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Mittwoch, 6. Dezember 2023

Neues aus Synodalien: "KMU" steht für "kann meinetwegen untergehen"

Wenn die "tagesschau" verkündet "Kirche und Glaube verlieren laut Studie an Bedeutung", dann mag man zunächst geneigt sein zu denken: "Na toll, da wäre ich zur Not auch noch ohne diese Studie drauf gekommen." Wenn dann aber hochrangige Kirchenfunktionäre erklären, sie fühlten sich durch die Ergebnisse der besagten Studie in ihrem Kurs bestätigt, dann muss man sich sagen: Irgend etwas läuft hier falsch. 

Wobei zugegebenermaßen auch das etwas ist, worauf man auch ohnedies hätte kommen können.  

Aber mal der Reihe nach: Bei der Studie, um die es hier geht, handelt es sich um die 6. Kirchenmitgliedschaftsstudie (KMU) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die KMU ist ein religionssoziologisches Langzeit-Forschungsprogramm mit dem Ziel, "durch die Erforschung der Einstellungen und Erwartungshaltungen von Kirchenmitgliedern, aber auch von Ausgetretenen und Konfessionslosen, frühzeitig neue Trends in Bezug auf Religion und Kirche zu erkennen, deren Ursachen zu verstehen sowie kirchliche Handlungsoptionen im Umgang mit diesen Trends auszuloten" (Quelle: Tante Wikipedia). Die erste Datenerhebung im Zuge dieser Langzeitstudie wurde 1972 durchgeführt, weitere Befragungen folgten ungefähr alle zehn Jahre. Jetzt sind wir also in der sechsten Runde dieser Untersuchung, die auf einer im letzten Quartal 2022 durchgeführten Befragung von 5000 "repräsentativ aus der Gesamtbevölkerung ausgewählt[en]" Personen basiert. "Zum ersten Mal wirkte auch die römisch-katholische Kirche, vertreten durch die Deutsche Bischofskonferenz, an der Umfrage mit", wird auf der Website der EKD betont; konkret bedeutet das, dass die Deutsche Bischofskonferenz – wie sie selbst es formuliert – "die Erhebung durch fachliche Expertise und finanzielle Mittel unterstützt" hat.  

Ich will mich hier nicht damit aufhalten, grundsätzliche Zweifel an der Aussagekraft solcher Studien anzumelden oder kritische Anfragen an die Methodik der Untersuchung zu stellen; gehen wir ruhig davon aus, dass die Umfrageergebnisse ein im Großen und Ganzen zutreffendes Bild ergeben. Und wie sieht dieses Bild aus? 

In den Zusammenfassungen der Ergebnisse, die in jüngster Zeit durch die Medien gegangen sind, wird vor allem "eine deutliche Zuspitzung bei den Kirchenaustritten" hervorgehoben: "43 Prozent der Menschen in Deutschland sind bereits konfessionslos, zwei Drittel der evangelischen und drei Viertel [!] der katholischen Kirchenmitglieder neigen zum Austritt." Zugegeben, das sind drastische Zahlen, aber so richtig überraschend ist es, wenn man es recht bedenkt, wohl doch nicht. Es kommt mir so vor, als hätte ich das schon öfter gesagt: Wenn man die Mitgliederzahlen der Großkirchen in Deutschland mit den Zahlen derer vergleicht, die zum Gottesdienst kommen oder sich womöglich noch darüber hinaus irgendwie aktiv am Leben und der Sendung der Kirche beteiligen, dann müsste man sich eher darüber wundern, dass so viele Menschen noch nicht aus der Kirche ausgetreten sind. In vielen Fällen dürfte das kaum tiefere Beweggründe haben als Gewohnheit, Trägheit oder der Wunsch, der frommen Oma keinen Kummer zu machen. Aber diese Faktoren für "Austrittshemmung" verlieren gegenwärtig zusehends an Kraft, und sei es nur, weil die Oma schon gestorben oder aber dement ist und es nicht mehr mitkriegt. Abgesehen von einzelnen Omas gibt es natürlich auch noch den Aspekt der allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz. Noch vor einigen Jahrzehnten wurde ein Kirchenaustritt als gewagter, mindestens aber als Aufsehen erregender Schritt wahrgenommen; das ist heute wohl allenfalls noch in sehr überschaubaren sozialen Milieus der Fall. Je mehr Menschen aus der Kirche austreten, desto mehr erscheint dieser Schritt auch denjenigen als eine plausible Handlungsoption, die bisher noch Kirchenmitglieder sind, aber selbst schon lange nicht mehr so genau wissen, warum sie es noch sind. Kurzum, die Zeit massenhafter Kirchenmitgliedschaft – die Kirchenmitgliedschaft als gesellschaftlicher Normalzustand – ist vorbei, und das ist der Religionssoziologie längst bekannt. Diese Entwicklung wird seit Jahrzehnten in pastoraltheologischen Strategiepapieren diskutiert. Wenn jetzt angesichts der Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung alle lange Gesichter machen, dann offenkundig nur deshalb, weil der Zusammenbruch der massenhaften Mitgliedschaft schneller voranschreitet als erwartet. Mit anderen Worten: Man hatte gedacht oder gehofft, man hätte noch etwas mehr Zeit, sich auf das Unvermeidliche einzustellen

Symbolbild, Quelle: Pixabay

Tendenziell gravierender erscheint es, dass die Studie einen "rapide[n] Rückgang der Religiosität der gesamten Bevölkerung" diagnostiziert. Wobei man da eigentlich fragen müsste, was das überhaupt heißt. Einerseits setzt ein "rapider Rückgang" eigentlich voraus, dass es vorher eine große Religiosität in der Bevölkerung gegeben hätte, und diesen Eindruck hatte ich in meiner Lebenszeit eigentlich noch nie, nicht einmal in meiner Kindheit auf dem Dorfe, ja eigentlich gerade da nicht. Andererseits müsste man hier eigentlich hinterfragen, was Menschen meinen, wenn sie von sich sagen, sie seien "nicht religiös"; was sie möglicherweise dazu motiviert, sich selbst so zu sehen bzw. zu definieren. Und ehrlich gesagt habe ich erhebliche Zweifel, ob eine soziologische Studie über das Instrumentarium verfügt, solchen Fragen vertiefend nachzugehen. 

Weiter heißt es in der Ergebniszusammenfassung auf der EKD-Website: "Zwar spielen die Kirchen nach wie vor eine wichtige und anerkannte gesellschaftliche Rolle in der Wahrnehmung der Menschen – das bezieht sich aber vor allem auf den sozialen Bereich. Außerdem werden von den Kirchen ein angemessenerer Umgang mit Schuld und grundlegende Reformen erwartet." Nun will ich die Forderung nach einem "angemessene[n] Umgang mit Schuld" durchaus nicht kleinreden, aber davon abgesehen fällt es schon sehr auf, dass diese Ergebnisse aus "synodalbewegter" Sicht geradezu "wie bestellt" kommen. Es verwundert daher nicht, wie sehr beispielsweise die "ZdK"-Vorsitzende Irme Stetter-Karp diese Studienergebnisse abfeiert; aber dazu später. Man darf hier indes nicht vergessen, dass es sich hier die Ergebnisse einer Befragung von Menschen handelt, von denen ein großer Teil eingestandenermaßen nicht nur den Glauben der Kirche nicht teilt, sondern ganz allgemein mit Kirche und Religion nicht viel anfangen kann. Wenn man diese Leute trotzdem dazu auffordert, Erwartungen an die Kirche zu formulieren, dann kann dabei eigentlich nicht viel Sinnvolles herauskommen. – Ganz grundsätzlich möchte ich die These wagen: Wenn man Menschen nach ihrer Meinung zu einem Thema befragt, von dem sie nicht viel verstehen und für das sie sich auch nicht besonders interessieren, legen sie oft ein bemerkenswertes Geschick darin an den Tag, zu erspüren, was der Fragesteller von ihnen hören will — ganz ähnlich wie das berühmte Zirkuspferd "Kluger Hans" (ich habe darüber mal etwas für die Tagespost geschrieben). Im Zweifel reproduzieren sie einfach das, was ihnen in den Medien als der vernünftige, moralisch richtige und "zeitgemäße" Standpunkt präsentiert wird.  

Wenn in der Ergebniszusammenfassung sodann die Frage in den Blick genommen wird, wie "Menschen trotz ihres nachlassenden Interesses an explizit religiösen Inhalten auch weiterhin erreicht werden" können, fällt es auf, dass dieses nachlassende Interesse an Religion nicht als ein Problem betrachtet wird, das die Kirchen womöglich selbst mitverschuldet haben und gegen das sie etwas unternehmen müssten, sondern vielmehr als eine Tatsache, die man als unabänderlich hinnehmen und sich auf sie einstellen müsse, etwa indem die Kirchen ihr Angebot der veränderten Nachfragesituation anpassen. "Hier sehen die Autor*innen vor allem Chancen im sozialen Engagement, in der Jugendarbeit, in einer allgemeinverständlicheren Sprache, bei den Kasualien und in vielfältigen Gottesdienst- und Begegnungsformen." 

– Wie schon gesagt, darf man nicht vergessen, dass es sich um eine soziologische Studie handelt. Soziologen wird man wohl kaum einen Vorwurf daraus machen können oder wollen, dass sie in soziologischen Kategorien denken. Aber von hochrangigen Amtsträgern der Kirche – also zum Beispiel Bischöfen – sollte man doch eigentlich erwarten können, dass sie das Wesen und den Auftrag der Kirche nicht allein unter soziologische Kriterien betrachten. Dass ihnen bewusst ist, dass die Kirche von Jesus Christus zu einem klar definierten Zweck und mit einem klar definierten Auftrag gestiftet wurde und dass sie, wenn sie diesen Zweck und Auftrag nicht erfüllt, zu nichts mehr Nütze ist als dazu, "weggeworfen und von den Leuten zertreten zu werden" (vgl. Mt 5,13). – In dieser Hinsicht gibt die Stellungnahme des Bischofs von Mainz, Peter Kohlgraf, der die Ergebnisse der KMU-Studie im Namen der Deutschen Bischofskonferenz kommentiert hat, ein recht gemischtes Bild ab.  

