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Sonntag, 28. Mai 2023

SoulKitchen: Aus dem Küchentagebuch eines Familienvaters

Gut fünf Jahre ist es her, dass ich unter dem Reihentitel "SoulKitchen" das Projekt einer Gastkolumne auf dem Blog meiner Liebsten in Angriff nahm, mit der Themenbeschreibung "Suse kocht und Tobi bloggt darüber (in Zukunft aber vielleicht auch mal umgekehrt...)". Über vier Folgen im Laufe eines Monats kam die Artikelserie seinerzeit nicht hinaus, aber die Grundidee, wie ich sie seinerzeit beschrieb, finde ich nach wie vor gut: 

"Seit Suse und ich tatsächlich so etwas wie ein Familienleben haben, haben wir immer mal wieder untereinander diskutiert, ob (und wenn ja, wie) wir nicht auch in unseren Blogs stärker unseren Alltag thematisieren sollten. Also quasi Einblicke geben in das Leben punk-affiner junger Dunkelkatholiken, oder so." 

Nun könnte man sagen, dass Teile dieser Grundidee in das Konzept meiner "Wochenbriefings" eingeflossen sind – nur der Aspekt mit dem Kochen eher nicht so sehr. Dabei gäbe es zu diesem Thema durchaus eine ganze Menge zu sagen, zumal ich seit nunmehr schon rund zweieinhalb Jahren zum Chefkoch meiner Familie avanciert bin. 

Wie es dazu kam, ist schnell erzählt: Es war November 2020, Corona-Zeit, und meine Liebste war im 5. Monat schwanger mit unserem zweiten Kind, als ihre Frauenärztin wegen erhöhten Frühgeburtsrisikos ein Beschäftigungsverbot über sie verhängte und sie ermahnte, sich die nächsten Monate strikt zu schonen und nach Möglichkeit Bettruhe zu halten. Daraus ergab sich die Frage, was ich – abgesehen davon, dass ich tagsüber möglichst viel mit unserer zu diesem Zeitpunkt gerade dreijährigen Tochter unternahm – tun könnte, um meine Liebste im Haushalt zu entlasten. Ein Gedanke hierzu, der sich mir ziemlich spontan aufdrängte, lautete: Ich könnte kochen lernen!  Das entlastet nicht nur die Frau, sondern auch die Haushaltskasse, jedenfalls im Verhältnis dazu, auf Fertiggerichte und/oder Lieferservice angewiesen zu sein. Es heißt ja nicht ohne Grund "Eigener Herd ist Goldes wert". Außerdem wollte ich eigentlich sowieso schon immer kochen können. Es ist auch nicht so, dass ich vorher nie gekocht hätte, aber ich würde meine Vorkenntnisse doch als ziemlich bescheiden bezeichnen. 

Nun jedoch widmete ich mich meiner Aufgabe mit Ehrgeiz und Enthusiasmus. Während des ersten Monats meiner Karriere als Küchenchef der Familie gab es an drei Tagen mitgebrachtes Essen von den Schwiegereltern, einmal ein Fertiggericht aus dem Tiefkühlregal und an fünf Tagen Aufgewärmtes vom jeweiligen Vortag; an allen anderen Tagen kochte ich – insgesamt 21 verschiedene Gerichte. Zugegeben, darunter waren auch ganz simple Sachen wie Spaghetti mit Thunfisch oder Toast Hawaii, aber dabei blieb es nicht lange. Das erste vom Zubereitungsprozess her aufwändigere Gericht, an das ich mich herantraute, war Beef Barley Soup nach einem Rezept von Simcha Fisher (deren Artikelserie "What's for Supper?" auch über konkrete Rezeptideen hinaus eine wichtige Inspirationsquelle für meine Küchenkarriere war und ist), das erste mit einem Namen und Aussehen, mit dem man angeben kann, Coq au Vin. (Ich habe den Film "Kokowääh" von und mit Til Schweiger zwar nie gesehen, aber so viel hatte ich dann doch davon mitbekommen, dass der Film deshalb so heißt, weil Coq au Vin das einzige Gericht ist, das der von Schweiger gespielte Charakter kochen kann; "Dann kann das ja nicht so schwer sein", sagte ich mir, und war's auch nicht.) 


Weitere Highlights des ersten Monats waren: 



Das Foto ist zugegebenermaßen erst bei einer späteren Gelegenheit entstanden. Mein erster Shepherd's Pie sah nicht so fotogen aus. Geschmeckt hat er trotzdem. 

