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Samstag, 26. Januar 2013

Du bist ein Wunder!


In meinem letzten Beitrag habe ich mich eingehend mit der Gretchen Sackmeier-Trilogie von Christine Nöstlinger auseinandergesetzt, aber ein Detail muss ich doch noch nachtragen - wenn auch letztlich nur zu Überleitungszwecken. Angesichts der ausgeprägt links-alternativen und feministischen Gesinnung, die aus den Sackmeier-Romanen spricht, finde ich es nämlich recht bemerkenswert, dass ein bestimmtest Thema dort nicht zur Sprache kommt: das Thema Abtreibung. Dabei gibt es eine Passage gegen Ende des ersten Romans, in der die Autorin diesem heißen Eisen immerhin recht nahe kommt. Auf S. 148 (der alle-drei-Romane-in-einem-Band-Sonderausgabe) nämlich wird Gretchen
"etwas klar, was sie eigentlich - als gute Rechnerin - hätte längst wissen müssen, was sie sich aber nie überlegt hatte: Die Mama war schon - mit Gretchen - schwanger gewesen, als sie noch in die Schule gegangen  war. Mit Gretchen im Bauch hatte sie Matura gemacht! Gretchen fand das faszinierend.
'Menschenskind, das war nicht faszinierend, das war die komplette Scheiße', sagte Marie-Luise. 'Wenn ich dran denk!' Sie seufzte. 'Zuerst ist deine Mama noch schnell aufs Häusel kotzen gegangen und dann ist sie rein zur Prüfungskommission!' Die Marie-Luise schüttelte bekümmert den Kopf."
Wenn aus letzterer Einlassung die Lehre zu ziehen sein soll, Mädchen sollten sich möglichst davor hüten, schwanger zu werden, bevor sie die Schule abgeschlossen haben, dann wird wohl kaum jemand dieser Maxime ernsthaft widersprechen wollen. Problematisch wird es ja erst, wenn so ein Schulmädchen - wie eben Gretchens Mutter - doch schwanger wird. Heute, über 30 Jahre nach dem Erscheinen des ersten Gretchen Sackmeier-Romans, scheint es in den Augen einer großen Zahl von Menschen, zumindest in Deutschland, mehr oder weniger selbstverständlich zu sein, dass man der jungen Schwangeren in so einem Fall zur Abtreibung raten würde. Zu bedenken ist hier aber zweierlei: einmal, dass Gretchen Sackmeier in Österreich spielt; und zum anderen: Wenn man davon ausgeht, dass die Handlung, vom Zeitpunkt des Erscheinens der Bücher aus gesehen, ungefähr in der Gegenwart, zumindest nicht in der Zukunft angesiedelt ist (im 1983 erschienenen zweiten Band wird ein Ereignis aus dem Jahr 1981, die Verurteilung von Mao Zedongs Witwe Jiang Qing, erwähnt), dann muss die Schwangerschaft, von der hier die Rede ist, etwa Mitte der 60er Jahre stattgefunden haben - zu einer Zeit also, als Abtreibung in Österreich, wie übrigens auch in Deutschland, noch grundsätzlich (und nicht nur theoretisch) unter Strafe stand. Der jungen Elisabeth damals-noch-nicht-Sackmeier wäre es also nicht leicht möglich gewesen, sich, um es mit einem populären Euphemismus zu sagen, "gegen das Kind zu entscheiden". Aber wäre es einer so kämpferischen Feministin wie "der Marie-Luise" nicht zumindest zuzutrauen, diesen Umstand explizit hervorzuheben und das prä-'68er-Abtreibungsstrafrecht als institutionalisierte Unterdrückung der Frau anzuprangern? - Nun ja: Wollte "die Marie-Luise" das tun, dann müsste sie Gretchen damit mehr oder weniger durch die Blume zu verstehen geben: "Ich hätte es besser gefunden, wenn deine Mutter dich abgetrieben hätte." Und das wäre nicht nur Gretchen gegenüber ein Affront, sondern nicht zuletzt auch dem Leser gegenüber, dem Gretchen von der ersten Seite an als Identifikationsfigur und Sympathieträgerin präsentiert worden ist. Der Leser kann schlechterdings nicht mit der Idee sympathisieren, die Titelheldin des Buches wäre nie geboren worden.

Auf einen ähnlichen Effekt scheint eine Initiative von Lebensschützern in den USA zu hoffen, die Pattie Mallette, die Mutter des Teenie-Idols Justin Bieber, für die Mitwirkung an einem Filmprojekt gewonnen hat. Dem Umstand, dass Justin Bieber bekennender Christ ist, wird zumindest in der deutschen Öffentlichkeit wenig Beachtung zuteil; Josef Bordat hat diesem Phänomen bereits im letzten Frühjahr zwei Artikel gewidmet. Biebers hiesige Vermarkter mögen durchaus ein Interesse daran haben, dass die religiöse Orientierung des singenden Mädchenschwarms nicht groß thematisiert wird; eine interessante Information ist es aber allemal, zumal Biebers enthusiasmierte 10-13jährigen Fans, die sich selbst "Beliebers" nennen, häufig den Eindruck erwecken, sie hielten den 18jährigen Popsänger selbst für den Messias. - Was für mein aktuelles Thema jedoch noch weit bedeutsamer ist als Biebers religiöse Einstellung, ist der Umstand, dass seine Mutter im Alter von 17 Jahren mit ihm schwanger war und Freunde und Bekannte ihr eine Abtreibung nahe gelegt hatten. Vor diesem Hintergrund gewinnt Pattie Mallettes Mitwirkung an dem besagten Filmprojekt eine ganz besondere Signifikanz. Zwar handelt es sich nicht um ein quasi-autobiographisches Werk wie Eminems 8 Mile oder Bushidos Zeiten ändern dich, sondern um einen Kurzfilm in historischem Gewand, aber es liegt doch auf der Hand, dass die Mitwirkung der Mutter eines Weltstars das Augenmerk der Öffentlichkeit auf deren eigene Geschichte lenken wird und soll. Die Welt soll erfahren, wie leicht es hätte geschehen können, dass Justin Bieber abgetrieben worden wäre, und die "Beliebers", die sich ihr Leben ohne Justin Bieber nicht vorstellen können (zumindest solange, bis sie dem nächsten Popidol verfallen), sollen Gott auf den Knieen danken, dass es nicht dazu gekommen ist.

Unschöne Reaktionen von Lebensschutz-Gegnern sind durchaus vorauszusehen. Wahrscheinlich wird man den Machern des Films vorwerfen, sie seien schuld, wenn minderjährige Mädchen schwanger werden und nicht abtreiben wollen, weil es ja sein könnte, dass ihr Kind der nächste Justin Bieber wird. Und bei künftigen Bieber-Konzerten können Lebensschutz-Gegner sich gegenüber dem Eingang zusammenrotten und den "Beliebers" zurufen: "Hätte Justin Biebers Mutter abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben!"

Aber jetzt mal ohne Flachs: Wenn schon eine Romanfigur und ein Pop-Idol, das zwar ein real existierender Mensch, im Leben seiner Fans aber letztlich doch nur eine fiktive Figur ist, den geneigten Betrachter auf den Gedanken bringen können, es wäre doch jammerschade, wenn diese Person abgetrieben worden wäre, dann sollte das doch auch im realen Leben funktionieren. Ich empfehle daher folgendes kleine Experiment zur Nachahmung:

Setz dich einem Menschen gegenüber, den du sehr gern hast, der dir viel bedeutet und der dein Leben bereichert. Schau diesen Menschen an und versuch dir vorzustellen, es gäbe diesen Menschen nicht, weil er nie geboren worden wäre. Stell dir vor, wieviel ärmer dein Leben dann wäre.

Das sollte als - zugegebenermaßen subjektives - Argument für den Lebensschutz eigentlich ausreichen.

(Ich weiß schon: Man kann mir hier einwenden, auch das umgekehrte Vorgehen sei möglich: Man könne auch einen Menschen, der einem ausgesprochen zuwider ist, ins Auge fassen, sich die Welt ohne diesen Menschen vorstellen und finden, das sei ein gutes Argument für Abtreibung. Aber ganz im Ernst: Wer nicht in der Lage ist, einen einzigen Menschen mehr zu lieben, als er seinen schlimmsten Feind verabscheut, bei dem ist wohl Hopfen und Malz verloren...)

Samstag, 19. Januar 2013

Was Gretchen (nicht) lernt...

Im Schlussabsatz meiner kurzen Geschichte der Literaturverschlimmbesserung warf ich unlängst die Frage auf, ob "Kinder wirklich Geschichten lesen wollen, in denen alles politisch korrekt, pädagogisch einwandfrei, moralisch sauber und 'zeitgemäß' zugeht"; kurze Zeit später formulierten die "Pimpfe", die es schließlich wissen müssen, es noch eine Spur schärfer und sprachen von Büchern, "in denen alles, aber auch alles gemäß der Regeln des letzten PC-Handbuches eingeebnet, gleichgemacht, verwässert, sissifiziert und weichgespült wurde". Ich hatte einen solchen Typus von Kinderbüchern den Werken jener Autoren gegenübergestellt, die mich seinerzeit an die Freuden der Literatur herangeführt hatten - beispielhaft hatte ich Otfried Preußler, Michael Ende, Karl May und Mark Twain genannt -; ganz ähnlich die Pimpfe, die sich auf "unseren Struwwelpeter, unsere Preußlers, unsere Endes, unsere Blytons" beriefen.

Die Übereinstimmungen in diesen Gegenüberstellungen kommen gewiss nicht von ungefähr. Auch wenn ich annehme (und z.T. von Kindern aus meinem Bekanntenkreis weiß), dass viele Kinder im Alter von Max, Marie und Mauritius - sofern sie überhaupt Bücher lesen - eher zu Harry Potter, Percy Jackson oder auch zu Gregs Tagebuch greifen, kann man wohl behaupten, dass wir es hier mit einer Opposition zwischen zwei grundverschiedenen Spielarten der Kinder- und Jugendliteratur zu tun haben: der realistischen, aufklärerischen, emanzipatorischen, "sozial engagierten" auf der einen und der abenteuerlichen und/oder phantastischen Richtung auf der anderen Seite. Sicherlich ist das nur eine "idealtypische" Unterscheidung, gewiss können Elemente der einen Richtung auch in werken des anderen Typs vorkommen und umgekehrt; ganz ohne Zwischenformen und Grenzfälle kommt schließlich keine Systematik aus. Im Großen und Ganzen kann man aber wohl doch annähernd jedes Kinder- und Jugendbuch der einen oder der anderen Kategorie zuordnen. Der Literaturtheoretiker Northrop Frye schrieb einmal, analog zur Einteilung der Philosophen in Platoniker und Aristoteliker könne man die Literaten in "Iliadisten" und "Odysseeisten" einteilen; im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, o scheint mir, verläuft die Grenze eher zwischen "Odysseeisten" und "Sozialpädagogen". (Eine dritte Gruppe, die ich ad hoc mal die Polkoisten nennen möchte, nach Elise Polko, der Verfasserin des Buches Unsere Pilgerfahrt von der Kinderstube bis zumeigenen Herd (1861) - also die Vertreter/innen des klassischen "Mädchenbuchs" -, dürfte heute weitgehend ausgestorben sein.)

Als einen der führenden "Odysseeisten" in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur des 20. Jahrhunderts wird man wohl den 1995 verstorbenen Michael Ende ansehen dürfen. Noch zu seinen Lebzeiten, 1994, veröffentlichte der Verlag Weitbrecht (Stuttgart/Wien) einen "Michael Endes Zettelkasten" betitelten Band mit Texten des Autors, die man andernfalls wohl als "Fragmente aus dem Nachlass" bezeichnet haben würde: kleine Erzählungen, Gedichte, Aphorismen, Dramolette, Entwürfe, Briefe und Essays. Der Band ist jedem, der Endes bekanntere Werke mit Genuss oder auch nur mit Interesse gelesen hat, wärmstens zu empfehlen; im Besonderen gilt dies für einige Texte eher theoretischen Charakters, in denen Ende sich zu seinem Selbstverständnis als Autor von Kinder- und Jugendbüchern äußert. Exemplarisch möchte ich hier die Gedanken eines zentraleuropäischen Eingeborenen (S. 55-69) und den vor der JBBY in Tokio gehaltenen Vortrag Über das Ewig-Kindliche (S. 177-198) verweisen - bei beiden Texten, wie auch bei allen anderen in diesem Band, fehlt ein Hinweis auf das Entstehungsdatum, das Buch ist offenbar nicht für den wissenschaftlichen Gebrauch bestimmt, aber das nur am Rande.