Positiv hervorzuheben ist immerhin, dass Bischof Kohlgraf betont: "Wir verlieren als Christen nicht unseren Auftrag, Zeugen der Hoffnung zu sein, die uns trägt – das Evangelium anzubieten, Menschen dabei zu begleiten, in eine lebendige Christusbeziehung hineinzuwachsen und in ihr zu wachsen." Aber was er damit meint, bleibt doch recht unscharf, und insgesamt wirken diese Passagen erheblich weniger eindringlich und konkret als diejenigen, in denen er sich "dankbar" zeigt, "dass die Institution Kirche gesellschaftlich immer noch eine Rolle spielt", und unterstreicht, die Kirche wolle auch in Zukunft "ein wichtiger Faktor in gesellschaftlicher wie religiöser Hinsicht bleiben". 

Wenn Bischof Kohlgraf einerseits erklärt, die Kirche habe "noch eine Botschaft", gleich darauf jedoch einräumt, "das Evangelium" verliere "für immer mehr Menschen an Lebensrelevanz", und meint, die "zentrale Herausforderung" für die Zukunft sei es, "zu sehen, wie wir diese beiden Größen (die Institution und ihre Botschaft) zueinander entwickeln", dann gilt es zu beachten, dass auch Soziologen und Unternehmensberater den Kirchen nicht etwa raten, ihren Charakter als Religionsgemeinschaften ganz aufzugeben und sich als rein diesseitige Lebenshilfe-Dienstleister neu zu erfinden. Weil das schlichtweg nicht ginge. Die Rede von Gott, die Verwendung von Kommunikationsformen wie Gebet und Segen gehören in dieser Sicht zur "corportate identity" der Kirchen, sie sind Wiedererkennungseffekte, Unterscheidungsmerkmale gegenüber anderen Anbietern auf dem Lebenshilfemarkt, und dafür braucht man sie auch in Zukunft noch. Auch der Pasta-König Guido Barilla war sich, als er 2002 die Bäckereikette Kamps übernahm, einigermaßen im Klaren darüber, dass die Leute in der Bäckerei nicht unbedingt Nudeln kaufen wollen. Das ist aber auch schon so ziemlich alles. Ich will Bischof Kohlgraf nicht unbedingt unterstellen, dass diese Analogie seine Sichtweise widerspiegelt, aber eine klare Aussage dazu, welche der von ihm benannten Größen "Botschaft" und "Institution" für ihn die primäre ist – ob in seinen Augen die Institution um der Botschaft willen da ist oder umgekehrt – ist ihm jedenfalls nicht zu entlocken. 

Bezeichnend ist es in diesem Zusammenhang vor allem, dass Bischof Kohlgraf meint, angesichts der "Situation einer säkularen Mehrheitsgesellschaft" könne es der Kirche "nicht um die Perspektive der kleinen Herde bzw. des heiligen Rests" gehen. Da mag man geneigt sein zu fragen: Warum nicht bzw. was denn sonst? Aber natürlich sind uns solche Abwehrreflexe gegen die Vision einer Kirche, die ihren unvermeidlich scheinenden Schrumpfungsprozess als Aufruf zu innerer Bekehrung und geistlicher Erneuerung begreift, hinlänglich bekannt. Gerade der Bischof von Mainz ist schon öfter mit Äußerungen dieser Art aufgefallen. So erklärte er im Rahmen einer Tagung "Bistümer im epochalen Umbruch" im Januar 2019, die Kirche könne in Zukunft "nicht ein gallisches Dorf, eine Insel der Seligen inmitten einer mobilen Welt" sein; und in einer Predigt zur Eröffnung des Gedenk- und Jubiläumsjahres "1000 Jahre Heribert von Köln" im März 2021 warnte er vor "Tendenzen, von einer kleinen, reinen Herde der Rechtgläubigen zu träumen". Man fragt sich indes, was die Apologeten der Institution Volkskirche – oder besser gesagt, des von der Volkskirche übrig gebliebenen institutionellen Apparats, dem mehr und mehr die Mitgliederbasis abhanden kommt – dieser Vision eigentlich positiv entgegenzusetzen haben. Eine Kirche, die sich ihren Status als gesellschaftlich relevante Institution irgendwie auch ohne eine massenhafte Mitgliederbasis bewahrt, eine Art FDP des vorpolitischen Raums? Wie sollte das funktionieren, und selbst wenn: Wozu sollte das gut sein? Fast könnte man den Verdacht haben, die boshafte Unterstellung, man habe es mit einem elitären Zirkel zu tun, der sich – so Kohlgraf wörtlich! – "schmollend zurückzieht und abschottet" (wie anders hätte die Kirchengeschichte verlaufen können, hätte nur jemand zur rechten Zeit den Christen in den Katakomben des alten Rom gesagt, sie sollten das Schmollen sein lassen!), all die Polemik gegen "Wagenburgmentalität" und "Versektung", diene nicht zuletzt dazu, solche kritischen Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen. 

Gemäß der bewährten Rollenverteilung bleibt es dem "ZdK" vorbehalten, ein Statement abzugeben, das die Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz im direkten Vergleich einigermaßen moderat, ja fast schon "moderat-konservativ" aussehen lässt. "Wir sehen klar, dass der Wandel der Kirche in der postmodernen Gesellschaft nicht schnell und nicht nachhaltig genug gelingt", stellt die Vorsitzende Irme Stetter-Karp fest; mit anderen Worten: Frechheit, dass der Felsen Petri sich im Säurebad der säkularen Postmoderne einfach nicht rückstandsfrei auflösen will. Derweil findet Frau Stetter-Karp es "besonders interessant", dass unter der Mehrheit der Befragten, die "sich selbst als säkular oder eher säkular" beschreiben, "auch Kirchenmitglieder" sind (als hätte irgendwer ernsthaft etwas anderes erwartet): "Für die Kirchen heißt das, zu akzeptieren, dass Religiosität nicht auf den Genen liegt." Schon allein damit, dass sie in diesem Zusammenhang von Genen spricht, offenbart Frau Stetter-Karp einen derart kruden Materialismus, dass sie sich für eine Diskussion über religiöse Phänomene eigentlich von vornherein disqualifiziert; dass sie aus den Ergebnissen der KMU-Studie schlussfolgert, es gebe "keine selbstverständliche Sehnsucht" nach dem Transzendenten, "die jedem Menschen innewohnt", mag man folgerichtig finden oder auch nicht, bemerkenswert ist jedenfalls, dass sie dies aus ihrer Perspektive als "ZdK"-Präsidentin als eine gute Nachricht bewertet: Religion ist den Menschen gar nicht so wichtig, darum sollte auch die Kirche sie nicht so wichtig nehmen und sich lieber auf ihre Rolle "als Kämpferin für Klimaschutz, für Menschenwürde und für sozialen Ausgleich in der Gesellschaft" konzentrieren. 

Eine ganz andere Sicht auf die Ergebnisse der KMU-Studie legt der katholische Publizist und YouCat-Initiator Bernhard Meuser in einem Beitrag auf Facebook dar. Den Ausgangspunkt seiner Anmerkungen stellt der Umstand dar, dass der Studie zufolge "[n]ur noch 27 % der Katholiken [...] für sich einen Kirchenaustritt aus[schließen]" – ein Phänomen, das Meuser als "Kirchenflucht" bezeichnet. Als ursächlich hierfür macht er ein ganzes "Bündel von Problemen" aus: 

"Lange vor der Missbrauchskrise gab es die Kirche als Behörde, das Dabeisein als unverbindliche Mitgliedschaft. Und war da die Langeweile, die routinierte Betreuung, der Ritualismus der 'Sonntagspflicht'." 

Hier unterbreche ich erst einmal, um auf die Absurdität der Tatsache hinzuweisen, dass das "Lager", aus dem solche Kritik am altgewohnten Alltagstrott der gemächlich vor sich hin sterbenden Volkskirche geäußert wird – am "Verwesungsgeruch der Mediokrität", der aus den "Verbandsschubladen" aufsteigt, wie Meuser etwas weiter unten schreibt – in der innerkirchlichen Debatte regelmäßig als das "konservative" etikettiert wird, das "Reformen verhindern" wolle. Das grenzt schon an Gaslighting, finde ich. – Auch auf Bischof Kohlgrafs Polemik gegen die "kleine Herde" bzw. den "heiligen Rest" hat Meuser, ohne direkt auf sie einzugehen, die richtige Antwort parat. Schon seit geraumer Zeit, so meint er, konnte man der "alt und kalt gewordenen Konsumentenkirche" mit ihren "toten Gemeinden" "gläubig mit seinen Kindern nur entkommen konnte durch Flucht ins Charismatische oder Traditionalistische, auf geistliche Inseln, an Sonderorte und in besondere Gemeinschaften, wo man auftankte, um wieder im braven Trott der Volkskirche mitzutrotten". Es sei daher kein Wunder, dass die "Institution" diese "kleinen Fluchten ihrer Mitglieder [...]  als Vorwurf begriff" – und folglich vor ihnen "zitterte": 

"Die Disziplinierung der flüchtenden Intellektuellen, Jungen und Frommen, denen man abwechselnd Restauration ('Die wollen das Heilige!') , Quietismus ('Die beten!'), Eskapismus ('Die sind unpolitisch!') und Fundamentalismus ('Die glauben alles!') nachwarf, scheiterte je länger desto mehr." 

Und nun, da – nicht zuletzt infolge des Missbrauchsskandals – "das ganze System über den Kipppunkt hinaus" sei und "die panischen Bischöfe" sich "in Mehrheit für die Flucht in die diametral falsche Richtung entschieden" haben ("Noch mehr vom Falschen! Noch gründlicher die Spuren verwischen! Noch kernloser verkündigen! Noch geringere Ansprüche an sich selbst! Noch mehr Bürokratie! Noch mehr Verweltlichung! Noch weniger Identität!"), 

"ginge es heillos gegen die Wand, gäbe es die verachteten Ränder der Kirche nicht, in denen unverdrossen geglaubt, freifinanziert geliebt, unbezahlt angebetet, gläubig gelehrt, sakramental gelebt und das Gotteslob in neuen Liedern dargebracht wird". 

(Nochmals zwischengefragt: Klingt das "konservativ"?) 

"Fern vom Getue der Unverzichtbaren sammeln sie sich: die Jungen, die Frommen, die Intellektuellen. Und sind hoffentlich noch da, wenn die ZDK-Kirche und der laikale Apparat seine Insolvenz eingestanden hat." 

