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Sonntag, 15. November 2020

Morgen früh, wenn Gott will -- Reloaded

Der Drogeriemarkt-Discounter dm verkauft Kuscheltiere mit eingebauten Spieluhren, die, wenn man an einer Schnur zieht, traditionelle Schlaflieder spielen. Zu den Melodien, die dabei Verwendung finden, gehört auch das Lied "Guten Abend, gute Nacht" -- allerdings in einer gewissermaßen "zensierten" Version: Zwar bringen die Spieluhren natürlich nur die Melodie zu Gehör und nicht den Text, aber es fällt dennoch auf, dass diejenige Melodiepassage, auf die die Verse "Morgen früh, wenn Gott will / wirst du wieder geweckt" zu singen wären, schlichtweg fehlt. Ich halte das für keineswegs zufällig. Weit eher könnte ich mir vorstellen, dass damit auf die Befindlichkeit von Müttern Rücksicht genommen wurde, die an just diesen beiden Versen Anstoß nehmen. Im Ernst: Wer sich mal ein bisschen in den Mami-Foren des Web 2.0 umschaut, in einschlägigen Facebook-Gruppen oder Blogs, der kann sich selbst davon überzeugen, dass das Lied "Guten Abend, gute Nacht" dort ein ganz heißes Eisen ist, und zwar genau wegen dieser zwei Verse. Der typische Einwand lautet: Wie brutal, Kinder damit zu konfrontieren, dass sie am nächsten Morgen womöglich nicht wieder aufwachen -- und das auch noch mit Gott in Verbindung zu bringen! 

Darauf könnte man nun schlicht erwidern: Na ja, aber is' doch nun mal so. 

Man kann sich mit einer Erwiderung auf die Kritik an diesem traditionellen Kinderlied aber auch ein bisschen mehr Mühe geben. 



Tatsächlich habe ich mich mit diesem Thema schon einmal befasst, lange bevor ich selbst Kinder hatte -- nämlich in einem Blogartikel aus dem Jahr 2012, der allerdings ziemlich lange braucht, um auf den Punkt zu kommen (und wer meint, das sei bei meinen Blogartikeln bis heute oft so, darf gern mal vergleichen), und auch sonst, wie ich aus heutiger Sicht finde, ein paar Schwächen hat. Teile des damaligen Artikels finde ich jedoch - so viel Eigenlob muss sein - zu gut, um in Vergessenheit zu geraten. Und daher haben mich die eingangs erwähnten Kuschel-Spieluhren bei dm auf die Idee gebracht, ich könnte mich mal an einer Neufassung des Artikels versuchen und dabei Teile der ursprünglichen Fassung übernehmen. Zumal ja gerade November ist, der traditionelle Monat des Totengedenkens; und die COVID-19-Pandemie, in deren "zweiter Welle" wir uns befinden, hat ja ein Übriges getan, dem Thema Tod und Sterben eine ganz neue Aktualität zu verleihen, aber dazu später. 

-- In meinem Artikel von 2012 erwähnte ich, dass derselbe Gedanke, der die besagten zwei Verse aus "Guten Abend, gute Nacht" so heikel erscheinen lässt, sogar noch expliziter in einem ebenfalls recht bekannten angloamerikanischen Kinder-Nachtgebet zum Ausdruck kommt:

Now I lay me down to sleep,
I pray the Lord my soul to keep,
If I shall die before I wake,
I pray the Lord my soul to take.
Gewiss spielt es eine Rolle, dass dieses Gebet und dieses Lied aus einer Zeit stammen, als auch in unseren Breiten die Kindersterblichkeit sehr viel höher war als heute -- oder anders ausgedrückt: Die statistischen Aussichten dafür, dass ein Kind das Erwachsenenalter oder auch nur das Alter von fünf Jahren erreicht, standen erheblich schlechter als heute. Die Möglichkeit, dass ein Kind, das man zu Bett bringt, den nächsten Morgen vielleicht nicht erlebt, war im kollektiven Bewusstsein - und, so möchte man annehmen, besonders in dem der Eltern - einfach präsenter als heute. Gleichwohl gibt es auch heute noch Fälle von plötzlichem Kindstod (Sudden Infant Death Syndrome, SIDS), und auch heute noch sterben kleine Kinder an Infektionskrankheiten oder Krebs oder verunglücken tödlich. Und ich denke, genau das ist der Punkt: Würden dieses "Morgen früh, wenn Gott will", dieses "If I shall die before I wake" nicht eine reale Möglichkeit ansprechen - sei sie statistisch auch noch so unwahrscheinlich -, dann wären dieses Lied und dieses Gebet wohl eher ungebräuchlich geworden und vielleicht in Vergessenheit geraten, aber jedenfalls würden sie nicht eine solche Beunruhigung auslösen. Es heißt, als der Komponist Gustav Mahler die von Friedrich Rückert verfassten "Kindertotenlieder" vertonte, habe seine Frau Alma ihm Vorwürfe gemacht: So etwas beschwöre Unglück herauf. Zwei Jahre nach der Uraufführung des Liederzyklus starb die ältere der beiden Töchter Mahlers im Alter von vier Jahren an Diphtherie. 

Sagen wir, wie's ist: Das menschliche Leben ist etwas sehr Zerbrechliches, und dass das auch und nicht zuletzt für das Leben von Kindern gilt, ist mir heute, da ich selbst Vater bin, auf eine sehr viel eindringlichere Weise bewusst als noch vor einigen Jahren; daher kann ich es emotional auch deutlich besser nachvollziehen als früher, dass der Gedanke an den Tod der eigenen Kinder etwas ist, das man gern möglichst weit von sich wegschiebt. Nur gehen die Dinge, vor denen man Angst hat, in der Regel nicht dadurch weg, dass man sie ignoriert oder ihre Existenz schlichtweg leugnet. Kleine Kinder mögen glauben, sie müssten nur fest genug die Augen schließen, damit das, wovor sie sich fürchten, von allein verschwindet; Erwachsene sollten es besser wissen. Und mehr noch: Wenn Erwachsene versuchen, ihren Kindern gegenüber die Existenz des Todes zu verleugnen, dann liegt der Verdacht nahe, dass sie damit letztlich nur ihre eigene Angst vor dem Tod auf die Kinder projizieren, die diese Angst sonst womöglich gar nicht hätten

Einer Mutter, die davor zurückschreckt, ihrem Kind die Verse "Morgen früh, wenn Gott will / wirst du wieder geweckt" vorzusingen,  würde vermutlich vor Schreck der Mund offen stehen, wenn man sie fragte, was denn so falsch daran sei, Kindern frühzeitig ein Bewusstsein ihrer eigenen Sterblichkeit zu vermitteln. Dass man jeden Gedanken an den Tod, ja möglichst das Wissen um die bloße Existenz des Todes so weit und so lange wie möglich von Kindern fernhalten sollte, erscheint ihnen so evident, dass ihnen gar nicht einfiele, das irgendwie zu begründen. Wahrscheinlich kennen sie es aber auch nicht anders, weil sie selbst so erzogen wurden. Der Tod ist eine Art negativer Weihnachtsmann: Es gibt ihn zwar, aber das Kind soll das erst möglichst spät erfahren.

Wenn hierzulande ein Kind zum ersten Mal in seinem Leben mit dem Tod konfrontiert wird, dann dürfte es sich in den meisten Fällen entweder um den Tod älterer Familienangehöriger - etwa der Großeltern - oder aber um den Tod von Haustieren handeln. Aber wie viele Kinder - gerade in Großstädten - haben noch regelmäßigen Kontakt zu ihren Großeltern? Oder umgekehrt, wie viele Senioren sterben heute noch im Kreis ihrer Familie? Gestorben wird heute im Krankenhaus oder im Pflegeheim, und dahin müssen besorgte Eltern ihre Kinder ja nicht mitnehmen. Und was die Haustiere betrifft: Liegt der Hamster oder der Wellensittich eines Tages tot im Käfig, während das Kind im Kindergarten, in der Schule oder sonstwie außer Haus ist, dann kann ich mir gut vorstellen, dass viele Eltern den kleinen Kadaver stillschweigend entsorgen und dem Kind später weismachen, das Tier wäre davongelaufen oder -geflogen. Das ist für das Kind nicht unbedingt weniger traurig, aber es erspart den Eltern, das heikle Thema Tod ansprechen zu müssen.

