Eins vorweg: Im Grunde betrachte ich mich gar nicht als einen besonders konservativen Katholiken. Ich empfinde mich selbst als recht moderat, in Einzelfragen finde ich mich manchmal sogar eher lax. Dennoch erfreue ich mich in manchen Kreisen, ganz besonders auf Twitter, zunehmend eines Rufs als extremer Dunkelkatholik, Fundi und Katholiban. Wie konnte es dazu kommen?
Nun gut: Von entscheidender Bedeutung für solche Einordnungen ist es natürlich immer, woran man sich jeweils misst bzw. messen lässt. Hier höre ich nun schon wie von selbst den Einwand: Messen oder messen lassen sollte sich ein Christ in allererster Linie an Jesus. Schon wahr - aber an welchem Jesus? Dem sanften, gütigen, der allenthalben Dinge sagt wie "Lasset die Kindlein zu mir kommen" (Mk 10,14), "Auch ich verurteile dich nicht" (Joh 8,11), "Dein Glaube hat dir geholfen" (Lk 8,48) oder "Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein (Lk 23,43) - oder doch eher dem aufbrausenden Radikalen, der zur Geißel greift, um die Geldwechsler aus dem Tempel zu vertreiben (Joh 2,13-16), der die Pharisäer und Schriftgelehrten als "Schlangenbrut" beschimpft und ihnen das "Strafgericht der Hölle" androht (beides Mt 23,33) und der seine Jünger anweist "Wer aber kein Geld hat, soll seinen Mantel verkaufen und sich dafür ein Schwert kaufen" (Lk 22,36)?
Im Ernst: Das Dilemma ist natürlich, dass beides derselbe Jesus ist. Und eine ganze Menge Streit, Zerwürfnis, Lagerdenken, Parteihader und Richtungsgezänk unter Christen lässt sich, wenn man es recht bedenkt, auf den fruchtlosen Versuch zurückführen, diese (vermeintlichen) "zwei Jesusse" gegeneinander auszuspielen. Wobei man es auch nicht selten erlebt, dass gerade diejenigen, deren Idol der softe Hippie-Jesus ist, plötzlich Gelüste verspüren, mit der Geißel auf ihre Kontrahenten loszugehen - aber darauf komme ich noch.
Wenn man es recht besieht, kann man allerdings den Eindruck bekommen, allerlei Meinungsverschiedenheiten und Richtungsstreitigkeiten unter Christen und solchen, die sich Christen nennen, bezögen sich nicht allein auf die Frage, welche der teilweise recht ambivalent anmutenden Verhaltensweisen Jesu man mehr und welche weniger als vorbildlich betrachten sollte - sondern viel grundlegender auf die Frage: Wer ist dieser Jesus überhaupt? - Die Evangelien berichten uns, dass die Meinungen hierüber schon zu Jesu Lebzeiten sehr geteilt waren. So lesen wir in Mt 16,13-16 davon, wie Jesus während eines Aufenthalts in Caesarea Philippi seine Jünger befragt:
"Für wen halten die Leute den Menschensohn?"Die Jünger antworten:
"Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten."Als Jesus jedoch weiterfragt
"Ihr aber, für wen haltet ihr mich?",gibt der Apostel Petrus zur Antwort:
"Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!"
-- Wie soll man nun jemanden nennen, der auf diese Frage noch heute die Antwort des Petrus geben würde oder tatsächlich gibt? Spontan würde ich sagen, so jemanden nennt man "Christ"; aber ich gerate, vorzugsweise im Internet, immer wieder in Auseinandersetzungen, die mir den Eindruck vermitteln, die heute gebräuchliche Bezeichnung für jemanden, der so antwortet, sei "Fundamentalist". Wenn nicht Schlimmeres.
Vor einiger Zeit ging auf Twitter ein Blogartikel mit dem Titel "Die Kirche und ihre Trolle" rum und wurde heiß diskutiert. Primär ging es da um Evangelikale und deren angeblichen oder tatsächlichen Bestrebungen, ihre "Machtposition [...] innerhalb der evangelischen Kirche auszubauen". Die Katholische Kirche kommt in dem Text nicht vor, aber natürlich fehlte es in den Diskussionen, die dieser Blogbeitrag auf Twitter (und sicher auch anderswo) auslöste, nicht an Stimmen, die darauf hinwiesen, katholischerseits gebe es dieselben Phänomene selbstverständlich auch. Aber ganz unabhängig davon fand ich es interessant, welche Positionen der Evangelikalen es denn im Einzelnen sind, die der Autorin des Beitrags so sehr gegen den Strich gehen. So wirft sie den von ihr so betitelten "Trollen" vor, sie würden lehren, das "Wichtigste an Jesus" sei "nicht die von ihm vorgelebte Ethik und Lehre vom Reich Gottes, sondern dass er sich für uns hat ans Kreuz nageln lassen". -- Ach. Wer das glaubt, ist also ein fundamentalistischer Troll? - Manchmal, ja, manchmal wünsche ich mir für solche Fälle Hinweisschilder oder meinetwegen auch Lautsprecherdurchsagen mit dem Text:
"Achtung, Sie verlassen soeben den Boden des Christentums. Bitte achten Sie auf Ihr Gepäck."