Das Stichwort "Insolvenz" kann man hier sowohl im buchstäblichen, also finanziellen Sinne als auch metaphorisch, im Sinne eines geistig-moralischen Bankrotts, verstehen; und es ist noch nicht gesagt, was von beidem zuerst eintritt. – Wir wissen, dass Christus der Kirche, die auf dem Felsen Petri gegründet ist, zugesagt hat, die Pforten der Hölle würden sie nicht überwältigen. Die Geschichte der letzten 2000 Jahre hat indes gezeigt, dass diese "Bestandsgarantie" nicht zwingend für die konkrete Sozialgestalt und Organisationsstruktur der Kirche in einer bestimmten Weltgegend in einer bestimmten historischen Epoche gilt. Und es liegt auf der Hand, dass diese Zusage erst recht nicht für den Fall gilt, dass Kirchenfunktionäre in dem Versuch, die Institution zu retten, Glaubensgut und Verkündigungsauftrag über Bord werfen. Wenn die aktuellen Entwicklungen sich fortsetzen, liegt es durchaus im Bereich des Möglichen, dass wir noch in unserer Lebenszeit den totalen Zusammenbruch der institutionellen Strukturen der Kirche in unserem Land sehen werden. Das ist, wenn es so kommt, kein Grund zum Verzweifeln, denn die Kirche Jesu Christi wird, wie sie es immer getan hat, andere Wege finden, um zu überleben und weiterzuwirken – an den Rändern, in den Nischen, notfalls in der Wagenburg, im Untergrund. Gleichwohl sollte man sich bewusst sein, dass in einem solchen Zusammenbruch nicht für vieles Überflüssige und sogar Schädliche, das es heute in der institutionellen Kirche gibt, untergehen wird, sondern auch Manches, das es wert wäre, bewahrt zu werden. Die obige Aussage, ein totaler Kollaps der kirchlichen Strukturen sei aus gläubiger Perspektive "kein Grund zum Verzweifeln", wäre somit zu ergänzen um die Klarstellung, dass er andererseits aber auch nichts ist, was man herbeisehnen oder gar – im Sinne des Diktums Nietzsches, "was fällt, das soll man auch noch stoßen"aktiv fördern sollte. 

Warum erscheint mir diese Klarstellung notwendig? – Bernhard Meuser spricht davon, dass der Kurs der "Majorität der Bischöfe", mit dem sie "noch vor dem kompletten Absaufen das rettende Ufer allgemeiner Wertschätzung erreichen" zu können hofften, in Wirklichkeit nur dazu geführt habe, "beide Lager zugleich, die Traditionalisten wie die Utopisten", zu verprellen: 

"Die eilen nun alle zum Standesamt, um ihren Kirchenaustritt zu erklären - und zwar wegen der jeweils 'Anderen'. Die einen, weil sie nicht finanzieren wollen, wie man mit bischöflichem Beistand gerade die Kirche kaputtmacht, die anderen, weil man ihnen eine Kirche versprach, die es nie geben wird. Wenn das jemals 'Strategie' war, was sich die Strategen des Synodalen Weges ausgedacht haben, dann war es die blödeste Strategie der Welt." 

Hier klingt ein sehr bedenkliches Phänomen an, nämlich die wachsende Zahl gläubiger Katholiken, die gerade darum, weil sie gläubige Katholiken sind, erwägen, aus der Kirche auszutreten: weil sie in der Körperschaft öffentlichen Rechts, die innerhalb Deutschlands die katholische Kirche zu verkörpern beansprucht, immer weniger die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche wiedererkennen, zu der sie sich im Credo bekennen, und weil sie diese Körperschaft auch nicht mit ihren Steuern mitfinanzieren wollen. Ich habe in meinem "erweiterten persönlichen Umfeld" – sowohl online als auch vor Ort – von so einigen Leuten gehört, die sehr ernsthaft über diesen Schritt nachdenken. Ich kann nur sagen, ich rate davon ab. Man kann noch so ehrlich überzeugt sein, dass die Mitgliedschaft in der kirchensteuerfinanzierten Körperschaft öffentlichen Rechts und die Zugehörigkeit zur Kirche als dem Mystischen Leib Christi zwei verschiedene Dinge seien, und noch so entschlossen, mit dem standesamtlichen Kirchenaustritt nur die erstere und nicht die letztere aufzukündigen: Die Gefahr, dass unmerklich eben doch das eine in das andere übergeht, dass der Versuch, getrennt von der verfassten Kirche sein Christsein zu bewahren, schließlich also doch auf die Gründung einer Ein-Personen-Sekte hinausläuft, in der man sein eigener Papst ist, ist ausgesprochen real. --- Natürlich ist es letztlich eine Gewissensentscheidung. Aber wenn mich jemand um meinen Rat fragt, sage ich: Ich würd's nicht tun. Ich würde vielmehr empfehlen, "die Anderen" austreten zu lassen, die "Progressiven", die "Maria 2.0"-Leute, die Leute, denen die Selbstdemontage der institutionellen Kirche immer noch nicht schnell genug geht. Und dann die Lücken zu nutzen, die sich durch diese Austritte auftun. Sich an der Basis, in den Pfarrgemeinden einbringen, besonders an solchen Stellen, an denen man langfristig nachhaltigen Einfluss ausüben kann: in der Kinderkatechese, in der Jugendarbeit, der Familienarbeit. Das wären – neben der Öffentlichkeitsarbeit, die auf Pfarreiebene allerdings ein undankbares Feld sein kann – die Arbeitsbereiche, die mir einfallen würden; es gibt sicherlich noch weitere, je nach Charismen und Interessen des Einzelnen. 

Derweil gilt es im Blick zu behalten, dass es – wie Papst Benedikt XVI. in seiner Freiburger Konzerthausrede betonte – bei der "Entweltlichung" der Kirche nicht darum gehen darf, "eine neue Taktik zu finden, um der Kirche wieder Geltung zu verschaffen. Vielmehr gilt es, jede bloße Taktik abzulegen". Einschätzungen darüber, was die Kirche tun oder unterlassen müsse, damit nicht "noch mehr Leute austreten", hört man ebenso aus dem "konservativen" wie aus dem "progressiven" Lager; so weit die jeweiligen Vorstellungen hierzu inhaltlich auseinandergehen, steckt doch in beiden Fällen dasselbe Denkmuster dahinter, und das ist eben falsch. Als Christus infolge seiner "Brotrede" in der Synagoge von Kafarnaum (Joh 6,22-59) einen Großteil Seiner Anhänger verlor, dachte Er nicht über Strategien nach, wie Er sie zurückgewinnen könnte; stattdessen wandte er sich an den engsten Kreis Seiner Jünger und fragte: 

"Wollt auch ihr weggehen?" 

Ich empfehle jedem, der mit dem Gedanken spielt, um des Glaubens willen aus der Kirche auszutreten, zur Eucharistischen Anbetung zu gehen, sich vom Herrn anschauen zu lassen und sich diese Frage stellen zu lassen. 


Hinweis in eigener Sache: Dieser Artikel erschien zuerst am 1.12. auf der Patreon-Seite "Mittwochsklub". Gegen einen bescheidenen Beitrag von 5-15 € im Monat gibt es dort für Abonnenten neben der Möglichkeit, Blogartikel bis zu einer Woche früher zu lesen, auch allerlei exklusiven Content, und wenn das als Anreiz nicht ausreicht, dann seht es als solidarischen Akt: Jeder, der für die Patreon-Seite zahlt, leistet einen Beitrag dazu, dass dieser Blog für den Rest der Welt kostenlos bleibt! 

Samstag, 2. Dezember 2023

Creative Minority Report Nr. 6

Wir sagen euch an den lieben Advent, Muchachos! Ich weiß nicht, wie's bei euch zu Hause aussieht, aber hier ist seit Montagabend Winter Wonderland; da wird einem schon recht weihnachtlich zumute, und tatsächlich sind es ja nur noch gut drei Wochen bis zum Hochfest der Geburt des Herrn. Es steht allerdings zu erwarten, dass es ereignisreiche Wochen werden; hier also der neueste Stand der Ereignisse! 

Was bisher geschah 

Der Einstieg in die letzte Woche des Kirchenjahres gelang uns gut, indem wir am Vorabend von Christkönig ins Baumhaus gingen, zur letzten Community Networking Night des Jahres; darauf möchte ich weiter unten etwas ausführlicher eingehen, ebenso wie auf den Kinderwortgottesdienst zu Christkönig in St. Joseph Siemensstadt. Am Montag konnte das Tochterkind endlich wieder in die Schule gehen, und am Nachmittag war mal wieder "Omatag". Am Dienstag rutschte das Tochterkind beim Verlassen der Schule auf Glatteis aus und erlitt eine Platzwunde am Kinn, die in der Unfallambulanz genäht werden musste, tags darauf mussten wir zur Nachkontrolle, wodurch der Jüngste und ich es erneut nicht zur Werktagsmesse in Heiligensee schafften (ob man uns wohl schon vermisst?). Zum JAM gingen wir aber trotz aller Widrigkeiten, und dieser Umstand gibt mir Gelegenheit, endlich einmal die schon in der Vorschau auf die neue Wochenbriefing-Reihe angekündigte Rubrik "Auf der anderen Straßenseite" einzuführen. – Am Donnerstag, dem Fest des Apostels Andreas, machte ich endlich mal wieder mit dem Jüngsten – auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin – eine spontane Lobpreisandacht ("Beten mit Musik") in St. Joseph Tegel; das war super, ich hoffe, wir kriegen das in Zukunft wieder öfter hin. Am gestrigen Freitag war abends Ehemaligentreffen in der Schule, an der meine Liebste arbeitet; eigentlich wollte sie da mit den Kindern hin, aber die Kinder fanden, ich solle auch mitkommen. Es war auch gar nicht schlecht dort, nur die Musikauswahl veranlasste mich, laut darüber nachzudenken, ob ich mich für die nächste Veranstaltung dieser Art nicht als DJ bewerben solle; einige Kolleginnen meiner Liebsten befürworteten das. (Darauf, was ich an der Playlist bei diesem Ehemaligentreffen, sagen wir mal, verbesserungswürdig fand, komme ich ggf. nächsten Woche oder an anderer Stelle zurück.) 