In den Gedanken eines zentraleuropäischen Eingeborenen beschreibt Ende die Lebenswelt eines Kinderbuchautoren als "Reservat" inmitten der "Zivilisationswüste", das "mit mildem Lächeln geduldet" werde (S. 55); er fügt jedoch hinzu:
"Ab und zu wird es [...] bei den Bewohnern der Zivilisationswüste Mode, sich mit uns zu beschäftigen, dann ziehen Scharen von eifrigen Missionaren durch unsere Wälder und Prärien, vermessen unsere Landschaft und ermahnen uns gütig oder streng, uns endlich der allein seligmachenden wissenschaftlichen Aufklärung zu unterwerfen und in Zukunft nur noch realistische, gesellschaftlich relevante, sozialkritische oder wenigstens emanzipatorisch wertvolle Geschichten zu erzählen. Wir versprechen natürlich alles, was sie wollen, machen auch die von ihnen verlangten Verbeugungen in die vier Himmelsrichtungen, die bei ihnen Marx, Freud, Einstein und Darwin heißen. Dann gehen sie sehr zufrieden wieder fort." (S. 56)
 Ende bekennt sich dazu, sich den Ansprüchen dieser "Missionare" entschlossen zu verweigern - nicht etwa aus purem Trotz, sondern aus der Überzeugung heraus, dass das Phantastische lebensnotwendig sei - dass das "Reservat", das er schildert, eine Oase in der von der wissenschaftlichen Aufklärung entzauberten Welt der "Zivilisationswüste" sei, einer Wüste, die im Grunde "nicht bewohnbar" ist, nicht für Kinder und "letzten Endes auch für Erwachsene nicht" (S. 63).

Eine recht scharfe Attacke gegen jene Kinderbuchautoren, die sich die Anforderungen der "Missionare" zu eigen machen, hat Ende Auch in sein 'opus magnum' Die Unendliche Geschichte (Stuttgart 1979) eingeschrieben; auf S. 26 heißt es vom Protagonisten Bastian:
"Er mochte keine Bücher, in denen ihm auf eine schlechtgelaunte und miesepetrige Art die ganz alltäglichen Begebenheiten aus dem ganz alltäglichen Leben irgendwelcher ganz alltäglicher Leute erzählt wurden. Davon hatte er ja schon in Wirklichkeit genug, wozu sollte er auch noch davon lesen? Außerdem haßte er es, wenn er merkte, daß man ihn zu was kriegen wollte. Und in dieser Art von Büchern sollte man immer, mehr oder weniger deutlich, zu was gekriegt werden.
Bastians Vorliebe galt Büchern, die spannend waren oder lustig oder bei denen man träumen konnte, Bücher, in denen erfundene Gestalten fabelhafte Abenteuer erlebten und wo man sich alles mögliche ausmalen konnte."
Nicht das Uninteressanteste an dieser Passage ist der Hinweis auf das, wovon Bastian "schon in Wirklichkeit genug" hat. Es ist ja nicht so, dass die Unendliche Geschichte nicht auch ihre "Realitätsanteile" hätte. Was man, schwerpunktmäßig in den rot gedruckten Passagen des ersten Teils und des Schlusses, über Bastians Leben außerhalb Phantásiens erfährt, ist ja gar nicht so weit entfernt von so Manchem, was man in der von Bastian verabscheuten Spielart der Kinder- und Jugendliteratur zu lesen bekommt. Ein dicklicher, verträumter Junge, der von seinen Altersgenossen sowohl wegen seiner Dicklichkeit als auch wegen seiner Verträumtheit gehänselt wird und der unter der emotionalen Unzugänglichkeit seines Vaters leidet - das gäbe Stoff genug für mehr als ein Jugendbuch der realistisch-aufklärerisch-empanzipatorischen Sorte ab. Michael Ende thematisiert so etwas also auch, nur eben auf andere Weise. Bei ihm muss Bastian erst einmal nach Phantásien reisen und die fabelhaftesten Abenteuer er- und durchleben, um einen Weg zu finden, schließlich auch seine Probleme in der 'realen Welt' anzugehen. Auf die zu erwartenden Einwände gegen diese Endesche Handlungsführung möchte ich mit einigen Versen aus Hans Magnus Enzensbergers Gedicht Der fliegende Robert antworten: 

"Eskapismus, ruft ihr mir zu /
vorwurfsvoll. /
Was denn sonst, antworte ich /
bei diesem Sauwetter! - "

Dennoch ist es nicht ohne Reiz, sich vorzustellen, was ein Autor oder eine Autorin der realistisch-aufklärerisch-empanzipatorischen (oder kurz: "sozialpädagogischen") Schule aus der Ausgangssituation der Unendlichen Geschichte gemacht hätte. Sonderlich schwierig ist es nicht, sich das auszumalen; ich denke mal, im günstigsten Fall (!) wäre dabei so etwas herausgekommen wie ein Christine-Nöstlinger-Roman.

Schlechte Laune und Miesepetrigkeit kann man Christine Nöstlinger (*1936) bzw. ihren Werken allerdings kaum vorwerfen. Ganz im Gegenteil bezeichnet es die Autorin - in einer von der Oetinger-Verlagswerbung gern und oft zitierten Äußerung - als ihre "feste Überzeugung, dass Kinder beim Lesen gern lachen". Nichtsdestoweniger darf man wohl behaupten, dass Frau Nöstlinger auf dem Gebiet der von Ende gescholtenen "sozialpädagogischen" Kinder- und Jugendliteratur eine ähnlich herausragende Stellung einnimmt wie Herr Ende auf dem der phantastisch-abenteuerlichen. Sie ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, u.a. mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis für ihr Gesamtwerk - was mich auf den Gedanken bringt, Vertreter der "phantastischen" Richtung könnten monieren, der Namenspatron sei doch wohl einer der Ihren gewesen, und es sei eine Frechheit, diesen Preis an eine aus dem "feindlichen Lager" zu vergeben - aber ganz so ausgeprägt sind die Feindschaften da wohl doch nicht. Ein anderer schöner Preis, den Frau Nöstlinger erhalten hat, ist der Zürcher Kinderbuchpreis "La vache qui lit" ("die Kuh, die liest" - ein Name, der offenbar an den einer Schmelzkäse-Marke namens "La vache qui rit", "die Kuh, die lacht", angelehnt ist). Es läge nun allzu nahe, der Autorin den Spitznamen "die Kuh, die schreibt" zu verpassen, aber wir wollen hier mal nicht persönlich werden.

Als 'opus magnum' dieser beliebten österreichischen Autorin möchte ich ihre drei Gretchen Sackmeier-Romane ansehen, deren erster nur zwei Jahre nach der Unendlichen Geschichte erschien. Ich besitze - und man frage mich bitte nicht, warum! - die Sonderausgabe Gretchen Sackmeier³ (Hamburg 2001), die alle drei Romane in einem Band vereinigt - allerdings, ohne dass der Verlag irgendwie darauf hinweisen würde, teilweise stark gekürzt. Das hat mich, als es mir im Zuge der Lektüre auffiel, erheblich geärgert, aber trotzdem zitiere ich hier nach dieser Ausgabe - da es mir einfach unverhältnismäßig erschiene, nur für ein paar Zitate extra nach Lichtenberg zur Egon-Erwin-Kisch-Bibliothek zu fahren, wo die Originalausgaben aller drei Bände einträchtig im Regal stehen...

Der erste Band (1981) heißt zwar schlicht Gretchen Sackmeier, aber wer meint, dass die 14jährige Titelheldin deshalb auch die Hauptfigur des Romans wäre, der irrt. Gretchen ist zwar im Wortsinne die Protagonistin - sie ist die erste Figur, die dem Leser vorgestellt wird -, und sie ist auh diejenige Figur, die dem Leser strukturell am nächsten steht - insofern, als die Handlung zum größten Teil aus ihrer Perspektive geschildert wird. Dennoch sind Gretchens Probleme mit ihrem Übergewicht, ihrem Busen, den sie als störend empfindet, und einer unvermeidlichen unglücklichen Verliebtheit letztlich nur Nebenhandlungen; im Mittelpunkt der Haupthandlung steht nicht Gretchen, sondern ihre Mutter. Es handelt sich, in einem Wort zusammengefasst, um eine Emanzipationsgeschichte - um die Geschichte einer Frau, die jung geheiratet hat und nach knapp 15 Ehejahren anlässlich eines "Maturatreffens" (für Nicht-Österreicher: Matura = Abitur) feststellt, dass es ihr nicht (mehr) genügt, nur für ihren Mann und ihre drei Kinder zu leben - und dass sie obendrein, wie die ganze Familie, zu dick ist. Sie will abnehmen, eigenes Geld verdienen, studieren und Sozialarbeiterin werden und zerstreitet sich darüber mit ihrem Mann; schließlich zieht sie aus und nimmt ihre Töchter mit, während der zwölfjährige Sohn beim Vater bleibt. Ist das ein Thema für ein Kinderbuch? - Na klar; deswegen wird die Handlung ja aus der Sicht der 14jährigen Tochter geschildert. Schließlich könnte sich dergleichen auch in den Familien der prospektiven Leser abspielen; und am Beispiel Gretchens können sie lernen, wie sie als Kinder mit einer solchen Situation ungehen können und umgehen sollen.

Im zweiten Band, Gretchen hat Hänschen-Kummer (1983), steht, wie der Titel schon andeutet, Gretchens jüngerer Bruder im Mittelpunkt. Den amourösen Schwierigkeiten der mittlerweile erheblich verschlankten Titelheldin - laut S. 177 ist sie "einen Meter und sechsundsechzig Zentimeter groß" und wiegt "dreiundfünfzig Kilo", nachdem sie zur Handlungszeit von Band I noch "sechs Zentimeter kleiner [...], dafür elf Kilo schwerer" gewesen war - wird zwar breiterer Raum gegeben als im ersten Teil der Reihe, wo sie sich bereits angedeutet hatten: Gretchen ist hin- und hergerissen zwischen "dem Florian" und "dem Hinzel" (und die typisch österreichische Eigenart der Autorin, Eigennamen mit Artikel zu verwenden, treibt den norddeutschen Leser zuweilen im Geiste die Wand hoch, aber man gewöhnt sich an so Einiges), einem äußerst attraktiven, aber eher charakterschwachen Schulkameraden und einem klugen und einfühlsamen, aber recht exzentrischen älteren Jungen. Die Haupthandlung dreht sich dennoch um "das Hänschen", das die Trennung seiner Eltern nicht verkraftet, weit über das Maß der in der Familie liegenden Übergewichtigkeit hinaus regelrecht fresssüchtig wird und sich an einen bösartigen Knaben anschließt, mit dem er einen Geheimbund namens "Das schwarze Rachekreuz" betreibt, der fremde Erwachsenen nachspioniert, um sie eines 'unsittlichen' Lebenswandels zu überführen und ihnen dann Drohbriefe zu schreiben. Als Gretchen diesen Umtrieben mit Hilfe ihrer Freunde auf die Spur kommt, sind die Eltern entsetzt und beschließen, im Interesse der Kinder (bzw. dieses einen Kindes, da die beiden anderen mit der Trennung der Eltern erkennbar keine Probleme hatten) wieder zusammenzuziehen.

Im dritten Band schließlich, betitelt Gretchen, mein Mädchen (1988), ist die Titelheldin 17 und darf endlich mal selbst die zentrale Figur nicht nur auf der Reflexions-, sondern auch auf der Handlungsebene sein. Die Eltern leben weiterhin zusammen, wobei die Mutter - die ihren Mann nur noch mit "Sackmeier" anspricht - kaum einen Hehl daraus macht, dass sie darin nur ein Zweckbündnis sieht, und nebenbei ein Verhältnis mit einem jüngeren Mann hat. Gretchen selbst steht gefühlsmäßig nach wie vor zwischen Florian und Hinzel, und während sie zunächst "gar nichts dagegen einzuwenden" hätte, "sowohl zum Hinzel als auch zum Florian eine nette Liebesbeziehung zu unterhalten" - "So viel aufrechte Liebesfähigkeit traute sie sich zu" (S. 305), wird sie bald der Anspruchshaltung beider überdrüssig, woraufhin sie zunächst Florian dem Laufpass gibt und dann, im Grunde nur durch ein Missverständnis, auch ihre Freundschaft zu Hinzel in die Brüche zu gehen droht. Dass es für Gretchen und Hinzel dann doch zu einem Happy End kommt, wird auf den letzten Seiten des Romans lediglich angedeutet, aber der Titel des Bandes verrät im Grunde schon genug: "Gretchen, mein Mädchen" ist nämlich von jeher Hinzels stereotype Anrede an sie.

