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Freitag, 31. August 2018

Es geht nicht nur um "Wer wusste was wann?"

Vorigen Samstag war ich auf einer Hochzeitsfeier -- einer nicht-kirchlichen, nebenbei bemerkt. Es handelte sich um die Hochzeit der Tochter eines alten Freundes, der seinerseits auch bei meiner Hochzeit zu Gast gewesen ist. Er ist Atheist und Marxist, aber durchaus interessiert an religiösen und kirchenpolitischen Themen, und so haben wir schon oft ausufernde Diskussionen miteinander geführt. So konnte es nicht ausbleiben, dass wir am Rande der Hochzeitsfeier seiner Tochter auch über den aktuellen Missbrauchs- und Vertuschungsskandal in der katholischen Kirche sprachen. Im Zuge dieser Diskussion äußerte ich, gegen die Netzwerke innerhalb der kirchlichen Hierarchie, die sexuelle Missbräuche und deren Vertuschung ermöglichen bzw. begünstigen, könne "der Papst nicht effektiv vorgehen, weil er da selbst zu tief mit drin steckt". 

Diese Aussage sorgte bei meinem Gesprächspartner für hochgezogene Augenbrauen, und ich war mir selbst nicht ganz sicher, ob die Formulierung nicht etwas zu überspitzt gewesen war. 

Am nächsten Morgen las ich die ersten Berichte über das sogenannte "Viganò Testimony", in dem der ehemalige Apostolische Nuntius in den USA und frühere Generalsekretär des Governatorats der Vatikanstadt Carlo Maria Viganò Papst Franziskus vorwirft, mindestens seit 2013 von den Missbrauchsanschuldigungen gegen den emeritierten Erzbischof von Washington, D.C., Theodore E. McCarrick, gewusst zu haben und nicht nur nichts gegen McCarrick unternommen, sondern dessen Einfluss im Vatikan und im US-Episkopat sogar noch gefördert zu haben. 

Bin ich Hellseher? Nö. Ich erwähne meine Äußerung auf der besagten Hochzeitsfeier auch nicht, um mich selbst dafür zu loben, dass ich so schlau oder so wahnsinnig gut informiert bin. Aber diese Anekdote mag vielleicht als Beleg dafür dienen, dass ich ein bisschen was von dem verstehe, worüber ich hier rede. 

Wenn ich mich in dieser Angelegenheit leidlich gut informiert fühle, dann verdanke ich das in erster Linie dem Blog meines Freundes Rod Dreher. Rod berichtet schon seit Ende Juni regelmäßig und ausführlich über den Fall McCarrick -- und daneben auch immer wieder über andere Fälle von systematisch vertuschtem Missbrauch, von "homosexuellen Subkulturen" in Priesterseminaren und dergleichen mehr. Ich lese das nicht alles; es ist einfach zu viel und zum Teil obendrein emotional ziemlich belastend. Aber aus dem, was ich über den Fall McCarrick gelesen habe, habe ich beispielsweise gelernt: 

  • Wesentliche Teile der Anschuldigungen gegen den Ex-Kardinal - etwa, dass er ein Strandhaus unterhielt, in das er regelmäßig Seminaristen einlud, um sie dann zum Sex zu nötigen - waren schon lange ein offenes Geheimnis. Und mit "lange" meine ich: Rod selbst gibt an, bereits im Zuge seiner Recherchen zum Missbrauchsskandal des Jahres 2002 davon erfahren zu haben. Damals habe aber niemand mit diesen Informationen an die Öffentlichkeit gehen wollen, da McCarrick zu einflussreich und gut vernetzt gewesen sei. 
  • Diverse einflussreiche Figuren in der Kurie und im Episkopat der USA verdanken ihre Karriere zu einem wesentlichen Teil der Protektion McCarricks; insbesondere gilt der 2016 von Papst Franziskus zum Präfekten des neugeschaffenen Dikasteriums für Laien, Familie und Leben und zum Kardinal ernannte Kevin Farrell geradezu als Ziehsohn McCarricks. 

Nachdem ich das gelesen hatte, war mir im Grunde klar, dass ein konsequentes Verfolgen der Spuren von McCarricks Netzwerk - und sei es nur in Form der unvermeidlichen "Wer wusste was wann"-Fragen - früher oder später beim Papst persönlich ankommen musste. Deswegen hat mich das "Viganò Testimony" nicht sonderlich überrascht -- was freilich auch bedeutet, dass die Frage, ob und inwieweit die Angaben, die Erzbischof Viganò in seinem Schreiben macht, en detail bewiesen oder widerlegt werden können, für meine Einschätzung der Gesamtsituation keinen so riesigen Unterschied macht. 

Klingt das schockierend, Leser? Keine Bange, ich erläutere es gleich. 

Hans Holbein d.J. (ca. 1497-1543): Totentanz. (gemeinfrei)

Dass McCarrick, der als Erzbischof von Washington seit 2006 emeritiert war, während des Pontifikats Benedikts XVI. weitgehend marginalisiert war, dann aber unter Papst Franziskus zu mehr Einfluss und Ansehen gelangte als je zuvor: Für diese Information braucht es kein "Viganò Testimony". Das kann man beispielsweise einem bereits 2014 sowohl in der "Washington Post" als auch im ausgeprägt liberal-katholischen "National Catholic Reporter" erschienenen Artikel entnehmen, der dem damals in der Öffentlichkeit noch unbescholtenen McCarrick gegenüber übrigens ausgesprochen wohlwollend ist. Diesem Artikel kann man sogar entnehmen, dass Franziskus mit McCarrick nachgerade befreundet war, und zwar schon lange bevor er Papst wurde. 

Dass Franziskus nie etwas von den Missbrauchsanschuldigungen gegen seinen Freund McCarrick gehört haben sollte, erscheint - völlig unabhängig davon, für wie glaubwürdig oder unglaubwürdig man das "Viganò Testimony" hält - nahezu undenkbar. Was man mit dem größtmöglichen Wohlwollend gegenüber dem Papst gerade noch annehmen könnte, wäre: 

Er hat von den Anschuldigungen gewusst, hat ihnen aber keinen Glauben geschenkt. 

Das wäre, wie wir heute wissen, ein schwerer Fehler gewesen, aber doch ein menschlicher und entschuldbarer. Die Erfahrung zeigt, dass Sexualstraftäter - auch solche, deren Taten man als ausgesprochen monströs bezeichnen muss - nicht selten Menschen sind, denen selbst ihr engstes Umfeld, und gerade dieses, solche Taten niemals zutrauen würde. Vielleicht war Franziskus gerade infolge seiner persönlichen Freundschaft zu McCarrick voreingenommen, war so überzeugt davon, dass der emeritierte Erzbischof von Washington ein "Guter" sei, dass er alle Vorwürfe gegen ihn nur für Verleumdung halten konnte. 

Das Problem ist, der Papst verhält sich in dieser Angelegenheit nicht wie jemand, der sich eines Fehlers bewusst ist und ihn nach Möglichkeit wiedergutmachen will. Er hat zwar disziplinarische Sanktionen über McCarrick verhängt, ihn aus dem Kardinalsstand entlassen, aber an einer weitergehenden Aufklärung, auch hinsichtlich des Netzwerks an Mitwissern und eventuellen Mittätern, mit dem der Ex-Kardinal sich über Jahrzehnte umgeben hatte, scheint er nicht interessiert. Eher im Gegenteil. Nur ein paar Beispiele: McCarricks Nachfolger in Washington, Donald Kardinal Wuerl, steht im dringenden Verdacht, seinen Vorgänger jahrelang gedeckt zu haben und ihn auch jetzt noch vor der Presse zu schützen; damit nicht genug, wird ihm auch aus seiner Zeit als Bischof von Pittsburgh (1988-2006) die Vertuschung diverser Missbrauchsfälle vorgeworfen. Kardinal Wuerl hat aus Altersgründen bereits 2015 beim Papst seinen Rücktritt eingereicht, aber der hält selbst jetzt noch an ihm fest. Und den mutmaßlich auf Empfehlung McCarricks zum Erzbischof von Newark (einer seiner früheren Diözesen) und nur wenig später zum Kardinal ernannten Joseph Tobin, der sich zudem durch einen offenbar als Privatnachricht gedachten, aber versehentlich öffentlich gesendeten Tweet zweideutigen Inhalts kompromittiert hat, hat Papst Franziskus gerade erst für die kommende Jugendsynode nachnominiert

Derweil reißen sich die eingefleischten Anhänger des Papstes eineinhalb Beine und ein Auge aus, um seine Kritiker zu diskreditieren, anstatt sich mal inhaltlich mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen. Ich sag mal: Das sieht alles nicht sehr vertrauenerweckend aus... 


Donnerstag, 23. August 2018

Der Tagesspiegel und die evangelikale Invasion

Halleluja, Brüder (und Schwestern): Wovon man keine Ahnung hat, darüber kann man trotzdem umfangreiche Reportagen für den Berliner Tagesspiegel schreiben. Zumindest wenn es sich um so abseitige Themen wie Religion handelt, denn da fällt es der angepeilten Zielgruppe ja nicht weiter auf. Jüngster Beweis hierfür ist ein am 14. August erschienener Beitrag aus der Feder von Julia Kopatzki mit der Überschrift "Jesu junge Jünger - Wie die Evangelikalen Berlin erobern". Jawohl, erobern. Nehmt dies, ihr gottlosen Berliner. Wenn demnächst ein großes Kreuz auf der Kuppel des Fernsehturms prangt, sagt nicht, der Tagesspiegel hätte euch nicht gewarnt. 


(Bild von "Tobi85", Bildquelle und Lizenz hier.)
Freunde, ich wohne in Berlin - zwar eher am Stadtrand, aber hin und wieder komme ich schon auch mal ein bisschen innerhalb der Stadt rum -, und ich kann euch versichern, Anzeichen für eine dramatisch durchschlagende Christianisierung der Spreemetropole sind nicht zu entdecken. Dennoch: Allein die Tatsache, dass es in Berlin christliche Glaubensgemeinschaften gibt, die wachsen, ist für den Tagesspiegel reportagewürdig. 
"Bisher kannte man evangelikale Kirchen vor allem aus ohnehin christlichen Bundesländern wie Bayern und Baden-Württemberg, wo neue Ausprägungen des Glaubens nicht weiter überraschen. Berlin hingegen hat den Ruf, ein gottloser Ort zu sein, die Menschen treten aus den Kirchen aus, nicht ein – eigentlich." 
Also hat die renommierte Berliner Tageszeitung die Jungjournalistin Julia Kopatzki - eine Art Valerie in dunkelhaarig, die u.a. auch für bento schreibt - losgeschickt, um in dieser Szene zu recherchieren.  Der Valerie-Methode scheint es übrigens zu entsprechen, möglichst nichts zu recherchieren, bevor man sich zu den Objekten der Reportage auf den Weg macht. Um sich den "fremden Blick" auf den Reportagegegenstand zu bewahren. So schreibt die junge Dame also über "Evangelikale", ohne sich recht im Klaren darüber zu sein, was dieser Begriff eigentlich bezeichnet. Sie meint, es mit "einer relativ neuen christlichen Bewegung im Protestantismus" zu tun zu haben; na sicher, das 18. Jahrhundert war ja praktisch vorgestern. -- Ich gebe an dieser Stelle gern zu, dass meine Kenntnisse über die Geschichte der evangelikalen Bewegung weder besonders umfangreich noch besonders detailliert sind, aber wenn ich über das Thema schreiben sollte - professionell -, dann würde ich doch erst mal ein paar Grundbegriffe nachschlagen. Und mich beispielsweise ein bisschen über das Great Awakening belesen. Nicht so Julia Kopatzki. Sie operiert lieber mit einer Arbeitsdefinition, die ich in meinen eigenen Worten etwa so umschreiben würde: 'Evangelikal' sind Christen, die sich in kleinen, aber stark wachstumsorientierten Gemeinden ohne staatskirchenrechtlichen Körperschaftsstatus organisieren und deren Gottesdienste nicht so aussehen, wie man es aus den Großkirchen kennt, sondern eher nach Disco u./o. Rockkonzert. Wobei das wahrscheinlich noch nicht mal eine Arbeitsdefinition a priori war, sondern einfach das, was sie im Laufe ihrer Vor-Ort-Recherche zu sehen bekommen hat.

