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Sonntag, 2. Oktober 2011

Wo man singt, da lass' dich ruhig nieder...

Sonntag, 02. Oktober: Bei strahlendem Sonnenschein mache ich mich auf den Weg zur St.-Christophorus-Kirche in Berlin-Neukölln. Ich bin etwas früh dran und studiere, ehe ich das Gotteshaus betrete, erst einmal den Aushang mit der Gottesdienstordnung. Heute steht ein "Familiengottesdienst zum Erntedankfest" auf dem Programm. Ein bisschen schreckt mich das ab. "Familiengottesdienst" ist in St. Christophorus an jedem ersten Sonntag im Monat, und um es mal ganz schlicht auszudrücken: Kinderbespaßung und locker-flockige Gitarrenmusik in der Kirche sind "nicht so mein Ding". In formaler Hinsicht bin ich wohl ziemlich konservativ. Aber okay, der HERR spricht:

"Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes. Amen, das sage ich euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt, wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen." (Mk 10, 14f. / Lk 18, 16f.)

Anstatt mich darauf zu berufen, dass im Matthäusevangelium der letzte Vers nicht vorkommt (vgl. Mt 19,14), schlucke ich meine ästhetischen Vorbehalte hinunter und trete ein.
Mein Eindruck von diesem Gottesdienst ist zwiespältig. In den Bankreihen liegen Liederbücher vom 90. Deutschen Katholikentag (Berlin 1990) aus, womit schon mal klar ist: Choräle gibt's heute nicht. Allerdings werden die einschlägigen Katholikentagsschlager nicht - wie ich es auch schon mal erlebt habe - von Pater Kalle Lenz SAC auf der umgehängten Wandergitarre begleitet, sondern von einem Ensemble mit Querflöte, E-Bass und Cajón. Bei dem Evergreen "Laudato si, o mio Signore" bekomme ich doch tatsächlich Gänsehaut, und schön finde ich auch, dass Pater Kalle an dieses auf dem Sonnenhymnus des Hl. Franz von Assisi basierende Lied ein paar Sätze über Leben und Tod dieses Heiligen anschließt. Das heutige Evangelium, Mt 6, 25-34 (Von der falschen und der rechten Sorge) finde ich sehr bewegend und inspirierend, und zur Kommunion gibt es Hostien, die von der Papstmesse im Olympiastadion übrig geblieben sind. So weit, so schön. Dass die Predigt zu einem großen Teil als heiteres Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Pater Kalle und den um den Altar versammelten Kindern gestaltet wird: na ja, Geschmackssache. Für meinen Geschmack hätte die Predigt ruhig etwas weniger Ernährungsberatung und dafür mehr Theologie enthalten dürfen; aber Pater Kalle ist einfach ein extrem sympathischer Typ, dem lasse ich so einiges durchgehen. Und die Anekdote, wie er Geschmack an Zwiebeln gefunden hat, ist wirklich lustig.


Dass der liturgische Rahmen der Heiligen Messe, den Pater Kalle generell eher locker zu handhaben pflegt, in diesem Familiengottesdienst gravierende Auflösungserscheinungen zeigt, war wohl schwerlich anders zu erwarten. Die musikalische Gestaltung der Feier durch das oben erwähnte Ensemble trägt das Ihre dazu bei. "Äh, haben wir ein Lied zum Credo?", fragt Pater Kalle, und die Musikgruppe antwortet mit einem Song, dessen Text eher zum Gloria gepasst hätte, mit dem Credo aber nun wirklich gar nichts zu tun hat. Auch mag man sich fragen, wie sinnvoll es ist, "Komm, Herr, segne uns" als Auszugslied zu singen, wo der Entlassungssegen doch bereits zuvor erteilt worden ist. (Ich habe in meinen Teenagerjahren selbst mal an der Gestaltung eines Jugendgottesdienstes mitgewirkt, und damals hat man uns die Verwendung von "Komm, Herr, segne uns" als Auszugslied aus ebendiesem Grund untersagt. Der Priester ist schließlich kein Hampelmann. Wenn er einen Segen spendet, dann hat man nicht hinterher um noch einen zu bitten.)


Bedenken grundsätzlicher Art hatte ich auch bereits beim Einzugslied, "Es könnte sein" von Eugen Eckert (Text) und René Frank (Melodie). Ich will mich an dieser Stelle nicht allzu breit darüber auslassen, aber der Text dieses Liedes riecht für mich ein wenig nach marxistisch inspitierter Befreiungstheologie - oder anders ausgedrückt: nach der vermessenen Auffassung, es sei dem Menschen aufgegeben, selbst das Paradies auf Erden zu schaffen.


Zur Kommunion wird dann das Lied "Nimm, O Herr, die Gaben, die wir bringen" gespielt; liturgisch hätte es besser zur Gabenbereitung gepasst, aber Schwamm drüber. Gegen den Text des Liedes habe ich an sich nichts einzuwenden:


Nimm, O Herr, die Gaben, die wir bringen.
Sieh auf uns und segne Brot und Wein.
Was wir beten und was wir singen,
soll allein für dich unsre Opfergabe sein.

Laß uns alle deine Jünger werden.