In dieser Anfangszeit war ich noch sehr zurückhaltend damit, vorgefundene Rezepte zu variieren, geschweige denn, ohne Rezept einfach mal draufloszukochen. Das hatte den einfachen Grund, dass ich so wenig von den fundamentalsten Grundregeln des Kochens verstand, dass ich mir nie sicher war, ob das jeweilige Gericht überhaupt noch genießbar sein würde, wenn ich mich nicht genau an die Mengenverhältnisse der Zutaten, die Kochzeiten usw. hielte. Das Selbstvertrauen, Dinge "einfach mal auszuprobieren", stellte sich erst mit einer gewissen Erfahrung ein, und so kam ich nach und nach dahinter, dass es nicht unbedingt immer von Nachteil ist, Zutaten wegzulassen oder durch andere zu ersetzen, Mengenangaben eher freihändig zu handhaben oder Tipps und Tricks, die man in einem Rezept entdeckt hat, auf ein anderes zu übertragen. Irgendwann war ich dann an dem Punkt, dass ich ein Rezept las und spontan dachte "Das würde ich anders machen". Das möchte ich ganz unironisch als einen bedeutenden Entwicklungsschritt beim Kochenlernen bezeichnen.

Dieser Zuwachs an Selbstsicherheit beim Kochen hatte verschiedene, in gewissem Sinne gegenläufige Auswirkungen: Einerseits ging ich dazu über, öfter mal ohne Rezeptvorlage zu kochen, andererseits traute ich mich zunehmend auch an Rezepte heran, die ich noch kurz zuvor als zu anspruchsvoll eingeschätzt haben würde. Bœuf Stroganoff zum Beispiel. 

Es dauerte dann nicht mehr lange, bis meine Liebste mir attestierte, besser zu kochen als sie. Ich erwähne das nicht, um anzugeben, sondern eher als Ermutigung: Wenn ich es durch pures Ausprobieren lernen kann, aus preiswerten und überall erhältlichen Zutaten leckeres Essen zuzubereiten, dann kannst Du das auch, Leser. Inzwischen würde ich sogar selbst sagen, dass mein selbst gekochtes Essen mir am besten schmeckt, oft sogar besser als im Restaurant. Wobei ich nicht verhehlen will, dass es immer noch gelegentlich mal vorkommt, dass mir ein Gericht misslingt. Aber auch das kann eine wertvolle Erfahrung sein.

Mein Freund Rod Dreher zitiert in seinem Buch "Crunchy Cons" die Ernährungsberaterin Kathy O'Brien mit dem schönen Satz "Kultur beginnt in der Küche, nicht im Opernhaus". Indessen zeigt Rod in diesem Buch auch auf, dass es kein Zufall ist, dass so viele Angehörige unserer Generation als Kinder oder Jugendliche nicht Kochen gelernt haben: Dies rührt – so meint Rod – schlicht und einfach daher, dass die Generation unserer Eltern darauf konditioniert wurde, Hauswirtschaft und Nahrungszubereitung nicht mehr als wertvolle Fertigkeiten zu betrachten, die es an die Kinder weiterzugeben gelte. Insbesondere Frauen aus der Arbeiterklasse wurden seit den 1950er-Jahren mit einer "Besser leben durch Chemie"-Propaganda bombardiert, die ihnen einredete, "traditionelles Kochen sei eine Plackerei und industriell gefertigte Nahrung ein Statussymbol". Wie Rod weiter ausführt, gab es handfeste wirtschaftliche Gründe dafür, den Hausfrauen das Kochen abzugewöhnen. "Das Gebot des Komforts, der Bequemlichkeit und der Erschwinglichkeit - mit anderen Worten: Effizienz über alles - hat eine enorme, und enorm lukrative, [...] Nahrungsmittelindustrie geschaffen. Und so leben wir heute unser kulinarisches Leben: schnell, billig und unkontrolliert." Was bei dieser Industrialisierung des Ernährungswesens jedoch vergessen wurde, ist, dass "Essen nicht nur den Körper ernährt; Essen - und auch die Rituale, die mit seiner Zubereitung einhergehen - nährt auch etwas in der menschlichen Seele."

