So, Claus Kleber hat also die Scharia mit dem Katechismus der Katholischen Kirche verglichen. So-f***ing-what?
Dass dem atheistischen, agnostischen, religiös indifferenten oder schlimmstenfalls "religiös liberalen" Mainstream der Gesellschaft ernsthaft gläubige Katholiken mindestens so suspekt sind wie fundamentalistische Muslime, ist ja nun wirklich nichts Neues, und bei wem das bisher noch nicht angekommen gewesen sein sollte, der sollte Claus Kleber dankbar sein, dass er das so griffig auf den Punkt gebracht hat. Freilich fällt es auf, dass Vergleiche wie der von Kleber gezogene in der Regel eher darauf abzielen, Ängste vor dem radikalen Islam zu beschwichtigen, als darauf, vor einem radikalen Katholizismus zu warnen. Das finde ich persönlich etwas lahm, während weniger eskalationsfreudige Gemüter als ich es eher beruhigend finden mögen.
Sascha Schneider: Titelillustration zu "Orangen und Datteln" von Karl May, 1904. |
Es gibt allerdings auch andere Beispiele. Unlängst sorgte etwa der FAZ-Redakteur Patrick Bahners für Aufsehen, indem er auf Twitter erklärte:
"Die Einbildung, ein von Menschen gemachtes Gesetz müsse über den heiligen Büchern der Religionen stehen, ist der wahre Fanatismus."Sicherlich ließe sich trefflich darüber diskutieren, inwieweit Bahners' in offenkundig provozierender Absicht hingeworfenes Kurz-Statement einen sachlich richtigen Kern hat und wo man da genauer differenzieren müsste; aber eine vielköpf'ge Schar von Twitter-Nutzern wollte nicht differenzieren, sondern stand nicht an, Bahners' Fanatismus-Diktum nolens volens zu bestätigen. "Sie scheinen ja noch im Mittelalter zu stecken!", wurde dem FAZ- beschieden, oder, etwas weniger höflich: "Was bist denn du für ein religiöser Spinner?" - "[W]enn Sie irgendwelchen Bronzezeit Aberglauben über das GG packen dann begatten Sie gefälligst Ihr Knie." - "[R]eligiöse Dinge sind Fantasmen, durchaus behandlungsfähig. Hilfe ist möglich." Unter den eher sachlich sein wollenden Reaktionen fand man beispielsweise diese: "Sind Sie wirklich der Auffassung, redigierter bronzezeitlich palästinensischer Bauernaberglaube sollte eine bes. Relevanz haben?" Und, für mein Empfinden noch interessanter, diese: "Wir in Europa haben im Laufe der Geschichte errungen, dass Staat über Religion steht [!]. Wir sind aufgeklärt. Ihr Gedankengut ist Mittelalter."
Tja. Religiöse Toleranz heute: Glaub doch, woran du willst, solange du das nicht übermäßig ernst nimmst und im Zweifel deine religiösen Pflichten deinen staatsbürgerlichen unterordnest. Das ist keine bizarre Randgruppenmeinung, das sieht, wie ich im Rahmen einer Podiumsdiskussion per Nachfrage in Erfahrung bringen konnte, sogar der prominenteste Vorkämpfer für Religionsfreiheit und den Schutz verfolgter Christen in der deutschen Bundespolitik, Volker Kauder (CDU), explizit so.
So oder so: Dass die öffentliche Meinung keinen qualitativen Unterschied zwischen verschiedenen Religionen sieht, sondern ernstgenommene Religiosität ganz allgemein creepy findet, darüber sollten wir nicht jammern, das sollten wir akzeptieren und dazu stehen. Wenn Religion allgemein nur noch insoweit als sozial verträglich und tolerierbar betrachtet wird, wie stillschweigend vorausgesetzt werden kann, dass ihre Anhänger ja sowieso nicht so richtig echt an sie glauben, dann sind diejenigen, die empört erklären "Ja Moment mal, WIR sind doch nicht RADIKAL!", Teil des Problems.
Mir ist klar, dass ich mich mit diesem Artikel gerade bei meinen eigenen Leuten nicht besonders beliebt machen werde. Aber just deshalb schreibe ich ihn. Erinnern wir uns, wie die letzten zehn Punkte für Gryffindor in Harry Potters erstem Jahr zustande kamen.
Also, da ich gerade mit Verve darauf zusteuere, mich mit Freunden anzulegen, nehmen wir doch zum Beispiel mal The GermanZ. Die von Klaus Kelle initiierte Online-Zeitung hat gerade die Einstellung ihres Erscheinens angekündigt, und die letzten Ausgaben wurden vom Herausgeber und den regelmäßigen Kolumnisten dazu genutzt, die Leser dafür zu beschimpfen, dass es zu wenige von ihnen gibt. Sorry, das war jetzt um des Effekts willen etwas zugespitzt formuliert. Ich schätze Klaus Kelle und die mir persönlich bekannten TheGermanZ-Mitarbeiter sehr, habe allen schuldigen Respekt vor dem Engagement und Idealismus, die sie in dieses Projekt investiert haben, und habe daher durchaus auch Verständnis dafür, dass angesichts des ausgebliebenen Erfolgs auch eine gewisse Bitterkeit aufkommt. Davon abgesehen habe ich einige Beiträge auf TheGermanZ durchaus mit Gewinn gelesen und hätte mir sehr wohl vorstellen können, dass diese Publikation geeignet wäre, eine Lücke in der deutschsprachigen Presselandschaft zu schließen. Dennoch hat mich ihre programmatische Ausrichtung immer wieder an eine Passage aus Rod Drehers The Benedict Option erinnert:
"Mit wenigen Ausnahmen sind christlich-konservative politische Aktivisten so ineffektiv wie exilierte russische Aristokraten, die in ihren Pariser Salons sitzen, Tee aus Samowaren trinken und Pläne zur Restauration der Monarchie schmieden. Man wünscht ihnen alles Gute, aber tief im Innern weiß man, dass diese Leute nicht die Zukunft sind."