Aber keine Bange, die besagte Bloggerin hat auf derartige Anwürfe eine unschlagbare Antwort parat. In einem weiteren Blogbeitrag erklärt sie die Frage, ob jemand Christ sei oder nicht, kurzerhand zur Ermessenssache des jeweiligen Jemandes selbst:
"Es gibt unter dem Label “Christentum” praktisch jede beliebige politische und sozialkulturelle Ansicht und Praxis. [...] Alles, was sich so nennt, ist das Christentum, ob uns das passt oder nicht. Man darf der Versuchung nicht nachgeben, festlegen zu wollen, was rechtmäßig dazu gehört und was nicht."
-- Echt jetzt? Heißt das, wenn ich für mich selbst beschließe, Feuerwehrmann zu sein, gehöre ich dadurch automatisch der Feuerwehr an? Und wenn dann Leute kommen und behaupten, ich wäre gar kein echter Feuerwehrmann, darf ich mich dann lautstark beklagen, wie fundamentalistisch, engstirnig, anmaßend, ja: unfeuerwehrmännisch es sei, mir das Feuerwehrmannsein abzusprechen?
Tröstlich ist es, dass die Bloggerin - soweit ich es in Erfahrung habe bringen können - keine Theologin ist, auch wenn man diesen Eindruck haben könnte. Ich bin übrigens - nur um hier kein Missverständnis aufkommen zu lassen - ebenfalls kein Theologe, und manchmal bin ich sogar ganz froh darüber. Die Tendenz, den Begriff des Christlichen - und damit auch die Glaubensinhalte des Christentums - aufzuweichen bzw. auszuhöhlen, trifft man nämlich durchaus nicht selten bei Leuten an, die sehr wohl Theologie studiert haben. Und oft kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie genau das an der Uni gelernt haben. Besonders lästig daran ist, dass sie, wenn man ihnen widerspricht, stets darauf verweisen können (und das auch tun), dass sie einfach mehr von der Materie verstehen als man selbst, denn sie haben das schließlich studiert.
-- Nun ist es nicht so, dass ich diese Einstellung nicht nachvollziehen könnte. Ich zum Beispiel bin Germanist, und natürlich bilde ich mir ein, mehr von deutscher Sprache und Literatur zu verstehen als jemand, der sich nur "privat" mit diesen Dingen befasst. Aber selbst da kann alle akademische Bildung ein Grundverständnis dessen, worum es eigentlich geht, und einen persönlichen Zugang zum Thema weder schaffen noch ersetzen. Umso mehr gilt das für die "Rede von Gott" (so die wörtliche Übersetzung des Begriffs Theologie), die ihrer Natur nach erheblich mehr ist als eine geisteswissenschaftliche Disziplin. Theologische Bildung kann Glauben weder schaffen noch ersetzen - zu seiner Vertiefung, zu einem tieferen Verständnis beitragen kann sie zweifellos, aber sie tut das keinesfalls zwangsläufig und immer. Wie heißt es so treffend im Brief an die Halikarnasser: "Was hälfe bzw. hülfe es mir, wenn ich einen Master in Theologie erwürbe, hätte aber den Glauben nicht?"
Und: Was soll aus denjenigen Uni-Absolventen werden, die zwar die historisch-kritische Exegese im Schlaf beherrschen und sich auch sonst in allerlei Teildisziplinen der theologischen Wissenschaft das Freischwimmerabzeichen redlich verdient haben, dabei aber das sentire cum ecclesia nicht erlernt haben und das Apostolische Glaubensbekenntnis allenfalls im metaphorischen Sinne gelten lassen? - Sollen die etwa Priester werden? Das wollen wir nicht hoffen. Im günstigsten Falle gehen sie zur FAZ (oder so) und werden dort Experten für Kirchenfragen. Im etwas weniger günstigen Falle werden sie Pastoralreferenten (oder -innen).