Folgerichtig fehlt der menschlichen Seele etwas, wenn das Essen auf die bloße Funktion der Nahrungsaufnahme reduziert und schnell und schlampig nebenbei erledigt wird. – In einem "Werkheft" der Katholischen Landjugendbewegung Bayerns zum Thema Ernährung, das ich mir mal habe zuschicken lassen, bricht auch die stellvertretende Landesbayerin, äh, -bäuerin Bayerns, Christine Singer, eine Lanze für gemeinsame Mahlzeiten im Familienkreis: 

"[G]emeinsames Essen soll auch ein Genusserlebnis für die ganze Familie sein. Zudem stärkt gemeinsames Essen das Miteinander. [...] Wir verbringen Zeit miteinander -- das Wertvollste, was wir uns als Familienmitglieder schenken können." (S. 64)  

Man könnte das für etwas banal halten, aber möglicherweise ist es das gar nicht. In seinem Buch "Bowling Alone" aus dem Jahr 2001 stellte der US-amerikanische Soziologe Robert D. Putnam fest, dass der Anteil seiner Landsleute, die regelmäßig im Kreise der Familie zu Abend essen, seit 1975 um ein Drittel zurückgegangen sei. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass die Entwicklung hierzulande in eine ähnliche Richtung geht.

– Soweit die unvermeidliche Reflexionspassage zwischendurch; kommen wir nun aber noch einmal zurück zu praktischen Erfahrungen mit dem Kochen. Etwas, worauf ich von allein sicherlich nie gekommen wäre, sind Backofengerichte, für die man außer eines Backblechs kein weiteres Kochgeschirr benötigt. Neben dem schon erwähnten Rosenkohl mit Schinken und Ei wären hier z.B. noch 



zu nennen. – Eine andere Rezeptkategorie, die ich sehr schätzen gelernt habe, sind Eintöpfe. Einerseits kann man ein denkbar simples Grundrezept – Speck u./o. grobe Wurst (z.B. Schinkenknacker) anbraten, Kartoffeln u.o. diverses Wurzelgemüse dazugeben, ein paar Minuten anrösten, dann Wasser oder Brühe dazugeben und alles köcheln lassen, bis das Gemüse weich ist, ggf. im Laufe der Kochzeit noch weiteres Gemüse, das schneller gar wird, hinzufügen; mit diversen Gewürzen abschmecken; fertig – immer wieder mit verschiedenen Zutaten variieren, andererseits habe ich im Laufe der Zeit aber auch eine Vielzahl von Eintopfgerichten aus aller Herren Länder ausprobiert, wie zum Beispiel: 



  • und last not least ein traditionelles Gericht aus dem "Butjenter Kokbook", das auf den eher wenig appetitlich klingenden Namen "Wuddeldick" hört. 

"Wuddeldick" besteht in etwa zu gleichen Teilen aus Schweinefleisch, Kartoffeln und Möhren, dazu kommt Wasser zum Kochen, Salz und Pfeffer, und wenn der Eintopf fertig gekocht ist, wird er mit Apfelmus verfeinert. Was die Frage der Gewürze angeht, fühlte ich mich allerdings an einen häufig geäußerten Stoßseufzer meines früh verstorbenen Vaters erinnert: "Die Butjenter kennen nur Pfeffer und Salz!" Er selbst stammte aus Schlesien und brachte glücklicherweise auch meiner Mutter bei, insbesondere Fleischgerichte etwas abwechslungsreicher zu würzen. In Gedenken daran variierte ich auch das "Wuddeldick"-Rezept ein wenig. 

Und da wir gerade über Gewürze reden: Das Mulligatawny Chicken Soup-Rezept, das ich benutzte, schrieb vor, statt irgendeines 08/15-Currypulvers aus dem Supermarkt eine Gewürzmischung aus Garam Masala, Kreuzkümmel, Kurkuma, Salz und etwas Chilipulver zu verwenden. Das Ergebnis überzeugte mich so sehr, dass ich diese Gewürzmischung seither auch für allerlei andere Gerichte mit Hähnchenfleisch verwendet habe. Irgendwo hat das Prinzip "Zutaten selber machen, statt sie fertig zu kaufen" aber auch Grenzen. In irgendeinem Rezept, ich weiß gar nicht mehr für welches Gericht, stolperte ich über die Zutat Hoisin-Sauce, garniert mit dem Hinweis, dass man diese auch selbst herstellen könne. Spannend, dachte ich, folgte dem Link zum Rezept für Hoisin-Sauce und fand unter dem Zutaten eine Five Spices genannte Gewürzmischung, wiederum garniert mit dem Hinweis, dass man diese auch selbst herstellen könne. Toll, dachte ich, und wenn ich schon mal dabei bin, kann ich vielleicht auch noch die Pfanne selber schmieden. Oder auch nicht. Aber das mit dem Fünf-Gewürze-Pulver und der Hoisin-Sauce probiere ich vielleicht mal aus. Irgendwann. 