In ihrer Reportage stellt sie drei boomende Gemeindegründungen in Berlin vor: Hillsong Berlin, die ihre Gottesdienste im Kino in der Kulturbrauerei feiern (in einem "Saal mit 450 Plätzen", und das "drei Mal am Sonntag"); Saddleback Berlin, deren Gottesdienste in der Kalkscheune stattfinden, und die ICF Friedrichshain. Es fällt auf, dass es sich bei allen drei Fallbeispielen um "Ableger" internationaler Megachurches handelt:
  • "Hillsong Berlin, die bis Juli noch Berlin Connect hießen, gehören zur Hillsong Church aus Australien. Eine sogenannte Megakirche, deren Gottesdienste allein in Australien mehr als 40 000 Menschen besuchen, weltweit sind es gut 100 000. Vier Ableger gibt es in Deutschland, seit 2008 hält die Berliner Gemeinde Gottesdienste ab." 
  • "Saddleback Berlin hat vor allem aus den USA gelernt, wie man eine Kirche groß macht. Die Gemeinde ist, wenn man so will, eine Franchise-Kirche der kalifornischen Saddleback Church, einer weiteren Megakirche. Mehr als 20 000 Menschen kommen wöchentlich zu einem der 15 Gottesdienste in Kalifornien. […] Neben Kalifornien gibt es vier internationale Ableger: In Buenos Aires, Hong Kong, Manila – und seit Oktober 2013 auch in Berlin." 
  • Und ICF Friedrichshain schließlich ist ein "Ableger der ICF-Kirche aus Zürich, die 15 000 Menschen in ihre Gottesdienste zieht". 
Dieses "Franchise"-Prinzip - die Freikirche als "Marke", die sich von anderen, ähnlichen Angeboten nicht so sehr hinsichtlich ihrer Positionen zu bestimmten Glaubensfragen unterscheidet, sondern vielmehr durch ein bestimmtes Image, einen bestimmten Stil und eine spezifische Zielgruppenorientierung ("Während Hillsong die jungen Wilden anspricht, richtet sich Saddleback eher an Familien: der Großteil der Mitglieder ist über 30, verheiratet, hat Kinder. In der freikirchlichen Szene heißt es, Saddleback richte sich an 'High Professionals' – Menschen, die auf der Karriereleiter sehr weit oben stehen"), könnte man kritisch sehen, aber anscheinend versteht Julia Kopatzki einfach zu wenig von der Materie, um auch nur auf die Idee zu kommen, dass es auch anders sein könnte.  Zumal sie als Vergleichsgröße nur die Evangelische Landeskirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (EKBO) zur Verfügung hat, und die ist als Alternative nun mal nicht sonderlich attraktiv -- darauf komme ich noch zurück. Jedenfalls spöttelt Fräulein Kopatzki zwar ein bisschen über das Prinzip 'Religion als Start-Up', aber im Ganzen ist ihr die Vorstellung fremd, dass eine Gemeindegründung etwas anderes sein könnte als ein Geschäftsmodell. Als Beleg hierfür mag es dienen, wie sie sich und ihren Lesern das ausgeprägte Wachstumsstreben evangelikaler Gemeinden zu erklären versucht:
"Warum wollen die Gemeinden nicht einfach klein und beschaulich bleiben? Anders als die Landeskirchen werden Freikirchen nicht durch Steuergelder finanziert, sondern über freiwillige Spenden ihrer Mitglieder. Jeder Neuzugang ist auch immer die Aussicht auf mehr Geld für die Gemeinde." 
Klar, worum sollte es auch sonst gehen? Im Umkehrschluss meint Julia Kopatzki, "die Landeskirchen" seien "nicht darauf angewiesen, dass jemand bei ihnen Mitglied wird". Na gut, bei der EKBO könnte man wirklich diesen Eindruck haben. Aber wie gesagt, darauf komme ich noch.

Auch in anderer Hinsicht macht es sich bemerkbar, dass eine etwas größere Vertrautheit der Verfasserin mit dem Phänomen Religion und insbesondere mit dem christlichen Glauben gerade für eine kritische Auseinandersetzung mit den wachsenden Freikirchen hilfreich gewesen wäre. So bemerkt Julia Kopatzki etwa:
"Die Bibel wird bei den Evangelikalen alltagsnah, fast schon profan. Es geht nicht um die großen Fragen, um Himmel und Hölle, Sünde und Vergebung, sondern darum, wie man es schafft, eine gesunde Beziehung zu führen, oder wie man weniger ausgelaugt durch den Tag kommt. Die Antwort: durch eine Beziehung zu Jesus." 
Den Begriff "profan" benutzt sie hier vermutlich eher im alltagssprachlichen, nicht im spezifisch religiösen Sinne; aber davon mal abgesehen: An der hier beschriebenen Glaubensauffassung gäbe es allerlei kritisch zu betrachten, so beispielsweise den individualistischen und letztlich auf eine verschrobene Art sogar hedonistischen Ansatz, die quasi-therapeutische Verengung, fast möchte man sagen: Verzweckung des Glaubens im Dienste des persönlichen Wohlergehens, garniert mit mehr als nur einer Prise prosperity gospel. Das alles findet Julia Kopatzki zwar erkennbar irgendwie skurril, aber man hat nicht den Eindruck, dass sie das ernsthaft kritisieren möchte. Wahrscheinlich, weil sie - wie gesagt - keine klare Vorstellung davon hat, dass es auch anders sein könnte. An anderer Stelle zitiert sie die Leitstelle für Sektenfragen in Berlin mit der Einschätzung, in manchen evangelikalen Gruppen würden "Gläubige psychisch belastet, wenn vermittelt wird, Armut, Misserfolg, Krankheit und Leid würden in Verbindung stehen mit einer dämonischen Besessenheit, mangelndem Glauben oder Homosexualität"; aber dass das bloß die logische Kehrseite des weiter oben skizzierten Glaubensverständnisses dieser Gemeinden ist, sieht sie anscheinend nicht, sonst hätte sie wohl kaum darauf verzichtet, darauf hinzuweisen.

Was die Autorin an den von ihr beschriebenen Gemeinden hingegen wirklich entschieden kritisiert, ist, dass sie eben christliche Glaubensgemeinschaften sind. Dass das das eigentlich Problematische an ihnen sei, sagt sie ganz explizit: "Modern, hilfsbereit, alltagsnah muten die Evangelikalen an, man vergisst fast, was sie alle zusammenhält: der christliche Glaube." Und was Julia Kopatzki an diesem auszusetzen hat, verrät sie uns sogleich: "Abtreibung: Sünde. Homosexualität: Sünde. Sex vor der Ehe: Sünde. Scheidung: Sünde. Positionen, die weder in das 21. Jahrhundert passen, noch zu einer Stadt wie Berlin".

Nun ja: Die Annahme, bestimmte Überzeugungen seien schon allein deshalb abzulehnen, weil sie angeblich nicht "in das 21. Jahrhundert passen", ist zweifellos eine der dümmsten in der Geschichte der Menschheit - dicht gefolgt von der Annahme, bestimmte Überzeugungen passten nicht ins 20. Jahrhundert, und dazu hat G.K. Chesterton schon ziemlich zu Beginn jenes Jahrhunderts alles Nötige gesagt:
"Genausogut könnte man sagen, eine bestimmte Ansicht sei am Montag vertretbar, am Dienstag dagegen nicht. Ebensogut könnte man von einer bestimmten These über die Welt sagen, sie sei um halb vier angebracht, um halb fünf indes fehl am Platze. Was einem Menschen glaubwürdig erscheint, hängt von seiner Grundeinstellung ab, nicht von der Uhrzeit oder dem Jahrhundert." 
Man muss allerdings zugeben, dass die Gewohnheit, Überzeugungen danach zu beurteilen, ob sie als "zeitgemäß" gelten oder nicht, der perfekte shortcut für Leute ist, die entweder zu faul zum Denken sind oder einfach keine Übung darin haben. Und, seien wir ehrlich: Solche Leute produziert unser Bildungssystem am laufenden Band. Ärgerlich ist freilich, dass allzu viele davon Journalisten werden.

Okay. Genug der Polemik und zurück zum Inhaltlichen. Indem die Verfasserin es als Tatsache darstellt, dass bestimmte Überzeugungen im aktuellen Jahrhundert, und in Berlin erst recht, nichts zu suchen haben, und gleichzeitig zu erkennen gibt, dass sie genau diese Überzeugungen als kennzeichnend für den christlichen Glauben betrachtet, sagt sie letztlich in beeindruckender Deutlichkeit, dass es im Berlin des 21. Jahrhunderts keinen Platz für Christen gibt oder geben sollte. (Man versuche so etwas mal über irgendeine andere Religion zu sagen, beispielsweise eine, die zu Themen wie Abtreibung oder Homosexualität ähnliche Positionen vertritt wie die hier gescholtenen. Tatsächlich trifft das nämlich auf bemerkenswert viele Religionsgemeinschaften zu. Man könnte dies zum Anlass für einen Exkurs über Naturrecht nehmen, aber das spare ich mir an dieser Stelle.)

Überhaupt ist es einigermaßen bezeichnend, dass dies die Themen sind, die der Reporterin zum Stichwort "christlicher Glaube" als erstes einfallen (und dann auch im weiteren Verlauf des Artikels eine prominente Rolle spielen). Interessant ist dieser Umstand nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass sie eine der drei geschilderten Gemeinden, nämlich die ICF Friedrichshain, in Hinblick auf diese Themen als überraschend liberal darstellt (was mich zu der Frage veranlasst: Kann jemand, der - wie ICF-Gemeindeleiter Tino Dross - Sätze sagt wie "Nur weil etwas in der Bibel steht, glaube ich es nicht einfach" und bekräftigt, "[i]n der Bibel stehe so viel absurdes Zeug, das könne man nicht unhinterfragt glauben", noch als "evangelikal" bezeichnet werden? Aber das wäre mal ein Thema für sich...) -- sowie auch der Tatsache, dass sie, wie weiter oben bereits angemerkt, den Evangelikalen die in diesen Fragen ja nun wirklich ausgesprochen liberale Landeskirche EKBO quasi als den "Normalfall" des Christseins gegenüberstellt.

Warum eigentlich? Weil die EKBO die größte Religionsgemeinschaft in Berlin ist? Nun ja, hinsichtlich der absoluten Mitgliederzahl ist sie das: Laut Stand vom Jahreswechsel 2013/2014 hatte diese Landeskirche innerhalb der Stadtgrenzen Berlins 614 355 Mitglieder, die katholische Kirche 326 197 (diese Zahlen stammen aus einem anderen Artikel des Tagesspiegels). Hinsichtlich der praktizierenden Gläubigen sieht das jedoch ganz anders aus:
"Die Landeskirchen haben zwar nach wie vor deutlich mehr Mitglieder als die Freikirchen, aber die wenigsten sind in ihren Gemeinden aktiv. In Berlin besuchen nur 2,5 Prozent der Mitglieder regelmäßig einen evangelischen Gottesdienst, bei den Katholiken sind es immerhin fast zehn Prozent. Der Bund evangelisch-freikirchlicher Gemeinden vermeldet hingegen, dass durchschnittlich 88 Prozent der Mitglieder regelmäßig im Gottesdienst sitzen." 
Wenn das so stimmt, dann heißt das, dass katholische Messen in Berlin allsonntäglich rund doppelt so viele Teilnehmer anlocken wie evangelisch-landeskirchliche Gottesdienste; und was die Freikirchen angeht, fehlen zwar konkrete Angaben zur Mitgliederzahl, aber bei einer Gottesdienstbesuchsquote von 88% würde es mich nicht wundern, wenn der Evangelikalismus tatsächlich die "meist-praktizierte" christliche Glaubensrichtung Berlins wäre.

Diese Zahlenverhältnisse geben natürlich auch der EKBO zu denken. "Man beobachte die neuen Gemeinden interessiert", erfährt man in der Tagesspiegel-Reportage; schließlich "will die evangelische Landeskirche nicht untätig zuschauen, wie sie immer mehr Mitglieder verliert". 

