Hast Du, lieber Leser, den ZEIT-Artikel mit den Bekenntnissen einer sündigen Pfarrerin gelesen? Ich bin mir gerade nicht sicher, ob ich ihn guten Gewissens empfehlen kann. Zu sagen "Die Lektüre lohnt sich", wäre vielleicht ein bisschen morbide; sagen wir also lieber: Der Artikel ist aufschlussreich. Hinzufügen möchte ich: So richtig aufschlussreich finde ich ihn erst dann, wenn man ihn gründlich gegen den Strich liest. Was ich hiermit zu tun beabsichtige.
Zunächst einmal fällt es auf, wie sehr der Artikel seine angebliche Brisanz vor sich her posaunt: Da prangt im Teaser-Absatz groß das Wort "Skandalös", dem Leser wird "[e]ine Predigt, die ich nie halten könnte" versprochen, und garniert wird das Ganze mit einem Foto, das eine junge Frau in SM-Maske zeigt. Auch dass die Verfasserin unter Pseudonym schreibt, unterstreicht dieses Behaupten von Brisanz. Und was für ein Pseudonym die Verfasserin gewählt hat: Laura Daubt - unverkennbar abgeleitet von "doubt", also "Zweifel". Wir kennen ihn alle - den Zweifel, den cooleren zweieiigen Zwillingsbruder des Glaubens. Also, der coolere der beiden Brüder ist er eigentlich erst in jüngerer Zeit geworden, so in etwa seit der Aufklärung, und auch dann erst nach und nach. Heute jedenfalls ist er everybody's darling und damit fast schon wieder ein bisschen langweilig. Aber das (vorerst) nur am Rande. Tatsächlich geht es in dem Text nämlich gar nicht so sehr um Glaubens- oder sonstige Zweifel, sondern vielmehr um die Rebellion der Autorin gegen bestimmte Erwartungen, die an die soziale Rolle einer Pfarrerin gestellt werden. In der Leidenschaft ihrer Abweisung dieser Erwartungen wirkt die Verfasserin sehr authentisch und zu einem gewissen Grad gar nicht mal unsympathisch -- auf mich jedenfalls.
Symbolbild, Quelle: Pixnio |
Zu den bemerkenswerteren Aspekten dieser Selbstoffenbarung gehört es, dass die Verfasserin Pastorentochter ist und stets mit der sozialen Rolle gehadert hat, die ihr dadurch zufiel -- dass sie von sich sagt "Mir war klar: Pfarrerin werde ich nie", dann aber eben doch diesen Berufsweg eingeschlagen hat. Da erweist sich die Biographie der "Laura Daubt" also von vornherein als zutiefst gebrochen, und das meine ich uneingeschränkt positiv: Leute ohne Brüche in der Biographie sind, falls es sie überhaupt gibt, langweilig. Ich könnte mir die sündige Pfarrerin gut als Romanfigur vorstellen -- eine Art Gösta Berling des 21. Jahrhunderts. Obwohl, vielleicht auch nicht. Wenn ihre Vorstellung von Rebellentum darin besteht, Shopping Queen, Germany's Next Top Model und Netflix-Serien zu binge-watchen, ist das für einen Roman vielleicht doch ein bisschen öde, oder bestenfalls käme dabei etwas heraus wie Ildikó von Kürthys "Mondscheintarif". Das eigentliche Problem ist aber: "Laura Daubt" ist keine Romanfigur, sondern eine echte Seelsorgerin in einer ungenannten evangelischen Landeskirche. Und wie soll sie für die Seelen Anderer sorgen, wenn sie nicht einmal auf ihre eigene aufpassen kann?
Hier drängt sich die Frage auf: Was bringt mich zu der Einschätzung, dass sie das nicht kann? Es ist nicht so sehr das, was sie als ihren verruchten Lebenswandel betrachtet und beschreibt; mit dem ist es nämlich, wie bereits angedeutet, gar nicht so weit her.
"[M]eine Predigten entstehen nicht [...] in einer kleinen Arbeitskammer unter dem Kreuz. Ich schreibe sie in den Cafés und Bars meiner Stadt. Ich gehe im Supermarkt spazieren, liege im Bett [...]. Ich liebe es, zu schreiben, wenn der Bass meiner elektronischen Lieblingsmusik um mich wummert.
Und dann mache ich Feierabend. Ich gehe raus in die Kneipe nebenan. Treffe Freunde, von denen ein Großteil nicht in der Kirche ist, und lerne fremde Menschen kennen. Ich fahre auf Festivals, gehe in Clubs und streune durch die Stadt."
