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Montag, 12. Oktober 2020

Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie diese Hausbesetzer

Bis vor einigen Jahren habe ich ganz in der Nähe der unlängst geräumten #Liebig34 gewohnt. An der gegenüberliegenden Straßenecke war (und ist wahrscheinlich immer noch) ein Bäcker, bei dem ich mir oft Frühstück für unterwegs gekauft habe. 

-- Unterwegs wohin? Eigentlich egal, Hauptsache raus aus meiner vollgemüllten Wohnung. 

Sic.

Daran musste ich denken, als die Bilder und Filmaufnahmen aus der geräumten Liebig34 in den Sozialen Netzwerken zirkulierten und zahlreiche Mediennutzer aus dem "wertkonservativ-wirtschaftsliberalen" Spektrum und angrenzenden Lagern kübelweise Häme und Verachtung über die auf die Straße gesetzten Hausbesetzer ausschütteten, die meinten, die Welt verbessern zu können und zu müssen, aber dem Anschein nach nicht mal in der Lage waren, ihr Bett zu machen und ihr Geschirr zu spülen. Ich mag da gar nicht näher ins Detail gehen, denn das Ausmaß an Bosheit, das sich da Bahn brach, ging mir wirklich an die Nieren. Nicht zuletzt auch deshalb, weil derartige Äußerungen zum Teil auch von Leuten kamen, die ich ansonsten schätze und mag -- darunter auch und gerade solche, die in ihrem Social-Media-Auftritt dezidiert Wert darauf legen, als gläubige Christen wahrgenommen zu werden. 

Okay, okay, ich weiß: Ich bin selbst jemand, der auf kaum etwas empfindlicher reagiert als auf Ermahnungen à la "Das ist jetzt aber nicht sehr christlich von dir". Zumal ich dabei oft den Eindruck habe, dahinter stehe eine Einstellung, die das Christsein auf eine banale, harmlose "Seid nett zueinander"-Moral reduziert. Ich sollte also besser sehr vorsichtig damit sein, selbst solche Töne anzuschlagen. Dennoch: Häme - verstanden als die Neigung, sich über etwas Schlechtes zu freuen, weil und insofern es Leute in ein schlechtes Licht rückt, die man ohnehin nicht leiden kann - ist für mein Empfinden einer der hässlichsten menschlichen Charakterzüge überhaupt, unabhängig davon, gegen wen diese Häme sich richtet. Und wenn Christen sich öffentlich und mit erkennbarer Lust in einer solchen Haltung suhlen, dann darf man, denke ich, schon der Meinung sein, dass das christliche Zeugnis dadurch verdunkelt wird. Und dass die betreffenden Christen vielleicht mal in Erwägung ziehen sollten, dass es in ihrer eigenen Seele womöglich noch viel unaufgeräumter aussieht als im Treppenhaus der Liebig34.

Soweit hat das nun erst einmal gar nichts mit dem Thema Hausbesetzung zu tun. Ich hätte im Wesentlichen dasselbe über Leute schreiben können, die sich darüber freuen, dass Donald Trump an COVID-19 erkrankt ist. Aber wer mich kennt, der weiß (auch wenn er sich vielleicht darüber wundert), dass Hausbesetzer mir dann doch um einige Grade näher am Herzen liegen als Donald Trump.  

Rigaer Ecke Liebigstraße (Foto von Juli 2016)

Aus diesem Grund habe ich anlässlich des großen öffentlichen Interesses an der Räumung der Liebig34 ein bisschen in meinem Blog-Archiv gekramt und dabei neben diesem, diesem und diesem Artikel auch ein unveröffentlichtes Fragment wiedergefunden, das ich vor über vier Jahren, im Sommer 2016, geschrieben bzw. zu schreiben begonnen hatte. Es ist wirklich sehr fragmentarisch, es bricht praktisch schon ab, bevor ersichtlich wird, worauf ich eigentlich hinaus will. (Kritische Leser mögen an dieser Stelle anmerken, es komme bei mir öfter vor, dass das bis zum Schluss nicht ersichtlich werde. Danke für die konstruktive Kritik, gerngeschehen, Ihr mich auch.) Der Punkt ist, kurze Zeit später ging ich auf den Jakobsweg und hatte folglich erst mal eine Menge andere Dinge im Kopf, und irgendwie bin ich danach nie mehr dazu gekommen, den Entwurf weiterzubearbeiten. 