Der Religionswissenschaftler Martin Radermacher von der Ruhr-Universität Bochum und Mitherausgeber eines "Handbuchs Evangelikalismus" wird mit der Aussage zitiert: "Entscheidend ist gar nicht so sehr, was vermittelt wird, sondern wie". "Denn", so führt die Reporterin diesen Gedanken in eigenen Worten näher aus: "Es ist der selbe Gott, an den die Christen glauben, an das selbe Buch, ob landeskirchlich oder frei. Der Unterschied liegt also nicht im Inhalt, sondern in der Verpackung." -- Und das ist ja nun so falsch, dass ich beim Lesen beinahe laut lachen musste. Bemühen wir abermals Chesterton:
"Was unsere Progressiven vor riesigen Zuhörermassen mit ruhiger Gewißheit erklären, ist meistens das Gegenteil der Tatsachen; gerade unsere Binsenwahrheiten sind unwahr. Hier ein Beispiel. In jeder 'Ethischen Gesellschaft' und jedem 'Religionsparlament' hört man die bequeme liberale Phrase: 'Die Religionen unserer Erde unterscheiden sich zwar in Riten und Formen, aber in dem, was sie lehren, stimmen sie überein.' Diese Aussage ist falsch; sie widerstreitet den Tatsachen. In Riten und Formen unterscheiden sich die Religionen unserer Erde gar nicht erheblich; erheblich unterscheiden sie sich in dem, was sie lehren." 
Was Chesterton hier über verschiedene Religionen sagt (im weiteren Verlauf seiner Ausführungen stellt er Christentum und Buddhismus einander gegenüber), ist natürlich etwas zu relativieren, wenn es um den Vergleich zwischen Frei- und Landeskirchlern geht, die sich ja beide als Christen (und sogar beide als evangelische Christen) verstehen. Natürlich ist der Gott der Evangelikalen dem Namen nach derselbe wie der der landeskirchlichen Protestanten, und hier wie dort wird auch dieselbe Bibel (wenn auch in unterschiedlichen Übersetzungen) benutzt; aber verglichen mit den Unterschieden, ja Gegensätzen in der Lehre sind das Äußerlichkeiten. 

Einige Vertreter der EKBO, mit denen Julia Kopatzki für ihre Reportage gesprochen hat, scheinen indes tatsächlich zu glauben, sie bräuchten den Freikirchen nur darin zu folgen, die "Verpackung" ein bisschen hipper zu machen, um an ihrem Erfolg zu partizipieren. "Social Media Profile werden eingerichtet, andere Musik im Gottesdienst diskutiert, in manchen Gemeinden gibt es jetzt Tauffeste für Alleinerziehende." Hammer, wie innovativ. "Die Landeskirche hat dabei aber ein Problem: Die Hälfte der Mitglieder ist über fünfzig, und wünscht sich in der Regel keinen jungen, modernen Gottesdienst, keine Änderungen. Es droht die Gefahr, im Bemühen um neue Mitglieder alte zu vergraulen."

Also, Entschuldigung: Wen genau fürchtet man denn bitte zu "vergraulen"? Die 2,5% der Mitglieder, die regelmäßig in den Gottesdienst kommen? Die übrigen 97,5% würden von etwaigen Veränderungen schließlich kaum etwas mitbekommen. Fast versteht man, wie Reinhard Hempelmann, der Vorsitzende, der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, zu der Einschätzung kommt, die "neuen Freikirchen" seien "ein Protestphänomen gegen die fehlende Flexibilität" der Landeskirchen. Nun kann ich mir zwar vorstellen, dass der Befund der 'fehlenden Flexibilität' auf die institutionellen Strukturen landeskirchlicher Gemeinden und vielerorts womöglich auch auf die Gottesdienstpraxis durchaus zutrifft (und über die katholische Kirche könnte man dasselbe sagen); aber den Fokus allein darauf zu legen, lenkt wieder einmal von inhaltlichen Fragen ab. Und da, möchte ich mal behaupten, kranken die evangelischen Landeskirchen eher an zu viel Flexibilität; will sagen: an einem Mangel an festen Standpunkten. Christian Stäblein, Propst (Julia K. schreibt allerdings "Probst") in der EKBO, grenzt sich explizit ab von "manchen Gemeinden im evangelikalen Spektrum", in denen "bisweilen eng definiert" werde, "was christlich ist und was nicht". Also bitte, Freunde: Was christlich ist und was nicht, das ist doch wohl eine Frage, auf die Menschen, die im Zuge ihrer Suche nach Sinn und Wahrheit auf das Christentum stoßen, zu Recht eine Antwort haben wollen. Und bei der EKBO bekommen sie diese Antwort nicht -- denn das würde, so Propst Stäblein, "nicht mit unserem auf Freiheit ausgerichteten Begriff von Frömmigkeit zusammen gehen". Zu dieser "Freiheit" gehört es auch, keinen "überhohe[n] Druck von Bindungserwartung" aufkommen zu lassen:
"Das Wesen der Landeskirche [...] sei [...] gerade, dass die Mitglieder ihr Verhältnis von Nähe und Distanz frei bestimmen könnten. 'Da gibt es Leute, die kommen einmal im Jahr zum Gottesdienst, dreimal oder auch 52 Mal.'" 
Das, geschätzter Leser, ist straight from the book -- nämlich aus dem EKD-Impulspapier "Kirche der Freiheit" von 2006. Darin spielt die "distanzierte Kirchenmitgliedschaft" als Ausdrucksform der in der Überschrift beschworenen "Freiheit" eine wichtige Rolle -- und geistert seither beharrlich als "die Kirche stabilisierende[r] Faktor" (D. Pollack) durch kirchliche Mitgliedschaftsstudien. Ja, sie wird sogar - etwa durch Jan Hermelink - "theologisch gewürdigt [...] als eine legitime Form, den Kontakt mit Gott nicht im Alltag der lebensweltlichen Interaktion zu suchen, sondern an den sozialen Grenzen (und Abgründen) dieses Alltags" und mit Vokabeln wie "Teilhabe ohne Teilnahme" (R. Schieder) bekränzt. Wer so redet und das ernst meint, dem sollte man meiner Einschätzung zufolge schnell zwei bis drei Ohrfeigen verabreichen und schauen, ob er wieder zu sich kommt.

Stellen wir uns zum besseren Verständnis mal vor, jemand erhält eine Einladung zu einer Hochzeit, und auf der Rückseite der Einladungskarte entdeckt er ein P.S., das besagt: "Ob du kommst oder nicht, ist uns eigentlich egal." Wie wertgeschätzt wird der sich wohl fühlen? Kein Wunder, wenn Leute, die auf der Suche nach spiritueller Orientierung sind, lieber in eine Gemeinde gehen, in der man ihnen das Gefühl gibt, willkommen zu sein. Auch wenn diese Gemeinde höhere Anforderungen stellt, ja möglicherweise gerade dann: Wenn man ihnen nicht nur sagt "Toll, dass du da bist", sondern zugleich auch zu verstehen gibt: "Wir können dich gebrauchen, wir haben eine Aufgabe für dich." Die Volkskirchen haben eher das Problem, dass sie, selbst wenn plötzlich von irgendwoher Scharen neuer Mitglieder in ihre Gemeinden kämen, gar nicht wüssten, was sie mit ihnen anfangen sollten. (Man könnte sogar argwöhnen, dass sie deswegen mehr oder weniger unbewusst darauf hinarbeiten, dass gar nicht erst welche kommen.)

Damit wären wir nun also wieder beim vor einiger Zeit bereits behandelten Thema "Wie viel Gemeinschaft darf's denn sein?" angekommen, und tatsächlich findet sich dazu eine ganze Menge Material in Julia Kopatzkis Tagesspiegel-Reportage. Deswegen werde ich wohl in einem künftigen Artikel nochmals darauf zurückkommen. Für jetzt mache ich aber mal einen Punkt. Schließlich muss ich mich zwischendurch, sofern ich Zeit dafür finde, auch noch um die Fährnisse einer gewissen eingekerkerten Nonne kümmern...



Mittwoch, 22. August 2018

Ab in die Kiste, aber zukunftsorientiert

Einige meine Leser werden wissen, andere vielleicht aus dem, was ich hier so alles schreibe, erschlossen haben, dass ich einen bedeutenden Teil meiner Kindheit und frühen Jugend in den 80ern verbracht habe, und damals war Stephen King ein unter meinen Altersgenossen sehr angesagter Schriftsteller. Ich selbst habe seinerzeit zwar nur wenig von ihm gelesen, aber zumindest die Titel seiner populärsten Werke waren mir geläufig. Und ich möchte mal behaupten: Wenn man Menschen meiner Altersklasse auffordern würde, eine spontane Assoziation zum Wort "Friedhof" zu äußern – also etwa dergestalt, dass sie die Wortfolge "Der Friedhof der..." vervollständigen sollten –, dann würde eine Mehrheit der Befragten wie aus der Pistole geschossen antworten: "...Kuscheltiere"

Was man daraus lernen kann, ist nicht nur, dass Kinder und Jugendliche in den 80ern mehr Horrorgeschichten gelesen haben, als gut für sie ist, sondern auch, dass man es bei der Kombination "Friedhof plus Genitivobjekt" gewohnt ist, zu erwarten, dass das Objekt angibt, was da begraben ist. In Berlin gibt es beispielsweise den Friedhof der Märzgefallenen, und die Eiscrememarke Ben & Jerry's hat auf ihrer Website, ob man's glaubt oder nicht, einen "Friedhof der Eissorten". Und die Evangelische Landeskirche Hessen-Nassau? Die hat einen "Friedhof der Zukunft". Klingt ein bisschen resigniert, oder? Vielleicht aber auch einfach nur realistisch.

Aber halt, stopp, Moment: So meinen die das gar nicht. "Der Friedhof der Zukunft" war vielmehr das Motto eines jüngst zu Ende gegangenen Wettbewerbs, "der vom Fachbereich Kinder und Jugend im Zentrum Bildung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und der Landeshauptstadt Wiesbaden, vertreten durch das Grünflächenamt, ins Leben gerufen wurde"; und in diesem Wettbewerb ging es buchstäblich um Entwürfe für zukünftige Friedhöfe. Der Wettbewerb wurde ausgeschrieben für "Schülergruppen und Schulklassen der gymnasialen Oberstufe und an Berufsbildenden Schulen", und vorausgegangen war eine "Kooperation im Bereich Friedhofserkundungen auf dem Wiesbadener Nordfriedhof [...], in deren Rahmen Kinder und Jugendliche den Friedhof von einer anderen Seite erleben und ihn erlebnispädagogisch erkunden und entdecken können". Meine Herrn. "Den Friedhof von einer anderen Seite erleben", das klingt schon etwas morbide, oder? Wobei, es stimmt natürlich: Die Jugendlichen von heute sind die Toten von morgen. Oder, wie Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier es ausdrückt: "Wer sich mit der Zukunft der Friedhöfe beschäftigt, beschäftigt sich damit auch mit dem Leben heute und in Zukunft".

Na gut, wir wissen natürlich alle, dass ein Ministerpräsident sich solche Sätze nicht selbst ausdenkt. Wobei, der Satz ist so doof, den könnte er sich durchaus selbst ausgedacht haben.

Für das Grünflächenamt ist so ein Wettbewerb natürlich prima, jedenfalls im Vergleich zu der Option, Entwürfe für innovative Friedhofskonzepte bei Profis in Auftrag zu geben. Der Wettbewerb war "mit insgesamt 1750 EUR dotiert"; ein echtes Schnäppchen. Dafür würde ein Architekturbüro, das was auf sich hält, wohl gar nicht erst ans Telefon gehen. Aber mit Schülern kann man's ja machen.