Und à propos Pfanne: Backblech hin, Suppentopf her, ist und bleibt mein Lieblings-Küchengerät eine große Pfanne mit hohem Rand, die man auch als Auflaufform benutzen kann. Wenn einem mal gar nichts einfällt, schmeißt man einfach diverse Zutaten, die man mag und die zusammen passen, in die Pfanne, brät sie an, löscht sie wahlweise mit Brühe, Sahne, passierten Tomaten oder einer Mischung daraus ab, und je nach Laune kann man dann noch Käse, Ei oder Semmelbrösel drüber geben und das Ganze zum Überbacken in den Ofen schieben. 

Beim Stichwort "Zutaten, die man mag" geht es innerfamiliär allerdings nicht ganz ohne Kompromisse ab. Ich mag zum Beispiel Pilze und Bohnen, meine Tochter nicht. Aber immerhin, wenn ich mal überlege, welche Speisen alle Familienmitglieder mögen, dann kommt doch so Einiges zusammen; in assoziativer Reihenfolge: 
Brokkoli, Blumenkohl, Spinat, Zucchini, Avocado, Möhren, Mais, Reis, Nudeln, Kartoffelbrei, Speck, Fleischwurst, (Rinder-)Hackfleisch, Hähnchenfleisch, Eier, Käse, Thunfisch, Lachs. 

Damit lässt sich doch schon was anfangen! – Ein ganz eigenes Thema ist es, gemeinsam mit den Kindern zu kochen oder zu backen; ich schätze, darauf komme ich mal in einem separaten Artikel zu sprechen. Für diesmal möchte ich schließen mit einem schönen Zitat von Max Goldt (aus "Bossa Nova im Schatten des Telespargels", 1989): 

"Die Natur schenkt uns köstliche Früchte etc. Diese zum falschen Zeitpunkt zu ernten, sie falsch zu lagern oder schlecht zuzubereiten, ist ein Vergehen an der Schöpfung, glatte Blasphemie. Jeder, der einigermaßen herumgekommen ist, weiß, daß in atheistischen Staaten ausgesprochen schlecht gekocht wird, weil der Respekt vor den Gaben Gottes fehlt. Anders ausgedrückt: Gut zu kochen ist praktiziertes Christentum." 

 

Donnerstag, 25. Mai 2023

Ansichten aus Wolkenkuckucksheim #31

Herzlich willkommen zum letzten Wochenbriefing der diesjährigen Osterzeit: Pfingsten steht vor der Tür, und dann treten wir ein in die Zeit im Jahreskreis – die ordinary time, wie sie in der englischsprachigen Welt heißt. Ich erlaube mir daher, diesmal noch einmal ein Symbolbild mit österlicher Thematik zu verwenden: 

Gesehen im Schaukasten der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Falkensee

Besonders spektakuläre Neuigkeiten aus meinem persönlichen Erlebnisbereich habe ich diese Woche nicht zu bieten, jedenfalls nicht in den üblichen Hauptrubriken des Wochenbriefings; ich verspreche aber, dass es trotzdem nicht langweilig wird. Und damit genug der Vorrede! 


Tagesreste 

Am Freitag nach Christi Himmelfahrt hatte meine Liebste Brückentag, d.h. sie musste nicht zur Arbeit; und eigentlich war ihr Plan, früh aufzustehen, die Kinder einzupacken und mit ihnen in einen ungenannten Freizeitpark im Umland von Berlin zu fahren, derweil ich zu Hause bleiben, die "sturmfreie Bude" genießen und mich meinen diversen Schreibarbeiten widmen wollte. Wer diesem Plan einen Strich durch die Rechnung machte, waren die Kinder. Die wollten nämlich nicht früh aufstehen, besonders unser Jüngster nicht. Da der Aufbruch sich auf diese Weise mehr und mehr hinauszögerte, fasste meine Liebste irgendwann den Entschluss, wir könnten ja auch erst mal alle zusammen in Ruhe frühstücken. Während des Frühstücks dämmerte es mir, dass der Zug für einen gleichermaßen erholsamen wie produktiven "Allein-zu-Hause-Tag" wohl schon so ziemlich abgefahren war, und als meine Liebste sagte, auch wenn es jetzt schon ein paar Stunden später sei als geplant, wolle sie trotzdem noch mit den Kindern in diesen Freizeitpark, fand ich, eigentlich könnte ich ja auch dorthin mitkommen. Ein erstaunlicher Entschluss, wenn man bedenkt, dass die spezifische Art von Reizüberflutung, der solche Orte auszeichnet, pures Gift für mein Nervenkostüm ist; aber ich hatte einfach Lust, den Tag mit meiner Familie zu verbringen. 