Die Inhaltsangabe macht den "emanzipatorischen" Charakter der Romanreihe wohl bereits unmissverständlich deutlich; die Sympathielenkung ist recht eindeutig, obwohl gleichzeitig deutlich gemacht wird, dass Gretchens Vater nun nicht gerade der Schlechtesten einer ist und auch dessen Mutter, die erzkonservative "Zwettler-Oma", durchaus sympathische Züge hat - wenngleich sie den herzensguten Hinzel, der im ersten Band eine Punkfrisur und Lederklamotten und während aller drei Bände eine Tätowierung im Gesicht trägt, für "abnormal" hält und meint, er gehöre "in einen Käfig" (S. 141f.). Dass sie nach dem Auszug der Schwiegertochter sofort auf der Matte steht, um ihrem Sohn den Haushalt zu führen, und dafür ihr geruhsames Leben in Zwettl und ihren geliebten Gemüsegarten opfert, trägt ihr - nun, nicht unbedingt Respekt, aber doch so etwas wie Mitleid ein:
"Gretchen dachte: So eine alte Frau wie die Oma ist nicht mehr zu ändern. Die kann man nicht überzeugen. Der brauch ich gar nicht zu erklären, dass sich der Papa ändern muss. Und dass sie die Veränderung verhindert. Der Oma kann man nur gut zureden! Zu ihr selbst muss man ihr zureden. Und das tat Gretchen dann auch. Sie redete nur noch von der Oma, sagte, die Oma habe ein Recht auf ein Leben in Zwettl, in ihrem Garten, bei den kleinen Melonen und den großen Erdbeeren und der Miezekatze. Und dass niemand der Oma das Leben wegnehmen dürfe, sagte sie." (S. 162)
Mit anderen Worten: Behutsam und mit "weiblicher Solidarität" wird auch die Oma auf den Weg der "Selbstverwirklichung" gelenkt. - Daneben dokumentiert die Autorin ihre aufrecht links-alternative Gesinnung in einer Reihe von Details. So erweist sie der linken Wochenzeitung Falter ihre Reverenz (S. 383), und in Bd. II trägt Gretchen, wie mehrfach beiläufig erwähnt wird, nicht einfach eine Jutetasche (da fällt mir ein alter Berliner-Witz ein: "Ick hätte jerne 'ne jute Tasche." - "Tut mir Leid, wir haben nur welche aus Leder."), sondern ausdrücklich eine "Jute-statt-Plastik-Tasche" (S. 192, 209 u.ö.). Ebenso passt es ins Bild, dass Gretchens Mitschülerin Gabriele den mangelnden Gegenwartsbezug des schulischen Geschichtsunterrichts anprangert und fordert, man solle im Unterricht lieber thematisieren,
"was die Nord-Süd Achse ist und ob ich mich mehr vor den Russen oder mehr vor den Amerikanern fürchten muss! Und ob die Mao-Witwe zu Recht oder zu Unrecht verurteilt worden ist. Und was die Amis in Südamerika machen, wüsste ich auch gern! Und was ein  Zionist ist! Und wo der Unterschied zwischen dem Arafat und dem Gaddhafi liegt! Warum erklären Sie uns das nicht?" (S. 206f.)
Ganz und gar fehlt es jedoch nicht an differenzierenden Zwischentönen. So kann man "die Marie-Luise", eine Schulfreundin von Gretchens Mutter, die diese überhaupt erst auf den Selbstverwirklichungs-Trip bringt und bei der Frau Sackmeier während ihrer Trennung von ihrem Mann wohnt, durchaus als Karikatur einer 'Kampfemanze' ansehen: Ihren (im ersten Band) sechsjährigen Sohn Pepi, den sie selbst ein "egozentrisches Biest" nennt (S. 146), erzieht sie so miserabel, dass selbst Hinzel meint, seit er Pepi und seine gleichaltrige Spielgefährtin, Gretchens kleine Schwester Mädi, "näher kenne [...], sei ihm unautoritäre Erziehung suspekt" (S. 216), und als Pepi partout mit Hinzel und nicht mit Gretchen einen Hubschrauber aus Legosteinen bauen will, weil "Mädchen [...] keine Hubschrauberbaumeister" seien, merkt Hinzel lachend an "Das ist die Aufzucht in Feministinnenkreisen" (S. 370); davon abgesehen spricht "die Marie-Luise", von Beruf Sozialarbeiterin, permanent in einem klischeehaften 'also weißt du'-Jargon und wird im dritten Band zusätzlich dadurch diskreditiert, dass sie sich erst der Esoterik und dann der "Mondreligion" (S. 371) zuwendet.

An der Gesamttendenz der Bücher ändert all das freilich wenig. So humorvoll der Text auch daherkommt, bewahrheitet sich doch auch hier die Beobachtung Bastians aus der Unendlichen Geschichte, dass man "in dieser Art von Büchern [...] immer, mehr oder weniger deutlich, zu was gekriegt werden" soll: Die Bücher zielen darauf ab, dass man aus ihnen etwas lernt, und zwar fürs Leben. Tatsächlich können die jugendlichen und prä-adoleszenten Leser, an die sich die drei Sackmeier-Romane in erster Linie wenden, aus dieser Trilogie eine ganze Menge lernen; zum Beispiel:

  • Wenn eine Ehefrau und Mutter plötzlich vom Drang nach Selbstverwirklichung ergriffen wird, dann muss ihre Familie darauf Rücksicht nehmen und sie nach Möglichkeit darin unterstützen.
  • Ist ihr Mann nicht bereit dazu, dann ist er ein Tyrann, ein Spießer und obendrein ein Muttersöhnchen, das einfach nur seine Mami durch eine Ehefrau ersetzt hat und diesen Tausch bei Bedarf auch wieder rückgängig machen kann.
  • Wenn Eltern sich trennen oder gar scheiden lassen, ist das ganz normal und kein Grund zur Aufregung.
  • Wenn Kinder dahinter kommen, dass ihre Eltern außereheliche Affären haben, dann sollen sie das locker nehmen und diskret damit umgehen.
  • Die Auffassung, Mann und Frau seien "ein Leib" (S. 257) und Ehebruch daher moralisch verwerflich, ist 'lächerlich' und 'dumm' und wird ausschließlich von verwirrten Frühteenagern vertreten, die Detektiv spielen, Drohbriefe schreiben und kaum bescholtenen Bürgern die Fensterscheiben einwerfen.
  • Wenn ein 15jähriges Mädchen mit sichtlich derangierter Kleidung nach Hause kommt, ist es "aufdringlich" von der Mutter, dafür eine Erklärung zu verlangen (S. 243).
  • Wenn es überhaupt ein berechtigtes Interesse von Eltern daran gibt, über das Sexualleben ihrer halbwüchsigen Zöglinge im Bilde zu sein, dann nur "wegen der Pille" (S, 244).
  • Im Prinzip spräche nichts dagegen, zwei Liebesbeziehungen nebeneinander zu unterhalten, wenn die Partner so 'vernünftig' wären, das mitzumachen (was sie meistens nicht sind).
  • Wenn man etwas unbedingt will, soll man es ohne jede Rücksicht auf die Befindlichkeiten und Bedürfnisse Anderer durchsetzen.
Das alles ist ohne Zweifel ungeheuer 'zeitgemäß', aber ebenso steht es außer Zweifel, dass nicht alle Eltern es gern sehen werden, wenn ihren Kindern durch ihre Freizeitlektüre solche Maximen 'beigebracht' werden. Insbesondere christliche Eltern dürften mit verschiedenen Tendenzen der Sackmeier-Romane so ihre Schwierigkeiten haben, auch wenn Hinzel, als im dritten Band das Thema AIDS zur Sprache kommt, konstatiert: "Nur absolute Keuschheit ist absoluter Schutz! Das kann dir jeder Herr Pfarrer sagen!" (S. 333), und Gretchen selbst sich zu einer "christlich zwischenmenschliche[n]" Gesinnung bekennt (S. 449).

Es liegt nicht fern, zu befürchten, dass die Bestrebungen professioneller oder selbst ernannter 'Literaturpädagogen', den Gesamtbereich der Kinder- und Jugendliteratur in aufgeklärt-emanzipatorischem und 'zeitgemäßem' Sinne 'auf Linie zu bringen', der Verbreitung von Einstellungen und Auffassungen, wie sie hier am Beispiel der Sackmeier-Trilogie aufgezeigt wurden, weiter Vorschub leisten. Besorgte Eltern können nun zwar auf Bücher zurückgreifen, die sie aus ihrer eigenen Kindheit kennen und schätzen und eventuell noch auf dem Dachboden haben, ansonsten aber wohl zumindest noch antiquarisch erwerben können. Zu glauben, man könne seine Kinder gänzlich von Einflüssen fernhalten, die man als schädlich ansieht, dürfte allerdings illusorisch sein. Die gute Nachricht ist, dass das auch gar nicht nötig ist. Wäre es tatsächlich so, dass Kinder und Jugendliche die Botschaften, die ihre Lektüre ihnen vermitteln will, quasi per Osmose in sich aufnehmen und unhinterfragt übernehmen, dann hätten ja auch diejenigen Recht, die glauben, ein Kind würde dadurch zum Rassisten, dass es in einem Buch das Wort "Neger" liest. Ich erinnere mich gut daran, dass ich den mittleren Sackmeier-Band, Gretchen hat Hänschen-Kummer, erstmals im Alter von 12 Jahren gelesen habe und schon damals, dank meiner katholischen Erziehung, einige der in diesem Buch propagierten Moralvorstellungen befremdlich fand. Außerdem verabscheute ich den Charakter der Marie-Luise, zumal ich ähnliche (wenn auch weniger extreme) Frauencharaktere aus dem wirklichen Leben (z.T. sogar aus der Kirchengemeinde!) kannte und nicht leiden konnte. Trotzdem hat mir das Buch im Ganzen gut gefallen, so gut, dass ich im Deutschunterricht sogar ein Referat darüber gehalten habe. Was ich damit sagen will: Man sollte Kinder und Jugendliche nicht für so leicht beeinflussbar halten, dass sie ihre Weltanschauung nach jedem Stück unterhaltsamer Lektüre ausrichten, das ihnen in die Hände fällt. Und wenn Eltern ihre eigenen Kinder doch für so leicht beeinflussbar halten, scheinen mir daraus nicht zuletzt auch Zweifel an der eigenen Erziehung zu sprechen.

(P.S.: Ich gebe zu, ich habe keine eigenen Kinder - lediglich zwei Neffen und eine bunte Schar von Nachhilfeschülern -, und wenn es unter meinen Lesern Eltern gibt, die meine Schlussbemerkung falsch und obendrein anmaßend finden, nehme ich das in Demut zur Kenntnis und versichere, niemanden wegen seiner Erziehungsmaximen kritisieren oder gar belehren zu wollen...)

Donnerstag, 17. Januar 2013

Partnere mich! Ein evangelisch.de-Groschenroman

"Liebe auf den ersten Blick änderte alles: Sie wollte ins Kloster, bis sie sich in ihre künftige Frau verliebte."

Diese bemerkenswerten Zeilen kamen mir neulich auf Twitter zu Gesicht - gepostet von einem mir nicht näher bekannten @MarkusBechtold. Zu sehen bekam ich den Tweet nur, weil eine meiner Twitter-Bekannten ihn "retweetet" hatte. Was mich schon mal wunderte. Auf den ersten Blick fand ich, diese Prosaminiatur mute an wie eine Reklame-Schlagzeile für einen Hochglanz-Liebesroman oder dessen TV-Äquivalent, etwa ein Fernsehspiel  aus der ZDF-Reihe "Herzkino". Nur dass es da eher selten (wenn überhaupt je) um gleichgeschlechtliche Liebe geht. Aber sicherlich gibt es entsprechende mediale Angebote auch für diese (hochgradig "werberelevante") Zielgruppe.

Einigen Aufschluss darüber, was für Formate das im Einzelnen sein mochten, versprach der Link, den @MarkusBechtold an seinen Tweet angehängt hatte. Womit ich nun aber wirklich nicht gerechnet hätte, war, dass dieser Link zu einem Artikel auf evangelisch.de führte - verfasst, wer hätte das gedacht, von Markus Bechtold.