Und was versprach sich nun die Kirche von dieser Aktion? Nun ja: beispielsweise "eine Sensibilisierung für und eine Auseinandersetzung mit den Themen Sterben, Tod und christlicher Jenseitshoffnung vor dem Hintergrund des enormen Wandels der Bestattungskultur einerseits und einer vielfachen Tabuisierung der hier aufgerufenen Themen andererseits". Okay. Das finde ich, wenn man über die amtskirchentypisch geschraubte Sprache einmal gnädig hinwegsieht, erst mal gut. Also, potentiell gut. Dann schauen wir mal weiter. "Friedhöfe sind faszinierende Orte und ein Ort der Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen", wird Stephan Da Re zitiert, der als Theologischer Jugendbildungsreferent der EKHN den Wettbewerb initiiert hat, allerdings noch vor dessen Abschluss von seinem Posten abgelöst wurde -- ich nehme mal an, for entirely unrelated reasons, wie der Angloamerikaner sagen würde. "Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen", so Da Re weiter, "ist gleichzeitig eine großartige Chance, mehr Intensität in das eigene Leben zu bekommen und Ängste, die sich aus dem Gedanken an die eigene Vergänglichkeit häufig ergeben, abzubauen". Lass es mich mal so ausdrücken, Leser: Faszinierend, großartig, Chance, Intensität -- leck mich. Man könnte mir an dieser Stelle vorwerfen, meiner Kritik mangele es an inhaltlicher Substanz. Ich räume das ein. Vielleicht kann der gute Mann nichts dafür, dass er redet wie ein Waschmittelverkäufer aus den 70ern. Vielleicht wird das in seiner (jetzt ehemaligen) Position von ihm erwartet. Lassen wir das also beiseite und kommen zum Inhaltlichen. Jugendliche an die Themen Tod, Sterblichkeit, christliche Jenseitshoffnung heranführen -- gute Sache, unterstütze ich. Aber in Form eines Kreativwettbewerbs zum Thema Friedhofsgestaltung

Symbolbild, Quelle: Pixabay 


Was mich daran stört, sind genau zwei Dinge, nämlich die Methodik und der Inhalt. (Also alles, könnte man sagen.) Kreativwettbewerbe sind, allgemein gesprochen, ein hervorragendes Mittel, um zu verschleiern, dass man den Schülern im Grunde nichts beizubringen weiß. Das wiederum ist besonders in Kulturen, die Innovation tendenziell höher schätzen als Tradition, ein verbreitetes Problem. Aus nachvollziehbaren Gründen: In traditionsorientierten Gesellschaften liegt es auf der Hand, dass - von Ausnahmefällen abgesehen - die Älteren über das, was im Leben wichtig ist, aufgrund von Erfahrung mehr wissen als die Jüngeren und deshalb befugt sind, diese zu lehren. In dem Maße, wie sich das Wissen und die praktischen Fertigkeiten der Menschen innerhalb der Gesellschaft ausdifferenzieren, kommt der Aspekt der fachlichen Qualifikation hinzu; aber da diese nur in einem jahrelangen Lernprozess erworben werden kann, bleibt auch sie zu einem gewissen Grad an Lebensalter und Erfahrung gekoppelt. In einer Gesellschaft jedoch, die Innovation als Schlüssel zum Erfolg betrachtet, wird Erfahrungswissen radikal entwertet, und die Alten sind plötzlich nicht mehr weise, sondern verkalkt.

Wenn ein Lehrer jedoch den Glauben daran verliert, dass die Kenntnisse, die er zu vermitteln hat, für seine Schüler relevant sind, dann ist er im Grunde nicht mehr in der Lage, sie zu lehren. Worauf das hinausläuft, ist das Elend einer "Lass mich von dir lernen"-Pädagogik, die die Rollen von Schülern und Lehrern vertauscht. Kann ja sein, dass manche Schüler das anfänglich cool finden, aber zumindest die gewitzteren unter den Schülern dürften irgendwann anfangen, sich zu fragen, warum sie nicht das Gehalt des Lehrers bekommen.

Ich spitze das hier natürlich bewusst zu. Tatsächlich ist die Aufgabenverteilung zwischen Lehrer und Schüler wohl kaum je ganz eindeutig, in dem Sinne, dass der Lehrer alles wüsste und der Schüler nichts. Der Hl. Benedikt schrieb in seiner Ordensregel, ein Abt solle sich nicht scheuen, selbst den jüngsten seiner Mönche um Rat zu fragen, "weil der Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Bessere ist". In diesem Sinne ist es durchaus möglich, dass ein Schüler seinen Lehrer etwas lehren kann. Das kann auch sehr wertvoll sein, aber es sollte die Ausnahme sein. Sonst hat der Lehrer seinen Beruf verfehlt.

Vergessen wir dabei nicht, dass der Mensch biologisch ebenso ein Rudeltier ist wie beispielsweise der Hund. Wenn man einem jungen Hund nicht deutlich zeigt, wer der Rudelführer ist, wird er glauben, er müsse selbst der Rudelführer sein; das will er eigentlich gar nicht, und das stresst ihn. Ebenso erwarten auch junge Menschen - und zwar zu Recht - von ihren Eltern, Lehrern und sonstigen Autoritätspersonen, dass sie sie führen. Selbst wenn sie rebellieren, steht dahinter oft nur der Wunsch, diszipliniert zu werden. Wenn man den Jugendlichen jedoch gar nichts gibt, wogegen sie rebellieren könnten -- tja, was dann?

Und das ist, allgemein gesprochen, das Dilemma bei Arbeitsaufträgen, die darauf hinauslaufen, dass die Schüler machen sollen, was sie wollen. Das ist im strikten Sinne ein Paradox, denn was der Menschenwelpe will, ist, die Erwartungen seines Rudelführers zu erfüllen. Wenn der ihm nun aber vermittelt "Ich will nicht, dass du das tust, was ich will", dann ist das eine klassische Doppelbotschaft: "Tu nicht, was ich dir sage". Das Dilemma ist unauflösbar.

Natürlich ahnt der Schüler, dass der Lehrer in Wirklichkeit doch Erwartungen an ihn hat. Also versucht er diese zu erraten. So, und nur so, ist es zu erklären, dass die Ergebnisse von Kreativwettbewerben einander oft so ähnlich sehen: Das passiert dann, wenn sie nicht einfach die Phantasie der Schüler widerspiegeln, sondern vielmehr die Mutmaßungen der Schüler über die Erwartungen des Lehrers.

Beweisstück A:
"Den 3. Platz teilen sich drei Lerngruppen der Gustav-Stresemann-Wirtschaftsschule in Mainz, die von Schulpfarrerin Monika Bertram betreut wurden. 'Da sich die Entwürfe in ihrer Qualität und Quantität sehr ähneln, fiel es uns in diesem Fall besonders schwer, eine Abstufung vorzunehmen […]', so Carsten Weller von der Friedhofsverwaltung der Stadt Wiesbaden".  
Noch Fragen? -- Natürlich gibt es auch noch eine andere Seite. Natürlich vereinfache und übertreibe ich, das hatte ich bereits eingeräumt, oder? Natürlich ist das Verhältnis des jungen Menschen zum Phänomen Autorität etwas komplexer als das des jungen Hundes, und selbst bei dem ist es schon etwas komplexer als oben dargestellt. Natürlich finden Schüler es - die einen mehr, die anderen weniger, je nach Charakter - auch mal toll, ihr eigenes Ding machen zu dürfen, und dafür eignen sich Kreativwettbewerbe durchaus. Vorausgesetzt, die Schüler haben überhaupt ein eigenes Ding, sprich, einen persönlichen, individuellen Zugang zum Thema. Das dürfte beim Thema Tod und Friedhof wohl auf manche Schüler zutreffen; aber haben wir nicht weiter oben gelesen, dass das ganze Projekt darauf ausgerichtet sein sollte, die Schüler an diese Themen heranzuführen? Heißt das nicht, es wurde davon ausgegangen, dass die Schüler, zumindest mehrheitlich, von sich aus gerade keinen Zugang zu diesen Themen haben, vielleicht gerade auch deshalb, weil die so sehr tabuisiert werden? Ja, aber was soll denn dann anderes dabei herauskommen als eine Reproduktion oder bestenfalls Variation der Inhalte dieser "Heranführung"?  Selbst ein Zauberkünstler kann schließlich nur das Kaninchen aus seinem Hut ziehen, das er vorher selbst hineingesteckt hat.

Bei der Betrachtung der Wettbewerbsergebnisse möchte ich nicht zu sehr ins Detail gehen, sonst kommt mir der Humor abhanden, den ich dringend benötige, um diesen Artikel in einem für den Leser erträglichen Stil zu Ende zu bringen. Ein paar Stichworte gefällig? "Friedhof als Park" (mit einem "Café als Mittelpunktsort", um "die Begegnung von Angehörigen und Menschen, die den Friedhof als Naherholungsgebiet und grüne Lunge einer Stadt nutzen", zu ermöglichen); "Friedhof als Museum"; "die Idee eines Trauerkinos, das per USB-Stick kurze Sequenzen aus dem Leben der Verstorbenen zeige"; "ausgeklügeltes Lichtkonzept", "Rollbänder und QR-Codes ermöglichen eine gute Orientierung"; "Der Kinderspielplatz erlaubt eine Nutzung des Friedhofs als Freizeitstätte und ermöglicht zugleich eine frühe Sensibilisierung für die hier mit aufgerufenen Themen"; "Rundbau mit einer Glaskuppel als Dach [...], auf der das Wort 'Friede' in verschiedenen Sprachen erscheint" -- Moment. Stopp. Das letztgenannte Beispiel ist exakt das, was die braven Mädchen aus meiner Schulklasse sich ausgedacht haben würden, um sich bei der Lehrerin einzuschleimen. Es fällt mir sehr schwer zu glauben, dass eine solche Idee sich irgendwelchen anderen Erwägungen verdanken könnte als genau dieser.

Bei aller Kritik muss (oder darf) man anerkennen, dass die preisgekrönten Entwürfe sich tatsächlich durch beachtlichen Variantenreichtum auszeichnen -- wenngleich es durchaus wiederkehrende Elemente gibt. So arbeiten gleich zwei Entwürfe mit der "Idee, die Asche von Verstorbenen zu Diamanten pressen zu lassen" -- "ein nicht nur in den christlichen Kirchen sehr umstrittenes Thema", wie der Bericht auf der Landeskirchen-Website verschämt einräumt, ohne das jedoch weiter zu problematisieren. Ebenso auffallend ist der "interreligiöse Charakter" mehrerer Entwürfe. In einem Modell gibt es "[n]eben eher traditionell gestalteten Grabfeldern, die Angehörigen unterschiedlicher Religionen vorbehalten sind, [...] auch unterirdische Katakomben, einen Bestattungswald, einen Japanischen Garten und einen Gnadenhof für Tiere", in einem anderen eine "Aufteilung der Gräberfelder [...] gemäß Religionszugehörigkeit, was sich auch in den dort vorzufindenden religiösen Kultstätten äußere (Synagoge, Kirche, Moschee, hinduistischer Tempel und buddhistisches Kloster)"; und wem das zu viel Trennung und Abgrenzung ist, der kann sich über den Siegerentwurf freuen, in dem "größere und kleinere Flüsse [...] den Park unterteilen und verschiedenen Religionen ihre je eigenen Gräberfelder zuweisen": "
"Dabei betonen die Macher die symbolische Bedeutung des Wassers in den drei monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam. Durch Brücken werden nicht nur die einzelnen Teile des Parks, sondern auch die verschiedenen Religionen miteinander verbunden." 
Toll, nicht? Auffällig könnte man es freilich finden, dass in einem von einer christlichen Kirche mit-initiierten und betreuten Projekt das Christentum nur am Rande und "unter anderem" vorkommt. War nicht irgendwo weiter oben mal von "christlicher Jenseitshoffnung" die Rede? Wo wäre die in den preisgekrönten Entwürfen erkennbar? Wo spiegelt sich da etwas von der christlichen Lehre über die letzten Dinge wider, es sei denn negativ? Dabei wurden die einzelnen Projektgruppen doch, wie der Bericht mehrfach erwähnt, "theologisch beraten"!

Ja schon, aber eben von der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau.

Okay, das war jetzt boshaft. Ich nehme es zurück und entschuldige mich.

Im Ernst: Das oben angesprochene Phänomen des Verlusts des Glaubens daran, die nachfolgenden Generationen etwas lehren zu können, wirkt sich im Bereich der Religionspädagogik besonders gravierend aus -- und den Begriff "Religionspädagogik" meine ich hier im weitest möglichen Sinne, also so, dass er den Gesamtbereich kirchlicher Jugendarbeit mit-umfasst. Wenn man oft genug vorgesagt bekommen (oder sich selbst vorgesagt) hat, Glaube sei individuell und Wahrheit subjektiv, dann kommt man zwangsläufig irgendwann zu dem Schluss, über den Glauben könne man einem anderen Menschen gar nichts beibringen. Womit sich der biblische Verkündigungsauftrag in Luft auflöst. Meinem persönlichen Eindruck zufolge ist dieser Subjektivismus im landeskirchlichen Protestantismus besonders verbreitet; so erklärte mir beispielweise mal ein im Bereich Jugendarbeit tätiger Mitarbeiter der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (EKBO) im Zuge einer Twitter-Debatte, es gehe bei seiner Tätigkeit darum, "junge Menschen dabei zu unterstützen, ihren eigenen Weg zu gehen, ihre eigenen Antworten zu finden, eigene Haltungen zu entwickeln. Wenn es gut läuft, spielt Jesus dabei eine wichtige Rolle."