Machen wir's kurz: Ich hatte reichlich Gelegenheit, diese Entscheidung zu bereuen. Offensichtlich hatten eine ganze Menge Leute Brückentag: Der Freizeitpark war völlig überfüllt, was die Atmosphäre noch erheblich unerträglicher machte als sowieso schon; wir mussten ewig und drei Tage Schlange stehen, um zweimal Raupenbahn und einmal Traktor zu fahren, und dann wurde es auch schon Zeit, den (mehr oder weniger) geordneten Rückzug anzutreten. Immerhin war das Wetter schön, weshalb wir uns entschieden, zu Fuß zum Bahnhof zu zockeln, statt auf den Bus zu warten; und auf diesem Spaziergang machten wir eine Entdeckung, für die sich der ganze Trip dann doch gelohnt hat und die auch der eigentliche Grund ist, weshalb ich das Ganze hier erwähne: Wir kamen an einer Wiese vorbei, auf der ein ausrangierter Eisenbahnwaggon stand – der, wie wir auf den zweiten Blick feststellten, zu einem Café ausgebaut ist. Da kehrten wir ein, bestellten Kaffee für die Erwachsenen, Apfelschorle für die Kinder und Käsebrot für alle. 


Dieses Bild haben zwar nicht meine Kinder gemalt, aber finde, es charakterisiert die Location recht gut. 

Feste Preise für Speisen und Getränke gab es übrigens nicht, nur die Bitte um eine Spende in freiwilliger Höhe; und auf den zweiten Blick stellten wir fest, dass dieses Café – das den stimmigen Namen Zwischenhalt – von der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Elstal betrieben wird. Mal wieder ein Anlass, mit Manfred Siebald zu singen und zu sagen: Überall hat Gott seine Leute...! Wir unterhielten uns gut mit den Mitarbeitern des Cafés, die Käsebrote waren echt lecker, für die Kinder gab es eine Spielecke und Ausmalbilder. Insgesamt ein tolles und, wie ich finde, sehr #benOppiges Projekt; da gehen wir bestimmt mal wieder hin, wenn wir in der Gegend sind. 

Was übrigens die Frage der ökumenischen Zusammenarbeit angeht, bin ich mir nicht ganz sicher, ob Elstal territorial zu "unserer" Großpfarrei Heilige Familie Spandau-Havelland oder zur benachbarten Pfarrei St. Bonifatius Nauen-Brieselang gehört. Diese Unsicherheit rührt zu einem wesentlichen Teil daher, dass die katholische Kirche in Elstal (und in der gesamten Gemeinde Wustermark) generell nicht sichtbar präsent ist. Die nächsten katholischen Kirchenstandorte sind einerseits die Kapelle St. Johannes der Täufer in Dallgow-Döberitz (die gehört zu "unserer" Pfarrei) und andererseits St. Marien in Brieselang. 

Ebenfalls am Freitag begann die Pfingstnovene, was mich dieses Jahr irgendwie ziemlich überraschend traf. Anno 2019 hatten meine Liebste und ich eine selbst gestaltete Pfingstnovene (mit Lobpreismusik, versteht sich) in Herz Jesu Tegel abgehalten, 2021 dann eine überarbeitete und aktualisierte Fassung dieser Novene online veröffentlicht. Dieses Jahr habe ich es gerade mal mit Hängen und Würgen hingekriegt, eine abermals überarbeitete Fassung derselben Novene tageweise auf der Mittwochsklub-Facebookseite zu posten. Na gut: Vielleicht ist es ja nächstes Jahr an der Zeit, eine komplett neu gestaltete Novene in einer der Kirchen der Großpfarrei Heilige Familie öffentlich vorzubeten... 

Am Sonntag waren wir in St. Joseph Siemensstadt in der Messe – diesmal hatten wir keine Schwierigkeiten, pünktlich dorthin zu gelangen –, und in den Vermeldungen wurde darauf hingewiesen, dass am Dienstag eine öffentliche Sitzung des Gemeinderats für die Gemeindeteile St. Joseph und St. Stephanus (Siemensstadt/Haselhorst) stattfinde. Da sagte ich mir: Wenn schon extra darauf hingewiesen wird, dass die Sitzung öffentlich ist, dann gehe ich da auch hin und repräsentiere die Öffentlichkeit. 