Wer sein Leben mit dir wagt gewinnt.
Denn durch dieses Brot schenkst du uns Leben,
selbst wenn wir in dieser Welt gestorben sind.

Irritierend finde ich etwas ganz Anderes: Die Melodie, auf die dieser Text gesungen wird, stammt aus dem Musical Jesus Christ Superstar von Andrew Lloyd Webber!
Der Kirchenmusiker Andreas Konrad erwähnt "Nimm, O Herr, die Gaben, die wir bringen" in seiner Diplomarbeit Neues Geistliches Lied - Chancen und Risiken als ein Beispiel für die im "Neuen Geistlichen Lied" gar nicht so seltene Praxis der Kontrafaktur: "Ein profaner Song, dessen Text und Kontext im allgemeinen gut bekannt sind", wird mit einem religiösen Text kombiniert (als weitere Beispiele nennt Konrad ein "Vater Unser"-Lied auf die Melodie von Guantanamera sowie den Song "Dank sei dir, Vater, Dank", der auf die Melodie von John Denvers "Country Roads" gesungen wird...!). Andreas Konrad kritisiert, dass solche bekannten Melodien, auch wenn sie mit einem religiösen Text kombiniert werden, "Assoziationen hervorrufen, die ihrerseits mit der Liturgie [...] nicht in Einklang zu bringen sind". Im Detail geht er auf die genannten Beispiele nicht ein - und somit auch nicht auf das im Fall von "Nimm, O Herr, die Gaben, die wir bringen" ausgesprochen heikle Spannungsverhältnis zwischen dem ursprünglichen und dem "neuen" Text, bzw. zwischen der Funktion des Liedes im Kontext von Jesus Christ Superstar und seiner liturgischen Verwendung im Kontext von Gabenbereitung und/oder Kommunion.

Meiner persönlichen Meinung nach ist Jesus Christ Superstar nicht nur musikalisch Andrew Lloyd Webbers vielleicht stärkstes Werk; auch der Text (von Tim Rice) ist hoch bemerkenswert: Er zeugt von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Gestalt Jesu Christi und ihrer Darstellung in den Evangelien und ist somit auch theologisch durchaus gehaltvoll. Nur eins ist er gerade nicht: nämlich ein Bekenntnis zum christlichen Glauben, weder im Sinne der katholischen Kirche noch irgendeiner anderen mir bekannten christlichen Konfession.Dramaturgisch orientiert sich Jesus Christ Superstar zwar an der Tradition der Passionsspiele, aber von der inhaltlichen Tendenz her ist das Musical eher mit Nikos Kazantzakis' Roman Die letzte Versuchung Christi (1988  von Martin Scorsese verfilmt) vergleichbar - auch darin, dass Judas Ischariot der eigentliche Protagonist und Sympathieträger ist.

Die Melodie, auf die das Lied "Nimm, O Herr, die Gaben, die wir bringen" gesungen wird, ist in Jesus Christ Superstar Bestandteil der Nummer "The Last Supper" - "Das letzte Abendmahl" - und steht damit in der Dramaturgie des Musicals an genau der Stelle, an der das Lied heute liturgisch Verwendung findet; das allein sollte schon aufhorchen lassen. Gesungen wird die Passage im Musical von den Jüngern Jesu, und zwar mit folgendem Text:

Look at all my trials and tribulations
Sinking in a gentle pool of wine
Don't disturb me now I can see the answers
Till this evening is this morning life is fine


Always hoped that I'd be an apostle
Knew that I would make it if I tried
Then when we retire we can write the gospels
So they'll still talk about us when we've died

Die erste Strophe zeichnet ein zwar wenig schmeichelhaftes, aber menschlich nachvollziehbares Bild von den Jüngern, die ihre Ratlosigkeit und Beunruhigung am Vorabend der Passion Christi im Abendmahlswein buchstäblich zu ertränken suchen. Die zweite Strophe jedoch ist pure antiklerikale Polemik: Die Kirche, ja die ganze christliche Religion wird als nicht von Jesus Christus gestiftet, sondern als aus eigennützigen Motiven von den Jüngern fingiert dargestellt. Das ist eine in kirchenkritischen Kreisen recht populäre Auffassung, aber dass ein Lied dieses Inhalts als Melodievorlage für ein Kirchenlied, noch dazu ein katholisches, verwendet wird, wirkt doch gelinde gesagt sonderbar. Darauf, dass hier sehr bewusst verfahren wurde, lassen subtile Übereinstimmungen zwischen dem Originaltext und der Kirchenliedversion schließen - man beachte etwa den 2. Vers der ersten und vor allem den letzten Vers der zweiten Strophe.

Es stellt sich also die Frage: Was soll das? Natürlich könnte man argumentieren, es handle sich hier lediglich um einen Versuch, die ja nun wirklich sehr sakral klingende Komposition Webbers für die Kirche nutzbar zu machen, indem man den unkirchlichen Text von Tim Rice quasi "amputiert" und durch einen theologisch unbedenklichen ersetzt. Aber, wie Andreas Konrad zu Recht festgestellt hat: Die unerwünschten Assoziationen bleiben - zumindest bei denjenigen Hörern, die das Original kennen.