Hach ja. Eine wichtige Rolle. Wenn's gut läuft.



Schließen möchte ich mit dem Gedanken, ob die Evangelische Kirche Hessen-Nassau die Schüler nicht doch besser gleich damit hätte beauftragen sollen, einen Friedhof zu entwerfen, auf dem man die Zukunft der Kirche beerdigen kann. Obwohl: In gewissem Sinne haben sie ja genau das getan.



P.S.: Wer schon mal einen anderen Artikel von mir gelesen hat als diesen, für den wird der nun folgende Disclaimer wohl eine überflüssige Information sein. Aber man soll ja immer auch mit neuen Lesern rechnen, daher:

Wenn ich hier über evangelische Landeskirchen mosere, dann tue ich das stets mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass die Zustände "bei uns" - d.h. in den katholischen Diözesen Deutschlands - sooo viel besser nun ooch nicht sind.

Danke für die Aufmerksamkeit.




Dienstag, 21. August 2018

Ich glaub, ich steh im Wald...

Neulich schilderte ein ungenannter Pfarrer der Evangelischen Landeskirche Hessen-Nassau via Twitter einige Eindrücke von einem Gemeindefest, und das gipfelte in der faszinierend ekelerregenden Formulierung: „Jeder gehört dazu, egal wie häufig man von Kirche Gebrauch macht.“ Ächz. Mich erinnerte das spontan an eine Maxime des alten Ben Franklin, die da lautete: „Gebrauche die Sexualität selten und nur um der Gesundheit oder Nachkommen willen“. Alasdair MacIntyre merkte zu Recht an, das sei „offensichtlich nicht das, was frühere Autoren unter 'Keuschheit' verstanden“, und D.H. Lawrence formulierte als Entgegnung auf diese Maxime Franklins sogar: „Gebrauche die Sexualität nie“. Sexualität ist weder Klopapier noch Zahnseide, und die Kirche ebenso wenig. Zumindest sollte sie es nicht darauf anlegen, das zu sein.

Dies nur mal so als Einstimmung darauf, dass ich meine geschätzten Leser heute mal wieder mit einem Bericht „von der Front“ beglücken möchte, sprich: aus der tagtäglichen pastoralen Praxis in den Ortsgemeinden. Konkret und primär natürlich meiner eigenen. Und statt lange zu erwägen, wie ich die erfreulichen, die weniger erfreulichen und die ausgesprochen ärgerlichen Eindrücke der vergangenen Woche am besten sortiere und gewichte, gehe ich einfach mal in chronologischer Reihenfolge vor; da ergibt sich nämlich wie von selbst eine ganz interessante Dramaturgie.

Wohlan denn! – Zu den Dingen, die ich an der mehr oder weniger vor meiner Haustür beheimateten Pfarrkirche besonders schätze, gehört es, dass dort jeden Mittwochabend die Vesper gebetet wird. Genauer gesagt, zu bestimmten Zeiten des Jahres wird die Vesper durch andere Andachten ersetzt – im Mai Maiandachten, im Oktober Rosenkranzandachten, in der Fastenzeit Kreuzwegandachten, übrigens in wöchentlichem Wechsel gestaltet von den verschiedenen Gemeindekreisen – aber irgendeine Andacht ist am Mittwochabend jedenfalls immer, und wenn ich sage, dass ich das besonders schätze, muss ich gleichzeitig einräumen, dass ich trotzdem kaum öfter als einmal im Monat daran teilnehme. Da ist, wie überhaupt insgesamt im Bereich der religiösen Praxis, bei mir noch beträchtlich Luft nach oben.

Nun war am vergangenen Mittwoch ja Mariä Himmelfahrt, aber eine Heilige Messe anlässlich dieses bedeutenden Hochfests wurde nur in denjenigen Kirchen unseres (offiziell noch nicht eröffneten, de facto aber bereits bestehenden) „Pastoralen Raums“ gefeiert, in denen mittwochs sowieso Werktagsmessen auf dem Programm stehen. „Bei uns“ also nicht. Am Dienstag schickte mir jedoch der Küster unserer Pfarrkirche eine elektronische Nachricht: Einer unserer Pfarrvikare wolle, wenn es an diesem Standort schon keine Messe gebe, wenigstens die Vesper umfangreicher und feierlicher gestalten als sonst, und dafür brauche er nun einen Lektor. Ob ich das übernehmen könne. Aber hallo!

Der betreffende Pfarrvikar stammt aus Nigeria und ist erst seit Oktober letzten Jahres in unserer Pfarrei; und meine Frau und ich empfinden ihn als eine große Bereicherung. Gerade auf liturgischem Gebiet. Auch persönlich mögen wir ihn sehr gern, und die Idee einer besonders feierlichen Vesper zu Mariä Himmelfahrt wollten wir gern unterstützen. Also fanden wir uns am Mittwoch einige Zeit vor der Beginn der Vesper, mit dem Baby im Kinderwagen, in der Sakristei ein. Der Plan des Vikars sah vor, die Vesper zu einem Wortgottesdienst mit anschließender Aussetzung des Allerheiligsten und Eucharistischem Segen auszubauen. Meine Frau und ich teilten das Vorbeten der Psalmen, das Responsorium und die Fürbitten untereinander auf, ich trug die 1. Lesung vom Tage (Offb11,19a; 12,1-6a.10ab) vor und der Vikar das Evangelium (Lk 1,39-56); eine kurze Predigt hielt er auch. Außer uns fanden sich nur ziemlich wenige Gemeindemitglieder ein, aber auf jeden Fall war es eine schöne, würdige Feier.


Am Sonntag darauf war in unserer Pfarrkirche „Familiengottesdienst“, wie immer am dritten Sonntag des jeweiligen Monats, nur im Juli hatte das Gestaltungsteam pausiert, wegen der Sommerferien. – Regelmäßige Leser meines Blogs werden vermutlich schon mal mitbekommen haben, dass ich zu der Form mehr oder weniger religionspädagogisch angestrichener Kinderbespaßung, die einem handelsüblich als „Familiengottesdienst“ aufgetischt wird, schon seit meiner eigenen Kindheit ein zutiefst angespanntes Verhältnis habe; und die regelmäßigen Familiengottesdienste in unserer jetzigen Gemeinde sind nicht unbedingt geeignet, meine Einstellung in dieser Frage zum Positiven zu verändern. Zwar habe ich mich bisher immer bemüht, bei allen inhaltlichen und formalen Kritikpunkten das ehrenamtliche Engagement und den guten Willen des Gestaltungsteams wertzuschätzen, aber das fällt mir offen gestanden immer schwerer. Insbesondere seit ich selbst ein Kind habe, hat meine Toleranz gegenüber Kinderbespaßung im Gottesdienst erheblich abgenommen. Darauf komme ich noch zurück.

Es war der 20. Sonntag im Jahreskreis, und „dran“ waren als erste Lesung Sprüche 9,1-6, als Antwortpsalm Psalm 34, als zweite Lesung Epheser 5,15-20 und als Evangelium Johannes 6,51-58. Dass trotz Familiengottesdienst keine Lesung weggelassen wurde, hatten wir wohl dem Umstand zu verdanken, dass der erwähnte Pfarrvikar aus Nigeria die Messe zelebrierte. Was das Evangelium anging, knüpfte die Perikope des Tages natürlich unmittelbar an diejenigen der vorangegangenen Sonntage an, aber irgendwie hatten unsere lieben Geistlichen es bisher trotzdem immer geschafft, sich darum herumzudrücken, über das Mysterium der Eucharistie zu predigen. Der Vikar aus Nigeria hätte es wahrscheinlich getan – wenn nicht Familiengottesdienst gewesen wäre. Denn der sorgte dafür, dass die Predigt gänzlich dem Kinderprogramm zum Opfer fiel. Und da es in Berlin der letzte Sonntag vor dem Beginn des neuen Schuljahres war, stand dieses Kinderprogramm unter dem beliebten Motto „Mein schönstes Ferienerlebnis“.

Im Ernst.

Anstelle einer Predigt wurden die Kinder aufgefordert, sich auf die Altarstufen zu setzen und über ihre schönsten Ferienerlebnisse zu berichten. Anschließend zog die Leiterin des Familiengottesdienst-Teams aus dem Gehörten die bescheidene katechetische Nutzanwendung, alle genannten schönen Ferienerlebnisse hätten „etwas mit Gemeinschaft zu tun, und das ist ja auch der Kern unseres Glaubens“.

Ahem.

Gemeinschaft, griechisch κοινωνία, ist im Christentum und in der Kirche tatsächlich ganz schön wichtig; zunächst einmal deshalb, weil Gemeinschaft ein Grundbedürfnis des Menschen ist – anders ausgedrückt: weil Gott den Menschen auf Gemeinschaft hin geschaffen hat. Für die Kirche ist Gemeinschaft speziell deshalb so wichtig, weil sie das Wachstum, das Gedeihen und die Weitergabe des Glaubens ermöglicht. Das II. Vatikanische Konzil bezeichnet  κοινωνία darum als einen der vier Grundvollzüge der Kirche. Das heißt, Gemeinschaft zu schaffen, zu bilden, zu ermöglichen oder wie man es sonst bezeichnen mag, gehört zu den wichtigsten Dingen, die die Kirche zu tun hat – neben der Verkündigung des Glaubens, der Feier der Liturgie und den Werken der Nächstenliebe, wohlgemerkt. Regelmäßige Leser meines Blogs erinnern sich im Zusammenhang mit den vier Grundvollzügen der Kirche vielleicht noch an die Geschichte von dem Auto, dem ein Rad fehlte. Wenn von vier Rädern nur drei vorhanden sind, kann man das Auto mit ein bisschen Trickserei noch dazu bringen, zu fahren, wenn auch mehr schlecht als recht. Was aber macht man mit einem Auto, an dem nur noch ein Rad dran ist?

Plötzlich stellte ich mir vor, wie die Leiterin des Familiengottesdienst-Teams in einem aufgebockten Auto, das keinen Sprit im Tank und vielleicht sogar nicht einmal einen Motor hat, am Lenkrad sitzt und „Brrm-brrm“ macht. Ich würde sagen, dieses Bild beschreibt die pädagogische und katechetische Qualität der Familiengottesdienste in unserer Gemeinde (und sicherlich nicht nur hier) ziemlich treffend.

Wo ich gerade „pädagogische Qualität“ sage: Meine liebe Frau, die sich mit so etwas bedeutend besser auskennt als ich, könnte ganze Litaneien darüber singen, was in dieser Gruppe alles falsch gemacht wird, aber ich beschränke mich mal auf ein paar Andeutungen. Eine der erwachsenen Frauen aus dem Familiengottesdienst-Team fasste jedes der von den Kindern berichtete Ferienerlebnisse in einem Satz zusammen und schrieb jeden dieser Sätze auf ein Stück bunten Karton in Form eines Luftballons. Hätte man das nicht die Kinder selbst machen lassen können? Sodann durften bzw. mussten die Kinder auch die Fürbitten vortragen, die offenkundig auch von den Gruppenleiterinnen verfasst worden waren; diese Fürbitten waren zwar inhaltlich gar nicht sonderlich anspruchsvoll, aber derart gestelzt und „erwachsen“ formuliert, dass man nur allzu deutlich merkte, dass die Kinder gar nicht verstanden, was sie da vorlasen. Erneut traten die Kinder zur Danksagung ans Ambo, diesmal mit den oben erwähnten Karton-Luftballons. Momentchen mal: Jetzt sollten die Kinder also das, was sie vorhin schon in eigenen Worten erzählt hatten, in einer von einer Erwachsenen vorgegebenen Formulierung noch einmal vorlesen? Ganz grobes Foul! Pädagogisch so ziemlich das Falscheste, was man überhaupt machen kann. Und wozu das Ganze? Nun ja, es war halt die Danksagung, und deshalb sollten die Kinder an die erneute Nennung ihres schönsten Ferienerlebnisses den Satz „Danke, guter Gott“ anhängen. Was sie übrigens durch die Bank zunächst vergaßen und von den Erwachsenen daran erinnert werden mussten. Weil sie offensichtlich den Zusammenhang nicht begriffen. Und damit hatten die Kinder ja im Grunde Recht. Die Danksagung in der Messe ist schließlich dazu da, für den Empfang des Leibes Christi und in letzter Konsequenz also für Sein Kreuzesopfer zu danken, und nicht dafür, dass in den Ferien die Oma zu Besuch gekommen ist.