Es steht zu vermuten, dass die Tendenz zur Ausblendung des Todes aus der Lebensrealität nicht allein durch eine stark gestiegene statistische Lebenserwartung bedingt ist, sondern mindestens ebensosehr durch das Schwinden des Glaubens an ein Leben nach dem Tod. Vom Mittelalter bis ins Barock war das memento mori - die permanente Erinnerung daran, dass dass der Tod gewiss, sein Zeitpunkt jedoch ungewiss ist - allgegenwärtig; so fanden sich Sinnsprüche, die den Gedanken an den Tod wach halten sollten, häufig auf Sonnenuhren, und so erklären sich auch häufige Abbildungen von Gerippen, Totenschädeln usw. in Kirchen, auf Gemälden, Reliefs und Siegeln. Aus der Unausweichliche und Unvorhersehbarkeit des Todes ergab sich nach damaligem Verständnis die Notwendigkeit, jederzeit auf den Tod vorbereitet zu sein. Das ist heute entschieden anders. Vielfach scheint die stillschweigende Überzeugung vorzuherrschen, der Mensch der westlichen Welt habe seine 70 oder 80 Jahre Lebenszeit gewissermaßen verbindlich gebucht, und stirbt jemand früher, dann wird das so aufgefasst, als sei er um etwas betrogen worden, das ihm zusteht. Zugleich  besagt aber eine alte Weisheit, dass die Welt betrogen werden will, und auch das spiegelt sich in der modernen Einstellung zum Tod wider. Fragt man Erwachsene, wie sie gern sterben möchten, dann erhält man häufig zur Antwort: Am liebsten möchten sie ganz plötzlich, von einem Moment auf den anderen, tot umfallen. Ohne Vorwarnung mitten aus dem Leben gerissen zu werden, das gilt als guter Tod. Mit anderen Worten: Die Angst vor dem Tod ist so groß, dass die Leute ihm auch dann noch nicht ins Auge sehen wollen, wenn er schon unmittelbar bevorsteht. Sie wollen leben, als ob es keinen Tod gäbe - und das bis zuletzt. Man muss gar nicht besonders religiös sein, um diese Haltung gegenüber dem Tod befremdlich und unreif zu finden. 

Und das bringt mich nun - irgendwie - auf die aktuelle Corona-Situation. Anlässlich der Weihe des Erzbistums Berlin an das Heiligste Herz Jesu und das Unbefleckte Herz Mariens im August dieses Jahres veröffentlichte die Pressestelle des Erzbistums eine Arbeitshilfe mit "Impulsen für den Gottesdienst"; insgesamt war ich, wie schon einmal angemerkt, eher mäßig beeindruckt, aber bemerkenswert fand ich ein in dieser Arbeitshilfe enthaltenes Gedicht von Andreas Knapp mit dem schlichten Titel "Corona-Virus"
ein winziges Stück RNA
erinnert die Krone der Schöpfung
an ihre Sterblichkeit
alle Welt gerät in Panik
man hatte das tatsächlich
vergessen 
Doch doch, sagte ich mir, das hat was. Und in gewissem Sinne ist es auch ziemlich mutig, das zu veröffentlichen. 

Inwiefern? -- Ich würde hier gern versuchen, zwischen Coronazis und Covidioten bedingungslosen Befürwortern und ebenso bedingungslosen Gegnern staatlich verordneter Corona-Schutzmaßnahmen eine mittlere Position einzunehmen -- was allerdings schwierig ist, da es scheint, dass beide Seiten wenig Interesse an Differenzierung haben und dazu neigen, jeden, der nicht zu 100% mit ihnen übereinstimmt, pauschal der jeweiligen Gegenseite zuzurechnen. Aber versuchen wir's dennoch. Vielleicht können wir uns ja erst einmal auf die Feststellung einigen, dass der als  SARS-CoV-2 bezeichnete Erreger, mit dem wir es zu tun haben, ein hoch ansteckendes Virus ist, auf das, da es eben ein neues Virus ist, das menschliche Immunsystem (noch) nicht eingestellt ist und das deshalb bei einem Teil der Infizierten schwere Krankheitsverläufe mit diversen Komplikationen hervorruft, die zum Teil tödlich verlaufen und zum Teil vielfältige bleibende Folgeschäden hinterlassen. Die Situation ist also ausgesprochen ernst zu nehmen, und es ist nur vernünftig, dass Maßnahmen ergriffen werden, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen oder wenigstens zu verlangsamen. Ich empfinde es auch nicht als unzumutbar, beim Einkaufen  oder im öffentlichen Personennahverkehr eine Stoffmaske über Mund und Nase zu tragen. Dennoch kann ich mich gleichzeitig nicht immer des Eindrucks erwehren, dass um die COVID-19-Pandemie - die als Geißel der Menschheit wohl doch nicht so ganz an den mittelalterlichen Schwarzen Tod, an die Cholera- und Typhus-Epidemien des 19. Jahrhunderts oder an die Spanische Grippe heranreicht - ein übertriebener Hype veranstaltet wird; gar nicht so sehr auf der Ebene konkreter Schutzmaßnahmen, aber in der Art und Weise, wie dieses Thema die Debatte in den Medien, in der Politik und sogar in der Kirche beherrscht. Man könnte den Eindruck bekommen, es herrsche die Auffassung vor, es wäre nicht nur möglich,  sondern geradezu die Pflicht von Politik und Zivilgesellschaft, Krankheit und Tod ein für allemal abzuschaffen, und solange dieses Ziel nicht erreicht sei, habe niemand das Recht, einfach ein normales Leben zu führen. Als könnte nicht auch jemand, der sich peinlichst genau an alle Corona-Vorschriften hält, trotzdem an einer Fischgräte ersticken, auf dem nassen Badezimmerfußboden ausrutschen und sich den Hals brechen oder von einem zufällig vom Himmel fallenden Klavier erschlagen werden. 

Gerade von kirchlicher Seite hätte ich mir daher in Sachen "Corona-Kommunikation" mehr und Anderes erhofft als fade "Passen Sie auf sich auf und bleiben Sie gesund"-Botschaften, wie man sie zu anderen Zeiten eher aus der Apothekenwerbung gewöhnt war. Um es mal ganz deutlich zu sagen: Wenn Priester und Bischöfe sich nicht einmal inmitten einer Pandemie dazu durchringen können, über die "letzten Dinge" zu predigen -- wann denn dann? Für den Christen ist der Tod schließlich nicht nur ein selbstverständlicher Bestandteil des Lebens, sondern sogar ein ganz zentraler - der Übergang zu einem anderen, einem ewigen Leben. Daraus folgt nicht automatisch, dass der Christ mehr oder weniger Angst vor dem Tod hat als der Nichtchrist - denn einerseits erwartet er, dass er nach dem Tod für sein Tun und Lassen auf Erden gerichtet wird, andererseits vertraut er auf die Liebe und Barmherzigkeit Gottes -; in jedem Fall aber ist der Tod für den Christen ein allzu bedeutendes Ereignis, als dass er sich nicht darauf sollte vorbereiten wollen. Und es ist eine gewichtige Aufgabe und Pflicht der Kirche, dem Menschen bei dieser Vorbereitung zu helfen

