral (hätte da ein schlichtes "bekennt sich zur Lehre der Katholischen Kirche" nicht genügt bzw. wäre streng genommen selbst dies überflüssig gewesen?) und vor allem über sein Verhalten während der Militärdiktatur in Argentinien buchstäblich über Nacht erheblich ausgebaut worden waren. Negative Urteile über Papst Franziskus wurden aber auch auf ganz anderer Seite laut, nämlich bei einem Teil der konservativen bzw. traditionalistischen Katholiken. Dass der neue Pontifex in schlichter weißer Soutane, ohne Mozetta, auf die Loggia getreten war; dass er sich die Stola nur zur Erteilung des Apostolischen Segens von Zeremonienmeister Marini umhängen ließ und danach sofort wieder abnahm; dass er keine roten Schuhe trug; dass er einen
noch nie dagewesenen Papstnamen gewählt hatte; dass er zusammen mit den Kardinälen im Bus zurück in seine Unterkunft fuhr, statt die bereit stehende Dienstlimousine zu nutzen; dass er tags darauf persönlich sein Gepäck aus dem Hotel abholte und die Rechnung aus eigener Tasche bezahlte -
all das erschien einigen Beobachtern als eklatante Entwürdigung des Papstamtes. Bedenklich erschien es Manchen auch, dass Franziskus sich in seiner ersten Ansprache ausdrücklich als "Bischof der Diözese Rom" bezeichnete - wollte bzw. will er womöglich gar kein Papst in dem Sinne sein, wie es seine Vorgänger waren?
Es fällt auf, dass dies just dieselben Punkte sind, die den neuen Papst großen Teilen der Weltöffentlichkeit gerade sympathisch machen. Insbesondere scheinen "liberale Katholiken", denen Papst Benedikt XVI. von jeher zu konservativ und traditionsaffin gewesen war, in Papst Franziskus einen Hoffnungsträger zu sehen. Ich kann nicht verhehlen, dass beide Reaktionen mich irritieren. Auf der einen Seite: Dass Papst Franziskus in seinen ersten Auftritten einen erheblich anderen persönlichen Stil pflegt als sein(e) Vorgänger - was durchaus auch auf ein anderes Amtsverständnis schließen lassen
kann (aber vielleicht nicht
muss; darauf komme ich noch zurück), ist natürlich gewöhnungsbedürftig, besonders für ausgesprochene Verehrer Benedikts XVI., zu denen, siehe
hier, auch ich mich zähle. Aber sollte man von gläubigen Katholiken, die bisher großen Wert auf ihre
Papsttreue gelegt haben, nicht erwarten, dass sie diese Treue auch dem
neuen Papst zuteil werden lassen - und dass sie darauf vertrauen, dass der Heilige Geist die Kardinäle in ihrer Wahlentscheidung recht geleitet hat? Oder erwägen einige Traditionalisten nun doch, dass an der im Vorfeld des Konklaves kolportierten obskuren Privatoffenbarung, derzufolge der Nachfolger Benedikts XVI.
der mit dem Antichrist im Bunde stehende falsche Prophet der Apokalypse sein werde, etwas dran sein könnte? - Auf der anderen Seite: Was sagt es über das Verhältnis "liberaler Katholiken" zu ihrer Kirche aus, wenn sie lautstark darauf hoffen, dass der neue Papst möglichst alles ganz, ganz anders machen werde als seine Vorgänger?
Ich bin gewiss nicht der einzige, der sich in den wenigen Tagen seit dem Amtsantritt Papst Franziskus' zuweilen an den Film
In den Schuhen des Fischers (1968) erinnert gefühlt hat, in dem Anthony Quinn einen unkonventionellen und radikalreformerischen Papst spielt. So einige der oben angesprochenen Gesten des neuen Papstes, die so kontrovers aufgenommen wurden, könnten direkt aus diesem Film stammen (womit ich Franziskus keinesfalls unterstellen will, er orientiere sich
tatsächlich an diesem Vorbild). Der Film endet damit, dass Papst Kyrill verkündet, den gesamten Besitz der Kirche an die Armen der Welt zu verschenken. Mir scheint, manche enthusiastischen Anhänger des neuen Papstes erwarten praktisch stündlich von Franziskus, dass er dasselbe tut. Stellt nicht schon seine Namenswahl ein klares Bekenntnis zur Armut dar, hat er nicht in seiner ersten Audienz von seinem Ideal einer "armen Kirche" gesprochen?
Nun, wir werden ja sehen, was er tut, wie er sich eine "arme Kirche" konkret vorstellt und wie er diese Vorstellung zu verwirklichen gedenkt. Ich für meinen Teil möchte zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls nicht ausschließen, dass jene, die in Franziskus einen Hoffnungsträger der Liberalen sehen, sich auch ganz erheblich irren könnten. Seine persönliche Bescheidenheit, sein demütiges und zugleich jovial-herzliches Auftreten lassen noch nicht zwingend darauf schließen, dass er, wie ich gestern in einem
"Experten"-Interview las, ein "nicht-machthaberischer" Papst sein wird, der sein Amt eher als "primus inter pares" der Bischöfe denn als alleiniges Oberhaupt der Weltkirche ausübt. Gerade aus den überraschenden Akzenten, die er bei seinen ersten Auftritten gesetzt hat, spricht schließlich nicht nur Demut und Bescheidenheit, sondern zugleich auch eine große Entschlossenheit und Durchsetzungskraft. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Zeitspanne vom weißen Rauch bis zum Auftritt auf der Loggia u.a. auch deshalb so lang war, weil Zeremonienmeister Marini ihn beharrlich zum Anlegen der Mozetta bewegen wollte und er dies ebenso beharrlich ablehnte. Am Ende setzte er sich durch. Genauso kann ich mir auch in Zukunft Situationen vorstellen, die, salopp ausgedrückt, in etwa so ablaufen:
"Das kannst du doch nicht machen!" -
"Doch, das kann ich. Ich bin
Papst!"
Um welche Entscheidungen es da gehen wird, bleibt, wie gesagt, abzuwarten. Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass er zumindest in Teilaspekten eine weit konservativere Agenda hat, als die Liberalen unter seinen Verehrern hoffen und die Traditionalisten unter seinen Kritikern befürchten. Sieht man sich seine ersten als Papst gehaltenen Predigten und Ansprachen an, dann sieht man: Er spricht von Neuevangelisierung, von Entweltlichung - beides Anliegen, die auch Benedikt XVI. wichtig waren! -, vom Bekenntnis zum Kreuz, und er warnt in starken Worten vor dem
Teufel - von dessen tatsächlicher, nicht nur sprichwörtlicher Existenz heute doch kaum noch jemand sprechen zu mögen scheint. Dass er für sich persönlich offenbar keinen großen Wert auf Zeremoniell, Prunk und Pomp legt, mag man aus ästhetischer Sicht oder auch aus fundamentaleren Gründen (Würde des Amtes etc.) bedauern, aber die Welt - oder die Katholische Kirche - geht davon gewiss nicht unter.
Papst Franziskus hat bereits bei seinem allerersten Auftritt darum gebeten, dass man für ihn beten möge, und diese Bitte seitdem mehrfach wiederholt. Ich denke, genau das sollten wir tun - und darauf vertrauen, dass der Heilige Geist ihn in seiner Amtsführung lenken und leiten wird. Auf Überraschungen sollten wir uns dabei auf jeden Fall gefasst machen. Und daran denken, dass Überraschungen deshalb Überraschungen heißen, weil sie etas Anderes sind als das, was man erwartet...