Unter der Überschrift "Die Liebe auf den ersten Blick änderte alles" und einem Foto, auf dem jemand ein Stück Buntpapier mit herzförmiger Aussparung in der Mitte gen Himmel hält - Sonnenstrahlen fallen durch das Herz, soweit alles ganz kitschfilmkompatibel -, schildert Herr Bechtold die Geschichte der Mandy W., die "sich für das Leben hinter dicken Mauern entschieden hatte"; das klingt schön mittelalterlich und ruft gängige Klischeevorstellungen über die Trostlosigkeit eines Lebens im Kloster wach, eines Lebens, von dem man gar nicht begreifen kann, wie ein Mensch sich freiwillig dafür entscheiden kann. In früheren Zeiten, so kennt man es jedenfalls aus Romanen und Filmen in historischem Kolorit, wurde man ja gern von erbschleicherischen Verwandten im Kloster "lebendig begraben" - aber heute? Nun, Mandy fühlte sich ganz ohne äußere Beeinflussung dazu berufen, "in ein Schwesternkonvent in Bayern" einzutreten; während viele, zumindest westeuropäische, Leser beim Begriff "Kloster" - sofern im explizit christlichen und nicht etwa, beispielsweise, im buddhistischen Kontext davon die Rede ist - wohl erst einmal an katholische Einrichtungen denken, gilt es zu betonen, dass es Schwesternkonvente auch in der evangelischen Kiche gibt. So zum Beispiel den "Evangelischen Schwesternkonvent Lumen Christi", der tatsächlich in Bayern ansässig ist und dessen Mitglieder eben jenes Habit tragen, von dem im Artikel die Rede ist: blaues Ordensgewand und weiße Haube. Ob das Leben in dieser Kommunität als "Leben hinter dicken Mauern" richtig beschrieben ist, kann man durchaus in Zweifel ziehen; aber letzten Endes ist das wohl gar nicht so entscheidend.

Mandy W. jedenfalls war entschlossen, in einen solchen Konvent - sei es der genannte oder ein ähnlicher - einzutreten; "Ein letztes seelsorgerisches Gespräch im Sommer 2003 zementierte und segnete meinen Entschluss", berichtet sie. Aber nur einen Tag darauf wurde dieser Entschluss ganz plötzlich umgestoßen - und das ausgerechnet "auf dem Christopher Street Day in Mannheim", wo Mandy als Hauskreisleiterin mit ihrer Gruppe Flyer für ein ökumenisches Projekt namens "christlich sicher geborgen" verteilte:
"Dann sah ich sie! Eine junge Frau. Das war Liebe auf den ersten Blick. [...] Wie in einen Wattebausch eingehüllt, fühlte ich mich getragen, geborgen und nach außen hin geschützt. Das Drumherum war nicht mehr existent. Mein Fokus lag auf ihr. Rundum hätte sonst was passieren können, das hätte ich gar nicht mitbekommen. [...]
Dieser eine Blick schlug bei mir ein. Alle Pläne für den Tag waren vergessen, nichts anderes mehr wichtig. Bis in die Morgenstunden waren wir auf einer Party und redeten. Da war Seelenverwandtschaft, ein großes Verstehen. Plötzlich war sie verschwunden, weg. Und wir hatten doch nicht einmal Telefonnummern ausgetauscht. Ich wusste nur, wie sie mit Vornamen hieß [...].
Auf der Parade am nächsten Tag sah es aus, als würde ich eine Rasterfandung machen. Ich stand auf einer Erhöhung am Straßenrand und versuchte, sie wieder zu finden. [...]. 50 Euro hatte ich noch einstecken. Mit dem Geld in der Hand wollte ich schon zu dem Moderator auf die Bühne gehen und die Frau ausrufen lassen. Es kam anders: Auf dem Weg nach vorne hat sie mich gefunden. An dem Tag hat sie meine Hand genommen und von da an nicht wieder losgelassen."
Während des Lesens musste ich immer mal wieder zum Kopf der Website hinaufschielen, um mich zu vergewissern, dass ich mich tatsächlich bei evangelisch.de befand und nicht auf der Online-Präsenz einer Frauenzeitschrift. Es ist ja durchaus nicht so, dass ich Mandy W. und ihrer Partnerin ihr Liebesglück nicht gönne. Ich räume auch ein, dass wohl nur eher wenige Menschen für eine klösterliche Lebensweise geschaffen sind und dass Mandy W. mit ihrer rückblickenden Einschätzung, ihr Entschluss zu einem solchen Leben sei ein Irrtum gewesen, somit durchaus Recht haben mag. Warum aber, so fragte ich mich, fühlt sich evangelisch.de berufen, diesen für das Auge Außenstehender doch recht verkitscht daherkommenden Erlebnisbericht mit seinen Lesern zu teilen?

Je nun: Mandy W. ist überzeugt, dass ihre Begegnung mit der Frau, die ihre große Liebe werden sollte, ein Ergebnis göttlicher Fügung war. Sie ist umso überzeugter davon, als diese Begegnung sich just dann ereignete, als sie ihren Entschluss, ins "Kloster" zu gehen, gerade "zementiert" hatte: Es war für sie, so sagt sie, "eine Expressantwort von Gott", der ihr damit sagen wollte: "Ich kann mir Dich nicht in blauer Ordenstracht und weißer Haube vorstellen. Ich habe da einen Menschen vorgesehen und hier ist er!" Well, well. Über ihre frühere Überzeugung, der für sie vorgesehene Lebensweg führe in den Schwesternkonvent, ist sie rückblickend, wie sie sagt, "nicht sicher, ob dieser Ruf, den [sie] damals als solchen empfunden hatte, wirklich einer war oder ob [sie sich] alles nicht vielmehr wünschte"; bezüglich ihrer dann ganz anders ausgefallenen Lebensweg-Entscheidung stellt sie sich diese Frage nicht. 'Dieses Kribbeln im Bauch', das einst Pe Werner besang, wird zweifelsfrei als Stimme Gottes identifiziert. Zumindest dem katholischen Leser wird da leicht dornenvögelhaft zu Mute. Sich in seinem Lebensweg unmittelbar von Gott geführt zu fühlen, ist schön und beneidenswert; aus der Außenperspektive drängt sich aber doch die Frage auf, ob da nicht, wie in Fausts Antwort auf die 'Gretchenfrage', "Gefühl [...] alles" ist. Nichtgläubigen bzw. "glaubensskeptischen" Menschen (letztere Bezeichnung verwende ich mal ganz ad hoc) wird es da leicht fallen, zu unterstellen, da verabsolutiere jemand seine eigenen Wünsche und Neigungen, indem er (bzw. sie) ein 'Bauchgefühl' mit der 'Stimme Gottes' identifiziere. Hat diese Stimme früher einmal etwas Anderes, Gegenteiliges gesagt, dann war das eben nicht die Stimme Gottes, sondern ein Irrtum. Dass es auch umgekehrt sein könnte, wird nicht erwogen.

Nun liegt es auf der Hand, dass die Vorstellung, Gott greife persönlich ein, um eine gläubige und kirchlich engagierte Frau vom Eintritt in einen Schwesternkonvent abzuhalten und sie stattdessen in eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft zu führen, besonders aus katholischer Sicht befremdlich wirkt. Evangelischerseits sieht das tendenziell etwas anders aus - was sich schon daran zeigt, dass Mandy W. und ihre Lebensgefährtin "[s]eit acht Jahren [...] mit dem Segen der Kirche verpartnert" sind. Unumstritten ist die Praxis der Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften allerdings auch in den evangelischen Kirchen nicht; insofern kommt dem hier behandelten evangelisch.de-Artikel auch, ob beabsichtigt oder nicht, eine gewisse kirchenpolitische Brisanz zu. Es fällt nicht schwer, aus der Geschichte der Mandy W. die Botschaft herauszulesen: Wenn Gott selbst so sichtbar eingreift, um zwei Frauen zueinander zu führen, wie könnte die Kirche diese Verbindung nicht segnen? Was Gott zusammengeführt hat, soll der Mensch nicht trennen (Mk 10,9)! Dass nicht alle Leser dieser Sichtweise zustimmen werden, hat die evangelisch.de-Redaktion offenkundig vorausgesehen; unter dem Artikel liest man:

"Liebe Leserinnen und Leser, die Kommentarfunktion unter diesem Artikel ist ausgeschaltet."

(Unter diesem hier übrigens NICHT...!)

Sonntag, 13. Januar 2013

Eine kurze Geschichte der Literaturverschlimmbesserung

Unlängst wurde ich durch eine lakonische Notiz im Blog Klosterneuburger Marginalien darauf aufmerksam gemacht, dass der Kinderbuchverlag Thienemann angekündigt hat, die Werke Otfried Preußlers (*1923) einer "sprachlichen Weiterentwicklung" zu unterziehen. Näheres war auf Welt Online zu erfahren; etwa, dass aus Preußlers Die kleine Hexe (1957) und Der Räuber Hotzenplotz (3 Teile, 1962-73) das Wort "Neger" getilgt werden soll.

Diese Ankündigung wirft natürlich erst einmal die Frage auf, wo in diesen Büchern denn überhaupt "Neger" vorkommen. Die kleine Hexe habe ich nie besonders gemocht, wohingegen ich mit dem Hotzenplotz praktisch lesen gelernt habe (nicht im wörtlichen Sinne - lesen gelernt habe ich mit Comics und der TV-Zeitschrift -, aber die drei Hotzenplotz-Bände gehörten zu den ersten Büchern, die ich aus eigenem Antrieb, vollständig und mit Begeisterung gelesen habe); beide Texte liegen mir aber momentan nicht vor, also kann ich nur spekulieren. Ich glaube eigentlich nicht, dass in einem dieser Bücher tatsächlich Angehörige jener Ethnien auftreten, für die die Bezeichnung "Neger" zur Entstehungszeit der Texte noch allgemein gebräuchlich war. Ich nehme eher an, dass der "Begriff "Neger" im sprichwörtlichen oder vergleichenden Sinne in den Büchern vorkommt, etwa dergestalt, dass von jemandem mit einer ausgeprägten Sonnenbräune gesagt wird, er sehe aus "wie ein Neger". Aber auf diesen Unterschied kommt es wohl kaum an. - Wenn der Leser sich einige Zeit nach der Lektüre nicht mehr an die Erwähnung irgendwelcher "Neger" erinnern kann, dann scheint es auf der Hand zu liegen, dass diese Erwähnungen problemlos gestrichen werden können, ohne dass dem Leser etwas fehlt (was freilich noch nichts darüber aussagt, inwieweit solche Eingriffe in den Text legitim, sinnvoll oder gar notwendig sind). Einige Werke anderer klassischer Kinderbuchautoren lassen sich hingegen nur mit erheblich größerem Aufwand "negerfrei" machen. Ein Paradebeispiel hierfür ist Astrid Lindgrens Pippi in Taka-Tuka-Land (1948) - dessen deutsche Ausgabe, die bei Oetinger erscheint, gleichwohl bereits 2009 in diesem Sinne überarbeitet wurde - dazu wird noch Verschiedenes zu sagen sein; Claudia Sperlich erinnerte im Kommentarbereich des oben angesprochenen Klosterneuburger Marginalien-Artikels an James Krüss' reizende Erzählung Der Neger Martin; und mir fiel jüngst siedendheiß einer der Helden meiner Kindheit, Michael Endes Jim Knopf, ein: Darf der nun auch kein Neger mehr sein, bzw. so genannt werden? Und was ist mit "Nigger Jim" aus Mark Twains Huckleberry Finn? - Okay, das ist nun nicht direkt ein Kinderbuch.