Aber ist das - um zum Ausgangspunkt dieses Artikels zurückzukehren - etwas, das man schon Kindern beibringen kann und sollte? -- Ich denke ja. Beispielsweise denke ich da an ein Buch, das meine Oma mir vor nunmehr über dreißig Jahren zu meiner Erstkommunion geschenkt hat und das noch heute einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal hat: "Fromme Geschichten für kleine Leute" von Josef Quadflieg (12. Auflage Düsseldorf 1977). Viele der 46 Geschichten in diesem Band sind als moralische Beispielerzählungen angelegt, in anderen geht es ganz konkret um die katholische Sakramentenlehre -- und in auffallend vielen geht es um den Tod. Gleich die erste Geschichte, "Gemeinschaft der Heiligen", die den Ausflug einer Schulklasse schildert, beginnt damit, dass die Schüler sich zum Beginn ihres Klassenausflugs am Grab eines ehemaligen Mitschülers versammeln. Der Lehrer erklärt:
"Wir sind seit seinem Tod schon oft an sein Grab gekommen, wenn wir dem Harald etwas sagen mußten, was wir auf dem Herzen hatten. Er gehört ja immer noch zu unserer Klasse, wenn er auch nicht mehr in unseren Bänken sitzt. Denn alle Christen, die Lebenden und die Toten, die im Fegefeuer und die im Himmel, sind eine große Familie, die man die Gemeinschaft der Heiligen nennt. Sie helfen einander und bitten füreinander. So hat Harald bei Gott für uns gebetet, als wir ihm vor drei Wochen erzählten, daß en Kind in unserer Klasse zum Dieb geworden war und ein Federmäppchen gestohlen hatte; und vorige Woche, als die Hannelore so schwer krank war. Alles, was wir dem Harald aus unserer Klasse erzählten, hat er dem lieben Gott weitererzählt." (S. 10)
Gegen Ende des Bandes folgt eine Geschichte, von der ich noch sehr wohl weiß, dass sie mich als Kind eher befremdet hat, die ich heute aber als eine der bewegendsten des Buches empfinde; sie trägt den Titel "Lebe täglich sterben". Darin geht es um einen Jungen, der während eines Familienurlaubs ertrinkt und in dessen Hosentasche man den Totengedenkzettel einer gewissen Frau Lindfart findet, der (auf Lateinisch) die Inschrift "Lerne täglich sterben; es ist die Kunst aller Künste!" trägt. Als die Eltern des verunglückten Knaben seinen Leichnam aus dem Leichenschauhaus abholen, sind sie verhältnismäßig gefasst. Angesichts des Totengedenkzettels erklärt der Vater:
"Die Frau Lindfart ist weder die Mutter noch die Großmutter des Kindes. Sie ist gar nicht mit uns verwandt. Der Junge hat den Zettel zufällig mal bekommen, als er in einer Totenmesse war. Es ging ihm nicht um den Zettel oder die tote Frau. Er hatte sich vielmehr den lateinischen Spruch von seinem Pastor übersetzen lassen. Seitdem hat er sich diesen Spruch als seinen Leitspruch überallhin mitgenommen. Er hat versucht, danach zu leben; so zu leben, daß Gott ihn täglich holen dürfte. Wir haben deshalb auch guten Mut und frohe Hoffnung, daß er wohl jetzt, wo wir diesen unglücklichen Ort verlassen, schon im Himmel ist." (S. 140f.) 

-- Sicherlich ist anzunehmen, dass Geschichten wie diese heutzutage eher nicht mehr in der Erstkommunion-Vorbereitung Verwendung finden. Aber was ich von den heutzutage gängigen Methoden der Kinderkatechese halte, dazu habe ich mich ja schon verschiedentlich geäußert. Und da ich folglich damit rechne, dass meine Liebste und ich die Erstkommunion-Katechese für unsere Kinder im Wesentlichen selbst werden übernehmen müssen, gedenke ich dabei sehr wohl auch Quadfliegs "Fromme Geschichten für kleine Leute" zum Einsatz zu bringen. 


Schließen möchte ich diesen Artikel mit dem Hinweis, dass der Vatikan anlässlich der Corona-Pandemie die Möglichkeiten zur Erlangung eines Allerseelen-Ablasses zugunsten Verstorbener erweitert hat: Einen solchen Ablass ist in diesem Jahr während des gesamten Monats November möglich, und wer aufgrund von Alter, Krankheit oder Ausgangsbeschränkungen infolge der Corona-Pandemie nicht in der Lage ist, einen Friedhof zu besuchen, kann die vorgeschriebenen Gebete für die Verstorbenen auch zu Hause verrichten. Näheres dazu siehe hier



Sonntag, 12. Januar 2020

Wachsmalstifte und Gebet

Meine zweijährige Tochter hat schon sehr früh Begeisterung für Musik an den Tag gelegt, und als ausgeprägter Rock- und Popmusik-Nerd bin ich natürlich bestrebt, das zu fördern und ihren Musikgeschmack frühzeitig in wünschenswerte Bahnen zu lenken. Neben Lobpreis, Lobpreis, Lobpreis und zeitlosen Rockklassikern spiele ich ihr gern auch Musik aus meinen wilden Teenagerjahren, also in etwa aus der ersten Hälfte der 90er, vor; und im Zuge dessen habe ich kürzlich auf YouTube etwas wiederentdeckt, was seit längerer Zeit ziemlich in den Hintergrund meines Musikbewusstseins gerückt war, nämlich das MTV unplugged-Konzert der Gruppe Soul Asylum vom 21. April 1993

Soul Asylum war ja eigentlich eine Punkband (auch wenn man es damals, zumindest bis der Erfolg des dritten Green Day-Studioalbums Dookie anno 1994 ein quasi offizielles Punk-Revival einläutete, nicht "Punk" nannte, sondern "Alternative Rock"), aber ausgerechnet ihr größter Hit "Runaway Train" war eine Ballade, die so harmlos daherkam, dass sie auch von Bon Jovi hätte sein können; nein, ehrlich gesagt war das Stück sogar noch etwas schlechter als vergleichbare Stücke von Bon Jovi. Die andere Single vom 1992er Album Grave Dancers Union, "Somebody to Shove", mochte ich hingegen, und zwar in ausreichendem Maße, um die Band auch insgesamt zu mögen und mir folglich auch ihren Auftritt bei MTV unplugged anzusehen. Damals war es in dieser Konzertreihe üblich, mindestens einen Song zusammen mit einem Gaststar zu performen; und im Rückblick scheint mir, besonders die "Alternative Rock"-Bands, die der Ehre teilhaftig wurden, bei MTV unplugged spielen zu dürfen, legten Wert darauf, Gaststars einzuladen, mit denen niemand gerechnet hätte. Im Falle von Soul Asylum war es die schottische Sängerin Lulu, die in den 60ern ein Teenie-Idol  mit eigener Fernsehshow gewesen war, inzwischen aber 44 war und aussah wie die ein Jahr ältere Hillary Clinton mit rot getönten Haaren. Soul Asylum-Sänger Dave Pirner outete sich als ihr Fan, und gemeinsam brachten sie Lulus 1967er Hit "To Sir with Love" (aus dem gleichnamigen Film) zu Gehör. Und was soll ich sagen: War jut, ey. 



Okay. Warum erzähle ich das Ganze? Weil es in "To Sir with Love" eine Textstelle gibt, über die ich mich damals geärgert habe, und das fiel mir wieder ein, als ich den Song jetzt zusammen mit meiner Tochter anhörte. Die Textstelle lautet – oder jedenfalls dachte ich das damals –: 

"But how do you thank someone 
Who has taken you 
From prayers to perfumes?" 

Was soll das heißen?, grummelte ich seinerzeit. Da wird ja so getan, als wäre Beten nur etwas für kleine Kinder. Man kann sich das sehr schön bildlich vorstellen: Lütt' Lulu, sechs Jahre alt und mit Zöpfchen, kniet sich jeden Abend vor dem Zubettgehen auf den Bettvorleger und spricht ein Nachtgebet ("As I lay me down to sleep..."), aber dann kommt irgendwann die Pubertät und mit ihr die Angst vor Körpergeruch und der Wunsch, dem anderen Geschlecht zu gefallen, und für Gott hat man keine Zeit mehr. Na toll. 

Okay, zugegeben: Da könnte schon was dran sein. Bei vielen Teenagern zumindest. Die Frage ist, ob man demjenigen, der einen auf diesem Weg begleitet oder gar geführt hat, wirklich danken sollte. 