-- Keine Sorge: Es geht mir hier nicht um "Pastoral- und Gemeindereferent_inn_enbashing". Ich habe weder die Absicht noch stünde es mir zu, mit dieser Aussage ein Pauschalurteil über Pastoralreferenten (oder -innen) zu fällen. Dazu kenne ich auch viel zu wenige von ihnen. Dass ich mir unter dieser Berufsbezeichnung reflexartig Leute vorstelle, die so aussehen und so sprechen, als seien sie einem Grünen-Parteitag aus den 80er Jahren entsprungen, ist ziemlich sicher eine krude Klischeevorstellung. Aber auch die krudesten Klischeevorstellungen haben ja oft irgendeinen Anknüpfungspunkt in der Realität. Zugegeben, es sind nicht durchweg Pastoral- oder Gemeindereferenten, sondern auch nur ehrenamtliche "engagierte Laien"; aber es gibt sie, diese klischeehaften Kuschelchristen - und zwar, meiner persönlichen Erfahrung zufolge, in nahezu jeder Kirchengemeinde. Oft (aber nicht immer) erkennt man sie an ihrer Vorliebe für Norwegerpullis und Sandalen - bei den Herren gern mit einem Vollbart kombiniert, bei den Damen mit Batik-Halstuch und Doppelnamen. Gute Leute zumeist: fröhlich, herzlich und hilfsbereit, und absolut unbezahlbar, wenn man mal Hilfe beim Umzug braucht oder wenn es gilt, Kuchen oder Salate zum Gemeindefest beizusteuern. Sie haben im Grunde nur einen einzigen schwachen Punkt: Sie sind tolerant gegenüber Allem und Jedem, nur nicht gegenüber Leuten, deren Definition von Christentum sich enger an der Lehre der Kirche ausrichtet als ihr eigenes. Diese Leute sind in ihren Augen "Fundamentalisten" und/oder "Ewiggestrige"; wenn es solche Leute in der eigenen Kirchengemeinde gibt, muss man sie zwar notgedrungen und mit zusammengebissenen Zähnen dulden, tuschelt nur hinter vorgehaltener Hand über ihre "mittelalterlichen" Ansichten und gibt sich ansonsten möglichst wenig mit ihnen ab. Geht es jedoch nicht um das unmittelbare persönliche Umfeld, ist man bei der Kritik an "rückständigen" Positionen innerhalb der Kirche weniger zimperlich; da schlägt man schon mal einen Tonfall an, der demjenigen entschiedener Atheisten und Kirchengegner in nichts nachsteht. -- Wie man meinem Tonfall sicherlich anmerkt, habe ich mich seit meinen Teenagerjahren vielfach an dieser Sorte "engagierter Laien" gerieben. Und jetzt holen sie mich wieder ein. Vor allem auf Twitter.
Nehmen wir mal die #Twomplet, das interaktive Abendgebet, das seit Mitte Januar jeden Abend um 21 Uhr stattfindet. Ich habe mich schon an anderer Stelle als ausgesprochener #Twomplet-Fan geoutet: Nach anfänglicher Skepsis gegenüber der Idee einer "virtuellen" Gebetsgemeinschaft war ich dann doch sehr schnell sehr begeistert von diesem Projekt, und seit Februar schlüpfe ich durchschnittlich drei- bis viermal pro Monat selbst in die Rolle des Vorbeters. Es wird niemanden überraschen, dass ich zu denjenigen #Twomplet-Vorbetern gehöre, die sich tendenziell enger an der traditionellen Form des Stundengebets orientieren als andere. Grundsätzlich stellt das auch kein Problem dar; zu einem gewissen Grad lebt das Projekt #Twomplet gerade von der Vielfalt der Formen und Stile. Ganz konfliktfrei lässt sich diese Vielfalt allerdings nicht immer verwirklichen. - Ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft am Rande der #Twomplet der Text des Nunc dimittis bekrittelt wurde - weil dort von "Heiden" die Rede ist. Das sei doch respektlos gegenüber Andersgläubigen. Gelegentlich wird auch beanstandet, dass der Beter sich Gott gegenüber als "Knecht" bezeichnet: Diese Unterwürfigkeit sei doch gar nicht mehr zeitgemäß. Im Umkehrschluss wird folgerichtig auch in Frage gestellt, ob es heutzutage noch tunlich sei, Jesus Christus als "Herr" anzusprechen. (Ich kenne übrigens auch einen katholischen Priester in Berlin-Neukölln, der in der Messe die Orationsformel "durch Christus, unseren Herrn" prinzipiell zu "durch Christus, unseren Freund" abwandelt. Aber das nur am Rande.)