Ich will mich hier aber gar nicht weiter über den Begriff "Neger" oder überhaupt über das Dilemma der politically correct language auslassen, das darin besteht, dass jede für einen angeblich oder tatsächlich diskriminieren Begriff eingesetzte neue Bezeichnung früher oder später ebenfalls als diskriminierend empfunden werden wird, solange die so bezeichnete Personengruppe faktisch diskriminiert wird. Das ist zwar ein ergiebiges Thema, aber eigentlich geht es hier um etwas Anderes - und zwar nicht nur mir. Schließlich soll, wie man jüngst erfahren konnte, nicht nur das Wort "Neger" aus den Preußler-Büchern ausgemerzt werden, sondern, beispielsweise, auch das Wort "wichsen". Moment: Sind wir jetzt wieder im 19. Jahrhundert angekommen, feiert der Schrebersche Antimasturbationsgurt fröhliche Urständ? Mitneffen bzw. -nichten; die Eliminierung des Wortes "wichsen" ist offenbar nicht durch die Absicht motiviert, Anstiftung zur Selbstbefriedigung zu verhindern, schließlich kommen in Die kleine Hexe und im Räuber Hotzenplotz keine Gruppenmasturbationsszenen wie in Günter Grass' Katz und Maus vor; vielmehr wird "wichsen" dort einerseits im Sinne von "putzen, polieren" und andererseits im Sinne von "verprügeln" verwendet. Im Verlag ist man nun offenkundig der Meinung, dieser Begriff sei veraltet, womöglich missverständlich, zumindest "nicht mehr zeitgemäß". Nun ja: Wie sollte man von Büchern, die vor vierzig bis 55 Jahren geschrieben wurden, erwarten, dass sie "zeitgemäß" seien? Aber genau deswegen, so argumentiert der Verlag, muss man sie ja überarbeiten. - Dass "Zeitgemäßheit" (oder wie auch immer man den Begriff substantivieren soll) notwendigerweise und selbstverständlich etwas Gutes sei, scheint mir - nebenbei bemerkt - die typische, wenn auch wohl meist unreflektierte, Annahme von Menschen zu sein, deren Verständnis von "Fortschritt" die Vorstellung bedingt, die heutige Zeit sei die beste aller bisher dagewesenen, und man könne (oder müsse) die Vergangenheit hinter sich werfen wie einen gebrauchten Pappbecher.

In den krummen Gehirnwindungen mancher Zeitgenossen (!) ist der Begriff des "Zeitgemäßen" übrigens, scheinbar widersinnigerweise, eng verwandt mit dem des "Zeitlosen". So begründet Thienemann-Mitarbeiter Klaus Willberg die Preußler-Bearbeitungen mit der erstaunlichen Aussage, es sei "notwendig, Bücher an den sprachlichen und politischen Wandel anzupassen": "Nur so bleiben sie zeitlos." Als Literaturwissenschaftler fasse ich mir da an den Kopf; aber vergessen wir nicht, dass hier der Repräsentant eines Verlags spricht. Leser wie Autoren mögen sich vorstellen oder wünschen, ein Verleger sei ein ebenso geschmackvoller wie kenntnisreicher und von hohen Idealen beseelter Förderer der Kunst, und mancher Verleger sieht sich vielleicht auch selbst so; in günstigsten Fall führt dieses Selbstbild dazu, dass der Verleger sich tendenziell oder ansatzweise tatsächlich so verhält. Aber in erster Linie ist ein Verleger nun mal ein Kaufmann; Bücher sind die Ware, mit der er handelt, und die Qualität dieser Ware bemisst sich daran, wie gut sie sich verkauft. Die Vorstellung, man müsse die Ware, um sie auf dem Markt zu halten, von Zeit zu Zeit "updaten", ist durchaus - nun ja - "zeitgemäß".

Im Zuge einer ausführlichen Kritik an rassistischen Inhalten von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf-Büchern äußerte Anatol Stefanowitsch unlängst im Sprachlog: "Das Idealbild eines künstlerischen Individuums, das ein unveränderliches Werk schafft, ist offensichtlich in unserer Gesellschaft im Moment so dominant, dass es als Frevel betrachtet wird, wenn andere in ein solches Werk eingreifen." Die Formulierung "im Moment" scheint zu unterstellen, dies sei früher anders gewesen. Tatsächlich habe ich vielmehr den Eindruck, "im Moment" gehe der Trend in die entgegengesetzte Richtung, nämlich in die, die Vorstellung des geistigen Eigentums eines Autors an seinem Werk radikal in Frage zu stellen. Mir fällt da unwillkürlich der glücklose Ansgar Heveling ein, mit seiner skurrilen Idee, die Bürger sollten zur Verteidigung des Rechts auf geistiges Eigentum "auf die Barrikaden" gehen und "Goethe, die Bibel oder auch Marx" zitieren - "Am besten aus einem gebundenen Buch!" Das ließe sich heute trefflich aktualisieren zu "und zitiert Otfried Preußler, Astrid Lindgren oder auch Michael Ende - am besten aus einer möglichst frühen Auflage!" Aber ich schweife ab. - Man muss beileibe keine so apokalyptischen Töne anschlagen wie Herr Heveling, um zu konstatieren, dass die Idee des geistigen Eigentums in Zeiten von "Google Books" und Piratenpartei tatsächlich zunehmend zur Disposition gestellt wird. Wenn du dein geistiges Eigentum für dich behalten willst, dann lass deine Werke doch im abgeschlossenen Nachtkästchen - sobald du sie veröffentlichst, gehören sie nicht mehr dir. Wer sich in die Öffentlichkeit begibt, kommt darin um.

So modern und piratig das wirkt, ist es doch andererseits nicht zu leugnen, dass es Versuche, literarische oder andere künstlerische Werke nachträglich zu "verbessern", auch schon früher gegeben hat - wahrscheinlich sind sie so alt wie die Literatur selbst. Früher allerdings herrschte unter kunstsinnigen Menschen ein weitgehender Konsens darüber, dass dieses Ansinnen banausisch sei; das galt auch und gerade in Zeiten, in denen es ein Urheberrecht im heutigen Sinne noch nicht gab. Der Spott über beflissene Verschlimmbesserer ist vielfach sprichwörtlich geworden; wobei man anmerken muss, dass der deutsche Begriff "verballhornen" dem bemitleidenswerten Johann Balhorn dem Jüngeren, einem durchaus verdienstvollen Lübecker Buchdrucker des 16. Jhs., wohl Unrecht tut. Balhorn druckte anno 1586 eine Ausgabe des Lübecker Stadtrechts, die zahlreiche sinnentstellende Fehler aufwies; es ist nicht unbedingt anzunehmen, dass er diese Fehler selbst verursacht hat, aber sein Name war eben der einzige, der auf dem Titelblatt stand. Mehr "case to the point" sind die englischen Ausdrücke "bowdlerism" bzw. "to bowdlerize", die auf Thomas Bowdler (1754-1825) zurückgehen; dieser, von Beruf eigentlich Arzt, publizierte 1818 den Family Shakespeare, eine Shakespeare-Gesamtausgabe, aus der alle jene "Worte und Ausdrücke" getilgt waren, "die schicklicherweise nicht in einer Familie vorgelesen werden können" - erinnert uns das an was? Bowdler erwarb sich mit dieser Edition jedenfalls einen Nachruhm, der dem des italienischen Renaissance-Malers Daniele de Volterra (1509-1566) ähnelt: Dieser wurde 1564 damit beauftragt, die für das sittliche Empfinden hochrangiger Kirchenvertreter allzu nackten Gestalten auf Michelangelos Fresko Das jüngste Gericht an der Altarwand der Sixtinischen Kapelle nachträglich zu "bekleiden" - was ihm den Spitznamen Braghettone, "Hosenmaler", eintrug. An seine eigenen Werke erinnert sich heute keiner mehr. - Doch zurück zu Bowdler und seinen geistigen Verwandten: Gerade im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur waren Bestrebungen zur "Reinigung" von Texten von jeher verbreitet; man spricht hier von Bearbeitungen ad usum delphini, wörtlich "zum Gebrauche des Dauphins", also des französischen Thronfolgers zur Zeit des ancien régime - für diesen nämlich wurden seinerzeit diverse literarische Werke so umgearbeitet, dass sie sich zu seiner Erziehung "schickten". Im Zuge der Demokratisierung der Öffentlichkeit wurde dieses fragwürdige Privileg dann auch auf Bücher für bürgerliche Kinder ausgeweitet.

Neben Bücherverschlimmbesserungen aus pädagogischen Gründen gab und gibt es aber auch solche, die dadurch entstehen, dass Verlagsmitarbeiter ein literarisches Werk für verbesserungsbedürftig halten, weil sie es schlicht nicht verstehen. So erging es etwa E.T.A. Hoffmanns Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr (1819/21): Dieser Roman präsentiert sich als Autobiographie eines faulen, fetten, selbstgefälligen Katers - eines frühen Vorläufers von Garfield gewissermaßen - die dieser auf die Rückseiten eines fragmentarischen autobiographischen Manuskripts des Kapellmeisters Kreisler (eines alter ego Hoffmanns) geschrieben habe. Der Text springt also permanent zwischen Kater- und Kreisler-Autobiographie hin und her, manchmal mitten im Satz. Nach Hoffmanns Tod fiel dieses Werk Herausgebern in die Hände, die die Fiktion der "durcheinandergeratenen Manuskripte" allzu ernst nahmen und die Textteile fein säuberlich auseinander sortierten (eine Vorgehensweise, die an jene von Ursus Wehrlis Kunst aufräumen-Bildbänden erinnert - nur dass es sich in Wehrlis Fall um Satire handelt...). Nicht besser erging es Karl Leberecht Immermann, der - wohl durch Hoffmanns Kater Murr angeregt - in seine Adelssatire Münchhausen (1839) einen gänzlich eigenständigen Handlungsstrang aus dem westfälischen Bauerntum hineinmontierte: Spätere Herausgeber von Immermanns Werken fühlten sich berufen, diesen Handlungsstrang aus dem Münchhausen herauszuoperieren und unter dem Titel Der Oberhof separat zu publizieren - immerhin mit dem buchhändlerischen Erfolg, dass der Oberhof ein veritabler Beststeller wurde, dessen Publikumserfolg den des originären Münchhausen weit in den Schatten stellte.

Ein besonders bizarres Beispiel für das zur Verhunzung eines literarischen OEuvres führende Zusammenwirken von fragwürdigen pädagogischen Absichten, Eigendünkel von Verlagsmitarbeitern und purem Marktinteresse stellt die Gesamtausgabe der Werke Karl Mays im nach ihm benannten Verlag dar. Einige meiner Leser werde ich jetzt wahrscheinlich schwer schockieren, aber: Wer in zurückliegenden Jahrzehnten mit mehr oder weniger Begeisterung die bis zum II. Weltkrieg in Radebeul, später in Bamberg erschienenen grüngoldenen Leinenbände mit buntem Deckelbild verschlungen hat, die als "Karl Mays Gesammelte Werke" daherkamen, hat mit größter Wahrscheinlichkeit nicht Karl May gelesen. Der Karl-May-Verlag wurde kurz nach dem Tod des Autors gegründet, und Mays Witwe Klara ermächtigte den Verleger Euchar Albrecht Schmid (1884-1951), die Werke ihres verstorbenen Gatten durchgreifend zu überarbeiten - angefangen bei der "Eindeutschung" von Fremdwörtern überwiegend französischer Herkunft, wie sie zur Entstehungszeit der Texte gängig waren, über Vereinfachung des Satzbaus, teilweise einschneidende Kürzungen, Tilgung moralisch anstößiger Stellen (ja, die gab es!), Umbenennung von Personen bis hin zur Umgruppierung ganzer Kapitel oder Eliminierung von Nebenhandlungen. Dass in der NS-Zeit einige Texte der herrschenden Ideologie angepasst wurden, sei nur am Rande erwähnt. In den klassischen "Reiseerzählungen" Mays (Band 1-33 der Gesamtausgabe) wurden die meisten Bearbeitungen in jüngerer Zeit wieder rückgängig gemacht, aber dem geneigten Germanisten tränen immer noch die Augen, wenn er liest, mit welch haarsträubender Mischung aus Ignoranz, Trotz und Verblasenheit der Verlag seine frühere Bearbeitungspraxis bis heute verteidigt - so etwa in einer "Der geschliffene Diamant" betitelten Festschrift zum 90jährigen Bestehen des Verlags (Bamberg 2003). Übrigens waren die besagten Reiseerzählungen von vornherein zurückhaltender bearbeitet worden als einige andere Werke Mays; an erster Stelle wären hier die fünf umfangreichen Fortsetzungsromane zu nennen, die May in den 1880er Jahren für den Dresdner Münchmeyer-Verlag schrieb und die ihm später viel Ärger (in Form eines langwierigen Urheberrechtsstreits und scharfer Angriffe der Kritikerzunft) einbrachten. Die drei Generationen umspannende Handlung des Romans Die Liebe des Ulanen etwa, in dem May ausgiebig von Rückblenden Gebrauch machte, wurde vom KMV säuberlich in chronologischer Reihenfolge umgruppiert (Kunst aufräumen lässt grüßen!), Der verlorne Sohn in mehrere Einzelromane aufgespalten, wobei die ursprüngliche Zusammengehörigkeit der Erzählstränge durch Umbenennung der Personen verschleiert wurde; am Ungeniertesten verfuhr man jedoch mit Deutsche Herzen, deutsche Helden - einem Roman, von dem man allerdings gestehen muss, dass er beträchtliche Schwächen aufweist: Insbesondere der Schluss ist derart holprig und unbefriedigend geraten, dass die Forschung bis heute darüber grübelt, ob May - der zu diesem Zeitpunkt vom Münchmeyer-Verlag weg wollte - die letzten Fortsetzungen einfach lustlos und unkonzentriert 'runtergeschmiert hat oder ob sie gar nicht von ihm stammen, sondern von einem weniger begabten Autor, der kurzfristig engagiert wurde, um den von May unvollendet liegen gelassenen Roman abzuschließen. Die Bearbeiter des Karl-May-Verlags vollbrachten das Kunststück, den Haupthelden des Romans zu streichen und seine Handlungsanteile, wo sie nicht Kürzungen zum Opfer fielen, auf andere Romanfiguren aufzuteilen; zudem wurden diverse Figuren des Romans durch Charaktere ersetzt, die der Leser aus anderen, bekannteren May-Werken kennt - so mogelte man Old Firehand, Winnetou, Sam Hawkens und seine unzertrennlichen Begleiter Dick Stone und Will Parker in den Roman hinein. Eine umfangreiche Episode, die in Nordafrika spielt, wurde aus dem Romanzusammenhang herausgetrennt und so umgeschrieben, dass daraus ein Seitenstück zum großen Orientzyklus mit Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar in den Hauptrollen wurde (Bd. 60, Allah il Allah).