Davon abgesehen hatte ich, wie erwartet, einiges mit den Vorbereitungen zum bevorstehenden Familiengottesdienst zum 1. Advent zu tun, bei dem mir die Verantwortung für die Musikauswahl zugefallen war. Oder vielleicht wäre es richtiger, von einer "Mitverantwortung" zu sprechen. Wie dem auch sei, es hat sich als notwendig erwiesen, einige pragmatische Kompromisse einzugehen, was das musikalische Konzept für diesen Gottesdienst angeht; darauf werde ich im nächsten Wochenbriefing wohl noch ausführlicher eingehen. Heute Vormittag hätte zudem Wichtelgruppentreffen sein sollen, aber aufgrund diverser Krankheitsfälle in den Familien der Teammitglieder entschieden wir uns kurzfristig dazu, es ausfallen zu lassen – in der Hoffnung, dass wir morgen zum Familiengottesdienst alle wieder fit sind. 


Was ansteht 

Für heute Nachmittag hatten wir geplant, mit der ganzen Familie (einschließlich meiner Schwiegermütter) zu einem Wintermarkt auf dem Nettelbeckplatz im Wedding zu gehen; aber angesichts eines Anfalls von Männergrippe habe ich mich doch dafür entschieden, zu Hause zu bleiben. Die Option, stattdessen zur ersten Ausgabe des neuen Jugendgottesdienst-Formates der Pfarrei St. Klara Reinickendorf-Süd zu gehen, hat dich damit so oder so erledigt – obwohl die mich ja durchaus auch interessieren würde (nicht zuletzt, weil aus dem Zelebrationsplan der Pfarrei hervorgeht, dass Pater Mephisto diesem Gottesdienst vorsteht). Morgen ist dann wie gesagt der mit Spannung erwartete Familiengottesdienst zum 1. Advent. Am Mittwoch ist Nikolaustag, und da gibt es in St. Joseph Siemensstadt am frühen Abend eine Nikolausfeier –  es wäre sicher schön, da mit den Kindern hinzugehen, allerdings kollidiert sie zeitlich mit dem JAM; da werden wir uns also gründlich überlegen müssen, wo wir hingehen. 

Letztes Jahr war ich bei der Nikolausfeier in Siemensstadt selbst der Nikolaus.

Für den Rest der Woche steht bisher nichts Besonderes im Terminkalender; da heißt es also offen für Überraschungen sein. 


Eine Ode an das "Baumhaus", wieder mal 

Ich erwähnte es schon: Nachdem sich das Befinden des Tochterkindes im Laufe des Samstags langsam, aber stetig gebessert hatte, fanden wir gegen Abend, wir könnten ruhig ins Baumhaus gehen; die Kinder wollten das auch. (Ich finde es, nebenbei bemerkt, immer wieder erstaunlich, wie gern unsere Kinder dort hingehen, obwohl nur sehr selten andere Kinder dort sind.) Wir waren kaum angekommen, da kamen wir auch schon mit einem sehr netten Afro-Franzosen (ist das die politisch korrekte Bezeichnung?) ins Gespräch, der meinte, er habe das Gefühl, uns zu kennen, könne sich aber nicht erinnern, woher (wir konnten es auch nicht). Beim Essen (es gab zwei verschiedene Suppen, allerlei Ofengemüse und zum Nachtisch veganen Milchreis mit Bratäpfeln) saß er neben unserem Jüngsten und machte unermüdlich Späße mit ihm; als die Kinder zwischendurch einmal das Obergeschoss des Baumhauses besichtigten und, als sie zurückkamen, unser neuer Freund nicht am seinem Platz war, weil er sich gerade am Büffet Nachschlag holte, fragte unser Jüngster prompt: "Wo lustiger Mensch?" 

Im Gespräch mit dem "lustigen Menschen" kamen wir übrigens darauf, dass unser erster Besuch bei der "Community Networking Night" im Baumhaus bereits fast viereinhalb Jahre zurückliegt. Damals, in jenen mythischen Zeiten "vor Corona", von denen wir dereinst noch unseren Enkeln erzählen werden, fand dieses Veranstaltungsformat jede Woche statt, und wie meine damaligen Wochenbriefings dokumentieren, hatten wir rund einen Monat lang Woche für Woche den Vorsatz, da mal hinzugehen, ehe wir es endlich wirklich zum ersten Mal schafften. 

Dazu, was ich am Baumhaus so toll finde, habe ich schon Anfang 2020 einen ganzen Artikel verfasst, und dazu, was am Konzept der dortigen Community Networking Night vorbildlich für ähnliche Veranstaltungsformate auch im kirchlichen Rahmen (wie unser "Dinner mit Gott") sein könnte, sogar fast ein weiteres halbes Jahr vorher. Was ich da bereits geschrieben habe, müsste ich hier vielleicht nicht unbedingt wiederholen; aber noch einmal besonders akzentuieren möchte ich einige meiner damaligen Aussagen doch

Fangen wir mal damit an, was ich im Herbst 2019 als Aufhänger für den Artikel zur Community Networking Night verwendet habe, nämlich die Aussage, dass das Baumhaus einfach ein zauberhafter Ort sei; das gilt heute sogar eher noch mehr, da die Innenraumgestaltung seither erhebliche Fortschritte gemacht hat. 



Das Obergeschoss z.B. gab es "vor Corona" schlichtweg überhaupt noch nicht.

Demnächst soll noch ein vertikaler Garten hinzukommen. – Jedenfalls bin ich zutiefst überzeugt davon, dass das Ambiente des Raums entscheidenden Anteil daran hat, was für Leute dort hingehen und was für eine Stimmung sich unter ihnen entfaltet. 

Dass es in der Community Networking Night im Baumhaus immer wieder so bemerkenswert gut gelingt, Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und Interessenschwerpunkten buchstäblich "an einen Tisch" und miteinander ins Gespräch zu bringen, hat zweifellos viel damit zu tun, dass hier ein ganzheitliches Verständnis jenes "sozial-ökologischen Wandels" gepflegt wird, den dieser Projektraum laut Eigenbeschreibung anstrebt. Das ist ja nicht gerade selbstverständlich. Ich habe den Eindruck, besonders in neuerer Zeit trifft man in ökologisch bewegten Kreisen häufig auf ein ausgeprägt technokratisches Denken – etwa in Form der Idee, es gehe darum, wissenschaftliche Erkenntnisse (z.B. über Klimawandel) mittels politischer Maßnahmen in ökonomisches Handeln umzusetzen – oder auf eigentümlich obsessive Kausal- und Schuldverknüpfungen à la "Der Klimawandel ist schuld an der Flüchtlingskrise; Frauen, PoC und LGBT-Personen leiden am meisten unter dem Klimawandel, d.h. klimaschädigendes Verhalten ist rassistisch, sexistisch und homophob". Okay, ich schweife ab. Der ganzheitliche Ansatz des Baumhauses findet seinen Ausdruck in den Akronym PEACES – dessen einzelne Buchstaben für "personal", "ecological", "aesthetic", "cultural", "economic" und "social" stehen. Man beachte, dass das P nicht für "politisch" steht; das S allerdings auch nicht für "spirituell", obwohl das zweifellos auch seine Berechtigung hätte. Der Vorstellung bzw. Erläuterung dieser PEACES-Philosophie war im Sommer 2021 im Rahmen des Emergent Berlin Festivals eine Reihe von Vorträgen und Workshops gewidmet; ich war zwar nur bei zwei dieser Veranstaltungen, aber besonders die erste, ein "Teach-In" mit Baumhaus-Co-Initiator Scott Bolden unter dem Titel "Dynamic Balance and the Inner Commons", empfand ich als sehr grundlegend für das Verständnis von "Community Building", das die Veranstaltungen im Baumhaus prägt. Ausgangspunkt des Konzepts ist, wie ich schon damals notierte, 

die Frage [...], wie Menschen mit unterschiedlichen Interessen, unterschiedlichen Überzeugungen, unterschiedlichem kulturellen Hintergrund, unterschiedlichem Glauben etc. sich dennoch verständigen, Konflikte vermeiden und konstruktiv für das Gemeinwohl zusammenarbeiten können. 

Der Schlüssel hierzu liegt nach Scotts Überzeugung in einem Fundus menschlicher Grunderfahrungen, die er die "Inner Commons" nennt: Erfahrungen, die unausweichlich zur conditio humana gehören wie z.B. "Neugier", "Angst/Vorsicht", "Anwenden von erlerntem Wissen", "Anzweifeln von Autorität". Man könnte, wenn man denn wollte, an die berühmten Anfangsworte der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils über die Kirche in der Welt von heute, "Gaudium et Spes", denken: 

"Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute [...] sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände." 

Weniger hymnisch formuliert, könnte man beispielsweise sagen: Die Erfahrung, für die Dinge einzustehen, an die man glaubt und die einem am Herzen liegen, kann auch dann eine Verbindung zwischen Menschen, einen Ansatzpunkt für Verständigung und Kooperation herstellen, wenn die Dinge, an die diese Menschen glauben und die ihnen am Herzen liegen, unterschiedliche sind. – Vor ein paar Monaten habe ich Scott mal gefragt, was eigentlich aus seinen Plänen geworden sei, ein Buch zu den Themen seines "Teach-Ins" zu veröffentlichen; seine Antwort lautete, er arbeite daran, und er stellte für Mitte November, anlässlich des elfjährigen Bestehens des Baumhauses, eine Bekanntmachung in dieser Sache in Aussicht. Dieser Termin ist ja nun inzwischen verstrichen, aber ich muss auch gestehen, dass ich diese Ankündigung inzwischen wieder vergessen hatte und Scott daher auch nicht nochmals darauf angesprochen habe. Wie auch immer: Wenn das Buch herauskommt, würde ich es gern rezensieren. 