Na ja, vielleicht ist es ja ein Lied über Firmkatechese

Nee, Scherz beiseite, das ist es natürlich nicht. Wie ich jetzt festgestellt habe, heißt es auch gar nicht "from prayers to perfumes". Sondern "from crayons to perfumes", also "von Wachsmalstiften zu Parfüm". Das ist natürlich etwas ganz Anderes. Aber komisch ist es doch, dass sich mir auch da gleich wieder kirchliche Assoziationen aufdrängen. Schließlich geht es auch in der handelsüblichen Kinderkatechese, so wie ich sie in meinem bisherigen Leben kennengelernt habe, schwerpunktmäßig mehr um Wachsmalstifte als um Gebet...


Samstag, 28. Dezember 2019

Endlich wieder da: Der traditionelle Weihnachts-Blogartikel aus Nordenham!

So, Freunde: Nachdem ich heuer erstmals seit 2016 wieder die Weihnachtstage in Nordenham verbracht habe, wird es wohl Zeit, die liebgewonnene Tradition der "Weihnachts-Blogartikel aus Nordenham" wieder aufzugreifen. Andererseits habe ich aber auch jede Menge anderes zu tun, daher habe ich mich entschlossen, in diesem Artikel hauptsächlich Bilder sprechen zu lassen. Gleich das erste Bild, das ich für diesen Artikel ausgewählt habe, ist allerdings gar nicht in Nordenham entstanden, sondern vor den "Hallen am Borsigturm" in Berlin-Tegel, einige Tage vor unserer Abreise in den Weihnachtsurlaub. Aber ich finde es so schön, dass ich es meinen Lesern nicht vorenthalten möchte: 


So, nun aber zur Sache: Am Montag in aller Früh brach ich mit Frau und Kind auf nach good old Nordenham; die Schwiegermütter waren schon einen Tag vorher mit dem Auto vorausgefahren und hatten einen Großteil des Gepäcks mitgenommen. Einquartiert waren wir alle fünf in einer Ferienwohnung, die übers Jahr hauptsächlich als Monteurswohnung genutzt wird; in Sachen Komfort musste man da - insbesondere mit fünf Personen auf doch etwas beengtem Raum - einige Abstriche machen, aber vom Preis-Leistungs-Verhältnis her betrachtet ging das vollkommen in Ordnung. 


Drei Häuser weiter war der Ort zu Ende. 

Ein paar Häuser weiter in die andere Richtung gab es einen "Garten des Grauens" zu bewundern. Muss man mögen, so ein Atomkriegs-Mahnmal im eigenen Garten. 



Auch interessant war, dass der örtliche Computerspezialist in einer verhutzelten kleinen Kate mit verwildertem Garten und dekorativem Wagenrad an der Fassade zu finden ist. 


Am Montagnachmittag nutzten wir erst einmal die Gelegenheit, den legendären Nordenhamer Weihnachtsmarkt (den ja schon Horst Evers in einer kleinen Humoreske verewigt hat) zu besuchen; an Heiligabend sowie an den Weihnachtstagen war der nämlich geschlossen. Dafür geht er jetzt aber noch bis zum 5. Januar weiter. 

Merke: In Nordenham sind sogar die Krippenfiguren blond. 
Ein bisschen einkaufen für die Feiertage mussten wir auch noch.

Glorious Revolution Bread. Darf man das als Katholik überhaupt essen? 

Ey, du Voll-Nuss! 

Nein, wir haben keine Katze. Aber ehe ich dahinterkam, dass "Knusperta" wohl lediglich eine Abkürzung für "Knuspertatzen" (oder so ähnlich) sein sollte, fand ich, dass das eigentlich ein ganz schöner Name wäre. Heilige Knusperta, bitte für uns! 

Das Wetter war übrigens, wie so oft in Nordenham, ein wenig feucht.
Am Heiligabend waren wir zum Abendessen und zur Bescherung bei meiner Mutter eingeladen. 




Zu essen gab es, gemäß alter Familientradition, Schlesische Weißwurst. Diese Wurstspezialität aus Kalbfleisch wird zunächst in heißem Wasser gegart und dann in Butter leicht angebraten. Also nicht zu verwechseln mit der beispielsweise in Bayern brauchtümlichen Weißwurst. 

So sieht sie aus. 
Und dazu gibt es Kartoffel- und/oder Nudelsalat. 


Dann folgte, wie gesagt, die Bescherung.

Der Stormtrooper-Kaffeebecher ist meiner! 

Die Melonen-Ukulele hingegen ist für meine Tochter. 

Wie meine Liebste anmerkte, kostete es durchaus einige Überwindung, sich aus dieser fröhlichen Runde zu verabschieden, um an einer Christmette teilzunehmen, von der man anhand der Erfahrungen früherer Jahre erwarten konnte, dass sie eher ärgerlich als erbaulich werden würde. Aber da mussten wir nun wohl durch. 



Tatsächlich war es dann aber gar nicht so schlimm wie befürchtet -- was vielleicht aber nur unterstreicht, wie negativ meine Erwartungen waren. Vielleicht bin ich auch einfach toleranter geworden, oder abgestumpft. Jedenfalls gab es bis zur Predigt nicht besonders viel zu meckern. 

Mal abgesehen natürlich von den abgeschmackten Weihnachtsdeko-Fotos, die auf dem den halben Altarraum verdeckenden Bildschirm erschienen, wenn dort gerade keine Liedtexte angezeigt wurden. 


Dass ein paar Weihnachtslieder an Stellen der Liturgie eingeschoben wurden, wo eigentlich kein Gemeindegesang hingehört: geschenkt. Immerhin gab's zum Kyrie ein richtiges Kyrie und zum Gloria ein textlich wenigstens einigermaßen zum Gloria passendes Lied ("Menschen, die ihr wart verloren", GL Nr. 245). 

Die Predigt war dann allerdings ziemlich bizarr. So hart es ist, so etwas von einem geweihten Priester sagen zu müssen: Man hatte den Eindruck, der Pfarrer hat auf einer fundamentalen Ebene schlichtweg nicht begriffen, was der christliche Glaube ist. Ist Gott Mensch geworden, um uns dazu zu motivieren, bessere Menschen zu sein? Das ist vielleicht nicht völlig falsch, aber die zentrale Botschaft des Evangeliums ist dann wohl doch eine andere. Besteht Gottes ganzer Daseinszweck darin, dafür zu sorgen, dass es uns gut geht? Okay, das hat der Pfarrer vielleicht nicht so gemeint. Ich hatte ohnehin zuweilen den Eindruck, dass er am Ende eines Satzes schon wieder vergessen hatte, was er am Anfang hatte sagen wollen. Immerhin in einer Hinsicht erfüllte die Predigt ihren Zweck, denn meine Tochter schlief dabei ein. Ein bisschen beneidete ich sie darum. 

Nach der Predigt nahmen dann auch die liturgischen Ausfallerscheinungen deutlich zu. Das begann damit, dass das Credo entfiel und stattdessen "Zu Bethlehem geboren" gesungen wurde; auch Sanctus und Agnus Dei wurden durch ohne Rücksicht auf liturgische Sinnzusammenhänge ausgewählte Weihnachtslieder ersetzt. Aber das kannte man schon aus früheren Jahren, und davon abgesehen hielt man sich in St. Willehad heuer mit liturgischen bzw. antiliturgischen Eigenwilligkeiten etwas mehr zurück als in manch einem anderen Jahr. Sogar das Robbenbaby blieb am Leben. 


Ehrlich gesagt habe ich mich im Verlauf dieser Christmette ein paarmal gefragt, ob das womöglich dabei herauskommt, wenn die Liturgieverantwortlichen von St. Willehad mal beschließen, ein Mindestmaß an Rücksicht auf eventuell anwesende "liturgisch konservativere" Messbesucher zu nehmen. Wenn das der Fall sein sollte, finde ich das im Grunde sogar besonders heimtückisch; denn wer sich mit Liturgie einfach nicht sonderlich auskennt, wird, solange es nicht noch gröbere Verstöße gibt, womöglich gar nicht merken, dass mit dieser Messe etwas nicht in Ordnung ist. Ich denke auch, es hat seinen Grund, dass in dieser Gemeinde mit solcher Regelmäßigkeit- nicht nur an Weihnachten - das Credo unter den Tisch fällt. Würde direkt nach der Predigt das Glaubensbekenntnis der Kirche gebetet, würde bestimmt dem einen oder anderen auffallen, dass der Pfarrer in der Predigt Quatsch erzählt hat. 