Nachdem der Inhaber des Karl-May-Verlags, der schon erwähnte Euchar Albrecht Schmid, die Rechte an den Historisch-politischen Romanen aus der Gegenwart des zu Lebzeiten sensationall erfolgreichen Sir John Retcliffe (d.i. Hermann Goedsche, 1815-1878) erworben und einen eigenen "Retcliffe-Verlag" gegründet hatte, beauftragte er die Schriftstellerin Lisa Barthel-Winkler, die auch schon an der Verhackstückung von Deutsche Herzen, deutsche Helden mitgewirkt hatte, mit einer Bearbeitung des Retcliffeschen Gesamtwerks, die das Vorgehen im Falle Karl Mays noch in den Schatten stellt. Die umfangreichen, mehrsträngig erzählten Romanzyklen des Autors, in denen regelmäßig ein Handlungsstrang auf einem Spannungshöhepunkt abbricht, um erst Hunderte Seiten (und manchmal mehrere Bände) später fortgesetzt zu werden, erschienen der Bearbeiterin als reine "Stoffsammlungen", die zu ordnen der Autor keine Zeit mehr gehabt hatte; so nahm sie ihm diese Arbeit gnädigerweise ab und schnitzte aus Retcliffes Zyklen eine Vielzahl einzelner Romane in je ein bis drei schmalen Bänden, zu denen sie den Schluss oft selbst schreiben musste, da Retcliffe viele seiner Handlungsstränge unvollendet gelassen hatte. Daneben herrschen hier dieselben Bearbeitungskriterien wie in der Karl-May-Gesamtausgabe: Fremdwortvermeidung, Vereinfachung des Satzbaus, Umstellung der Textreihenfolge nach der Chronologie des Geschehens, Eliminierung von Nebenhandlungssträngen, Kürzungen (vor allem auf der Dialog-und Reflexionsebene) und Beseitigung von moralischen Anstößigkeiten. Als besonderes Kunststück darf man es ansehen, dass es Lisa Barthel-Winkler gelungen ist, Romane, die in ihrer Urfassung das Wort politisch im Reihentitel trugen, weitgehend zu entpolitisieren.

Verglichen mit solchen Eingriffen wirkt es nachgerade harmlos, wenn ein Verlag - noch dazu mit dem Einverständnis des Autors - hier und da ein paar Wörter (wie "Neger" und "wichsen") streicht. Es steht aber durchaus zu bezweifeln, ob es auf längere Sicht dabei bleibt. Illustrativ hierfür ist der schon erwähnte Blogbeitrag zu Pippi Langstrumpf: Der Verfasser des Beitrags, Anatol Stefanowitsch, referiert, dass der Oetinger-Verlag in der 1986er Ausgabe von Pippi Langstrumpf geht an Bord den Begriff "Neger" zwar stehen lassen, aber mit einer behutsam distanzierenden Fußnote versehen hatte (ein editorisch untadeliges Verfahren!), 2009 aber eine Neubearbeitung sämtlicher Pippi-Bände vorgelegt hat, in der "die Worte 'Neger' und 'Zigeuner' nicht mehr zu finden" sind:
"Diese Begriffe sind heute nicht mehr zeitgemäß, entsprechen im deutschen Sprachgebrauch nicht mehr dem heutigen Menschenbild und können missverstanden werden. Sie wurden deshalb entweder gestrichen oder durch neue Formulierungen ersetzt. So wird beispielweise Pippi Langstrumpfs Papa jetzt als 'Südseekönig' bezeichnet, der die 'Taka-Tuka-Sprache' spricht." [Website Verlag Friedrich Oetinger]
Anatol Stefanowitsch ist mit dieser Lösung jedoch noch lange nicht zufrieden: Er moniert - in sich durchaus stimmig -, allein durch die Auswechslung von Begriffen könne der inhärente Rassismus der Texte nicht beseitigt werden; ein inhärenter Rassismus, den er darin erkennt, dass "Lindgren sich einen fetten weißen Kapitän eines schwedischen Fischkutters ausdachte, der wegen seiner Hautfarbe und prächtigen Körperfülle von den Bewohnern einer Südseeinsel zum König gemacht wurde"; dass "die schwarzen Inselkinder ganz selbstverständlich davon ausgehen, 'dass weiße Haut viel feiner sei als schwarze'"; und "dass Pippi von einem 'eigenen Neger' träumt, der sie mit Schuhcreme poliert".

Stefanowitsch kommt zu dem Schluss:
"Eine Überarbeitung ist deshalb im Falle von Lindgrens Büchern der einzig sinnvolle Umgang mit dem Rassismus der Originalfassungen. Diese Überarbeitung müsste aber wesentlich radikaler ausfallen als die des Oetinger-Verlags. Nicht nur die (angeblich) nicht diskriminierend gemeinte Sprache müsste angepasst werden, auch die (angeblich) nicht diskriminierend gemeinten Situationen und Ereignisse müssen umgeschrieben werden. Mit anderen Worten, die Änderungen müssten so radikal ausfallen, dass es einfacher wäre, nur die Charaktere beizubehalten und sich gleich ganz andere Geschichten auszudenken. Und übrigens haben das die Adaptionen der Pippi-Bücher für Film und Fernsehen auch ausgiebig getan, ohne dass das jemanden gestört hätte."
Aber wenn man schon so weit ist, sollte man dann nicht gleich noch einen klitzekleinen Schritt weiter gehen? Allerdings:
"Und wenn man zu der Einsicht gelangt ist, dass nur eine Umdichtung noch helfen kann, sollte man auch noch über eine vierte Möglichkeit nachdenken, mit diskriminierenden Kinderbüchern umzugehen: Verlage könnten aufhören, sie nachzudrucken und sie könnten stattdessen neuen Autor/innen [...] eine Chance geben, bessere Geschichten zu schreiben. Und Konsument/innen könnten aufhören, sie ihren Kindern vorzulesen."
In der Tat: So könnte man vorgehen.  Es ist an sich ein ganz normaler Vorgang, dass Bücher, gerade auch im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, irgendwann vom Buchmarkt verschwinden und nur noch antiquarisch erhältlich sind - wobei dann immer noch die Möglichkeit besteht, dass Autoren und ihre Werke plötzlich "wiederentdeckt" werden oder dass es zumindest "Liebhaberausgaben" mit Nostalgie-Faktor gibt. Normalerweise allerdings - das würde ich zumindest annehmen, da ja, wie oben ausgeführt, Verleger Kaufleute sind - verschwinden Bücher dann vom Markt, wenn sie vom Publikum nicht mehr nachgefragt werden. Das ist im Fall von Pippi Langstrumpf wie auch bei den Büchern  Otfried Preußlers offensichtlich nicht gegeben. Dass Bücher hingegen aus ideologischen Gründen vom Markt genommen werden, ist für mein Empfinden eigentlich typisch für Diktaturen... Zudem: Ob Kinder wirklich Geschichten lesen wollen, in denen alles politisch korrekt, pädagogisch einwandfrei, moralisch sauber und "zeitgemäß" zugeht? Ich kann mich noch ganz gut daran erinnern, selbst ein Kind gewesen zu sein; und ich wage zu behaupten: Hätte ich nur in allen genannten Punkten untadelige Kinderbücher gehabt statt Otfried Preußler, Michael Ende, Karl May und Mark Twain, wäre ich nie ein großer Leser geworden. Und ein besserer Mensch wahrscheinlich auch nicht.

Ich hörte es durch die Weinrebe

In meinem letzten Beitrag erwähnte ich - nur ganz am Rande, aber voll des Lobes - die von der Gruppe Creedence Clearwater Revival eingespielte Version des R&B-Klassikers "I Heard It Through The Grapevine". Nun ist der Song in der wohl bekanntesten Version - von Marvin Gaye - ja unbestritten ein derartig brillantes Werk, dass es eigentlich stilpolizeilich verboten sein sollte, es zu covern - aber was CCR daras gemacht hat, braucht sich vor (oder hinter) Marvin Gayes Fassung wahrlich nicht zu verstecken.

Der auf den ersten Blick rätselhaft anmutende Songtitel erinnert mich übrigens immer an einen Trickfilmklassiker von Altmeister Tex Avery mit dem Titel Symphony In Slang (1951): Darin kommt ein Amerikaner in den Himmel und erzählt den Engeln seine Lebensgeschichte, gewürzt mit allerlei bildhaften Ausdrücken ("Ich war außer mir", "eine alte Flamme", "Es regnete Katzen und Hunde"). Die Engel, mit sprichwörtlichen Redensarten nicht vertraut, verstehen aber alles, was er sagt, wortwörtlich, und so wird die Erzählung im Cartoon auch illustriert. Da fehlt auch eine Weinrebe nicht, die dem Protagonisten etwas zuflüstert. Der Sinn der Redewendung wird hier unmittelbar ersichtlich: "to hear s.th. through the grapevine" heißt soviel wie "ein Gerücht aufschnappen" oder "etwas aus zweiter (oder dritter) Hand erfahren". Die Entstehung dieser Redewendung erkläre ich mir so, dass dabei an eine Laube oder Pergola gedacht ist, deren aus Weinreben gebildeten Wände es ermöglichen, unbemerkt Gespräche mit anzuhören, die auf der anderen Seite geführt werden.

Der Lauscher an der Wand - so lehrt es ein deutsches Sprichwort - hört seine eig'ne Schand'; und so ergeht es auch dem lyrischen Ich von "I Heard It Through The Grapevine". Was der unglückliche Protagonist nämlich erfährt, ist der Umstand, dass seine Liebste sich mit dem Gedanken trägt, ihn zu verlassen und zu ihrem Ex zurückzukehren. Er ist begreiflicherweise bestürzt ob dieser Kunde, vor allem aber verletzt es ihn, dass sie es ihm nicht selbst gesagt hat, sondern er es quasi hinter ihrem Rücken erfahren musste - daher der Titel.

Die zweite Strophe beginnt mit einem Vers, der - sollte sich heute jemand unterfangen, den Song erneut zu covern - aus Gründen der political correctness wohl geändert werden müsste: "I know a man ain't supposed to cry". Was soll das heißen, Männer sollen nicht weinen - solche geschlechtsspezifischen Verhaltensnormen sind ja wohl sowas von passé, wo komm' wir denn da hin, wir sind doch nicht mehr im Mittelalter. (Zwar ist, nebenbei bemerkt, die mittelalterliche Literatur voll von weinenden Männern, aber darauf kommt es nicht an. "Wir sind doch nicht mehr im Mittelalter" ist ein absolut unschlagbares Argument für oder gegen absolut ALLES. Das muss mit dem wirklichen Mittelalter nichts zu tun haben.) Zwar dient der Hinweis auf die gesellschaftliche Konvention, derzufolge Männer nicht weinen sollen, im Kontext der Strophe nur dazu, die Wirkung des Umstandes zu erhöhen, dass das lyrische Ich es doch tut ("but these tears I can't hold inside"); man könnte mit etwas gutem Willen also sogar so etwas wie Kritik an geschlechtsspezifischen Verhaltensnormen aus dem Songtext heraushören (was übrigens auch für "Boys Don't Cry" von The Cure gilt). Aber egal, trotzdem, basta, päng: "Männer sollen nicht weinen", das geht nicht, das kann man heute nicht mehr sagen, das ist einfach nicht mehr zeitgemäß, nein nein nein.