Im Vergleich dazu, was für Erfahrungen ich bisher (nicht nur in Tegel) mit Gremienarbeit in Pfarrgemeinden gemacht habe, empfand ich die Atmosphäre bei dieser Sitzung als ausgesprochen erfreulich. Es war zwar durchaus zu spüren, dass dieselben Probleme, wie es sie auch in anderen Pfarreien gibt – Mangel an Ehrenamtlichen, ein Übermaß an Bürokratie, Interessenkonflikte und Mentalitätsunterschiede zwischen den Gemeindeteilen der neuen Großpfarrei – auch hier für Frustration und eine gewisse Desillusioniertheit sorgen, aber von Mut- unf Lustlosigkeit war dennoch nichts zu spüren. Der Umgangston war locker, freundlich, teilweise sogar ausgesprochen heiter. – Erst gegen Ende der Sitzung wurde die Stimmung etwas hitzig, nämlich als Kritik an der Präsenz von Maria 1.0-Plakaten in den Schaukästen und an den Schwarzen Brettern der Pfarrei geäußert wurde. Eine Dame aus dem Gemeinderat, übrigens (wie ich am Rande mitbekam) studierte Religionspädagogin, war der Meinung, wenn diese Plakate ausgehängt würden, müsse man fairnesshalber auch Plakate von Maria 2.0 aushängen. Mehrere andere Sitzungsteilnehmer widersprachen dieser Auffassung und betonten, zwischen einer Gruppe, die für die Lehre der katholischen Kirche eintrete, und einer, die gegen diese Lehre agitiere, könne es keine Äquivalenz geben. Ich hatte allerdings nicht den Eindruck, dass dieser Einwand bei der Religionspädagogin ankam; nicht nur, dass er sie nicht überzeugte, ich glaube vielmehr, dass sie ihn nicht einmal verstand. (Ich will an dieser Stelle indes nicht verschweigen, dass dieselbe Dame in früheren Abschnitten der Sitzung – etwa als es um die Frage ging, wie man mehr Gemeindemitglieder zur Mitarbeit motivieren könne – einen ausgesprochen positiven Eindruck auf mich gemacht hat.) 

Mit Bezug auf die Tegeler Pfarrei gibt es nicht viel Neues, aber für das Wenige, was es da Neues gibt, möchte ich in eine neue Rubrik einführen, nämlich den 

WTF-Moment der Woche 

Am Dienstagnachmittag, während ich mit den Kindern unterwegs war, meldete mein Mobilgerät mir den Eingang einer eMail – und zeigte als Absender den Namen des Tegeler Pfarrers an. Im ersten Moment dachte ich natürlich, jemand hätte ihm gesteckt, was ich so über ihn blogge, und er wollte sich nun beschweren. Aber eigentlich ist es gar nicht seine Art, wegen so etwas eine Mail zu schreiben; in der Vergangenheit hat er meistens nicht einmal auf die Mails geantwortet, die ich ihm geschrieben habe. Tatsächlich trug die Nachricht den verdächtig unverdächtigen Betreff "Grüße" – und war von Google mit einer Phishing-Warnung versehen worden, wegen einer verdächtigen Adresse, die dieser Absender sonst nie verwende. Die Nachricht selbst war so unspezifisch, dass sie in der Tat den Eindruck erweckte, automatisch generiert zu sein: 

Zugegeben, der Satz "Ich brauche Ihre Hilfe" erregte meine Aufmerksamkeit. Das ist aber auch kein Wunder: Mir hat mal jemand erklärt, der Mensch sei evolutionär darauf gepolt, dass eine explizite Bitte um Hilfe eine starke Reaktion auslöst – weil gegenseitige Hilfsbereitschaft wichtig für das Überleben der Spezies ist. Ich schätze, die Ersteller von Phishing-Mails wissen das auch, und deshalb steht der Satz da. Die "Segenswünsche" am Ende sind hingegen wiederum ein deutliches Indiz gegen die Echtheit der Mail; das deutlichste Indiz ist indes die Absenderadresse. Also, Leser, wenn Ihr demnächst eine mit dem Namen Eures örtlichen Pfarrers unterzeichnete Mail von der Adresse ourparishpriest001 erhaltet: Lieber nicht drauf antworten...! 