Was man hier sehr schön beobachten konnte, war, dass Kinder zwar naturgemäß Vieles nicht verstehen, wenn man es ihnen nicht altersgerecht erklärt -- dass sie aber umgekehrt ein sehr waches Gespür dafür haben, wenn man sie verarscht. Oder wenn Dinge einfach keinen Sinn ergeben. Und das bringt mich jetzt zu dem bereits angedeuteten Grund, weshalb ich in jüngster Zeit erheblich ungnädiger gegenüber diesem ganzen Scheiß geworden bin.

Meine Frau und ich haben eine kleine Tochter, die, so Gott will, in den kommenden Jahren noch das eine oder andere Geschwisterchen bekommen soll. Aber reden wir mal vorläufig nur von diesem einen Kind. Es ist uns wichtig, unsere Tochter im katholischen Glauben zu erziehen – was wir, nebenbei bemerkt, anlässlich ihrer Taufe auch feierlich versprochen haben. Eigentlich würden wir uns wünschen, dass die Kirchengemeinde uns darin unterstützt. Das Mindeste, was wir meinen erwarten zu dürfen, ist aber, dass sie uns dabei keine Steine in den Weg legt.

Noch ist unsere Tochter nicht einmal ein Jahr alt und gehört somit eigentlich noch nicht zur Zielgruppe des Familiengottesdienst-Teams. Trotzdem wurden wir an diesem Sonntag erstmals ausdrücklich aufgefordert, mit unserem Kind nach vorn zu kommen. Wir haben schlicht so getan, als hätten wir diese Aufforderung nicht gehört oder nicht verstanden, und zudem fing die Kleine just in dem Moment an zu jammern, was mir einen guten Anlass bot, mich mit ihr ins Seitenschiff zurückzuziehen, um sie zu füttern. Aber das war ein Warnschuss. Wir werden uns darauf gefasst machen müssen, dass in Zukunft öfter solche Zumutungen an uns herangetragen werden.

Ich sage es jetzt mal in aller Deutlichkeit: Einer Kinder-„Katechese“, in der den Kindern exakt NICHTS über die grundlegendsten Glaubensinhalte des katholischen Christentums beigebracht wird, in der sie dafür aber so lange mit moralistisch-therapeutischen Plattitüden gefüttert werden, bis sie glauben, die Essenz des Christentums bestünde darin, nett zueinander zu sein und seinen Müll zu trennen, werde ich meine Tochter nicht aussetzen. Und wenn ich mich mit ihr zusammen irgendwo anketten muss.

Das Problem an der Geschichte ist: Wenn sie erst mal in das Kern-Zielgruppenalter für Kindergottesdienste kommt, würde der Versuch, sie konsequent davon fernzuhalten, praktisch darauf hinauslaufen, sie auch von den anderen Kindern der Pfarrgemeinde fernzuhalten. Und das kann ja wohl nicht Sinn der Sache sein. Es gibt somit nur eine vernünftige Lösung: Wir müssen jetzt schon damit anfangen, die Grundlagen dafür zu schaffen, dass Kinderkatechese in unserer Pfarrei spätestens in vier bis fünf Jahren völlig anders aussieht als jetzt. Wie wollen wir das erreichen? Schauen wir mal. Vorerst nur so viel: Wir haben den „YOUCAT for Kids“ und werden ihn benutzen!

Schließlich geht es dabei nicht nur um unser eigenes Kind, auch wenn es wohl verständlich sein dürfte, dass uns dieses besonders am Herzen liegt. Blickt man über den rein persönlichen Horizont hinaus, dann ist es ja so: Das, was von den sterbenden volkskirchlichen Strukturen und Gepflogenheiten derzeit noch übrig ist, stellt bis auf Weiteres sicher, dass Kinder und Jugendliche wenigstens an ein paar Punkten ihres Lebenswegs mit der Kirche in Kontakt kommen. Nahezu alle Kinder, die katholisch getauft werden, sieht man einige Jahre später in der Erstkommunionvorbereitung wieder, und einen relativ großen Teil davon dann nochmals einige Jahre später in der Firmvorbereitung. Das ist ein beachtliches Potential – das aber komplett vergeudet wird, wenn man nicht einmal den Versuch unternimmt, den Kindern und Jugendlichen etwas Substantielles über den Glauben beizubringen, geschweige denn etwas wie Interesse oder gar Begeisterung für den Glauben in ihnen zu wecken. Stattdessen spult man ein Programm runter, das die Kinder günstigstenfalls langweilt und im weniger günstigen Fall peinlich berührt. Ehrlich gesagt wundert es mich ganz und gar nicht, dass die Kinder froh sind, wenn sie das hinter sich haben, und freiwillig nie wiederkommen. Wundern würde es mich eher, wenn es anders wäre.

Würde man hingegen die Erstkommunion- und Firmvorbereitung für substantielle Katechese nutzen, müsste man bei einem (vielleicht gar nicht so kleinen) Teil der Zielgruppe mit Widerspruch und Ablehnung rechnen – in der Erstkommunionvorbereitung wohl eher von Seiten der Eltern, in der Firmvorbereitung möglicherweise verstärkt seitens der Jugendlichen selbst. Vielleicht würde einem das die Statistik versauen, weil es dann eine größere Zahl von Leuten gäbe, die beschlössen, das dann doch nicht mitmachen zu wollen. Aber relativ sicher könnte man sich sein, dass der Anteil derer, denen das Ganze einfach egal ist, zurückginge. Wenn man wenigstens bei einer Minderheit der Erstkommunions- und Firmbewerber auf positive Resonanz stieße, wäre das somit allemal schon besser als jetzt.

Doch zurück zur Messe vom vergangenen Sonntag: Tröstlich (im Vergleich zu einigen früheren Familiengottesdiensten) war es, dass der Vikar immerhin die Liturgie so weit wie möglich „sauber“ hielt. Das heißt, die Kinder wurden nicht zur Wandlung um den Altar geschart, um so etwas wie eine Konzelebration zu simulieren, und es gab auch kein Händchenhalten beim Vaterunser. Leider fühlte sich jedoch der (eigentlich durchaus gute) Organist durch den Familiengottesdienst offenbar ermächtigt, seiner Vorliebe für NGL die Zügel schießen zu lassen, und präsentierte eine Mischung aus Peter Janssens Greatest Hits und ausgewählten Grausamkeiten anderer Nach-'68er-Kirchenlieddichter. Zum Gloria gab es „Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt“ von Hans-Jürgen Netz und Christoph Lehmann; die Nummer klingt ja durchaus schmissig, aber leider führt das dazu, dass die typische Klientel einer Sonntagsmesse in einer durchschnittlichen deutschen Pfarrkirche nicht in der Lage ist, sie zu singen. Was den Text angeht, scheint mir das Lied zudem seine theologischen Fragwürdigkeiten zu enthalten. „Ehre sei Gott auf der Erde, in allen Straßen und Häusern“, heißt es im Refrain; im echten Gloria heißt es „Ehre sei Gott in der Höhe“. Diese Verkehrung der Perspektive kommt mir verdächtig vor – zumal es dann so weitergeht: „Die Menschen werden singen, bis das Lied zum Himmel steigt“. Das ist der Turmbau zu Babel als Lied! – Noch schlimmer war allerdings, dass anstelle des Agnus Dei das Lied „Unfriede herrscht auf der Erde“ (Diethard Zils/Zofia Jasnota) angestimmt wurde – ein derart bizarres Machwerk, dass ich mir nicht hätte träumen lassen, es noch im vorgerückten 21. Jahrhundert in einem nicht-parodistischen Kontext hören zu müssen. (Dieses Urteil mag übertrieben hart erscheinen, aber ich kann mir nicht helfen: Wenn ich Unkundigen demonstrieren will, wie räudig das NGL-Genre ist, ist „Unfriede herrscht auf der Erde“ – neben „Leben im Schatten“ von Manfred Siebald – eins meiner Paradebeispiele. Noch schlimmer ist „Eingeladen zum Fest des Glaubens“, aber das kann ich nicht mal zu Demonstrationszwecken singen, ohne kotzen zu müssen.)

Kurz zusammengefasst: Dieser Familiengottesdienst kam geradewegs aus der Hölle. Aber da wir ja hart im Nehmen sind, gingen wir am Nachmittag obendrein auch noch zum Ökumenischen Waldgottesdienst. Kein Scheiß. Wenigstens sollte es da im Anschluss Kaffee und Kuchen geben.


Dieser Waldgottesdienst ist – was uns bisher nicht bekannt war, da wir noch nicht so lange in dieser Ecke Berlins wohnen – offenbar bereits seit einigen Jahren eine Institution im Bezirk und wird einmal pro Saison von den zwei an das betreffende Waldstück angrenzenden evangelischen und einer katholischen Kirchengemeinde – letzteres genauer gesagt „nur“ ein anderer Gemeindeteil „unserer“ Pfarrei – in Zusammenarbeit mit der Revierförsterei organisiert. Na fein: Unser Kind ist gern im Wald, also sagten wir uns, schauen wir uns das ruhig mal an. Wir trafen allerdings mit einiger Verspätung am Ort des Geschehens ein, da wir uns recht spontan dazu entschlossen hatten, da hinzugehen, und dann erst einmal herausfinden mussten, wo genau das eigentlich stattfand und wie man da ohne eigenes Auto hinkommt. 

Tatsächlich war die Veranstaltung noch bizarrer, als zumindest ich sie mir vorgestellt hätte. Als wir ankamen – auf einer wirklich schönen Waldlichtung, nebenbei bemerkt –, war die evangelische Pfarrerin gerade fast fertig mit ihrer Nacherzählung einer Legende über „Franziskus und die Zikade“; im Anschluss daran verkündete sie, freiwillige Helfer würden jetzt Lupen an die anwesenden Kinder verteilen, mit deren Hilfe sie auf der Lichtung nach Insekten suchen sollten. Na fein. Was mich dabei wirklich auf die Palme brachte, war dieser extrem salbungsvolle Tonfall, in dem sie sprach – und den ich in dieser Ausprägung bisher eigentlich nur aus Parodien kannte. So ein Sprachduktus, mit dem man den größten Banalitäten den Anschein tiefer Weisheit verleihen kann, indem man nach jedem Wort einen Punkt macht. Oder drei Punkte. Nötigenfalls auch mitten im Wort. Sollte uns das nicht zu denken geben? Und sollte nicht auch einer von uns... oder morgen... oder vielleicht nicht? Wer weiß. Während die Kinder auf Insektenjagd gingen, wurde, begleitet vom Bläserchor, „Laudato si'“ angestimmt; der Bläserchor war übrigens richtig gut – Musik können sie, die Evangelen, das muss der Neid ihnen lassen. Derweil drückte uns jemand einen Programmzettel in die Hand, damit wir uns darüber informieren konnten, was wir schon alles verpasst hatten. Dazu zählten Liedklassiker wie „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ sowie ein Vortrag des örtlichen Revierförsters zum Thema „Insekten im Wald“. Und dann oblag es unserem Pfarrer, eine Predigt zu halten. „Ich habe da noch eine biblische Lesung vorbereitet“, begann er, „auch wenn sich da jetzt vielleicht mancher fragt, was das mit dem Waldgottesdienst und den Insekten zu tun hat.“ Chuzpe hat er ja, unser Pfarrer. Das ist mir schon letztes Jahr beim Erstkommunion-Gottesdienst aufgefallen. Den Leuten unverblümt aufs Brot zu schmieren „Ja, ich weiß, ihr habt hier eigentlich keinen christlichen Gottesdienst erwartet, es ist aber nun mal einer, da müsst ihr jetzt durch“, das kann er. Die biblische Lesung, die er seinem Publikum zumutete, stammte aus dem Buch der Richter und bezog sich auf die Richterin Debora; und der Zusammenhang zum Insektenthema stellte sich dadurch her, dass der Name „Debora“ „Biene“ bedeutet. An diese Feststellung schloss der Pfarrer allerlei Ausführungen über die Rolle von Bienen und Honig in der Bibel an. Es war eher eine lose Aneinanderreihung einzelner Impulse, als solche aber gar nicht mal schlecht. 