- Oder doch? Schauen wir uns die Formulierung ruhig mal etas genauer an. Das englische "to be supposed to do s.th." wird im Deutschen gern kurz und schlicht mit "etwas tun sollen" wiedergegeben, aber es fällt schon auf, dass die im Allgemeinen für die Kürze und Prägnanz ihrer Formulierungen bekannte englische Sprache sich hier einer längeren und umständlicheren Wendung bedient als die deutsche, die doch so gern umständlich ist. "To be supposed" ist, wie von der Form her unschwer ersichtlich ist, das Passiv von "to suppose" = "annehmen, voraussetzen, davon ausgehen". "A man ain't supposed to cry" heißt also in etwa: "Von einem Mann wird erwartet, dass er nicht weint". Und da wage ich zu behaupten: Das gilt auch heute noch. Gerade auch für Frauen. Spätestens seit den 70er Jahren wird den Männern gepredigt, sie müssten lernen, ihre Gefühle zu zeigen; aber wehe, sie tun es wirklich. In "platonischen" Freundschaften mögen Tränen (die ihre Ursache dann ja in der Regel woanders haben) eventuell noch erlaubt sein, aber in "Beziehungen" darf nur einer weinen, nämlich die Frau. Das ist ein Privileg, das sie entschlossen verteidigt - mindestens ebenso entschlossen wie das Privileg, kalte Füße zu haben.

"I Heard It Through The Grapevine" wurde 1966 von Norman Whitfield (Komposition) und Barrett Strong (Text) verfasst, zu einer Zeit also, als Geschlechterrollen-Zuschreibungen noch weit unumstrittener waren als heute. Umso interessanter ist es, dass bereits 1967 eine Version mit einer weiblichen Gesangsstimme erschien: Noch bevor Marvin Gayes Aufnahme veröffentlicht worden war, wurde der Song von Gladys Knight & The Pips gecovert. Das erforderte einige Modifikationen am Text; weitestgehend beschränkten sich diese jedoch darauf, die Wörter "guy" und "man" durch "girl" zu ersetzen. Eine durchaus praktikable Lösung - außer für den hier besprochenen Beginn der zweiten Strophe. Hier wurde der ganze erste Vers gestrichen und durch die Worte "Take a good look at these tears of mine" ("Sieh dir meine Tränen gut an") ersetzt. Ohne Zweifel ein gelungener Vers: Die gekränkte Frau weist den Mann ostentativ auf die Tränen hin, die er verursacht hat. Eine stolze Haltung, die man im R&B der 60er Jahre häufiger findet, so in mehreren Songs von Aretha Franklin ("Respect", "Think", "Chain Of Fools"). Dass an dieser, und nur an dieser, Stelle von "I Heard It Through The Grapevine" eine signifikante Textänderung vorgenommen wurde, ist jedenfalls bezeichnend; denn: "A girl ain't supposed to cry" - "Mädchen sollen nicht weinen"? Wer hätte dergleichen jemals behauptet?

Abgesehen von Frankie Valli & The Four Seasons natürlich.


(So: Und nachdem ich mich nun schön auf die Themen "political correctness" und "zeitgemäße Bearbeitung von Texten" eingeschrieben habe, folgt in Kürze mein Beitrag über die vom Thienemann-Verlag angekündigte Neubearbeitung der Werke Otfried Preußlers. Stay tuned!)

Sonntag, 6. Januar 2013

Fröhliches Julfest allerseits!

Falls meine geschätzten Leser sich schon gefragt haben, warum in letzter Zeit auf den üblichen Kanälen so wenig von mir zu lesen war: Abgesehen davon, dass mein mobiler Internetzugang sich vorübergehend verabschiedet hatte, habe ich mir über Weihnachten eine kleine Auszeit in meinem niedersächsischen Heimatstädtchen N. an der W. gegönnt. Wobei "Heimatstadt" zugegebenermaßen relativ ist: Ich bin dort zwar geboren und zur Schule gegangen, gewohnt habe ich während der ersten 19 Jahre meines Lebens aber auf einem Dorf rund 15 Kilometer außerhalb von N. Meine Mutter ist jedoch, nachdem die Kinder - deren jüngstes ich war - aus dem Haus waren, zweimal umgezogen und wohnt jetzt in der Innenstadt; ein Umstand, der für die Ausführungen, die hier nun folgen sollen, nicht ganz unerheblich ist.

Weihnachten bei und mit meiner Mutter zu verbringen, war schön, aber gleichzeitig habe ich es als durchaus ironisch empfunden, ausgerechnet anlässlich eines der wichtigsten christlichen Feste in einen der heidnischsten Winkel des Landes zu reisen. - Man könnte nun denken, von (Ost-)Berlin aus könne es in dieser Hinsicht viel schlimmer nicht werden; aber das ist ein Irrtum. Mag in Berlin der Atheismus das große Wort führen - das Christentum wird hier zumindest noch als ein ernst zu nehmender Gegner wahrgenommen. In der Gegend von N. hingegen hat es überhaupt nichts zu melden, und das auch nicht erst seit gestern - sondern schätzungsweise seit 1919, als den Kirchen im damaligen Freistaat Oldenburg (sic!) die Schulaufsicht entzogen wurde. Informell wahrten die Kirchen in der Zeit der Weimarer Republik allerdings doch noch einen gewissen Einfluss auf das Volksschulwesen, schon allein dadurch, dass sie vielerorts Eigentümer der Schulgebäude (und damit auch der Lehrerwohnungen) waren; oft mussten die Lehrer ein "kirchliches Nebenamt" versehen, etwa das des Küsters oder Organisten. Den meisten Lehrern war das ausgesprochen zuwider, mit der Folge, dass sie ab ca. Ende der 1920er Jahre scharenweise den Nazis in die Arme liefen, die dem Einfluss der Kirchen auf das Schulwesen endgültig den Garaus zu machen versprachen. Darüber wird heute nicht mehr gern gesprochen.

Nominell ist der Großteil der Bevölkerung in und um N. evangelisch-lutherisch; und ich sage bewusst "nominell". Aus den 1950er Jahren sind Klagen von frisch in diese Gegend versetzten Pastoren überliefert, die Bauern auf den umliegenden Dörfern seien überwiegend Anhänger des Tannenbergbundes - einer 1925 von dem ehemaligen de-facto-Militärdiktator und Hitlerputsch-Teilnehmer Erich Ludendorff gegründeten rechtsextremen Bewegung, die sich unter dem Einfluss von Ludendorffs zweiter Frau Mathilde mehr und mehr zu einer neuheidnisch-germanentümelnden Sekte entwickelt hatte. Noch heute findet man in der Lokalpresse zuweilen Todesanzeigen, in denen anstelle von Stern und Kreuz Runen als Geburts- und Todessymbole firmieren. Insgesamt habe ich allerdings nicht den Eindruck, dass die Nazi-Esoteriker in meiner Heimatregion noch so aktiv sind wie ehedem; stattdessen herrscht allgemeine religiöse Indifferenz.

Während der ersten sechs Jahre meiner Schulzeit war ich in meiner Klasse einer von nur zwei oder drei Schülern, die nicht der evangelisch-lutherischen Landeskirche angehörten; nominell, wie gesagt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass damals auch nur ein einziger meiner evangelischen Mitschüler das geringste Interesse an Religion gezeigt hätte. Auch auf dem Gymnasium wurde das nicht grundsätzlich anders; allerdings waren dort religiöse Minderheiten etwas stärker vertreten. Abgesehen von einigen (türkischstämmigen) Muslimen waren das vor allem Baptisten, Neuapostolische -- und Katholiken. Die wenigen Katholiken, die in und um N. leben, lassen sich im Wesentlichen in drei Gruppen einteilen: Heimatvertriebene Schlesier (und deren Nachkommen; zu denen zähle z.B. auch ich); "Arbeitsmigranten" aus Polen (bzw. deren Nachkommen; heutzutage findet "Arbeitsmigration" eher von N. weg als dorthin statt); und schließlich aus dem Rheinland oder Süddeutschland zugezogene "Besserverdienende", meist Ärzte, Lehrer und Juristen. Letztere scheinen tendenziell eine Ausnahme von der Regel darzustellen, dass Angehörige religiöser Minderheiten ihren Glauben ernster zu nehmen pflegen als die Angehörigen der Mehrheit; als individuell Zugezogene sind sie gewissermaßen nicht Teil einer Minderheit. Für die Schlesier wie für die Polen jedoch ist ihre Konfession prägender Bestandteil ihrer Gruppenidentität; in meiner Kindheit war das jedenfalls noch so.

Soviel erst einmal zur allgemeinen konfessionellen Situation in meiner Heimat. Nun zurück zu meinem Weihnachtsurlaub. Am späten Abend des 21. Dezember kam ich nach einer gut fünfeinhalbstündigen Fahrt in einem exemplarisch unkomfortablen 70er-Jahre-Reisebus und einer weiteren Stunde Fahrt mit der Regionalbahn in N. an, und am nächsten Tag sagte ich beim Mittagessen zu meiner Mutter: "Morgen werde ich wohl Pfarrer B. einen Besuch abstatten müssen." Ich meinte damit keinen privaten Besuch, sondern lediglich die Teilnahme an der Sonntagsmesse; dass ich in diesem Zusammenhang von "Müssen" sprach, muss ich wohl erklären.

Vor ein paar Jahren wurden die katholischen Kirchengemeinden der Stadt N. und zweier angrenzender Landgemeinden zur Pfarrei St. Willehad zusammengelegt. Offiziell wird diese Pfarrei gleichberechtigt von zwei Pfarrern, Alfons K. und Erhard B., geleitet; praktisch gesehen ist Alfons K. aber nach wie vor in erster Linie der Pfarrer der Kirche Herz Jesu, die in einer klassischen Industriesiedlung im Stadtnorden liegt, wo fast ausschließlich die Beschäftigten eines Werks für Flugzeugteile leben (in diesem Werk hat übrigens auch mein Vater gearbeitet). Die Gemeinde von Herz Jesu besteht im Wesentlichen aus Schlesiern und Polen, während die oben erwähnten "Besserverdiener" eher im Einzugsbereich von St. Willehad, und somit im Zuständigkeitsbereich von Pfarrer Erhard B., leben.

 Beide Pfarrer kenne ich schon lange: Alfons K. war (und ist) auch für die Kirchengemeinde des Dorfes zuständig, in dem ich aufgewachsen bin; in meinen Teenagerjahren hatte ich durchaus so meine Reibungspunkte mit ihm, habe ihn im Laufe der Jahre aber sehr schätzen gelernt. Von Erhard B. kann ich das leider nicht behaupten. In der 7. und 8. Klasse hatte ich bei ihm Religionsunterricht - sofern man das als Unterricht bezeichnen kann. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, bei ihm irgendetwas gelernt zu haben; umso besser erinnere ich mich an seine ebenso wirren wie gefühlsduseligen Monologe, die er gern in einem pathetisch-weinerlichen Singsang vortrug, der in schroffem Kontrast zu seinem ausgeprägten niederdeutschen Akzent stand.