Neues aus Synodalien 

In dieser Rubrik habe ich diesmal nichts "Selbsterlebtes" zu bieten, sondern "nur" Kommentare zu Äußerungen "aus den Medien". Das aber dafür nicht zu knapp. Es handelt sich um folgende drei Themen: 

  • Bischof Bätzing und die Mehrheit der Gläubigen 

Georg Bätzing, Bischof von Limburg und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, hat in einem umfangreichen Interview zu Fragen der Umsetzung von Beschlüssen des Synodalen Wegs Stellung genommen. Wem hat er dieses Interview gegeben? Seinem eigenen Pressesprecher; erschienen ist es auf der Website des Bistums Limburg. Das finde ich ja schon mal ziemlich albern. Ich meine, natürlich hat Herr Bätzing sowohl in seiner Eigenschaft als Diözesanbischof als auch in seiner Eigenschaft als DBK-Vorsitzender so einiges dazu zu sagen, wie es mit dem Synodalen Weg weitergeht, und es liegt auch nahe, dass er die Website seines Bistums als Podium für seine Aussagen nutzt. Aber dass er seinen Äußerungen auf diesem Podium die Form eines Interviews gibt, das hat schon was von Kasperletheater, #sorrynotsorry. Inhaltlich sind große Teile dieses Interviews vorhersehbar und langweilig, vor allem die Versuche, die Einsprüche und Einwände des Vatikans gegen den Synodalen Weg wegzuerklären: Das kennt man alles schon. Kommentarwürdig erscheint mir hingegen, was Bätzing über die Gefahr eines Schismas sagt: Diese Gefahr sehe er "ganz klar nicht"; vielmehr äußert er sich überzeugt, "dass die weit überwiegende [...] Mehrzahl der Gläubigen mit den Zielen und Entscheidungen einer Kirche, die sich erneuert, übereinstimmt und Brücken zu den gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten unserer Zeit wünscht". – Dazu wäre ja nun allerlei anzumerken. Zunächst einmal ist die Angewohnheit bzw. Konvention, "Gläubige" zu sagen, wenn man "Kirchenmitglieder" meint, geradezu ein pet peeve von mir; aber is' halt so. Sodann würde ich Bischofs Bätzings Einschätzung zur Einstellung der Mehrheit insoweit widersprechen, als ich ziemlich sicher bin, dass sich die Mehrheit der Kirchenmitglieder überhaupt nicht für den Synodalen Weg interessieren; und ich schätze, dass das für die Mehrheit derjenigen Kirchenmitglieder, die man sinnvollerweise als "Gläubige" bezeichnen kann, ebenso bzw. erst recht gilt. Und auch wenn diese Indifferenz zweifellos gewisse Gefahren birgt, so gilt für sie dennoch sinngemäß dasselbe, was ein gewisser Joseph Ratzinger 1970 mit Bezug auf die Würzburger Synode sagte: dass es nicht nur "verständlich", sondern "objektiv kirchlich gesehen auch richtig" sei, dass den Menschen "die Geschäftigkeit des kirchlichen Apparats, von sich selbst reden zu machen, allmählich gleichgültig wird". – Was nun diejenigen Kirchenmitglieder angeht, die überhaupt eine Meinung zum Synodalen Weg haben, so mag es schon stimmen, dass die meisten ihn positiv beurteilen; ja, im Grunde wäre es überraschend, wenn es nicht so wäre, schließlich wird ihnen von allen Seiten signalisiert, man müsse den Synodalen Weg gut finden und nur unbelehrbare Ewiggestrige, fanatische Fundamentalisten, homophobe Frauenhasser und Missbrauchsvertuscher seien anderer Meinung. Es ist auch davon auszugehen, dass viele Katholiken, ironischerweise gerade auch die von ihrer charakterlichen Disposition her eher konservativen, schlichtweg darauf vertrauen, das, was die Bischöfe (und obendrein auch noch die Gremienvertreter und Verbandsfunktionäre) sagen, müsse ja wohl richtig sein. Das kann man ihnen auch kaum verübeln: Im Grunde haben sie Recht damit, das von ihren kirchlichen Institutionen zu erwarten, und darum ist es umso schlimmer, dass die kirchlichen Institutionen dieser Erwartung nicht entsprechen. 

Für die Frage nach der Gefahr eines Schismas ist es allerdings vollkommen unerheblich, wie groß der Anteil der Kirchenmitglieder in Deutschland ist, die den Kurs des Synodalen Wegs mittragen, und das müsste Bischof Bätzing eigentlich wissen; wobei ich andererseits recht überzeugt bin, dass er seine Wahl zum Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz exakt der Tatsache verdankt, dass er nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte ist. Dass er meint, "dass die, die besonders gern davon sprechen", ein Schisma "offensichtlich herbeisehnen", ist allerdings perfide; dasselbe könnte man, beispielsweise, auch über Leute sagen, die vor dem Klimawandel warnen. Im Grunde ist es eine Art victim blaming. – Um es ganz deutlich zu sagen: Wünschenswert kann ein Schisma aus Sicht gläubiger Katholiken keinesfalls sein; es gibt aber sehr wohl Argumente dafür, dass ein offenes, erklärtes Schisma das kleinere Übel im Vergleich zu dem "Schmutzigen Schisma" wäre, auf das wir derzeit zusteuern, wenn wir nicht sogar schon mittendrin sind. 