Um aber noch einmal auf das Stichwort "spirituell" zurückzukommen: Ein fester Programmpunkt dieser Community-Abende im Baumhaus, an dem ich gleichwohl noch nie teilgenommen habe – und viele andere Gäste ebensowenig –, heißt "FLOW – A Social Meditation". Praktisch jedesmal weist Scott während der "News You Can Use"-Runde auf dieses Meditationsangebot hin und fragt, wer von den Anwesenden daran Interesse habe; oft melden sich daraufhin zwei oder drei Personen, selten mehr. Manchmal meldet sich niemand, dann findet die Meditation nicht statt. Sind Personen anwesend, die schon mal an einer solchen Meditation teilgenommen haben, dann versichern diese durchweg, was für eine tolle Erfahrung das sei; gleichwohl wird es problemlos toleriert, dass regelmäßig die große Mehrheit der Anwesenden kein Interesse daran zeigt. Ich erwähne das, weil ich die vage Ahnung habe, genau diese Haltung könnte vorbildlich für eine Neuauflage des "Dinners mit Gott" sein – insofern, als sie es ermöglichen könnte, das "Dinner" zwar mit explizit religiösen Elementen wie z.B. "Lobpreis mit dem Stundenbuch" zu verbinden, aber gleichzeitig dafür Sorge zu tragen, dass die Veranstaltung auch für Besucher, die für solche Formen von Spiritualität (noch?) nicht zugänglich sind, "niederschwellig" bleibt. 


– Moment mal: Habe ich da gerade von einer Neuauflage des "Dinners mit Gott"  gesprochen? – Nun, es ist nicht so, als gäbe es da schon irgendwelche konkreten Pläne. Aber ich möchte doch festhalten, dass mir dieser Abend im Baumhaus erhebliche Lust darauf gemacht hat, ein Projekt dieser Art in nicht allzu ferner Zukunft neu in Angriff zu nehmen... 


Schwarzer Gürtel in KiWoGo 

Am vergangenen Sonntag war Christkönig, und zu diesem Anlass war in St. Joseph Siemensstadt Kinderwortgottesdienst – der zweite, seit das neue KiWoGo-Team die Arbeit aufgenommen hat, und schon jetzt zeigt sich der durchaus erwünschte Effekt, dass die Zusammensetzung des Teams zu einer gewissen Pluralität von Stilen und Methoden führt. Den Oktober-KiWoGo hatte ich gemeinsam mit dem Gemeindereferenten konzipiert und geleitet, jetzt an Christkönig übernahm ein junges Ehepaar die Gestaltung, das meines Wissens in der Neokatechumenalen Gemeinschaft aktiv ist. Als eine nicht unbeträchtliche Herausforderung erwies es sich, dass rund zwanzig Kinder in einem Altersspektrum von grob geschätzt zwei bis zwölf Jahren zur Messe erschienen und für den KiWoGo nur das kleine Pfarrzimmer zur Verfügung stand, da im großen Pfarrsaal der Sozialdienst Katholischer Männer (SKM) Suppe kochte. Trotz dieser schwierigen Bedingungen würde ich diesen KiWoGo als gelungen bezeichnen: Zunächst gab es in kindgerechter Sprache einige Erläuterungen zum Inhalt und zur Entstehungsgeschichte des Hochfests Christkönig, dann wurde das Tagesevangelium vorgetragen – und zwar nicht in einer auf Kinder zugeschnittenen Version, sondern in demselben Wortlaut,, den auch die Erwachsenen zu hören bekamen. Anschließend wurden einige zentrale Punkte herausgegriffen und auf kindgerechtem Niveau ausgedeutet, und dann durften die Kinder Kronen basteln – weil sie als Kinder Gottes schließlich allesamt Königskinder seien. 



Ein kleiner Wermutstropfen war es für mich, dass ich durch die Teilnahme am Kinderprogramm eine wahrscheinlich brillante Predigt des Pfarrvikars versäumt habe, aber man kann eben nicht immer alles  haben. Der nächste KiWoGo in St. Joseph Siemensstadt ist übrigens erst für Ende Januar geplant; einen Termin für das nächste Arbeitsgruppentreffen gibt es meines Wissens noch nicht. 


Auf der anderen Straßenseite 

Ich muss mal ein bisschen angeben: Ich bin ziemlich stolz auf diese Rubrikenüberschrift, die ich im Vorfeld des Starts der neuen Wochenbriefing-Reihe "Creative Minority Report" ausgeheckt habe, aber in der aktuellen Folge erstmals wirklich benutze. Sie bezieht sich einerseits darauf, dass die EFG The Rock Christuskirche in Berlin-Haselhorst, von der benachbarten katholischen Kirche St. Stephanus aus gesehen, tatsächlich "auf der anderen Straßenseite" liegt, andererseits aber auch darauf, dass sie – und das, was mich im Rahmen meines Blogs an ihr interessiert – auch in konfessioneller Hinsicht eine "andere Seite" repräsentiert. – Das auf Kinder bis zum Alter von 12 Jahren zugeschnittene Veranstaltungsformat "JAM" ("Jungschar am Mittwoch"), das wir mit unseren Kindern seit wohl ca. eineinhalb Jahren ziemlich regelmäßig besuchen, habe ich schon häufig erwähnt, bin aber, wie mir scheint, nur selten näher darauf eingegangen. Okay, den grundsätzlichen Aufbau bzw. Ablauf so eines JAM-Nachmittags habe ich schon in den Ansichten aus Wolkenkuckucksheim Nr. 21 geschildert und dann nochmal in der Nr. 43; aber insbesondere was den katechetischen Anteil der Veranstaltung angeht, denke ich, da kann und darf man ruhig mal etwas mehr ins Detail gehen. 

Halten wir zunächst fest: Das primäre Ziel der Katechesen beim JAM ist es offenkundig, dass die Kinder die Bibel kennenlernen (ein beliebtes Lied zur Eröffnung ist daher "Ich bin ein Bibelentdecker"). Im Wesentlichen dreht sich also alles um ausführliche Nacherzählungen biblischer Geschichten – so ausführlich, dass sich eine Geschichte (z.B.: Die Arche Noah; Davids Aufstieg zum König; Jona; Daniel am Hof des Königs von Babel; Esther; im Moment ist gerade die Geschichte von Josef und seinen Brüdern dran) meist über mehrere Wochen hinzieht, wobei nach Möglichkeit jede wöchentliche Episode mit einem "Cliffhanger" endet; man will die Kinder ja motivieren, nächste Woche wiederzukommen. 

In der Regel werden die Kinder für diese Katechesen in zwei Gruppen eingeteilt, und zwar ihrem Alter entsprechend: Es gibt eine Gruppe für Kinder bis ca. 6 Jahre und eine für die Älteren (von denen zumeist erheblich mehr da sind). Im Vergleich zu dem Programm für die "Kleinen" scheint das für die "Großen" tendenziell interaktiver (z.B. mit Rollenspielelementen angereichert) und multimedialer zu sein, aber allzu viel kann ich dazu nicht sagen, da meine Kinder ja beide noch zur Gruppe der "Kleinen" gehören. Hin und wieder kommt es aber vor, dass für ein separates Angebot für die "Kleinen" keine Mitarbeiter verfügbar sind oder dass aus der Altersgruppe der "Kleinen" so wenige Kinder da sind, dass es nicht sinnvoll erscheint, die Gruppe zu teilen; dann gibt es ein gemeinsames Programm für alle Kinder. Zuletzt war das einmal vor den Herbstferien der Fall, als es um das Buch Esther ging; und da wurde eine Folge aus der Zeichentrickserie "Superbuch" gezeigt. Meiner Liebsten, die währenddessen im Elterncafé war, erläuterte ich das Konzept der Serie anschließend wie folgt: "Das ist ungefähr so wie SimsalaGrimm, nur mit der Bibel statt mit Grimms Märchen." – "Wie geil", erwiderte meine Liebste spontan. – "Ja, aber dazu gibt es eine Rahmenhandlung, in der die Hauptfiguren einen Gewissenskonflikt haben, und die biblische Geschichte, in die sie hineinversetzen werden, hilft ihnen dabei, in ihrem wirklichen Leben die richtige Entscheidung zu treffen." – "Wow." - - - Wie ich inzwischen herausgefunden habe, gibt es zahlreiche Folgen dieser Serie online, und wir haben uns vorgenommen, sie auch mal zu Hause anzuschauen; wenn wir mal dazu kommen, d.h. wenn die Kinder die ihnen pro Tag bewilligte Fernsehzeit nicht komplett mit "Paw Patrol" und "My Little Pony" aufbrauchen... 

Währenddessen in der Wesermarsch 

Wie ist derweil eigentlich der Stand der Dinge in der Pfarrei St. Willehad in meinem Heimatstädtchen Nordenham? Nun, man könnte sagen, die größte Neuigkeit ist, dass es nichts Neues gibt. Und das gibt zu denken: Immerhin steht seit der Pressemitteilung des Bischöflich Münsterschen Offizialats vom 23. November der Verdacht im Raum, die Verantwortlichen der Pfarrei hätten die Presse und damit die Öffentlichkeit wissentlich falsch informiert, was den Stand des kirchenrechtlichen Verfahrens gegen den neuen Aushilfspriester Michael Kenkel angeht; man könnte auch einfach lügen dazu sagen. Da wäre doch eigentlich zu erwarten, dass die Pfarrei ein Interesse daran haben müsste, zu diesem Vorwurf Stellung zu nehmen; stattdessen hüllt man sich einfach in Schweigen. In den Pfarrnachrichten für die erste Dezemberhälfte wird P. Kenkel unter der im Bistum Münster üblichen Amtsbezeichnung "Pastor" als Mitglied des Pastoralteams aufgeführt und hat neben Pfarrer Jasbinschek und Diakon Richter auch das (arg banale) Advents-Grußwort mitunterzeichnet; eine Richtigstellung der fehlerhaften Angaben zu seiner Person in der vorigen Ausgabe sucht man vergeblich. Auf der Facebook-Seite von St. Willehad erschien, nachdem der Beitrag über P. Kenkels erste Messe in Burhave stillschweigend gelöscht worden war, erstmals am 29. November wieder ein Update – nämlich ein Aufruf an "Kinder ab dem 3. Schuljahr, Jugendliche und auch Erwachsene" zur Teilnahme an der anstehenden Sternsingeraktion. Klar, auch ein wichtiges Thema. Aber glauben der Pfarrer, der Diakon und die sonstigen Mitarbeiter und Gremienvertreter der Pfarrei wirklich, sie könnten in der Causa Kenkel so tun, als wäre nichts gewesen, und einfach zur Tagesordnung übergehen? – Zu allem Übel hat die Website der Pfarrei offenkundig ein Problem mit ihrem Sicherheitszertifikat: Seit nunmehr einer Woche erhält man, wenn man die Seite aufrufen will, den Warnhinweis, es handle sich um "keine sichere Verbindung". – "Mögliche Gründe sind eine fehlerhafte Konfiguration oder ein Angreifer, der deine Verbindung abfängt." Dasselbe Problem trat zeitweilig auch bei der Website der benachbarten Pfarrei St. Marien Brake auf, die ja gerade ihren eigenen Skandal hat; da fällt es ein bisschen schwer, das für Zufall zu halten. 