So what? Dass sie diese wenig spektakulären Tatsachen überhaupt für erwähnenswert hält, lässt zunächst einmal darauf schließen, dass die Vorstellungen darüber, wie ein Pfarrer oder eine Pfarrerin sein müsse oder nicht sein dürfe -- die Vorstellungen, gegen die sie rebelliert --, zu einem gewissen Grad ihre eigenen sind. Was mich daran erinnert, was ich an anderer Stelle mit Blick auf die prominente Pastorin Nadia Bolz-Weber - "die mit den Tattoos" - geschrieben habe; der Einfachheit halber zitiere ich mich mal selbst:
"Man kann sich allerdings gut vorstellen, wie eine tatöwierte Nadia Bolz-Weber bei denjenigen Christen ankommt, in deren Herkunftsmilieu die Frage, wie man gottgefällig leben könne und solle, sich auch auf Kleidung und Frisur erstreckte, Christsein also auf schier unentwirrbare Weise mit Spießertum verquickt war. Um dieser Form von 'Enge' zu entkommen, verfällt man gern ins gegenteilige Extrem".
Wobei es, ich wiederhole mich, gar so extrem bei "Laura Daubt" ja gar nicht wird. Selbst da, wo das, was sie über sich selbst verrät, nicht ganz so harmlos ist wie in den oben zitierten Beispielen, liegt das Ausmaß der Verworfenheit nicht unbedingt über dem Niveau von Otto Normalsünder. Was hier problematisch erscheint, ist eher die Haltung, aus der heraus sie sich zu diesen Verhaltensweisen bekennt - eine Haltung, die offenkundig sehr wesentlich in dem Bedürfnis wurzelt, sich von ihrem spießigen Herkunftsmilieu abzugrenzen, wo es nicht genügte, die hochnäsige Nachbarin lediglich zu grüßen, sondern man sie dabei zwingend mit ihrem Namen anreden musste. Ich erwähnte bereits, dass die Verfasserin dieser Selbstoffenbarung auf mich nicht unsympathisch wirkt, und das hat durchaus auch damit zu tun, dass ich dieses Abgrenzungsbedürfnis sehr wohl nachvollziehen kann. Aber gerade deshalb sind mir auch die Risiken und Nebenwirkungen bekannt und bewusst. Wer, um es mal in den Bildern des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn auszudrücken, sein väterliches Erbe mit Dirnen durchbringt, in der Annahme, dass sei Rock'n'Roll, der landet eben früher oder später bei den Schweinen. Been there, done that. Aber an dem Punkt, zur Besinnung zu kommen und reumütig zum Vater zurückzukehren, ist "Laura Daubt" offenkundig noch nicht. Trotzdem arbeitet sie als Seelsorgerin. Finde den Fehler.
-- Ich sag mal so: Angenommen, eine Lehrerin wäre der Meinung, man solle die Ergebnisse von Rechenaufgaben nicht danach bewerten, ob sie richtig oder falsch seien; viel wichtiger sei es doch, dass die Schüler mit ihrer jeweils individuellen Lösung zufrieden seien. Kann sein, dass ich diese Lehrerin menschlich durchaus sympathisch fände; trotzdem würde ich nicht wollen, dass sie meine Tochter in Mathematik unterrichtet. Und dieselben Bedenken habe ich gegenüber einer Seelsorgerin, die Sätze schreibt wie: "Einige meiner Freunde nehmen Drogen. Ich nicht, denn hier ist meine Grenze, aber es ist meine ganz persönliche, nicht die, die ich anderen vorschreibe." Schon klar: Who am I to judge? "Ich bin ein guter Mensch, ich würde niemals meine Frau betrügen, aber Züge ausrauben ist ganz was anderes." Okay, das gehört jetzt nicht direkt hierher - oder vielleicht doch? Wie dem auch sei: "Und wenn ich meinen Talar aufhängen will, stoße ich auf drei Männer, die sich in meinem Schlafzimmer lieben", schreibt Pastorin "Laura Daubt"; und da muss ich sagen: Wenn sie den hier gemeinten Vorgang mit "sich lieben" bezeichnet, bin ich raus. Das hat nichts mit "Homophobie" zu tun: Wäre hier nicht von drei Männern die Rede, sondern von einem Mann und zwei Frauen, einer Frau und zwei Männern oder einem Mann, einer Frau und einem Schäferhund, fände ich die Wortwahl genauso unangemessen.