Bis jetzt. 

Ich schrieb seinerzeit: 

Letzten Montag habe ich gegen Mittag einen kleinen Spaziergangs durchs Gefahrengebiet unternommen - durch die Rigaer Straße in Berlin-Friedrichshain, wo seit einigen Monaten der Konflikt zwischen Hausbesetzern und der Staatsgewalt eskaliert. Vorläufiger Höhepunkt dieser Eskalation war eine Demonstration am Abend des 9. Juli, aus der heraus bzw. in deren Umfeld es zu schweren Ausschreitungen kam - der offizielle Polizeibericht spricht davon, "dass es sich um die aggressivste und gewalttätigste Demonstration der zurückliegenden fünf Jahre in Berlin handelte". 

Solidaritätsparolen an der Rigaer 78: "Regierung schafft keine Ordnung, nur Unterordnung" (Foto von Juli 2016)  

Und weiter: 
Diese Ausschreitungen lagen erst eineinhalb Tage zurück, als ich dort entlangspazierte, aber ich war zu Recht davon ausgegangen, dass es am helllichten Mittag ungefährlich genug sein würde im "Gefahrengebiet". Eine große Expedition war es für mich auch nicht, denn ich wohne - bislang noch - nicht allzu weit von dort, wenn auch nicht in unmittelbarer Nachbarschaft. In dem einen oder anderen der besetzten oder ehemals besetzten Häuser der Rigaer Straße bin ich auch gelegentlich mal zu Gast gewesen - bei der veganen VoKü im Fischladen (Rigaer 83), im Filmrisz-Kino (Rigaer 103) und auch mal bei einem oder zwei Punkkonzerten in einem Keller; in welchem Haus genau das war, habe ich vergessen. Das ist alles schon ein paar Jahre her, aber ich denke durchaus mit Sympathie daran zurück. 
Bildet Banden! 

Okay, worauf wollte ich damals wohl hinaus? Ich weiß es nicht mehr ganz genau, kann es mir aber noch so ungefähr vorstellen. Nämlich dass es zwar ohne Frage eine Reihe von Dingen gibt, die man an der militanten linksautonomen Besetzer-Szene kritisieren kann und sogar muss (Einschub: Geärgert habe ich mich im Zusammenhang mit der Liebig34-Räumung über einen Artikel von Marie Frank im Neuen Deutschland, in dem so allerlei stand, was ich zustimmungsfähig fand, bis zu dem Satz "Nun lässt sich wahrlich darüber streiten, ob Brandanschläge auf Signalkabel der S-Bahn oder auf Autos sinnvolle Akte politischer Gegenwehr sind". Sorry, aber da bin ich raus. Genau das - nämlich dass sie das nicht sind - sollte nämlich gerade nicht strittig sein); aber was immer man diesen Leuten vorwerfen kann, enthebt "uns" - als Christen, meine ich - nicht von der Pflicht, sie als Menschen wahrzunehmen, und das heißt:  als geliebte Kinder Gottes, als unsere Nächsten, die wir lieben sollen wie uns selbst. Auch und gerade dann, wenn sie diese Liebe nicht erwidern und über ihre Gegner, wie zum Beispiel Polizeibeamte, in dehumanisierenden Ausdrücken ("Bullen", "Schweine") sprechen und denken. Sorry, liebe Mitchristen: "Wie du mir, so ich dir" und "Die haben's doch nicht besser verdient" gilt bei uns nicht. Keiner hat behauptet, dass das einfach wäre. 