Derweil scheint sich auch bei der lokalen Presse das Interesse an den Vorgängen in den katholischen Gemeinden der Wesermarsch eher in Grenzen zu halten. Ich verfolge sehr aufmerksam die Updates auf den Facebook-Seiten der Kreiszeitung Wesermarsch sowie der Wesermarsch-Lokalredaktion der Nordwest-Zeitung, aber da geht's immer nur um Handball, Volleyball und Friesensport, um die Rodung des Nordenhamer Strandwaldes, um Energiekosten, Weservertiefung und fehlende KiTa-Plätze, Weihnachtsmärkte und plattdeutsches Laientheater. – Sicherlich darf man nicht unterschätzen, zu welchem Grad der Berufsalltag eines Lokalredakteurs darin besteht, eingehende Pressemitteilungen nach Relevanz zu sortieren und so zu kürzen und umzuformulieren, dass sie auf die Seite passen. Für investigativen Journalismus bleiben da keine großen Kapazitäten. Hinzu kommt wohl, dass die katholischen Gemeinden in der seit 500 Jahren evangelisch-lutherisch geprägten Wesermarsch weithin immer noch als eine "Welt für sich" betrachtet wird, für die die breite Öffentlichkeit sich nicht interessiert. Über Interna aus den örtlichen Moscheegemeinden wird schließlich auch nicht (bzw. noch weniger) berichtet. 

(P.S.: Kurz vor dem Redaktionsschluss für dieses Wochenbriefing erreicht mich die Information, dass die Nordwest-Zeitung einen Leserbrief abgedruckt hat, der für P. Kenkel Partei ergreift und den Umgang des Bistums mit ihm kritisiert; aber darauf kann ich hier und jetzt nicht mehr eingehen, das wird bis zu einer zukünftigen Gelegenheit warten müssen.) 


Geistlicher Impuls der Woche 
Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf. Du erregst lauten Jubel und schenkst große Freude. Man freut sich in deiner Nähe, wie man sich freut bei der Ernte, wie man jubelt, wenn Beute verteilt wird. Denn wie am Tag von Midian zerbrichst du das drückende Joch, das Tragholz auf unserer Schulter und den Stock des Treibers. Jeder Stiefel, der dröhnend daherstampft, jeder Mantel, der mit Blut befleckt ist, wird verbrannt, wird ein Fraß des Feuers. 
Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter; man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens. Seine Herrschaft ist groß und der Friede hat kein Ende. Auf dem Thron Davids herrscht er über sein Reich; er festigt und stützt es durch Recht und Gerechtigkeit, jetzt und für alle Zeiten. Der leidenschaftliche Eifer des Herrn der Heere wird das vollbringen. 

Ohrwurm der Woche 

Paul Westerberg: Waiting for Somebody 

Der 1959 geborene Paul Westerberg ist seit Ende der 70er Jahre als Sänger, Gitarrist und Songwriter in der Punk- bzw. Alternative-Rock-Szene aktiv, aber der wohl bedeutendste Moment seiner Karriere war es, dass er den Soundtrack zu Cameron Crowes Spielfilm "Singles" aus dem Jahr 1992 zusammenstellen durfte. Wer wollte es ihm verübeln, dass er dabei auch zwei seiner eigenen Songs (diesen hier und "Dyslexic Heart") unterbrachte. 

Den Film "Singles" habe ich seinerzeit im Kino gesehen und später noch mindestens ein weiteres Mal im Fernsehen oder auf Video. Es handelt sich um einen Episodenfilm, in dem die einzelnen Episoden jedoch nicht nacheinander, sondern ineinander verschachtelt erzählt werden – wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, war das damals ziemlich innovativ, wurde im weiteren Verlauf der 90er dann aber immer häufiger. Vor allem aber markiert der Film den Punkt, an dem die aus der Alternativ-Szene der US-Westküstenmetropole Seattle (in der der Film spielt) hervorgegangene Musikrichtung Grunge im popkulturellen Mainstream ankam. Dazu trug neben Westerbergs Soundtrack vor allem der Umstand bei, dass in einem der drei Haupthandlungsstränge der Sänger einer fiktiven Grunge-Band namens Citizen Dick eine bedeutende Rolle spielte; der Sänger wurde von Matt Dillon verkörpert, seine Bandkollegen jedoch von echten Grunge-Musikern: Jeff Ament und Stone Gossard, die erst bei Green River, dann bei Mother Love Bone und schließlich bei Pearl Jam spielten, sowie Pearl Jam-Sänger Eddie Vedder als Schlagzeuger. Den Film fand ich nett, aber das Soundtrack-Album finde ich von vorne bis hinten brillant. Ich hatte sogar schon einmal, in der Karwoche 2020, einen Song von dieser Platte zum Ohrwurm der Woche ernannt, nämlich "State of Love and Trust" von Pearl Jam


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Mittwoch, 29. November 2023

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 18

Salvete, liebwerte Freunde der antiklerikalen Schund- und Schauerliteratur der Kulturkampfzeit! Ich fürchte, es droht allmählich redundant zu werden, wenn ich die Fortsetzung dieser Artikelserie schon wieder mit Entschuldigungen dafür beginne, dass seit der letzten Episode so viel Zeit ins Land gegangen ist; daher will ich mich damit lieber nicht länger als nötig aufhalten, sondern lieber direkt in die Materie einsteigen. In der Besprechung des Romans "Barbara Ubryk oder Die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau" waren wir zuletzt bis zu Kapitel LX gekommen; während die Protagonistin Jovita von den Engeln (alias Barbara Ubryk) mit einer schweren Kopfverletzung darniederlag, ist es dem schurkischen Pater Gratian und der Priorin Zitta mittels fingierter Briefe gelungen, ihrem Orden das üppige Erbe Barbaras zu sichern und überdies dafür zu sorgen, dass ihre Verwandten sich nicht weiter um sie kümmern; als kleinen Lichtblick hat Jovita einen neuen Beichtvater zugewiesen bekommen, der es, sehr im Unterschied zu dem schurkischen Gratian, gut mit ihr meint. Währenddessen haben wir in dem im Interesse der Kontrastwirkung zum Vergleich herangezogenen "anderen Roman", Sir John Retcliffes "Biarritz", den Freischärler-Offizier Chevigné in der Klause eines geheimnisvollen Eremiten zurückgelassen, der im von schaurigen Gerüchten umrankten "Kloster der Verdammten" das Amt des Beichtvaters versieht. Nachdem der Einsiedler plötzlich aus seiner Klause verschwunden zu sein scheint, entdeckt Chevigné einen Geheimgang, der offenbar zum Kloster führt – lässt sich durch diese Entdeckung jedoch nicht davon abhalten, sich erst einmal schlafen zu legen. 

Wo machen wir also weiter – in Polen oder in den Abruzzen, mit Jovita von den Engeln oder Kapitän Chevigné? – Ich kann nicht leugnen, dass ich auf Letzteres, auf Retcliffes Kloster der Verdammten, erheblich mehr Lust habe, aber gerade im Interesse der Spannungssteigerung erscheint es ratsam, mit dem erzählerisch schwächeren Text anzufangen. Zumal es der ist, von dem die Fans dieser Artikelserie zweifellos in erster Linie erfahren wollen, wie er weitergeht. 

Die Überschriften der beiden nächsten Kapitel scheinen jedenfalls vielversprechend: "Geister, Kobolde, Dämone, Teufel, Belzebuben, Satanas" ist das LXI. Kapitel betitelt, das LXII. "Die Teufelsbeschwörung". Das erstgenannte dieser beiden Kapitel beginnt damit, dass die gerade so einigermaßen genesene Jovita an der Tür ihrer Zelle einen mit Kreide gezeichneten Totenkopf entdeckt; ihr Beichtvater Pater Alfons, dem sie dies berichtet, erklärt ihr, es sei "klösterlicher Gebrauch, daß man Personen, die man aus irgend einem Grunde haßt, durch Zeichnung eines Todtenkopfes immerwährende Feindschaft ankündigt und sogar den Tod androht" (S. 904). Wenig später wird sie beinahe von einem herabfallenden Blumentopf erschlagen, der sie nur verfehlt, weil sie mit dem Ärmel an einem Wandkruzifix hängen geblieben ist. Hinter diesem Anschlag steckt Pater Gratians neue Geliebte Schwester Euphrosina, die eifersüchtig auf Jovita ist; Gratian selbst ersinnt derweil ein anderes Mittel, um Jovita endgültig loszuwerden: Als Jovita durch die emotionale Erschütterung angesichts der Erkenntnis, dass man ihr ernsthaft nach dem Leben trachtet, erneut aufs Krankenlager geworfen wird, rät Gratian der Priorin, Jovita ein Medikament zu verabreichen, dessen Wirkung angeblich erweisen soll, ob sie ernsthaft krank ist oder lediglich simuliert. In Wirklichkeit handelt es sich bei diesem sogenannten "Prokrustespulver" (S. 918) um "geriebene Wurzeln vom Schlafapfel, gemischt mit [...] Thymian" (ebd.); vom Schlafapfelpulver heißt es, es sei zwar "kein Gift", aber doch "schädlich in seinen Wirkungen; es zerrüttet das Gehirn des Menschen" (ebd.). 

Nachdem Jovita dieses vermeintliche Medikament verabreicht bekommen hat, fällt sie zunächst in einen tagelangen Schlaf, aus dem sie "[n]ur auf kurze Zeit" erwacht, um "über schreckliche Kopfschmerzen und beängstigende Träume" zu klagen, "in denen sie von schwarzen Männern verfolgt würde, sich bald am Rande eines tiefen Abgrundes schwindelnd stehen, bald auf einem zerbrochenen Boote von den Wellen des Meeres im Kreise herumgewirbelt fühle" (S. 220). Als am vierten Tag jedoch Pater Gratian im Beisein der Priorin die Kranke in ihrer Zelle besucht, erwacht diese, richtet sich im Bett auf und bricht "in ein gellendes Gelächter aus" (S. 221); dann schreit sie Gratian an: 

"Ha, Verfluchter! Wenn der Tod nicht bald kommt..... unvermeidlich verrathen!..... Ich werde... verflucht sein... excommunicirt... Geh fort, Verfluchter! Sprich mir nicht vom Himmel, nicht von der Jungfrau... Wenn die Madonna den Unglücklichen beisteht, warum kommt sie nicht zu Hilfe ... mir und dem armen Geschöpfe, das ich unter meinem Herzen fühle?" (ebd.). 