Aber genug davon! Am Weihnachtstag unternahmen wir gegen Mittag einen schönen Spaziergang am Weserufer entlang, vom Großensieler Hafen - den ich in seiner Art idyllischer finde als den entschieden touristischer herausgeputzten Krabbenkutterhafen von Fedderwardersiel - 




- bis zum "Union-Pier" unweit des Nordenhamer Bahnhofs. 

(Und was macht man als junger Mensch sonst so in Nordenham?)


Abends ging's dann mit meiner Mutter ins Restaurant "Seeteufel". Auf den ersten Blick machten das Lokal und die Bedienung keinen übermäßig freundlichen Eindruck auf mich, aber das war alles vergessen, sobald das Essen auf den Tisch kam; das war nämlich wirklich hervorragend.  


Der Stephanustag (26. Dezember, landläufig auch "2. Weihnachtstag") ist zwar im Gebiet der Deutschen Bischofskonferenz einer der ganz wenigen "gebotenen Feiertage", die nicht sowieso auf einen Sonntag fallen, und eine Messe hätte es an diesem Tag in Herz Mariae Burhave gegeben (von der Nordenhamer St.-Willehad-Kirche aus wurde sogar ein Shuttle-Service dorthin angeboten), aber dem gesamten nicht-katholischen Teil der Familie hätte es vorn und hinten nicht in die Tagesplanung (Mittagessen usw.) gepasst, wenn meine Liebste, das Kind und ich da hätten hinfahren wollen, also buchte ich unsere Nichtteilnahme am dieser Messe unter "höhere Gewalt" ab. Am frühen Nachmittag dampften die Schwiegermütter wieder ab, meine Liebste, das Kind und ich hingegen blieben noch einen Tag länger. Bei einem Stadtbummel am Nachmittag zeigte sich allerdings, dass so ziemlich die ganze Stadt an diesem Feiertag geschlossen hatte. Schließlich fanden wir einen syrischen Imbiss, für den das nicht galt; dort tranken wir eine Cola, während das Kind im Wagen einen verspäteten Mittagsschlaf hielt, und kauften einen Schawarma-Salat zum Mitnehmen, den wir am Abend mit einigen Resten von den Vortagen zu einem bescheidenen, aber wohlschmeckenden Abendessen kombinierten. 


Bevor wir am Freitag die Rückreise antraten, waren wir abermals bei meiner Mutter zum Mittagessen eingeladen. Es gab Grünkohl mit Pinkel. Mjam. 


Als wir spät am Abend am Berliner Hauptbahnhof ankamen, waren wir alle rechtschaffen müde... 


Aber glücklicherweise ist ja jetzt erst mal Wochenende. Und was danach ansteht (und das ist nicht wenig!), bitte ich der kommenden "Kaffee & Laudes"-Folge zu entnehmen!



Sonntag, 22. Dezember 2019

Sag mir, wo die Väter sind


Im Evangelium zum 4. Adventssonntag wird die Ankündigung der Geburt Jesu aus der Perspektive des Hl. Josef geschildert. Es ist eine der wenigen Bibelstellen, in denen der irdische Ziehvater Jesu ein charakteristisches Profil gewinnt: Die Kindheitserzählungen des Lukasevangeliums konzentrieren sich eher auf die Perspektive der Maria, und im weiteren Verlauf der Evangelien wird Josef überhaupt nicht mehr erwähnt – woraus die kirchliche Tradition schon früh den Schluss gezogen hat, er müsse schon vor Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu gestorben sein. Dennoch ist er über Jahrhunderte hinweg einer der populärsten Heiligen der Kirche gewesen. Erst in jüngerer Zeit, so scheint es, ist der wortkarge Heilige, von dem die Evangelien keinen einzigen Ausspruch überliefern, in der Wahrnehmung der Gläubigen eher an den Rand gerückt. 

Alonso Miguel de Tovar (1687-1752): Der Hl. Josef mit dem Jesuskind (gemeinfrei)

Recht vielsagend erscheint mir in diesem Zusammenhang die Darstellung des Hl. Josef in der bildenden Kunst, vor allem in der Malerei. Ich bin kein Kunsthistoriker, aber mir scheint, Darstellungen des Hl. Josef, der das Jesuskind in seinen Armen hält und es liebevoll und zärtlich betrachtet, haben ihren Höhepunkt im 17. Jahrhundert und nehmen danach auffallend ab. Möglicherweise ist dies ein Indiz für einen Wandel im gesellschaftlichen Konzept von Vaterschaft, der durch eine zunehmende Trennung der Sphären von Beruf und Familie in der bürgerlichen Gesellschaft der westlichen Welt bedingt war: Da die berufliche Sphäre weitgehend dem Mann vorbehalten war, wurde die Familie zum Reich der Frau – exemplarisch dargestellt in Schillers "Lied von der Glocke": Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben, drinnen waltet die züchtige Hausfrau, Sie kennen das. Sicherlich haben wir es hier mit einem Dilemma zu tun. Die Familie zu ernähren, die materiellen Grundlagen für ihr Überleben sicherzustellen, gehört sehr wohl von alters her zu den typischen Aufgaben des Mannes und Familienvaters, und in dem Moment, in dem dies für die meisten Männer bedeutet, eine Berufstätigkeit auszuüben, die sich außerhalb des eigenen Haushalts abspielt, bedingt das eben eine häufige und lange Abwesenheit von Frau und Kindern. Aber je weniger Zeit der Mann mit seiner Familie verbringt, desto schwächer wird auch seine emotionale Bindung an sie. Wenn dann der Mann um seines beruflichen Erfolges willen seine Familie vernachlässigt oder verlässt oder sich, um sich ganz seiner Karriere widmen zu können, von vornherein dagegen entscheidet, eine Familie zu gründen, ist das zwar eine bedenkliche Verschiebung der Prioritäten, aber in gewissem Sinne auch folgerichtig

Lassen Sie mich erklären, was ich damit meine. Es fällt auf, dass die Auffassung, die Pflege des eigenen Nachwuchses sei "Frauensache" und "unmännlich", offenbar auch durch das Bekenntnis zur Gleichberechtigung der Geschlechter nicht totzukriegen ist. Zwar geht in unseren Breiten der Trend – nach Kräften befördert von Politik und Medien – dahin, durch Kindertagesstätte, Hort und Ganztagsschule die Kinderbetreuung so weit wie möglich aus dem familiären Rahmen auszulagern und so beide Elternteile für den Arbeitsmarkt verfügbar zu halten; aber wenn eine Frau beruflich "kürzer treten" will, um mehr Zeit für ihre Familie zu haben, wird das immer noch wesentlich eher akzeptiert, als wenn ein Mann das tut. Es wäre kurzsichtig, die "Schuld" hieran allein bei den Männern zu suchen; die Männer verhalten sich letztlich bloß so, wie es von ihnen erwartet wird. Männer, die sich in der Öffentlichkeit mit einem Säugling im Tragetuch sehen lassen, werden vielfach als komische Figuren wahrgenommen. Ich selbst erlebe es häufig, dass insbesondere ältere Frauen es mir – offenbar ganz ohne böse Absicht, einfach nur, weil ich ein Mann bin – schlichtweg nicht zutrauen, meinem Kind die Windel zu wechseln oder es in den Schlaf zu wiegen. Nebenbei bemerkt: Dass ein solches Geschlechterrollenverständnis vielfach als "konservativ" betrachtet und bezeichnet wird, spricht angesichts der oben angedeuteten historischen Entwicklung im Grunde nur für das kurze Gedächtnis der menschlichen Gesellschaft. 