Zur Kollekte wurde „Weißt du, wieviel Sternleinstehen“ gesungen (alle drei Stophen!). Der Rest des Gottesdienstes war nicht weiter der Rede wert, aber danach gab's, wie angekündigt, Kaffee und Kuchen. Und da muss ich jetzt wirklich mal ein Lob aussprechen. Das Kuchenbüffet war reichlich und lecker, auch Kaffee war in ausreichenden Mengen vorhanden, und es gab genügend Freiwillige für den Ausschank, dass es zu keinen allzu langen Wartezeiten kam. Kurz, rein unter dem Gemeindefest-Aspekt betrachtet war die Veranstaltung sehr gut organisiert. Noch besser hätte es mir zwar gefallen, wenn es zusätzlich zu Kaffee und Kuchen auch noch Grillwurst und Bier gegeben hätte, aber ich vermute mal, Grillen wäre an diesem Ort nicht erlaubt, wegen Waldbrandgefahr und so. Einige bekannte Gesichter aus unserer Pfarrei entdeckten wir auch und führten einige interessante Gespräche. Alles in allem waren wir also recht zufrieden damit, diesen Ausflug gemacht zu haben.

Überhaupt haben mir die Erlebnisse dieser Tage - einmal mehr - den Eindruck vermittelt, dass es in unserer Pfarrei (die in vielen Punkten sicher nicht untypisch für zahlreiche andere Pfarreien im Lande ist) eine Menge Baustellen, aber andererseits auch eine Menge Potential gibt. Und bei allem Ärger, dem ich hier weiter oben mal Luft machen musste (und das war nicht übertrieben - ich empfinde das wirklich so), empfinde ich die Gesamtsituation doch als durchaus... motivierend


Donnerstag, 2. August 2018

Komm, wir treffen uns in der Ebene von Oh No!

Neulich war ich mit Frau und Kind für ein paar Tage im Wallfahrtsort Altötting. Natürlich waren wir in der Gnadenkapelle und noch in ca. fünf anderen Kirchen, aber der hauptsächliche Anlass für diesen Trip bestand darin, dass am Samstag, dem 28. Juli, in der Basilika St. Anna das "Meet Mission Manifest" stattfand -- eine Art Konferenz für Leiter geistlicher Gemeinschaften und Neuevangelisations-Initiativen, zu der die Initiatoren des Anfang Januar auf der MEHR-Konferenz vorgestellten "Mission Manifest" eingeladen hatten. 


Ich muss an dieser Stelle anmerken, dass die Reaktionen auf die zehn Thesen des "Mission Manifest", die ich unmittelbar nach deren Veröffentlichung in den Sozialen Medien mitbekommen habe - insbesondere auf Twitter, wo ich einigen Accounts "liberaler" bzw. "progressiver" Jungtheologen folge - für mich ein echter Augenöffner waren. Zunächst hatten die zehn Thesen auf mich nämlich den Eindruck gemacht, auf eine entschiedene "Big Tent"-Strategie hin ausgerichtet zu sein; will sagen: Sie schienen mir im Großen und Ganzen so offen und inklusiv formuliert zu sein, dass nahezu jeder darunter verstehen könnte, was er möchte, und somit kaum jemand etwas Grundsätzliches daran auszusetzen haben könnte. Aber da hatte ich mich gründlich getäuscht. Zahlreiche Reaktionen, die ich zu Gesicht bekam, lagen irgendwo zwischen Spott und blankem Entsetzen, und besonders verblüffte es mich, dass die Ablehnung sich nicht bloß auf Details bezog - etwa, dass das Manifest nicht in gendersensibler Sprache verfasst war oder dass unter den Hauptinitiatoren keine Frauen waren -, sondern ganz grundsätzlich beim Missionsbegriff ansetzte. Bei einem Verständnis von Mission nämlich, das davon ausgeht, dass es eine in und durch Jesus Christus offenbarte Wahrheit gibt und dass Christen dazu aufgerufen sind, diese Wahrheit den Menschen mitzuteilen, die sie noch nicht kennen. Um's mal auf Angloamerikanisch auszudrücken: How is this even controversial? Nun, ich musste feststellen, dass diese Auffassung nicht wenigen Menschen, die im kirchlichen Dienst tätig sind oder eine solche Tätigkeit zumindest anstreben, von Grund auf fremd, verdächtig und anrüchig ist. Das hatte ich mir so nicht vorgestellt. 

Nun gut: Zu der Veranstaltung am Samstag trafen sich jedenfalls Menschen, die, wie man annehmen darf, mit diesem Missionsverständnis keine Probleme haben; rund 300 Personen -- Laien, Ordensleute und Priester, Frauen und Männer, jung und alt und auch vom allgemeinen äußeren Erscheinungsbild bunt gemischt. Einige gute Bekannte waren darunter, dazu auch einige, die meine Liebste und ich bisher nur via Facebook kannten und nun also auch mal offline kennenlernen durften. Das gut acht Stunden dauernde Veranstaltungsprogramm umfasste Lobpreis, Impulsvorträge, Diskussionen, ein vom örtlichen Bischof Stefan Oster zelebriertes Pontifikalamt und Eucharistische Anbetung. Zu den namhaften Rednern der Konferenz (und Konzelebranten des Pontifikalamts) zählte, nebenbei bemerkt, auch der Abt des Benediktinerklosters Einsiedeln, Urban Federer, der gemeinhin eher dem "progressiven" Kirchenflügel zugerechnet wird und von dem man munkelt, er habe das Manifest ursprünglich eher "aus Versehen" unterzeichnet und dafür aus dem "eigenen Lager" allerlei Anfeindungen einstecken müssen. 

Der erste Vortrag des Tages kam jedoch von Johannes Hartl und drehte sich um das Thema "Entmutigung". Es gibt von ihm einen längeren Vortrag zu diesem Thema auf YouTube, und ohne diesen bislang in Gänze angehört zu haben, gehe ich mal davon aus, dass sein etwa halbstündiger Impuls beim "Meet Mission Manifest" im Wesentlichen eine gekürzte Fassung davon war; einzelne Passagen hatte ich allerdings auch schon bei der MEHR 2017 in Hartls Vortrag "Erwecke die Helden" gehört, aber das macht gar nichts: Bestimmte Aussagen kann man sich ruhig öfter anhören. 


Wie dem auch sei: Johannes Hartl stützte seine Ausführungen zum Thema "Entmutigung" auf die Kapitel 2-6 des Buches Nehemia, die er als "eine der wichtigsten Bibelstellen über Leitung" bezeichnete. Worum geht's? Nehemia will die zerstörte Stadtmauer Jerusalems wieder aufbauen. "Ich sehe den Status quo, ich benenne das Problem und schlage eine Lösung vor - und lade andere ein: Macht mit!", fasste Hartl das Leitungskonzept Nehemias zusammen. Dann verwies er auf Nehemia 2,19
"Als aber Sanballat, der Horoniter, Tobija, der Knecht von Ammon, und der Araber Geschem davon hörten, verspotteten sie uns und sagten verächtlich: Was soll das, was ihr da macht? Wollt ihr euch etwa gegen den König auflehnen?" 
"Wisst ihr, wer diese Leute sind, dieser Sanballat, dieser Tobija und Geschem?", fragte Hartl das Publikum. "Nein? Ich auch nicht. Aber genau darum geht's: Sobald jemand anfängt, etwas zu machen, tauchen plötzlich Leute auf, von denen man noch nie etwas gehört hat, und haben was dagegen." Hartl zeigte auf, wie Sanballat, Tobija und Geschem in den folgenden Kapiteln unterschiedliche Strategien anwenden, um Nehemia von seinem Werk abzubringen: Sie verdächtigen seine Motive, sie versuchen ihn lächerlich zu machen, indem sie seine Erfolge kleinreden, sie versuchen ihn von seiner Aufgabe abzulenken und von seinen Mitstreitern zu isolieren. In Nehemia 6,2 schlagen Sanballat und Geschem, um Nehemia von seiner Arbeit wegzulocken, vor: "Komm, wir wollen uns in Kefirim in der Ebene von Ono treffen." Johannes Hartl scherzte: "Das klingt schon nicht gut: die Ebene von Oh No. Da darf man nie hingehen."

Halblaut sagte ich zu meiner Liebsten, "Komm, wir treffen uns in der Ebene von Oh No" wäre möglicherweise ein gutes Motto für die ganze Veranstaltung, aber das war nur mein reflexhafter Sarkasmus, mit dem ich mich in einem von Charismatikern dominierten Umfeld gegen einen meinem norddeutschen Naturell widerstrebenden Gefühlsüberschwang abzuschirmen pflege. Tatsächlich fand ich Hartls Impuls nicht nur unterhaltsam, sondern auch sehr hilfreich. Mit Entmutigungen unterschiedlichster Art bekommt man es ja leicht zu tun, wenn man sich beispielsweise anschickt, einer Pfarrei, die sich innerlich schon darauf eingerichtet hat, die nächsten 10-20 Jahre nur noch ihren eigenen Niedergang zu verwalten, neues Leben einzuhauchen. Habe mir daher fleißig Hartl-Sätze notiert, wie zum Beispiel:
  • "Letztendlich ist es egal, ob das, was du tust, in deinen eigenen Augen großartig ist. Es kann trotzdem eine wichtige Funktion im Plan Gottes erfüllen." 
  • "Gebet ist die Quelle von allem, aber Gebet dient nicht dazu, sich vor Wagnissen zu drücken und in die Introversion zurückzuziehen." 
  • "In der Waffenrüstung Gottes gibt es keinen Rückenschutz. Wenn du wegläufst, bist du verwundbar." 
Es folgte eine sogenannte "Best Practice-Runde" (ich kann und kann und kann diesen Marketing-Sprech nicht ausstehen, aber mich fragt ja mal wieder keiner) mit Leitern verschiedener Initiativen oder Gemeinschaften (darunter auch der schon erwähnte Abt Urban, an dessen Beitrag ich aber keine besonders präzisen Erinnerungen habe). Ausgesprochen interessant fand ich den Beitrag von Fra' Georg von Lengerke vom Malteserorden, der die Bedeutung der vier Grundvollzüge der Kirche - Verkündigung (martyria), Liturgie, Diakonie und Gemeinschaft (koinonia) - betonte und sich dabei eines sehr starken Bildes bediente: In Lateinamerika habe er mal einen jungen Mann namens Pablo kennengelernt, der ein Autowrack gefunden und mit viel Mühe wieder fahrtüchtig gemacht habe; allerdings habe dieses Auto nur drei Räder gehabt, ein viertes Rad sei nicht aufzutreiben gewesen. Damit das Auto trotzdem fahren konnte, habe Pablo eine der vier Ecken des Wagens mit einem Sandsack beschwert, damit die diagonal gegenüberliegende Ecke in der Luft hing. "Das ging, aber wirklich gut ging es nicht." In diesem Sinne, so Fra' von Lengerke, müssten auch innerkirchliche Gemeinschaften, Initiativen und Werke darauf bedacht sein, auf allen vier Rädern zu fahren und nicht nur auf dreien: Hilfswerke etwa stünden stets in der Versuchung, die Diakonie mit dem Sandsack zu beschweren und dafür die martyria in der Luft hängen zu lassen; ebenso gebe es aber auch Strömungen innerhalb der Kirche, in denen es umgekehrt sei.