-- Inwiefern? Insofern, als mir das Profil von The GermanZ weitgehend auf eine Klientel zugeschnitten schien, die auf die Renaissance einer gesellschaftspolitisch konservativen und ökonomisch liberalen "bürgerlichen Mitte" hofft. Ein Teil dieser Zielgruppe träumt von einer konservativen Rebellion innerhalb der CDU, andere setzen ihre Hoffnungen auf die FDP und wiederum andere womöglich gar auf die AfD. Vielleicht gibt es auch noch welche, die darauf hoffen, dass endlich Kaiser Barbarossa aus dem Kyffhäuser herausgeritten kommt, das erschiene mir vergleichsweise noch als die realistischste Variante. -- Im Ernst: Das Problem ist nicht, dass - wie es in den Abschieds-Jeremiaden der TheGermanZ-Kolumnisten anklang - "die bürgerliche Mitte das Kämpfen verlernt" hätte, sondern vielmehr, dass es die bürgerliche Mitte nicht mehr gibt. Dass ich persönlich ihr keine Träne nachweine, steht auf einem anderen Blatt, aber das hindert mich nicht daran, mit denjenigen meiner Freunde mitzufühlen, denen es da anders geht. Gleichwohl: Unter den 5 Phasen der Trauer ist Leugnen nur die erste. Aus dieser Phase muss man irgendwann mal rauskommen, und ich finde, es ist höchste Zeit dafür.
Dazu zwei Fragen: a) Warum ist mir das nicht egal? b) Was hat das mit dem eingangs aufgeworfenen Thema dieses Beitrags zu tun? Die Antwort auf beide Fragen ist dieselbe. Sofern die beschriebene Zielgruppe, für die ich das TheGermanZ-Publikum mal exemplarisch als pars pro toto gewählt habe, sich - zum Teil mit großem Nachdruck - zum christlichen Glauben bekennt, macht sie auf mich häufig den Eindruck, dieses Bekenntnis so eng mit ihrem Kampf für die verlorene Sache der bürgerlichen Mitte zu verknüpfen, dass man denken könnte, sie hielten beides für ein und dasselbe. Möglicherweise tun sie das tatsächlich. Rod Dreher spricht in diesem Zusammenhang von einem Typus konservativer Christen, "die
die Kirche als die Republikanische Partei beim Gebet betrachten". Aber es geht nicht nur um Parteipräferenzen oder bestimmte politische Positionen, sondern vielmehr um ein bestimmtes bürgerlich-konservatives Milieu. Ebenso wie diese Milieukonservativen mindestens bis gegen Ende der Ära Kohl offen oder insgeheim der Meinung waren, der Staat gehöre ihnen, haben sie auch geglaubt, die Kirche gehöre ihnen - und haben das Erscheinungsbild von Kirchengemeinden in einem solchen Maße dominiert, dass sie andere Milieus effektiv daraus vertrieben haben. Nun, da dieses Milieu wegbricht, haben wir den Salat. Ich wage gar nicht, mir vorzustellen, wie viele vor allem junge Menschen im Laufe der letzten paar Generationen vom Glauben abgefallen sind, weil sie mit dem Eindruck aufwuchsen, Christsein sei gleichbedeutend mit bürgerlicher Wohlanständigkeit, vulgo Spießigkeit. -- Das ist die eine Seite des Problems. Die andere ist, dass viele konservative Christen allzu lange an der Vorstellung einer moral majority festgehalten haben - der Vorstellung, die Mehrheit oder zumindest eine qualifizierte Minderheit der Bevölkerung sei im Prinzip auf ihrer Seite, man müsse es nur schaffen, sie zu mobilisieren. Das ist nicht der Fall. Gerhard Schröder hatte nicht Unrecht, als er 1998 für sich in Anspruch nahm, die Neue Mitte zu repräsentieren. Keine 20 Jahre später hat sogar die CDU die damalige Neue Mitte links überholt. Es wäre illusorisch, wollte man bestreiten, dass diese politischen Entwicklungen einen tatsächlichen Wertewandel in der Gesellschaft widerspiegeln. Das neue Bürgertum will Ökostrom, gender-neutrales Kinderspielzeug und Laktoseintoleranz Ehe für alle, und seine spirituellen Bedürfnisse befriedigt der Spießbürger von heute eher mit Yoga, Qi Gong und Feng Shui. Die Vorstellung, man könne in einer zunehmend post-christlichen Gesellschaft eine Rückkehr zu christlichen Werten auf politischem Wege, durch das Wählen der richtigen Partei (welche auch immer das sein sollte), bewerkstelligen, ist bizarr.
Was folgt aus alledem? Ich will es kurz machen: Es kommt die Zeit und ist vielleicht schon da, dass bürgerlich-konservative Christen sich zwischen ihrem christlichen Glauben und ihrer bürgerlichen Wohlanständigkeit werden entscheiden müssen. Und wer sich allzu sehr davor fürchtet, aus Sicht der Wohlanständigen als "radikal" zu gelten, der läuft Gefahr, die falsche Entscheidung zu treffen.