Ich wäre also während meines Weihnachtsurlaubs sehr viel lieber bei Pfarrer K. in die Messe gegangen, aber ohne Auto war Herz Jesu von der neuen Wohnung meiner Mutter aus kaum zu erreichen - öffentliche Verkehrsmittel verkehren in N. nur sehr sporadisch, und an Sonn- und Feiertagen praktisch gar nicht. St. Willehad war zu Fuß rund zwanzig Minuten entfernt. Also machte ich mich am Morgen des 4. Advent bei ekligem Nieselregen dorthin auf den Weg. Ich hatte von Anfang an kein gutes Gefühl dabei. Das letzte Mal, dass ich eine von Pfarrer B. zelebrierte Messe besucht hatte, lag schon ein paar Jahre zurück - und hatte ein jähes Ende gefunden: Mein Widerwille gegen den allzu salbungsvollen Sprachduktus des Pfarrers und seine späthippieske Privatliturgie hatte einen frühen Höhepunkt erreicht, als ich registrierte, dass er das Allgemeine Schuldbekenntnis über- bzw. unterschlagen hatte. Ich stellte fest, dass ich mich nicht wohl dabei gefühlt haben würde, ohne vorheriges Schuldbekenntnis zur Kommunion zu gehen, und beschloss: Wenn ich nicht zur Kommunion gehen kann, muss ich mir auch B.s dämliches Gesabbel nicht anhören. Also verließ ich die Kirche, leise und unauffällig, schon während des Glorias. - Diesmal war ich aber entschlossen, alle mir zu Gebote stehende Gelassenheit aufzubieten und länger durchzuhalten. Dieser Vorsatz wurde aber auf eine harte Probe gestellt. Zunächst einmal bemerkte ich, dass Pfarrer B. es beim Einzug unterließ, den Altar zu küssen. Alsdann gab es erneut kein Allgemeines Schuldbekenntnis. Zu meiner Beruhigung entnahm ich dem Gotteslob für das Bistum Münster unter Nr. 353.3, an "bestimmten Tagen" könne "das allgemeine Schuldbekenntnis entfallen"; und da der Schott mir nicht vorlag, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, ob der 4. Advent ein solcher "bestimmter Tag" ist. Andererseits sagte ich mir, es wäre schon sehr großer Zufall, wenn ich jedesmal, wenn ich bei Pfarrer B. in die Messe gehe, einen Tag erwische, für den kein Allgemeines Schuldbekenntnis vorgeschrieben ist. Ich argwöhnte vielmehr, diese Auslassung sei symptomatisch für das gefühlige, verinnerlichte Glaubensverständnis dieses Geistlichen. Er redet nicht gern über Schuld. Wie sich in der Folge zeigte, redet er auch nicht gern über Gott.

Das Evangelium dieses 4. Advents war Lukas 1, 39-45: Maria besucht Elisabeth. Beide Frauen sind schwanger, und als sie sich begrüßen, hüpft das Kind der Elisabeth - der spätere Johannes der Täufer - vor Freude über die vorgeburtliche Begegnung mit dem Sohn Gottes in ihrem Leibe. Pfarrer B. führte in seiner Predigt aus, es gehe in diesem Text um die "herzhafte Begegnung zwischen zwei Frauen". Er zitierte den Religionsphilosophen Martin Buber mit der profunden Aussage "Leben ist Begegnung" und kommentierte den salto prenatale des ungeborenen Täufers mit den Worten: "Wenn Menschen sich begegnen, schlägt die Natur Purzelbäume!" - Moment mal, dachte ich, geht es nicht eher darum, dass Johannes sozusagen schon von Mutterleib zu Mutterleib Jesus als den Messias erkennt? Nö, davon war in der Predigt keine Rede. Wir schrieben den 4. Advent, einen Tag vor Heiligabend, und mit keinem Wort wurde darauf eingegangen, dass wir uns dem Fest der Menschwerdung Gottes näherten. Vielmehr: "Dass es zwischen uns zur Begegnung kommt, das ist Advent. Das ist es auch, was christliche Gemeinde ausmacht." Aha. Wieder was gelernt. Ich hatte immer gedacht, christliche Gemeinde habe irgendwie auch etwas mit Gott zu tun. So kann man sich irren. Sobald ich meine Verwirrung vorläufig abgeschüttelt hatte, registrierte ich, dass Pfarrer B. mittlerweile über Dag Hammarskjöld sprach. Diesen zitierte er mit den Worten: "Einmal antwortete ich Ja zu Jemandem oder zu Etwas." Jemand oder Etwas, schönschön. Ich habe mal gelesen, dass es zum Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker gehört, diesen Jemand oder dieses Etwas Gott zu nennen. So weit ist Pfarrer B. anscheinend noch nicht. Ich jedenfalls hatte genug gehört. Unvermittelt kam mir in den Sinn, wie vor Jahren einmal in einer von Pfarrer Alfons K. zelebrierten Messe ein Besucher während der Predigt aufstand, den Pfarrer unterbrach und ein Streitgespräch mit ihm begann. Wie sich später herausstellte, war dieser Zwischenfall inszeniert gewesen, der vermeintliche Störer war Pfarrer K.s Schwager. Jedenfalls verspürte ich auf einmal unbändige Lust, hier und jetzt einen vergleichbaren Eklat zu provozieren, aber ich riss mich zusammen - und ging einfach. Ich nehme mal an, für die braven Bürger der Stadt N. war das schon provokativ genug.

Am Abend besuchte ich eine legendär heruntergekommene Punk-Spelunke am Bahnhof, in der ich schon früher gelegentlich zu Gast gewesen war. Die wenigen anderen Gäste waren dem Augenschein nach durchweg Schüler. Zu den charmanten Eigenarten dieses Lokals gehört es, dass es dort eine Jukebox gibt, und ich fand es überaus reizend, dass die Jugendlichen tatsächlich unermüdlich Kleingeld in die Jukebox versenkten und sich Lieder wünschten. Wenig weihnachtlich wurde mir jedoch zu Mute, als jemand das Lied "Kirche" der berüchtigten Gruppe Böhse Onkelz wählte. Der Liedtext wartete mit allerlei ausgelatschten und in ihrer Substanzlosigkeit geradezu frappierenden antiklerikalen Klischees auf und gipfelte in den Versen "Wer keine Angst vorm Teufel hat, braucht auch keinen Gott". Mein Gehirn biss sich eine Weile an der Frage fest, wie man diese schiefe Aussage so umformulieren könnte, dass "ein Schuh draus wird"; was dabei herauskam, war "Wer Gott hat, braucht keine Angst vorm Teufel zu haben", aber metrisch war das natürlich unbefriedigend. Statt mich weiter mit dem Onkelz-Text herumzuschlagen, investierte ich lieber 50 Cent in die Jukebox und suchte andere Musik aus. Erstaunlicherweise enthielt das Repertoire des Apparats neben allerlei Punk- und Schlager-Scheiben auch Perlen wie die Greatest Hits von Creedence Clearwater Revival; und siehe, schon während der ersten Takte von CCRs kongenialer Version von "I Heard It Through The Grapevine" verpieselten sich die punkseligen Gymnasiasten und machten einem älteren Publikum Platz. In der Folge kam ich übrigens in den Genuss, ein perfektes Poolbillard-Spiel mit ansehen zu dürfen. Zwei Männer aus einer Gruppe von sechs Personen nahmen den Pooltisch in Betrieb; der Jüngere der beiden machte den Anstoß, konnte dabei aber keine Kugel versenken - woraufhin sein Gegner mit beeindruckender Seelenruhe, einmal gegen den Uhrzeigersinn um den Tisch herum gehend, alle sieben "halben" Kugeln hintereinander versenkte und schließlich, lehrbuchmäßig, die Acht in die Mitteltasche platzierte. Das ehrfürchtige Staunen der Zuschauer kommentierte er gelassen: "Ich bin jetzt 47 Jahre alt. Im Prinzip habe ich 32 Jahre lang hierfür geübt."

Am nächsten Tag freute ich mich auf die Lokalpresse, und das ganz (na ja: fast ganz) ohne Ironie. Die Nordwest-Zeitung bringt nämlich alljährlich in ihrer Weihnachtsbeilage Beiträge von örtlichen Geistlichen, und ich hoffte darauf, mal wieder etwas von Pfarrer K. zu lesen, dessen Grußworte zum Fest in der Vergangenheit stets sehr anregend gewesen waren. Dieses Jahr hoffte ich aber vergeblich. Der ökumenische Charakter der Weihnachtsbeilage ließ erheblich zu wünschen übrig: Zu Wort kamen zwei im vergangenen Jahr neu in ihre jeweiligen Gemeinden gekommene Pastoren, beide evangelisch. Genauer gesagt: ein Pastor und eine Pastorin. Der Beitrag von Pastor Dietmar R.-C. von St. Hippolyt trug die Überschrift "Gott sorgt dafür, dass alles gut wird". So etwas liest man natürlich gerne, auch wenn kritische Geister finden mögen, davon sei in der Welt wenig zu sehen. Solche Einwände hatte Pastor R.-C. aber zweifellos vorausgesehen. Den zentralen Absatz seines Texts möchte ich hier mal in voller Länge wiedergeben:
"'Alles wird gut' - das ist nicht die kleine Pille mit Sofortwirkung. 'Alles wird gut' ist die Ermutigung zum Vertrauen. In den kleinen und großen Katastrophen des Lebens wie auch in den farblosen Zeiten darauf zu vertrauen: Dieser Gott, den wir Weihnachten feiern, sorgt dafür, dass alles gut wird."
Durchaus erfrischend, dass ein Pastor in diesen heidnischen Gefilden von Gott zu sprechen wagt, und das auch noch ausgerechnet zu Weihnachten. Seine Amtskollegin Heike-Regine A. von St. Laurentius mochte es ihm darin offenbar nicht gleichtun und schrieb lieber über das "Recht auf menschenwürdiges Leben". Das Thema als solches ist natürlich durchaus wichtig. Was Frau A. dazu einfiel, wurde angekündigt als "Eine Weihnachtsgeschichte frei nach Lukas 1, 1-20" - in Wirklichkeit natürlich Lukas 2, 1-20, aber gehen wir mal wohlwollend davon aus, dass dieser Lapsus auf das Konto der Zeitung und nicht auf das der Pastorin geht. Pastorin A. jedenfalls paraphrasiert nun die allbekannte Weihnachtsgeschichte nach Lukas dergestalt, dass es darin um die Asylproblematik geht (Oh Mann, stöhnte ich innerlich auf, das ist so 90er!): Maria und Josef erscheinen darin als Flüchtlinge aus Afrika, die von Schleppern über das Meer nach Europa gebracht werden, dort aber in keinem Land Asyl erhalten und schließlich in einem Auffanglager landen, vor dessen stacheldrahtgesäumten Pforten dankenswerterweise Demonstranten gegen die drohende Abschiebung der Flüchtlinge protestieren - und dann erscheint den Demonstranten doch allen Ernstes ein Engel!
"Fürchtet euch nicht. Siehe, ich verkündige euch eine große Freude, denn eines Tages wird Frieden sein für alle und Gerechtigkeit für jedermann. Und ihr bereitet den Weg, weil ihr euch einsetzt in dieser dunklen Nacht, für die Menschen da drin in dem Lager, die eure Hilfe nun brauchen. Das ist eine große Freude und an solchen Menschen hat Gott Wohlgefallen."
Huch - da ist ja doch von Gott die Rede! Zumindest am Rande. Hatte ich auf den ersten Blick doch tatsächlich übersehen. Aber der offenkundigen Botschaft des Texts tut das keinen großen Abbruch. Das Paradies liegt in der Zukunft, der Mensch soll es erbauen, soll sich mit anderen Worten gefälligst selbst erlösen, und der HErr lächelt fein - was er im Grunde auch bleiben lassen könnte, schließlich haben es sich die Menschen schon ohne ihn gemütlich gemacht. Das Kind, das dem Flüchtlingspaar im Abschiebelager geboren wird, figuriert als Symbol der Hoffnung, immerhin --- der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Menschheit, wohlgemerkt, aber diese Symbolik kennt man ja, spätestens seit Ellen Keys Das Jahrhundert des Kindes (1902) oder Whitney Houstons Greatest Love Of All (1986); es liegt ja auch nahe, in Kindern den Inbegriff der Zukunft zu sehen. Damit, dass Gott Mensch wird, um die Menschen zu erlösen, hat das aber kaum etwas zu tun. Kurzum, Pastorin A. gelingt es geradezu mustergültig, der Weihnachtsbotschaft jedwede christliche Substanz zu entziehen. Das ist ohne Zweifel enorm zeitgemäß und modern, und ich lasse mich gern einen bornierten Dunkelkatholiken schimpfen, wenn ich sage, dass dieser Text aus meiner Sicht das Gebiet der Blasphemie nicht nur streift.

Immerhin fand mein aus geistlicher Sicht über weite Strecken wenig erbauliches Weihnachtsfest ein Happy End darin, dass ich das neue Jesus-Buch des Papstes geschenkt bekommen habe. Ich hatte es mir gewünscht - das erste Mal seit Jahren, dass mir auf die unvermeidliche Frage meiner Mutter, was ich mir zu Weihnachten wünsche, sofort etwas Sinnvolles einfiel. Gelesen habe ich es, wie ich gestehen muss, noch nicht. Mir fehlte bislang wohl die innere Ruhe dazu. Aber demnächst muss ich mal damit anfangen...