Zusammenfassend gesagt, leben wir in einem kulturellen Klima, in dem Männern noch mehr als Frauen das Gefühl vermittelt wird, die Betreuung und Erziehung der eigenen Kinder sei keine gesellschaftlich anerkennenswerte Leistung. Männer sind jedoch – abermals: noch mehr als Frauen – darauf "programmiert", etwas leisten und dafür Anerkennung ernten zu wollen. Die Folge ist, dass es vielen Männern nicht als eine erstrebenswerte Lebensaufgabe erscheint, Vater zu sein. Die sozialen Kosten einer solchen Marginalisierung von Vaterschaft sind unübersehbar. Nicht nur die hohe Zahl alleinerziehender Mütter verweist darauf, wie viele Männer unwillig sind, die Vaterrolle anzunehmen; es zählt auch zu den verbreitetsten Gründen für Abtreibungen, dass die Kindsväter den schwangeren Frauen ihre Unterstützung versagen oder sie explizit – nach dem Muster "Das Kind oder ich" – unter Druck setzen. Das gesellschaftliche Problem des Verschwindens der Väter pflanzt sich zudem von Generation zu Generation fort und verschärft sich dabei, denn wer als Kind keinen starken, liebevollen oder überhaupt präsenten Vater erlebt hat, wird sich als Erwachsener umso schwerer damit tun, selbst einer zu werden. 

Vor diesem Hintergrund erscheint es mir dringend geboten, dass gerade christliche Familien mit ihrer Lebensweise ein entschiedenes Zeugnis für den unschätzbaren Wert des Familienlebens ablegen, ja, dass sie die Familie als Berufung wiederentdecken. Die Dogmatische Konstitution "Lumen Gentium" des Zweiten Vatikanischen Konzils bezeichnet die christliche Familie als "eine Art Hauskirche", in der "die Eltern durch Wort und Beispiel für ihre Kinder die ersten Glaubensboten sein und die einem jeden eigene Berufung fördern" sollen (LG 11). Der italienische Autor Carlo Carretto hat dem Konzept der christlichen Familie als "Kirche im Kleinen" im Jahr 1966 ein ganzes Buch gewidmet, dessen 1976 erschienene deutsche Ausgabe den möglicherweise etwas irreführenden Titel "Wir sind Kirche" trägt. Darin betont Carretto besonders auch die Verantwortung des Vaters für die Erziehung der Kinder und schreibt unter anderem: "Die Gabe, Vater zu sein, gehört zu den höchsten Geschenken, die Gott der Menschheit gemacht hat. Es ist Teilhaben an seiner Freude, Vater zu sein." (S. 75) Das ist eine Aussage von großer Tragweite. Indem Jesus Seine Jünger lehrt, Gott als Vater anzusprechen, indem Er Ihn selbst mit dem kindlichen Kosewort "Abba", geliebter Vater, anspricht, erklärt er Gottes Liebe zu den Menschen zu einem Vorbild dafür, wie ein Vater seine Familie lieben soll. Zugleich bedeutet das: Wenn ein Kind lernt, zu Gott "Vater" zu sagen, wird das Gottesbild des Kindes unweigerlich davon beeinflusst sein, wie es seinen eigenen Vater erlebt. Daraus ergibt sich eine enorme Verantwortung. 

Ist die Familie als "Hauskirche" die erste Instanz der Glaubensweitergabe an die Kinder, so bildet die Familie daneben und darüber hinaus – ihrer Natur nach – den Rahmen, in dem das Kind seine ersten Erfahrungen damit macht, sich in der Welt zu orientieren und die Regeln des menschlichen Zusammenlebens einzuüben. In einer christlichen Familie sollte beides idealerweise Hand in Hand gehen, das heißt, Glaube und Leben sollten eine organische und für das Kind selbstverständliche Einheit bilden; deshalb ist es in einer Gesellschaft, die dem christlichen Glauben zunehmend gleichgültig oder sogar feindselig gegenübersteht, so wichtig, dass die Familie ihre Aufgaben nicht leichtfertig an andere Instanzen delegiert – nicht an den Kindergarten, nicht an die Schule, ja nicht einmal an die Kirchengemeinde. "Erziehen heißt hinführen, aber es ist wichtig zu wissen wohin", schreibt Carlo Carretto. "Der Christ weiß es, das ist ein großer Vorteil anderen gegenüber, die es nicht wissen." (S. 81) Von entscheidender Wichtigkeit ist es zudem, dass die Werte, an denen die alltägliche Praxis des Familienlebens tatsächlich ausgerichtet ist, mit denjenigen übereinstimmen, zu denen die Familie sich theoretisch bekennt; was für eine christliche Familie also bedeutet: mit den Lehren Jesu Christi über das Reich Gottes. Wie jeder bestätigen kann, der häufigen Umgang mit Kindern hat, haben Kinder einen außerordentlich wachen Instinkt dafür, Diskrepanzen zwischen dem Reden und dem Handeln der Erwachsenen aufzuspüren; und sie orientieren sich erheblich stärker am tatsächlichen Verhalten ihrer Eltern als daran, was diese sie mit Worten zu lehren versuchen. Mit Blick auf den Ausgangspunkt meiner Beobachtungen bedeutet das beispielsweise: Wenn Eltern ihrem Kind predigen, wie wichtig die Familie sei, aber tatsächlich nie Zeit für das Kind haben, weil sie entweder arbeiten oder sich von der Arbeit ausruhen müssen, dann merkt das Kind, dass da etwas faul ist – und es zieht seine Schlüsse daraus. 

Hören wir abschließend noch einmal Carlo Carretto: 
"Ich möchte keine gutbürgerliche christliche Familie, ohne Leben, ohne Kraft, ein Familienhotel, wo man zusammenkommt, um zu essen und zu schlafen, wo keine geistliche[n] Gespräche aufkommen, wo alle möglichst wenig Berührungspunkte haben, wo man vor Langeweile umkommt, wo man sich nur darum kümmert, daß die Kinder ein Diplom oder einen Doktortitel erwerben.
Wir müssen eine apostolische Familie aufbauen, in der man von Gott und seinem Reich spricht, wo der Wunsch nach Ausbreitung des Reiches lebendig und wirksam ist, wo das große Gebot Jesu verwirklicht ist: 'Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und alles andere wird euch dazugegeben werden.'" (S. 91f.) 