-- Ich sag mal so: Angenommen, eine Lehrerin wäre der Meinung, man solle die Ergebnisse von Rechenaufgaben nicht danach bewerten, ob sie richtig oder falsch seien; viel wichtiger sei es doch, dass die Schüler mit ihrer jeweils individuellen Lösung zufrieden seien. Kann sein, dass ich diese Lehrerin menschlich durchaus sympathisch fände; trotzdem würde ich nicht wollen, dass sie meine Tochter in Mathematik unterrichtet. Und dieselben Bedenken habe ich gegenüber einer Seelsorgerin, die Sätze schreibt wie: "Einige meiner Freunde nehmen Drogen. Ich nicht, denn hier ist meine Grenze, aber es ist meine ganz persönliche, nicht die, die ich anderen vorschreibe." Schon klar: Who am I to judge? "Ich bin ein guter Mensch, ich würde niemals meine Frau betrügen, aber Züge ausrauben ist ganz was anderes." Okay, das gehört jetzt nicht direkt hierher - oder vielleicht doch? Wie dem auch sei: "Und wenn ich meinen Talar aufhängen will, stoße ich auf drei Männer, die sich in meinem Schlafzimmer lieben", schreibt Pastorin "Laura Daubt"; und da muss ich sagen: Wenn sie den hier gemeinten Vorgang mit "sich lieben" bezeichnet, bin ich raus. Das hat nichts mit "Homophobie" zu tun: Wäre hier nicht von drei Männern die Rede, sondern von einem Mann und zwei Frauen, einer Frau und zwei Männern oder einem Mann, einer Frau und einem Schäferhund, fände ich die Wortwahl genauso unangemessen.
Aber einer "Laura Daubt" fehlen schlechterdings die Kriterien, um zu Dingen wie Drogenkonsum oder Gruppensex eine klare Haltung finden zu können. Dass in Hinblick auf ethische Kategorien bei ihr so eine heillose Verwirrung herrscht, ist selbstverständlich nicht ihre Schuld; das ist vielmehr ein allgemeines Zeitsymptom und als solches auch nicht mehr ganz neu. Ich lese gerade Alasdair MacIntyres "Der Verlust der Tugend", ein Buch, das ich uneingeschränkt und nachdrücklich empfehle; und darin stellt der schottische Philosoph, vereinfacht ausgedrückt, die These auf, dass schon die Moralphilosophen der Aufklärung nicht mehr wussten oder nicht mehr verstanden, was Ethik eigentlich ist, mit der Folge, dass die von den Aufklärern propagierte Moral im Grunde nur ein schlechtes Imitat wirklicher Tugend war -- das in den folgenden Jahrhunderten mehr und mehr auseinanderfiel. Wenn ich sage, dass dieser Zustand ethischer Verwirrung heute allgemein verbreitet ist, muss ich einschränkend anmerken, dass ich durchaus Leute kenne - darunter auch solche, die überhaupt nicht religiös sind -, die, ohne dafür eine theoretische Begründung zu benötigen, ein geradezu archaisches Empfinden für Ethik haben. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss, eine Frau muss tun, was eine Frau tun muss, und ein kleines pelziges Wesen von Alpha Centauri muss tun, was ein kleines pelziges Wesen von Alpha Centauri tun muss. Basta, badabäm, end of discussion. Das ist natürlich völlig unvereinbar mit dem postmodernen Credo "Jeder soll tun, worauf er Lust hat" -- einer Maxime, die allenfalls noch eingeschränkt wird durch den Zusatz "solange er damit niemandem schadet". Aber woher weiß man überhaupt, was jemandem schadet? Diese Frage ist letztlich nur die Kehrseite der unbeantwortbaren Grundfrage der Metaethik: Woher weiß ich, was "gut" ist? Nun sind die meisten Menschen keine Metaethiker und, Gott sei Dank, auch keine Amoralisten in der Nachfolge Nietzsches, und deshalb leben sie so, als wüssten sie die Antwort auf diese Frage. Das heißt, sie operieren mit moralischen Begriffen, die sie selbst nicht definieren können -- oder wollen, denn "definieren" heißt "begrenzen", und Grenzen sind dem postmodernen Menschen zuwider. Was bleibt, ist eine Weltsicht, die MacIntyre "emotivistisch" nennt: Was moralisch gut oder schlecht, richtig oder falsch ist, entscheide ich auf der Basis dessen, was für Gefühle es in mir auslöst. Und somit ist es natürlich nicht verallgemeinerbar: Ich kann schließlich nicht von jemand anderem verlangen, genauso zu fühlen wie ich.