Ihre boshafte Krankenpflegerin Schwester Cordula will Jovita daraufhin verprügeln, aber Gratian gebietet ihr Einhalt: "Sehen Sie nicht, daß die Unglückliche wahnsinnig ist?" (S. 222). Als Jovita jedoch in ihrem Monolog fortfährt – "Dieser Ort ist von Dämonen unsicher gemacht... da sind sie... ich sehe sie... einen nach dem andern... Holla ! Du da unten im Winkel... warum machst Du solche Grimmassen?... Und Du, in jenem dort... warum rüttelst Du an den Mauern und stößest an den Plafond mit Deinen Hörnern?... Ha, siehst Du ihn, wie er Dir zur Kutte hineinfährt?... Er hat Dich, flieh, flieh!" (ebd.) –, korrigiert er seine Einschätzung: Sie sei nicht wahnsinnig, sondern besessen

Johann Heinrich Füssli: Der Nachtmahr (Fassung von 1781; gemeinfrei)

An diese Diagnose schließt sich ein längerer, als Vortrag Pater Gratians vor den beunruhigten Nonnen präsentierter Exkurs über verschiedene Formen der Besessenheit an, der dem Verfasser einmal mehr Gelegenheit gibt, seitenweise aus anderen Werken zu zitieren. Dabei macht er, wie auch schon früher bei ähnlichen Exkursen, sogar Quellenangaben – so verweist er auf das 1668 erschienene "Alexiacon" des italienischen Exorzisten Candido Brognolo, das 1779 erschienene Werk "De daemonum existentia et operibus" des Dämonologen G.P. Verpoorten sowie das wohl um 1220 entstandene Buch "De confessione" des Zisterziensermönchs Caesarius von Heisterbach; was er dabei nicht verrät, ist, dass er diese Passagen mitsamt den dazugehörigen Quellenangaben nahezu wortwörtlich aus dem IV. Band der "Christlichen Mystik" von Joseph Görres abgeschrieben hat. Tatsächlich stellt dieses 1842, also keine 30 Jahre vor dem "Barbara Ubryk"-Roman, erschienene Buch – wie ich mit Hilfe von Google Books ermitteln konnte – die Hauptquelle für diesen Exkurs dar, der sich von S. 924-949 des Romans erstreckt; nur einige wenige Passagen hat der Romanautor anderen Quellen entnommen oder zum Teil womöglich auch selbst erfunden. 

Kaum jedoch hat Pater Gratian seinen Vortrag beendet, da tritt Pater Alfons – Jovitas Beichtvater – auf und erbittet von der Priorin die Erlaubnis, "den lieben Schwestern auch einige freiere Ansichten vorlegen zu dürfen" (S. 951). Obgleich er beteuert, es handle sich "hier nicht um dogmatische Glaubenssätze" (ebd.), erweist Pater Alfons sich mit seiner engagierten Gegenrede als Modernist reinsten Wassers; und es ist recht bezeichnend, dass der Autor ihn gegenüber Gratian (der während seines Vortrags reichlich "Carmelitergeist" genossen hat und entsprechend erhitzt ist) als überlegenen Denker darzustellen versucht, ihm dabei aber allerlei logische Fehlschlüsse ("Gleiche Wirkungen haben gleiche Ursachen", S. 950) und Scheinargumente ("Ist nun der Zustand, in dem sich ein angeblich Besessener befindet, ein derartiger, daß man ihn zu den Geheimnissen rechnen muß, so ist damit gesagt, daß man sich denselben nicht erklären kann, denn Geheimniß bleibt immer Räthsel", S. 951) in den Mund legt – was darauf schließen lässt, dass der Autor selbst nicht zu unterscheiden vermag, was ein valides Argument ist und was nicht. 

Mindestens dem heutigen Leser stößt zudem der Antijudaismus übel auf, den Pater Alfons an den Tag legt, indem er "die Ueberreste des Judenthums" in der christlichen Glaubenslehre tadelt: Während die Aussage, es sei "nicht zu läugnen, daß viele heidnische und jüdische Anschauungen ins Christenthum übergegangen sind" (S. 951f.), noch recht sachlich-neutral anmutet, wirft Pater Alfons kurz darauf die rhetorische Frage auf, ob "die heidnische Weltanschauung" etwa "eine gesündere" gewesen sei "als die der Juden, welche selbst ein goldenes Kalb anbeteten und Christus kreuzigten, weil er sich für den Sohn Gottes ausgab" (S. 952). Mehr noch: "Was die Heiden für unvernünftig hielten, glauben die Christen" (ebd.). 

Weiterhin meint Pater Alfons: "Der Teufel ist eine Erfindung, so alt, wie die Menschen" (ebd.). Den Glauben an dämonische Besessenheit erklärt er rundheraus für "Unsinn und Hirngespinnst" und vergleicht ihn wiederholt mit dem Glauben an Hexerei, den die Kirche inzwischen selbst als Aberglauben erkannt habe: Auf Pater Gratians Einwurf, er habe in seinem Vortrag lediglich "die christliche Mystik [...] behandelt" (S. 950) – ein kaum verhüllter Hinweis auf den Titel des Buches von Görres, das die Hauptquelle für diesen Vortrag darstellt –, entgegnet Pater Alfons, "der Hexenglaube" gehöre "ebenso gut in die christliche Mystik wie die Besessenheit: (ebd.), und als Pater Gratian betont, die Kirche habe doch wohl nicht ohne Grund "ein eigenes Rituale von Exorcismen" (S. 954), erwidert sein Debattengegner ungerührt: "Die Kirche glaubt eben heute ebensofest an die Besessenheit durch Dämone, wie gestern an das Hexenwesen" (ebd.). 

Pater Alfons' zentrales Argument lautet, der Glaube an Besessenheit sei durch den wissenschaftlichen Fortschritt überholt. "Warum gibt es heute keinen Besessenen mehr?", fragt er (S. 953) – eine etwas sonderbare Ausgangsfrage, wenn man bedenkt, dass der Anlass für die ganze Disputation doch ein aktueller Fall angeblicher Besessenheit ist. Aber wie dem auch sei: Pater Alfons verweist darauf, dass "die Aerzte die Krankheiten als einen Ausfluß der natürlichen Gebrechlichkeit behandeln und nicht als Ausfluß einer außernatürlichen Macht, als Ausfluß von Dämonen" (ebd.): "Die Mystik hört also auf, wenn das Räthsel gelöst ist. Und gelöst ist es von der freien Wissenschaft!" (ebd.) Die "Tobsüchtigen", deren Zustand man früher durch Besessenheit erklärt hätte, sperre man heute "in die Irrenhäuser und bannt ihre Dämone durch die Zwangsjacke" (S.  954). Der Ordensmann geht in seinem Lob des Fortschritts so weit, dass er "die große französische Revolution" rühmt, sie habe dafür gesorgt, dass "den Menschen keine Zeit mehr" bliebe, "Besessene zu spielen" (S. 953): "Gleichzeitig schwand das Zauber- und Hexenwesen, nachdem einige Jahre zuvor der Jesuitenorden aufgehoben worden war. Andere Dämone jagen heute durch unsere Länder – der Dampf und der elektrische Funke, und die sündige Welt fährt wahrlich besser dabei" (ebd.). 

Letzten Endes, so argumentiert er, laufe vermeintliche Besessenheit "immer auf eine Krankheit hinaus, welche die 'gute alte Zeit' nicht terminiren noch heilen konnte, und darum alle Schuld auf den Teufel schob" (S. 954); als solche Krankheiten nennt er insbesondere "die Epilepsie, die Hysterie, die Hämorrhoiden" (S. 953): "Ja, wir hätten genug Besessene, wenn diese drei Krankheiten nicht anders erklärt werden könnten, denn als Werk innewohnender Dämonen" (ebd.). Bemerkenswert erscheint es, dass Pater Alfons, um "[s]eine Behauptung, die Besessenheit bestehe in einer der drei vorgenannten Krankheiten" (S. 955), zu untermauern, seinerseits ebenso wie sein Vorredner auf Fallbeispiele verweist, die dem IV. Band von Görres' "Christlicher Mystik" entnommen sind, und es dem Autor somit ermöglicht, nochmals fast drei Seiten seines Romans mit nahezu wörtlichen Zitaten aus dieser Quelle zu füllen. 

Zum Abschluss seiner Ausführungen tadelt Pater Alfons es als "[u]nbegreifliche Saumseligkeit", Jovitas "Zustand [...] nicht vom Arzte untersuchen [zu] lassen", und hält der Priorin vor: "Sie belasten Ihr Gewissen , wenn sie der Schwerkranken noch länger die ärztliche Hilfe verweigern. Als Beichtvater Jovitas werde ich eine solche Vernachlässigung nicht dulden" (S. 958). Das Kapitel endet mit einer zünftigen Prügelei zwischen Gratian und Alfons. 

Das sehr viel kürzere Kapitel LXII,  "Die Teufelsbeschwörung", beginnt damit, dass Pater Gratian sich beim Prior seines Klosters St. Josef über Pater Alfons beschwert: "Wissen Sie schon, Pater Prior, daß einer unserer Brüder als ein ausgebildeter Häretiker sich entpuppt hat? [...] Pater Alfons, der Irländer, trägt den Schwestern von St. Theresia die schauderhaftesten Ketzereien vor" (S. 962). – Aha, ein "Irländer" ist er also; und was seine "ketzerischen Ansichten" angeht, bräuchte der Prior eigentlich gar nicht so überrascht zu sein, schließlich sagt er ihm selbst auf den Kopf zu, schon früher wegen solcher Äußerungen "von einem Kloster ins andere versetzt" worden zu sein (S. 964). Da Pater Alfons seine lästerlichen Anschauungen aber "auch hier noch nicht aufgeben" mag, lässt der Prior ihn "[k]raft des klösterlichen Gehorsams" kurzerhand in "'Zelle Nro. 13' – so heißen die Klösterlichen Kerker –" einsperren. 