Damit nicht genug: Zuweilen scheint es, man könne bei der #Twomplet kaum eine Fürbitte für verfolgte Christen formulieren, ohne dass jemand in vorwurfsvollem Ton anmerkt, man solle doch lieber für ALLE Verfolgten beten. - Man verstehe mich hier bitte nicht falsch: Ich finde es durchaus richtig, für alle Verfolgten, Unterdrückten und Erniedrigten zu beten. Aber: Sollten einem Christen nicht Diejenigen, die um Christi willen verfolgt werden, ein besonderes Anliegen sein? Heißt es nicht auch in Galater 6,10 "Darum wollen wir [...] allen Menschen Gutes tun, besonders aber denen, die mit uns im Glauben verbunden sind"? -- Nun, ich fürchte, auch das ist eine fundamentalistische Auffassung. Die nicht-fundamentalistische Auffassung besagt, wahre Christen zeichne es aus, dass das spezifisch Christliche bei ihnen hinter das allgemein Menschliche zurücktritt. -- Übertreibe ich? Vielleicht ein bisschen, aber nein, ich glaube eigentlich nicht. Als das Team einer Website namens gerne-katholisch.de einmal eine #Twomplet gestaltete, hagelte es Kritik wegen mangelnder Ökumene; als ich hingegen einmal - es war am Gründonnerstag - gegen die Verwendung von Texten des indischen Gurus Osho (formerly known as Bhagwan) protestierte, machte sich (bei Manchen) Entsetzen ob solcher Intoleranz breit. Das mag ein Extrembeispiel sein, aber die Auffassung, man solle die #Twomplet "interreligiöser" gestalten, regt sich immer mal wieder. Nun bin ich durchaus der Meinung, wer einen inter- oder multireligiösen Gebetskreis auf Twitter einrichten will, der soll das gerne tun - aber ein christlicher Gebetskreis sollte doch bitteschön christlich bleiben dürfen. Huch, jetzt ist es mir schon wieder passiert: Ich kann es einfach nicht lassen, den Begriff "christlich" in fundamentalistischer Weise einzuengen. Wie unchristlich von mir.
Nun geht es mir hier aber ganz und gar nicht darum, auf der #Twomplet-"Community" (oder Teilen davon) herumzuhacken; schließlich mag ich dieses Projekt sehr und komme mit der Mehrzahl der dort Mitwirkenden hervorragend aus. Die oben skizzierten Debatten, die da hin und wieder entstehen, sind ja kein Phänomen, das für die #Twomplet oder für Twitter oder überhaupt für Soziale Netzwerke spezifisch wäre, sondern sie spiegeln lediglich etwas wider, das im realen (Kirchen-)Leben genauso stattfindet. So oder so, ich kann mir nicht helfen: Die schon erwähnte Auffassung, das "wahre" (oder sagen wir: zeitgemäße) Christentum sei jenes, das möglichst wenig spezifisch Christliches an sich habe - woraus im Umkehrschluss folgt, das entschiedene Bekenntnis zu christlichen Glaubensinhalten sei unchristlich - macht mir einen Knoten ins Gehirn. Da komme ich einfach nicht mit. Erklären kann ich mir das höchstens als mehr oder weniger verzweifelten Versuch, einerseits Christ sein und andererseits trotzdem bei der sich zunehmend glaubensfeindlich gebärdenden Öffentlichkeit nicht anecken zu wollen. In einem Wort zusammengefasst könnte man diese Haltung Feigheit nennen, aber das möchte ich nicht tun, das wäre ja unchristlich. Zudem würde diese Deutung unterstellen, dass die in diesen Kreisen häufig anzutreffende und so schlecht zu ihrer so gern herausgekehrten Sanftmut und Toleranz passende Aggressivität gegenüber konservativeren Glaubensbrüdern und -schwestern letztlich nur dazu dient, das eigene Bewusstsein dieser Feigheit und Inkonsequenz zu betäuben bzw. zu übertönen; und vor allem müsste ich mich dann fragen: Woher kommt diese Feigheit? In mehreren Ländern der Welt werden genau jetzt, während ich unbehelligt diese Zeilen tippe, Menschen für ihr Bekenntnis zu Christus aus ihren Wohnorten vertrieben, ins Gefängnis gesteckt oder ermordet. So etwas haben Christen hierzulande nicht zu fürchten. Sie werden vielleicht in Presse und Fernsehen veralbert und verleumdet, im Internet oder vielleicht sogar auf offener Straße auch mal persönlich beschimpft; vielleicht werden ihnen auch mal die Fensterscheiben eingeworfen, aber viel schlimmer wird's in unseren Breiten eigentlich kaum. Wieso nur ist gerade hierzulande - und gerade nicht da, wo das Bekenntnis zu Christus mit echter Gefahr verbunden ist - das Bedürfnis so ausgeprägt, das Christentum in etwas so Schwammiges, Harmloses, Inkonsequentes zu verwandeln, das niemanden provoziert und für niemanden eine Herausforderung darstellt?
Also, manchmal schäme ich mich richtig.