Vollends verwirrend und verworren wird es, wenn die pseudonyme Pfarrerin mit dem Begriff der Sünde operiert. Das geht ja schon in der Überschrift los: "Ja, auch ich sündige". Im Anschluss an die Schilderung ihrer ach so skandalösen Saufgeschichten wird das wieder aufgegriffen: "Ja, ich bin eine Sünderin. Eine, die Fehler macht im Leben und im Glauben." Aber: "Aber Partys, Alkohol, Drogen sind an sich keine Fehler. [...] Ich bin keine Sünderin, weil ich gegen eine von Menschen festgelegte Moral verstoße." Und nochmals weiter unten: "Ich lebe auch nicht keusch, bis ich verheiratet bin [...]. Ich bete nicht zehn Mal am Tag." Das sind alles Dinge, die sie an sich selber total okay findet. Moral ist überhaupt uninteressant, denn die ist ja nur "von Menschen festgelegt". Aber was ist Sünde dann? "Es macht mich zur Sünderin, wenn ich mich von Gott entferne, von meinen Mitmenschen und mir selbst". Man beachte die Reihenfolge: Die letzte und höchste Instanz ist das eigene Selbst. Dem muss man vor allem treu bleiben, deshalb betont "Laura Daubt" ja so stolz: "Ich bin nicht so, wie ihr mich haben wollt." Weil, wäre sie das, wäre sie ja sich selbst untreu. Die eine unverzeihliche Sünde.
Und Gott? Keine Bange, Gott interessiert sich auch nicht für "von Menschen festgelegte Moral" und findet uns gut so, wie wir sind. Das versucht die Verfasserin mit einer Bibelstelle zu untermauern, die wir alle kennen, weil sie in solchen Diskussionen immer kommt, mit einer so vorhersehbaren Zwangsläufigkeit, dass man bei manchen Leuten den Eindruck haben kann, sie kennen keine andere. (Spoiler: Es handelt sich um Matthäus 7,1-4.) Ihr Fazit lautet:
"Denn ich bin überzeugt: Gott ist da für die Unperfekten, die Zweifler, ja auch für diejenigen, die bei Sonnenaufgang betrunken nach Hause kommen oder die gar keine Beziehung mit ihm wollen. Das ist mein Glaube."
Und siehe da: Das ist natürlich richtig. Und zwar so unstrittig richtig, dass man geneigt ist, zu fragen: Und was weiter?
"Deshalb bin ich Pfarrerin und das möchte ich den Menschen, und zwar allen Menschen, im Glauben und im Leben mitgeben."
Äh - was genau jetzt? Dass es egal ist, wie wir unser Leben leben, weil Gott uns ja trotzdem und auf jeden Fall liebt? Zugegeben, das sagt sie in diesem letzten Absatz nicht, aber ungefähr das ist der Gesamteindruck, der von ihrem Text übrig bleibt. Es ist anzunehmen, dass nicht wenige Leser der "ZEIT Campus"-Beilage, in der der Text erschienen ist, das ziemlich prima finden werden, weil so schön offen, tolerant und non-judgmental. Aber das täuscht. Nachsichtig ist die Verfasserin nur gegenüber Leuten, die so sind wie sie, bzw. gegenüber Fehlern wie ihren eigenen. Seien wir ehrlich: Das geht vielen, vielleicht den meisten Menschen so. Meinem Stammleser Imrahil verdanke ich den Hinweis auf eine Einsicht Chestertons, die dieser dem Sinn nach in mehreren seiner Werke angesprochen hat: dass wir dazu neigen, nur solche Sünden für verzeihlich zu halten, die wir eigentlich gar nicht als Sünden ansehen. Das christliche Gebot der Nächstenliebe, das "wie auch wir vergeben unseren Schuldigern" des Vaterunser, verlangt uns aber weit Größeres ab: auch und gerade das zu verzeihen, was wir für unverzeihlich halten. Umgekehrt verlangt das christliche Verständnis von Vergebung aber auch dem Sünder etwas ab - nämlich Reue. Hören wir hierzu Alisdair MacIntyre:
"Was ist die Voraussetzung für Vergebung? Sie verlangt, daß der Übeltäter das Urteil des Gesetzes über sein Handeln bereits als gerecht hinnimmt und sich wie jemand verhält, der die Gerechtigkeit der entsprechenden Strafe anerkennt [...]. Die Anwendung von Vergebung setzt die Anwendung von Gerechtigkeit voraus[.]"Anders ausgedrückt: Vergebung im christlichen Sinne bedeutet nicht, die Sünde zu leugnen, sondern sie als Sünde zu erkennen und zu benennen und trotzdem zu vergeben. Nun frage ich mich: Ist "Laura Daubt" in der Lage, den Mitgliedern ihrer Gemeinde, über die sie in der ZEIT spricht, weil sie es nicht wagt, mit ihnen zu sprechen, ihre Engstirnigkeit, ihre Vorurteile und ihre gehässige Klatschsucht zu vergeben? Oder noch anders gefragt: Wäre sie bereit, diese Gemeindemitglieder um Vergebung dafür zu bitten, dass sie sie für engstirnige, vorurteilsbeladene und gehässige Klatschmäuler hält?
Die Antwort auf diese Fragen wird man wohl nicht in der ZEIT lesen. Aber hoffen wir mal das Beste.