Sodann wird der Leser darüber aufgeklärt, warum Pater Gratian solchen Wert darauf legt, die Priorin des Frauenklosters und die übrigen Nonnen zu überzeugen, dass Jovita nicht "nur wahnsinnig" sei, sondern "daß ihr wahrhaftig ein böser Dämon innewohne": Würde sie nämlich für wahnsinnig gehalten, "konnte sie möglicherweise in eine Irrenanstalt verbracht und damit der Sphäre seiner rachsüchtigen Pläne entrückt werden. Als Besessene jedoch durfte er sie nach Herzenslust quälen und martern, weil er dann sagen konnte, er quäle nur den Teufel, der sie bewohne" (S. 965). – Derweil kehren "[d]ie wilden Ausbrüche Jovitas [...] von Tag zu Tag wieder, und sie wüthete oft in einer Weise , daß ihre beiden Wärterinnen entsetzt die Flucht ergriffen" (ebd.) und selbst die Priorin meint, man solle "den Arzt ihren Zustand untersuchen lassen" (ebd.). Pater Gratian weist dieses Ansinnen scharf zurück: "Nur keinen Arzt zur Beurtheilung solcher Krankheiten herbeiziehen, Zitta! Was versteht Dr. Kochanowski von Besessenheit?" (ebd.). Stattdessen schlägt er vor, höchstpersönlich einen Exorzismus an Jovita vorzunehmen. Vorsorglich macht er die Priorin aber darauf aufmerksam, "daß nicht Alles, was der Dämon spricht, Wahrheit ist, denn er ist ja der Geist der Lüge, und daß er oft lange, sogar Jahre hindurch, beschworen werden muß, bis er weicht. Ich kann mich also nicht verbindlich machen, ihn binnen heute und morgen auszutreiben" (S. 966). Dem Leser ist natürlich klar, dass Gratian sich mit diesen Hinweisen dagegen absichern will, dass Jovita in ihrem unzurechnungsfähigen Zustand etwas über ihr früheres Verhältnis zu ihm verraten könnte – und gegen das unvermeidliche Ausbleiben eines Erfolgs seiner "Behandlung". 

Es folgt eine recht ausführliche Schilderung der vorbereitenden Riten für einen Exorzismus, angefangen mit der Weihe des Wassers; dann spricht Pater Gratian die vermeintlich Besessene direkt an: 

"Schwester Jovita, erkennst Du mich?" – 

worauf diese "lachend" antwortet: 

"Ob ich Dich kenne? Wer hat mir so süße Küsse gegeben? Wer hat sich mit mir trauen lassen? Komm, gib mir einen Kuß, lieber Mann!" (S. 969) 

Die Peinlichkeit dieses Moments überspielt der Pater ohne große Mühe, indem er den anwesenden Nonnen versichert, es spreche "bereits der Dämon aus ihr" (S. 970), und sich mit seinen weiteren Fragen an diesen richtet: 

Was suchst Du hier ? 

– Lucifer hat mir befohlen, in diesem Gefässe [sic] zu wohnen, bis ich von einem mir Heiligen daraus vertrieben werde. 

So sage mir zuvor: wie heißt Du ?

– Jovita von den Engeln. 

Du lügst , o Dämon. So heißt die Schwester, die Du bewohnst. Nenne Deinen Namen, oder ich werde Dich dazu zwingen. 

– Ich heiße Zoophyt, das ist Schlangengeburt des Abgrundes. 

Bist Du allein oder mit andern Geistern ? 

– Ich, Zoophyt, bin Legionsführer und eine Unzahl Dämonen ist mir unterthan. In bin Einheit und Vielheit . 

Wie viele Dämonen führst Du an? 

– Legion ist ihr Name, der in Zahlen nicht ausgedrückt werden kann." (ebd.) 

Läuft die Beschwörung für Pater Gratian bis hierher also durchaus nach Wunsch, wird es erneut peinlich für ihn, als er den vermeintlichen Dämon befragt: 

"Durch wen kannst Du vertrieben werden? Was muß geschehen , damit Du weichest?

– Wenn ein heiliger Mann meinen Mund wie zum Kusse berührt, werde ich ausfahren. 

Wer ist dieser heilige Mann? fragte der Pater gespannt . 

– Ich werde mich hüten, es zu sagen. 

Du mußt, o Dämon! 

Bin ich es? 

– Seit wann bist Du ein heiliger Mann?!" (S. 972) 

Ergrimmt über diese höhnische Antwort, lässt sich der Pater dazu hinreißen, Jovita ins Gesicht zu schlagen. Auf weiteres Befragen hin erklärt diese, der Mann, der sie von ihrer Besessenheit erlösen könne, sei "Woicech Zarski, der ehemalige Kirchendiener" (S. 973), von dem man bei dieser Gelegenheit erfährt, "daß er schon längere Zeit Warschau verlassen hat" (ebd.). – Es wäre dem geneigten Leser wohl kaum zu verübeln, wenn er sich momentan nicht daran erinnern könnte, wer denn dieser Woicech war, dessen bislang letzter Auftritt in der Romanhandlung bereits rund 80 Seiten zurückliegt; daher hier eine kleine Gedächtnis-Auffrischung: Woicech Zarski war ein berückend schöner Student, den Jovita zunächst als Kunden in der Klosterapotheke kennenlernte und zu dem sie dann, als er Kirchendiener an der Klosterkirche wurde, eine heimliche Liebesbeziehung unterhielt, bis er infolge einer Intrige von Jovitas Mitschwestern zusammen mit drei anderen Kirchendienern entlassen wurde. Seine Erwähnung an dieser Stelle lässt vermuten, dass er im weiteren Verlauf der Romanhandlung noch einmal eine Rolle zu spielen haben wird. 

Die Beschwörung jedenfalls endet damit, dass Jovita von ihrer Krankenpflegerin Schwester Cordula mit einer Rute blutig geschlagen wird, bis ihrer Peinigerin die Arme lahm werden. Der Erzähler kommentiert: 

"Die Tochter eines Edelmannes, aus einer der ersten Familien Warschaus, war Jovita hier der zügellosen Rohheit und der empörenden Grausamkeit eines Schwarmes von Nonnen preisgegeben, die sich von einem rachsüchtigen Mönche leiten ließen. War das jenes Glück, eine Braut Christi sein zu dürfen?" (S. 274) 

Diese Betonung der "edlen" Herkunft Jovitas alias Barbaras steht offenkundig im Dienste eines Konzepts von tragischer Fallhöhe, das sich seinerzeit nicht nur, aber besonders in der Kolportageliteratur großer Beliebtheit erfreute; es sei jedoch daran erinnert, dass diese Passage nicht nur im Widerspruch zu den bekannten Fakten des realen Falles Barbara Ubryk steht, sondern auch innerhalb der Romanhandlung selbst einen Widerspruch darstellt: Die Barbara bzw. Jovita des Romans stammt zwar mütterlicherseits "aus einer der ersten Familien" des Landes, aber davon, dass ihr Vater ein "Edelmann" gewesen sei, kann keine Rede sein, vielmehr ist Kasimir Ubryk in einem "armselige[n] und schmutzige[n] Stadtviertel von Warschau aufgewachsen (S. 82). 

--- Und was gibt es derweil Neues in den Abruzzen, wo sich Kapitän Chevigné in der Klause des geheimnisvollen Einsiedlers Fra Gerardo schlafen gelegt hat? Zunächst nur soviel: Gerade als der Offizier träumt, "er sei in der großen Oper zu Paris und höre den Gesang des Chors" (S. 153), wacht er plötzlich auf und stellt fest, dass die Einsiedelei tatsächlich von Gesang erfüllt ist. Wie sich zeigt, dringen die Klänge aus dem Geheimgang, woraus Chevigné folgert, "daß der unterirdische Felsengang wahrscheinlich sich in das Schiff der Kirche öffnete und die eigenthümliche Beschaffenheit des Gesteins für die Resonnanz günstig, ja verstärkend sie bis auf die Höhe des Felsens trug" (S. 154). – "Eine unbezwingliche Neugier" (ebd.) veranlasst ihn daraufhin, in den Geheimgang hinabzusteigen – der an einem anderen Ende in eine Art Säulengang übergeht, von dem ais man auf der einen Seite "das Campo Santo des Klosters, de[n] Begräbnißplatz der geheimnißvollen Bewohnerinnen" (S. 156) sehen und auf der anderen in das Innere der Klosterkirche hineinblicken kann. Aus seinem Versteck sieht Chevigné "das [!] einfache Hochaltar mit dem Chor, das durch ein schweres Eisengitter von dem Schiff getrennt war" (S. 157): 

"Das Gitter war jetzt geöffnet und innerhalb desselben bemerkte der Offizier eine Reihe dunkler tief verhüllter Gestalten knien. 

Mitten im Chor, nur von vier Kerzen beleuchtet, stand ein offener Sarg, – in dem Sarg lag auf einem schwarzen Sergetuch ein Gerippe als furchtbare Mahnung an den Tod. 

Vor dem Altar kniete der Einsiedler, jetzt mit Stola und Scapulier geschmückt, hinter ihm eine in dunkle Nonnengewänder gehüllte Frau, während vor den Stufen des Altars eine Bahre mit einer geringen Matratze stand. Auf dieser lag, offenbar in den letzten Stadien der Krankheit, in der Agonie des Todes, eine Frau - eine Nonne, deren bleiches, eingefallenes Gesicht noch die Spuren der Jugend und Schönheit trug. In ihren abgemagerten Händen hielt sie ein Crucifix." (S. 157f.) 

Was der Offizier im Folgenden beobachtet und was sich daraus, wenn auch vom Autor offenbar bewusst in ein gewisses Zwielicht zwischen Traum und Wachen gehüllt, über den Inhalt der geheimen Botschaft erschließen lässt, die Chevigné dem Einsiedler überbracht hat, ohne sie selbst zu kennen, ist so spektakulär und dabei auch so komplex, dass ich denke, es gibt ausreichend Stoff für einen eigenständigen Artikel ab. Dazu also demnächst! 


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