Samstag, 9. November 2019

Die altgewordene Jugendkirche

"Aufregung um Jugendkirche Effata in Münster" meldete unlängst die Münsteraner Bistumszeitung "Kirche+Leben". Wer sich da genau über was aufregt und warum, habe ich nicht ganz verstanden und geht mir auch nicht besonders nahe - das "Pastoralteam" habe beschlossen, "die sonntäglichen Abend-Gottesdienste" in der Jugendkirche künftig "nicht mehr zu betreuen", stattdessen sollen diese "künftig von einem Team Ehrenamtlicher, das sich über einen festen Kern hinaus erst noch finden muss, gestaltet werden"; ist das denn unbedingt etwas Schlechtes? -, aber was ich dann doch witzig fand, war das etwas verschämt vorgebrachte Eingeständnis, dass es der Jugendkirche nicht (mehr) gelingt, Jugendliche "anzusprechen und sich auf ihre Bedürfnisse einzulassen". "Die Jugendkirche Effata ist erwachsen geworden", heißt es in typisch beschönigender Diktion zu Beginn des Artikels. "Der Ort wird mit den Leuten älter", wird Holger Ungruhe, "seit Anfang 2019 Pfarrer der Jugendkirche", zitiert. Eine "Evaluierung des sonntagabendlichen Gottesdienstes" durch das Zentrum für angewandte Pastoralforschung (zap) der Universität Bochum, die "von Veronika Eufinger und Christina Görsch anhand von vier Interviews und drei Gottesdienstbesuchen erstellt wurde" (auf den ersten Blick habe ich das als "vier Interviews mit drei Gottesdienstbesuchern" gelesen; hätte mich auch nicht besonders gewundert), attestiert den Gottesdiensten in der Jugendkirche zwar, "ein besonderes Erlebnis für eine besondere Zielgruppe" zu sein, aber bei dieser Zielgruppe handelt es sich offenbar eher um sogenannte "jung gebliebene Erwachsene". Irgendwie erinnert mich das an etwas, das Horst Evers mal über "Ü-30-Partys" schrieb: Die Altersangabe "Ü-30" sei "nach oben hin offen, was dazu führt, dass die meisten Gäste dann doch eher so um die 50 sind. Keine Ahnung, wo die 30-Jährigen feiern, hier jedenfalls nicht." Wobei er betont, das sei an sich ja nicht unbedingt schlimm -- 
"im Gegenteil, hätte ich die Wahl zwischen einer Ü-30- und einer Ü-50-Party, würde ich wahrscheinlich die Ü-50-Party wählen. Eine seriöse Ü-50-Party, das würde mir gut gefallen. Aber 50-Jährige, die eine Ü-30-Party feiern, das ist was anderes. Sie wollen feiern wie vor 20, genaugenommen eigentlich 30 Jahren. Und dafür geben sie ihr Letztes." (Horst Evers, "Stuttgarter Nächte", in: ders., "Gefühltes Wissen", S. 79-83, Zitat von S. 79f.) 
"Diese Generation wird noch im Pflegeheim 'Jugendmessen' feiern", prognostizierte Bloggerkollege Dybart Simpson, Experte für pastorale Irrtümer, in einer Facebook-Diskussion über den besagten "Kirche+Leben"-Artikel. "Mit Steinchen und Fellchen zum Mitnehmen. Und den kleinen Leuten von Swabedoo." Eine Einlassung, die mich ohne Ende erheiterte -- und das nicht nur wegen meiner eigenen, weitgehend verschüttet gewesenen Kindheitserinnerungen an die Fellchen-tauschenden Swabedoodahs. Insgesamt deckte sich der ganze Vorgang auffallend mit meiner Beobachtung, dass in Kindergottesdiensten seit mindestens dreißig Jahren immer der gleiche Quatsch gemacht wird und auch die Jugendpastoral inhaltlich wie methodisch tief in den 80er Jahren hängengeblieben ist. 


Allgemeine Schadenfreude also über die ergrauten Ex-Jugendlichen von "Effata"? Nicht ganz. In der Facebook-Diskussion gab es auch andere Stimmen. In dem "Kirche+Leben"-Artikel ist auch die Rede davon, dass die "Effata"-Sonntagabendgottesdienste "den Leuten wichtig geworden" seien, ja dass die altgewordene Jugendkirche "zu einer spirituellen Heimat für eine Gemeinde geworden" sei, "die einerseits aus einem festen Kern und andererseits aus wechselnden Besuchern bestehe". Das, so meinten einige Diskussionsteilnehmer aus meiner Filterblase, dürfe man nicht gering schätzen. Ein Wiener Seminarist merkte an, grundsätzlich sei es kein Wunder, dass  "bei den meisten Jugendkirchen nach einiger Zeit die Luft draußen ist", fügte jedoch hinzu: "Dass diese Art von Gemeinde dann aber 'erwachsen' wird und ihr eigenes Charisma entwickelt, finde ich aber gut und sollte eigentlich gefördert werden." Solche Gemeindeformen seien deshalb so wichtig, weil der Kirche heutzutage "viele Leute deswegen verloren gehen, weil sie die meistens eher mittelmäßige bis grottenschlechte Liturgie in der 08/15-Gemeinde satt haben." -- Okay, das klingt erst mal nach der "conventional wisdom" (post-)moderner Pastoralplaner ("FreshX, PfinXten, Xpand, Kirche², Futur2..."), aber ich sag gleich noch was dazu. Eine Bloggerkollegin, deren eigener Blog seit längerer Zeit inaktiv ist, die aber sowohl hier bei mir als auch woanders gelegentlich Gastbeiträge veröffentlicht und die ich mitsamt ihrer Familie als eine Art "Benedikt-Options"-Außenposten in der ländlichen Diaspora Nordwestdeutschlands zu betrachten gewohnt bin, meinte, der Alterungsprozess der "Effata"-Gemeinde bedeute letztlich doch nur, dass die Leute, die sich als Jugendliche in dieser Gemeinde zusammengefunden haben, "bleiben statt wegzurennen", und das sei doch etwas Gutes. "Da hat sich eine feste Gemeinde gefunden, die miteinander Gottesdienst feiert. Wenn sich eine untereinander verbundene Gemeinde findet, die stabilitas lebt, ist das total BenOp." 

Das gab mir zu denken. Und zwar in der Form, dass ich fand, da sei was dran, aber gleichzeitig den Impuls verspürte, zu widersprechen. Nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht habe, bin ich geneigt zu sagen: Ich kann den Argumenten dafür, dass Gemeindeformen wie die hier angesprochene eine gute Sache sein könnten, durchaus etwas abgewinnen, aber ich habe begründete Zweifel daran, dass das tatsächlich eine gute Sache ist. Und da in diesem Zusammenhang das Stichwort #BenOp gefallen ist und ja anscheinend so ziemlich jeder etwas anderes unter dieser Bezeichnung versteht, sehe ich mich auch in einer gewissen Verantwortung, etwas dazu zu sagen. Tatsächlich liegen die Punkte, an denen meine Bedenken ansetzen, gewissermaßen im Bereich der Schnittmenge zwischen den Argumenten meiner beiden Vorredner. 

Zunächst: Dass die "Effata"-Gottesdienste im Evaluationsbericht des Zentrums für angewandte Pastoralforschung als "ein besonderes Erlebnis für eine besondere Zielgruppe" bezeichnet werden, spricht aus meiner Sicht bereits gegen sie, denn das ist nicht das, was ein Gottesdienst sein soll. Ein Gottesdienst ist kein Konsumangebot, kein Unterhaltungsprogramm, es geht nicht um Kundenzufriedenheit, sondern - guess what - darum, Gott die Ehre zu geben. Unabhängig davon, wie die Gottesdienste der "Effata"-Jugendkirche nun konkret aussehen mögen - ich stelle mir da etwas ganz Furchtbares vor, aber ich könnte mich ja irren -, sehe ich bei dem Konzept "besondere Gottesdienste für eine besondere Zielgruppe" grundsätzlich die Gefahr, das das Wesentliche dessen, was ein Gottesdienst ist und sein soll, aus dem Fokus gerät. Das soll natürlich nicht heißen, dass man sich nicht bemühen sollte, Gottesdienste so zu gestalten, dass die Leute gern hingehen. Aber in einer "zielgruppenspezifischen" Ausdifferenzierung der Gottesdienst-"Angebote" sehe ich eine große Gefahr, insbesondere dann, wenn sie dazu führt, dass die unterschiedlichen Zielgruppen jeweils ihre eigenen "Gemeinden" bilden. Wie es hier ja offenbar der Fall gewesen ist. Ich bin ein geradezu fundamentalistischer Gegner der sogenannten "milieusensiblen Pastoral", und zwar deshalb, weil sie die Fragmentierung der Gesellschaft perpetuiert, der die Kirche eigentlich entgegenwirken sollte. 