Aber auch das ist noch nicht alles. Wie sich gegen Ende des zitierten Artikelfragments schon andeutet, hatte ich im Laufe meiner Studentenzeit und, in geringerem Maße, auch noch später – vermittelt durch Kommilitonen oder auch durch Gelegenheits-Bekanntschaften - vielfältige Kontakte zu Kreisen, in denen das Erbe der Hausbesetzerbewegung lebendig erhalten wurde: Ich war zu Gast in selbstverwalteten Häusern und in "Volxküchen", besuchte Partys und Konzerte in Bauruinen, auf innerstädtischen Brachflächen und auf Hinterhöfen abbruchreif wirkender Häuser. Ich fühlte mich unter Punks und Autonomen zumeist wohl und auch willkommen, wenngleich es zu einem gewissen Grad stets spürbar blieb, dass ich in dieser Szene letztlich doch nicht zu Hause, sondern eben nur zu Gast war. Diese Erfahrungen sind sicherlich ein Grund dafür, dass Äußerungen über die Besetzerszene für mich in einem anderen Maße und auf andere Weise emotional besetzt ist als für jemanden, für den das nur ein Thema "aus den Medien" ist. Noch deutlicher: Ich habe - nicht, soweit ich weiß, direkt unter den Liebig34-Besetzerinnen, aber in deren weiterem Umfeld - Freunde in dieser Szene; einige davon waren schon meine Freunde, bevor meine "Wiederbekehrung" zum katholischen Glauben manifest wurde; einige sind inzwischen infolge "weltanschaulicher Differenzen" nicht mehr meine Freunde, aber das war nicht meine Entscheidung und ändert nichts an dem, was ich an ihnen gemocht und geschätzt habe. Daher, liebe Freunde und Geschwister im Glauben: Wenn Ihr diese Leute beleidigt, beleidigt Ihr auch mich. Ich verlange nicht, dass Euch das großartig kümmert, aber Ihr sollt es zumindest wissen.

Darauf, was grundsätzlich von Hausbesetzungen zu halten ist und wie sich dies zu dem klaren Bekenntnis der katholischen Soziallehre zum Recht auf Privateigentum verhält, will ich hier nicht groß eingehen; ein paar Andeutungen dazu finden sich schon in einem oder zwei meiner weiter oben verlinkten älteren Blogartikel, aber gleichzeitig denke ich, das Thema verdient es, erheblich weiter  vertieft zu werden, als ich es hier und jetzt so ad hoc leisten kann. Ich denke, dieser Aufgabe werde ich mich widmen, wenn ich Fratelli Tutti - und dann nach Möglichkeit, von da aus sozusagen "rückwärts" vorgehend, auch die wichtigsten Sozialenzykliken früherer Päpste - gelesen haben werde. 

Vorausschicken will ich an dieser Stelle nur eines (womit ich auch nur wiederhole, was ich an anderer Stelle schon geschrieben habe): Im Grundsatz dürfte der Anspruch, sich einem Recht verpflichtet zu wissen, das höher steht als irdische Gesetze, einem Christen eigentlich nicht ganz fremd sein, bei allen unterschiedlichen Auffassungen darüber, worin dieses höhere Recht besteht und was es vom Einzelnen fordert. Auf Facebook attestierte eine befreundete Bloggerin der Hausbesetzerbewegung eine "Selbstgerechtigkeit, mit der man sich über das Gesetz stellt im Dienste inakzeptabler Ideologien". Dies allerdings könnte man, je nach eigenem Standpunkt, gläubigen Christen genausogut vorwerfen (und tut das zuweilen ja auch). Ein augenfälliger Unterschied ist, dass die Hausbesetzer konsequenter für das eintreten, woran sie glauben, und mehr Opfer dafür bringen, als "wir" das in aller Regel tun. Und das halte ich für einen Umstand, den "wir" mit Demut betrachten sollten.