Den Vortrag des gastgebenden Bischofs Stefan Oster zum Thema "Kirchliche Identität, Maria und die Mission" gibt es auf seiner Website zum Nachhören; ich kann mich daher hier darauf beschränken, einige Details hervorzuheben, die bei mir besonders "hängen geblieben" sind. So beklagte Bischof Oster gleich eingangs einen weit verbreiteten "Beschwichtigungskatholizismus", der sich darin äußere, dass vielen Menschen ihr Bekenntnis zur Kirche eher peinlich sei und sie es beispielsweise mit dem Verweis auf das soziale Engagement der Kirche quasi zu entschuldigen suchen, zugleich aber alle möglichen Vorwürfe, die von außen an die Kirche herangetragen werden, in einer Art vorauseilenden Gehorsams einräumen und dabei "das Thema Glaube eher zurücknehmen". (Ich selbst nenne dieses Phänomen gern "Ja-aber-Katholizismus".) Es genüge nicht, lediglich "die Botschaft Jesu an den Mann bringen" zu wollen: Vielmehr müsse es darum gehen, Jesus selbst zu den Menschen zu bringen. Gerade junge Menschen, so führte er weiter aus, legten Wert auf Authentizität der Verkündigung; da gelte es sich nun allerdings zu fragen: "Wie wird denn ein Mensch authentisch? Kann ich einfach beschließen, morgen authentischer zu sein als ich es gestern war?" Zur Beantwortung dieser Frage verweist er zunächst auf das Beispiel seines Ordensgründers, des Hl. Don Bosco, und dann vor allem auf die Allerseligste Jungfrau Maria. Was auf der Aufnahme nicht zu hören ist, ist der Umstand, dass meine neun Monate alte Tochter die Ausführungen des Bischofs darüber, wie die Fürsorge für ein kleines Kind die Herzen der Eltern verwandle, sehr passend akustisch untermalte; sehr eindrucksvoll fand ich auch Bischof Osters Gollum-Imitation (ca. Minute 14 der Aufnahme).


Dann gab's erst mal Mittag, und zwar in Form von "Selbstverpflegung in den umliegenden Gasthöfen". Uns verschlug es in denselben Gasthof wie die Initiatoren der Konferenz, allerdings saßen wir draußen auf der Terrasse und die VIPs drinnen an einer großen Tafel. Trotzdem hatte ich im Laufe der Mittagspause Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch mit Johannes Hartl, der mich bei dieser Gelegenheit Bischof Oster vorstellte, den meine Liebste dann auch gleich um einen Segen für unsere kleine Tochter bat. Dass ich dem Bischof eigentlich ein Exemplar der "Benedikt-Option" überreichen wollte und er mir sagte, das Buch habe er bereits, habe ich ja schon berichtet.

Nach dem Mittagessen ging es dann weiter mit Kleingruppen-Diskussionen, die ich mir ehrlich gesagt allerdings kleiner und diskussionsförmiger vorgestellt hatte. Nun gut, schon die sehr begrenzte Zeit, die für diesen Programmpunkt vorgesehen war, ließ erwarten, dass es sich dabei bestenfalls um kollektives Brainstorming handeln konnte. Wenn sich dabei dann aber einzelne Teilnehmer aggressiv in den Vordergrund drängen, wird es nicht einmal das. -- Ehe ich die letztere Anmerkung näher ausführe, muss ich aber erst mal einen Exkurs vom Stapel lassen.


Am Tag vor dem "Meet Mission Manifest" war ich in einer Facebook-Gruppe in eine Diskussion über gewisse Eigenheiten mancher (oder vieler?) charismatischer Christen hineingeraten; diese Diskussion hatte mit dem Event in Altötting gar nichts zu tun, sondern entzündete sich an einem auf kath.net erschienenen Interview mit zwei Leuten von einer Jüngerschaftsschule in Salzburg. Mir ging der Tonfall, in dem die jungen Lüü da redeten, erheblich auf den Keks, aber das war weit eher eine Frage des subjektiven "Geschmacks" (ich sagte ja schon: norddeutsches Naturell und so) als eine substantielle Kritik an charismatischer Frömmigkeit. Ich sag's mal so -- auch auf die Gefahr hin, mir gleich innerhalb mehrerer Segmente meiner Leserschaft Ärger einzuhandeln: In gewisser Hinsicht geht es mir mit der Charismatischen Bewegung so wie mit der Traditionalistischen Bewegung. Ich bringe ihrem jeweiligen geistlichen Anliegen grundsätzlich Sympathie entgegen und kann auch ihrem jeweils spezifischen "Frömmigkeitsstil" (wenn ich das mal so nennen darf) nach anfänglichem Fremdeln durchaus Einiges abgewinnen; gleichzeitig beschleicht mich zuweilen das Gefühl, beide Bewegungen haben eine gewisse Tendenz dazu, ziemlich gruselige Leute anzuziehen. Jenseits persönlicher Vorlieben und Abneigungen bin ich durchaus der Überzeugung, dass die Kirche sowohl die Traditionalistische als auch die Charismatische Bewegung braucht -- und auch, dass diese Bewegungen einander brauchen, um einander zu ergänzen und gegebenenfalls zu korrigieren. Leider ist Letzteres keinesfalls garantiert, wenn diese Gruppierungen aufeinandertreffen. Es kann auch passieren, dass sie sich auf eine Weise ergänzen, die ich als "worst of both worlds" bezeichnen würde. Damit meine ich eine spezifische Verbindung von charismatischer Schwärmerei mit einem Faible für (vorzugsweise kirchlicherseits noch nicht offiziell anerkannte) Marienerscheinungen und sonstige Privatoffenbarungen, wundertätige Medaillen und quietschbunte Andachtsbildchen. Veranstaltungen, die auf diese Klientel zugeschnitten sind, stelle ich mir in etwa vor wie Fatima-Sühnenacht plus Zungenrede, Ausdruckstanz und Heilungsgebet. Also so, dass Unkundige, wenn sie sich dort hineinverirren würden, sich womöglich nicht ganz sicher wären, ob sie nicht vielleicht bei irgendwelchen obskuren Okkultisten gelandet sind. Okay, ich übertreibe. Ich schätze, dieses leicht überzeichnete Bild, das ich da gerade zu zeichnen versucht habe, ist sehr wesentlich von einer Person geprägt worden, die ich in meinen Teenagerjahren in meiner damaligen Pfarrgemeinde kannte (und die damals zufällig auch meine Augenärztin war). Und nun hatte ich das Pech, ausgerechnet mit einer Frau in eine Gar-nicht-mal-so-Kleingruppe zu geraten, die mich fatal an diese Augenärztin erinnerte. Diese Frau dominierte das Gruppengespräch von der ersten Sekunde an, pries ihr eigenes Projekt in den höchsten Tönen, verteilte Flyer und hatte keinerlei Hemmungen, Wortbeiträge anderer Teilnehmer in verächtlichem Tonfall abzubügeln. Da hatte ich dann schon bald keine Lust mehr, mich zu beteiligen.



Insbesondere ging es mir gegen den Strich, dass diese Dame kritische Anmerkungen zu den Zuständen in Pfarreien oder ganzen Bistümern (oder der institutionalisierten Gestalt der Kirche überhaupt) wiederholt als "Gejammer" abqualifizierte. Ein Echo dieser Haltung glaubte ich wahrzunehmen, als beim Zusammentragen der Ergebnisse der Gruppengespräche eine andere Gruppe es geradezu als Regel postulierte, dass man "nicht kritisieren" solle. Das sei "ganz wichtig". Gemeint war das offenbar im Sinne von "Lasst tausend Blumen blühen": Man solle missionarische Aufbrüche, auch wenn man möglicherweise Vorbehalte gegenüber bestimmten Erscheinungsformen derselben habe, erst mal wachsen lassen, statt sie gleich mit Kritik zu ersticken. Da ist sicherlich etwas Richtiges dran, ebenso wie auch an der Feststellung, es könne schädlich sein, seinen Blick allzu sehr auf Negatives zu fixieren. Aber gerade das "Diskussions"-Verhalten der erwähnten Wiedergängerin meiner früheren Augenärztin macht deutlich, zu was für paradoxen Konsequenzen es führen kann, wenn man diese Haltung auf die Spitze treibt: nämlich dazu, dass diejenigen ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, die Kritik üben. Oder anders ausgedrückt: dass der Überbringer der schlechten Nachricht geköpft wird. Denken wir an Nehemia: Dem Beschluss zum Wiederaufbau der Stadtmauer geht die Feststellung voraus, dass die Mauer kaputt ist -- und dass das schlecht ist. Was, wenn da nun Leute gekommen wären, die gesagt hätten: "Och, Nehemia, immer musst du alles so negativ sehen. Ist doch schön, dass die Mauer offen ist. So können die Leute von draußen viel leichter zu uns kommen." (Ich meine das nicht politisch.)

Ironischerweise hielt als nächstes Pater Karl Wallner OCist, der missio-Nationaldirektor für Österreich, einen Vortrag, den man nach den Maßstäben der Augenärztinnen-Wiedergängerin durchaus als pures "Gejammer" hätte ansehen können -- den ich aber ganz hervorragend fand, und zwar gerade weil er ein schonungsloses Bild der Lage des christlichen Glaubens in unseren Breiten zeichnete. So verwies er auf die aktuelle Shell-Studie zum Thema "Jugend und Religion", aus der beispielsweise hervorgeht, dass nur 9% der jungen Katholiken in Deutschland beten; bei den jungen Muslimen seien es 80%. "Diesen schmerzhaften Realismus müssen wir zulassen", erklärte Pater Karl und verwies auf den Hl. Thomas von Aquin, der gelehrt habe, das erste Heilmittel gegen die Traurigkeit sei die Wahrheit. "Ich möchte es wirklich mit etwas Dramatik sagen: Es hängt von uns ab, wie es weitergeht", betonte Pater Karl. Ich frage mich, ob er die "Benedikt-Option" kennt; sein Vortrag wies jedenfalls auffallende Übereinstimmungen mit den Thesen Rod Drehers auf.

Den letzten Programmpunkt vor dem abschließenden Pontifikalamt bildete die Vorstellung des "YOUCAT for Kids" durch den Projektleiter Bernhard Meuser. Seine Weltpremiere wird dieser neue Kinderkatechismus erst beim katholischen Weltfamilientreffen haben, das vom 21.-26. August in Dublin stattfindet; aber die deutschsprachige Ausgabe liegt bereits vor, und an die Teilnehmer des "Meet Mission Manifest" wurden Freiexemplare verteilt. Ich habe in den letzten Tagen recht ausgiebig in dem Buch geblättert und kann sagen: Es ist sehr gut. In erster Linie ist der Kinderkatechismus offenbar dafür konzipiert, dass Eltern ihn zu Hause mit ihren Kindern lesen und darüber hinaus das nötige Rüstzeug daraus beziehen, um mit ihren Kindern über religiöse Fragen sprechen zu können, die diese unweigerlich früher oder später stellen werden. Meine Liebste und ich denken darüber hinaus aber auch schon über Möglichkeiten nach, dieses Buch für die Arbeit in der Pfarrei einzusetzen. Zum Beispiel haben unsere lieben Gemeindereferentinnen unlängst die Gründung eines Elternkreises ins Gespräch gebracht; da wär's doch schön, wenn der nicht nur dafür genutzt würde, dass die Eltern zusammen Kaffee trinken, während die Kinder miteinander spielen. Auch als Angebot vor oder neben der Erstkommunion-Vorbereitung könnte man sich einen "YOUCAT for Kids"-Lese- und Gesprächskreis vorstellen. Na, schauen wir mal.


Am Rande klang übrigens an, dass - ebenfalls unter Federführung Bernhard Meusers - ein neues "Mission Manifest"-Buch geplant oder angedacht ist; ein "Praxisbuch" soll es werden, und die Teilnehmer des Treffens sollten sich schon mal überlegen, ob sie dazu womöglich etwas beitragen können und möchten. Also, ich möchte auf jeden Fall; insbesondere würde ich gern - nicht theoretisierend, sondern strikt praxisbezogen - Querverbindungen zwischen "Mission Manifest" und #BenOp herausarbeiten. Und nach Möglichkeit ein paar "punkige" Impulse setzen. Auch hier gilt wieder: Schauen wir mal.

Und dann habe ich mir noch einen Satz notiert, von dem ich nicht mehr mit Gewissheit sagen kann, wer ihn eigentlich gesagt hat. Was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass ich glaube, ihn schon mal irgendwo gehört zu haben. Vielleicht auf der MEHR, vielleicht aber auch ganz woanders. Der Satz lautete, sinngemäß jedenfalls:
"Die eigentliche Frucht, die ein Apfelbaum hervorbringen muss, ist nicht ein weiterer Apfel, sondern ein weiterer Baum." 
Wer hat's gesagt? Kann mir jemand auf die Sprünge helfen?