Wie es sich fügt, habe ich jüngst in dem Buch "The Grace of Enough" von Haley Stewart einige Passagen entdeckt, die sehr gut illustrieren, was ich damit meine, und die ich daher hier mal ad hoc übersetze (in der Hoffnung, dass sich das auszahlt, falls es mir gelingt, einen Übersetzungsauftrag für das ganze Buch an Land zu ziehen, Zwinkersmiley): 
"Ich fühlte mich plötzlich an eine Äußerung von Rob Bell - dem früheren Megachurch-Pastor und spätere Talkshow-Moderator - erinnert, die ich in den Nachrichten gehört hatte und in der es darum ging, warum er und seine Frau nicht mehr in die Kirche gehen: 'Wir haben eine kleine Schar von Freunden, eine Gruppe, die mit uns auf der Reise ist. Dazu braucht es kein Gebäude. Wir sind die ganze Zeit Kirche, es ist für uns eher ein Tuwort.'  
Eine kleine Schar von Freunden. Dabei muss ich an die Hauptcharaktere dee Sitcom How I Met Your Mother denken: lauter Twentysomethings, die allesamt beste Kumpels sind und in ihrer Lieblingsbar,  MacLaren’s Pub, abhängen. [...] Sie sind in derselben Lebenssituation. Sie sind alle weiß und aus der Mittelschicht. Sie waren alle auf dem College. Das ist 'eine kleine Schar von Freunden'.  
Ich habe tolle Freunde. Mit ihnen befreundet zu sein ist ein Geschenk Gottes. Aber mit meinen Freunden abzuhängen, während wir gemeinsam durchs Leben gehen, wäre ein armseliger Ersatz für die Kirche. Die Kirche ist nicht der Ort, an dem man mit seinen besten Kumpels abhängt. Die Kirche ist der Ort, an dem wir trotz unserer Unterschiede und Gegensätze miteinander verbunden werden durch etwas, das über uns selbst hinaus weist: durch Christus.  
Was habe ich mit dem Obdachlosen zu schaffen, der zur Messe kommt? Der ungewaschene Klamotten trägt, Selbstgespräche führt und, nachdem er die Kommunion empfangen hat, wild herumgestikuliert, als wollte er die Gemeindemitglieder in seiner Umgebung segnen? Was in aller Welt haben wir miteinander zu tun?  
Was habe ich gemeinsam mit der alten Frau, deren Rollator sich quietschend über den Kirchenfußboden bewegt? Mit dem afrikanischen Immigranten, der jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit in die Anbetungskapelle kommt, um zu beten? Mit der Frau mittleren Alters, die während der Werktagsmesse hin und her schwankt und leise mit sich selbst spricht? Mit dem Arzt von den Philippinen, der Familie mit den zehn Kindern, den Collegestudenten, die sich in der Nacht von Karsamstag auf Ostersonntag in der Kapelle versammeln und singen? Dem jungen Paar, das unter seiner Kinderlosigkeit leidet, dem alleinstehenden Mann um die Vierzig? Möglicherweise gar nichts. Vielleicht haben wir nichts miteinander gemeinsam bis auf eines -- das einzige, worauf es ankommt." (S. 101) 
An dieser Stelle unterbreche ich mal, um anzumerken, dass diese Aufzählung sehr schön beschreibt, was ich beispielsweise an St. Clemens in Berlin-Kreuzberg so mag. Die Gemeinde, die dort zur Messe geht, hat sich auch irgendwie "gefunden", sie ist auch irgendwie speziell, aber nicht in dem Sinne, dass man sie nach gängigen soziologischen Kategorien einer bestimmten "Zielgruppe" zuordnen könnte -- eher im Gegenteil: Diese Gemeinde zeichnet sich gerade durch ihre Diversität aus, in Hinblick auf Alter, ethnische Herkunft und Einkommensklasse, und ein signifikanter Anteil der Leute, die da zur Messe gehen, ist dezidiert sonderbar -- zum Teil durchaus auch im Sinne von "allem Anschein nach nicht ganz dicht". Und? Ich finde das gut. Sorgen muss man sich eher machen, wenn es solche Leute in einer Kirchengemeinde nicht gibt. Denn diese Leute gehören genauso - mindestens genauso - zum Leib Christi wie unsere Kolping-Ortsvorsitzende, unser Kirchenvorstand oder meine Liebste und ich. Okay, zurück zu Haley: 
"Die Kirche ist keine kleine Schar von Leuten, die so sind wie ich. Zu ihr gehören der Immigrant, der Rechtsanwalt, der Industriearbeiter, die alleinerziehende Mutter. Sie ist voll von Leuten, mit denen ich nichts gemeinsam habe. Einige von diesen Leuten mag ich nicht mal, und einige mögen bestimmt mich nicht. Wir fühlen uns nicht unbedingt wohl miteinander. Und doch sind wir Eins -- nicht getrennt nach Ethnie, sozioökonomischem Status oder Bildungsstand und ganz bestimmt nicht unterteilt in 'Cliquen'. Von ihrer Gründung an war die Kirche genau darin revolutionär: dass sie eine Einheit bildete. Sklaven und Freie, Juden und Heiden, Arme und Reiche kamen in den Katakomben zusammen und aßen vom selben Tisch, gesegnet durch das Blut der Märtyrer." (S. 103) 
In diesem Zusammenhang könnte man übrigens die (womöglich nicht einmal besonders originelle) These wagen, das Problem unserer "normalen" Gottesdienste sei nicht etwa, dass sie zu wenig zielgruppenorientiert sind, sondern dass sie es zu sehr sind: zugeschnitten auf den Geschmack und die Erwartungshaltung eines bestimmten Milieus, das das Erscheinungsbild unserer Kirchengemeinden so sehr prägt, dass Leute, die anders sind, von vornherein gar nicht auf die Idee kommen, dazugehören zu können oder auch nur zu wollen. Die Antwort der "milieusensiblen Pastoral" auf dieses Problem besteht darin, diesen "Anderen" ihre jeweils eigenen kleinen "Kirchen" zu bauen, aber ich sagte ja bereits, dass ich das für den falschen Weg halte. Die menschliche Neigung, bevorzugt da hinzugehen, wo die Leute so ähnlich sind wie man selber, ist dennoch ein Faktor, mit dem man rechnen muss. Hören wir dazu nochmals Haley Stewart: 
"Es ist ganz natürlich, dass es uns zu Leuten hinzieht, die uns ähnlich sind: Leute, mit denen wir klarkommen, die uns mögen und die wir verstehen; Leute, mit denen wir uns einig sind und mit denen wir uns wohl fühlen. Aber wenn ich als Katholikin eines gelernt habe, dann, dass der Glaube uns dazu zwingt, unsere Komfortzonen zu verlassen." (S. 100)
Keine Frage: Will die Kirche missionarisch sein, dann wird sie nicht ganz darum herumkommen, dem Prinzip "Gleich und gleich gesellt sich gern" Rechnung zu tragen; das heißt, sie braucht durchaus einen gewissen Anteil an "zielgruppenorientierten Angeboten". Zugleich muss sie aber auch ein Gegengewicht dazu bieten. Ich will das mal an einem selbst erlebten Beispiel erläutern. Bis zur Geburt unserer Tochter waren meine Liebste und ich ziemlich regelmäßige Teilnehmer im "Kreis junger Erwachsener" einer Pfarrei, auf deren Gebiet wir gar nicht (mehr) wohnten; üblicherweise wurde dieser Kreis vom Kaplan geleitet, aber alle soundsoviel Monate schaute der Pfarrer - ein alter Haudegen mit jahrzehntelanger DDR-Erfahrung - mal persönlich nach dem Rechten. Bei einer solchen Gelegenheit wies er auf die bevorstehende Faschingsfeier der Gemeinde hin (Fasching ist bei DDR-Katholiken irgendwie ein großes Ding, ich weiß auch nicht) und meinte, der "Kreis junger Erwachsener" solle sich mal überlegen, wie er sich an dieser Veranstaltung beteiligen könne und wolle. Da es aber recht offensichtlich war, dass das eher eine Veranstaltung für die Senioren der Gemeinde werden würde, zeigte von den anwesenden Jungen Erwachsenen niemand besonderes Interesse -- und da wurde der vom Naturell her eigentlich sehr joviale Pfarrer streng. Ein Gemeindekreis, der nur für sich selbst da sei und nicht bereit sei, über die eigenen Gruppenaktivitäten hinaus etwas zum Gemeindeleben beizutragen, müsse aufgelöst werden, meinte er. Das war hart, und für einige der Anwesenden erkennbar zu hart, aber im Prinzip fand ich, dass er Recht hatte. "Kreise und Gruppen" innerhalb einer Kirchengemeinde, die ihr jeweiliges Zielpublikum nach Alter, Geschlecht oder sonstigen soziologischen Kategorien sortieren, können eine gute und sinnvolle Sache sein -- aber ihr Ziel muss es sein, ihre jeweiligen Zielgruppen in die Gemeinde hineinzubringen, und nicht, sie von ihr abzuspalten.