Der Vorwurf, die Kirche würde zur "Sekte" werden, wenn sie keine "Brücken zu den gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten unserer Zeit" baut, ist natürlich ein alter Hut, und dazu, was für Konnotationen in dem Begriff "Sekte" als Bezeichnung für eine bestimmte Sozialgestalt von Religionsgemeinschaften mitschwingen, habe ich mich schon verschiedentlich geäußert (am kompaktesten wohl hier). Die Unterstellung, der Gegenentwurf zur Kirche des Synodalen Wegs wäre ein Selbstverständnis der Kirche "als eine kleine, feine und abgesonderte Gruppe in unserer Gesellschaft", die "zu den großen gesellschaftlichen Nöten und den Lebenserfahrungen vieler Menschen keine Verbindung mehr sucht", ist jedenfalls ein ziemlich plumper Strohmann – und erinnert frappierend an Urteile über die "Benedikt-Option", die auf einem stark vergröberten und einseitigen Verständnis des Konzepts beruhen. Dass Bätzing insgesamt das verbreitete Narrativ bedient, wem an einer Erneuerung der Kirche gelegen sei, der müsse den Synodalen Weg unterstützen, und wer das nicht tue, der wolle, dass in der Kirche alles beim Alten bleibt, ist aus seiner Position heraus nicht verwunderlich; umso mehr gilt es zu betonen, wie extrem falsch dieses Narrativ ist. Es ist sogar so falsch, dass selbst die Behauptung des genauen Gegenteils tendenziell richtiger wäre. 

  • "Regretting Motherhood" bei der kfd 

Am vergangenen Dienstag überraschte das Portal häretisch.de in der Rubrik "Standpunkt" mit einem Beitrag zum Marienmonat Mai, der die polemische Überschrift "Hört auf, Maria als Mutter zu preisen!" trägt. Dazu ist zunächst festzustellen, dass diese Überschrift die Aussage des von Friederike Frücht, Leiterin der Abteilung Kommunikation der "Katholischen Frauengemeinschaft Deutschland" (kfd) und Chefredakteurin der Mitgliederzeitschrift Junia, verfassten Kommentars in ziemlich überspitzter Form wiedergibt. Tatsächlich schreibt Frau Frücht, Maria werde in der Tradition der Kirche "fast ausschließlich auf ihre Rolle als Gebärerin und Mutter reduziert", und meint, "vor allem Männer" hätten "im Laufe der Kirchengeschichte die Rolle Mariens immer wieder dazu genutzt, sie als passive, dienende und schweigsame Frau schlechthin zu stilisieren", um so "Frauen klein zu halten". Gleichzeitig betont sie zu Recht Marias "wichtige Rolle in der Heilsgeschichte: Ohne sie wäre Jesus Christus, also Gott, nie in die Welt gekommen". Ja eben!, möchte man da ausrufen: Genau deswegen ist ihre wichtige Rolle in der Heilsgeschichte eben die Mutterrolle! Wo liegt eigentlich das Problem? – In einer Facebook-Diskussion auf der Wall des Publizisten Bernhard Meuser wiesen mehrere Kommentatoren darauf hin, dass die kfd-Zeitschrift Junia – benannt nach einer Lieblingsfigur der feministischen Theologie, die allerdings das Manko hat, dass außer ihres Namens und der Tatsache, dass Paulus sie im Römerbrief "angesehen unter den Aposteln" nennt, buchstäblich nichts über sie bekannt ist – noch vor wenigen Jahren frau und mutter hieß und das mit diesem Namen verknüpfte Image offenbar mit Gewalt loswerden wolle. – Das Ironische an der ganzen Geschichte ist natürlich, dass die Auffassung, die Betonung der Mutterschaft impliziere eine Geringschätzung der Frau, ihrerseits eine krasse Geringschätzung der Mutterschaft verrät. Ein Paradebeispiel dafür, dass der Feminismus in seinem ideologischen Gepäck so allerlei Vorstellungen mitschleppt, die im Kern ausgesprochen frauenfeindlich sind. 

  • Das achte Sakrament des Deutschkatholizismus 

Bereits einen Tag früher, also am Montag, erschien in derselben Rubrik ein Kommentar von Christof Haverkamp – seines Zeichens "Pressesprecher und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der katholischen Kirche in Bremen und Senderbeauftragter der katholischen Kirche bei Radio Bremen" – unter dem Titel "Trotz Kritik: Die katholische Kirche in Deutschland hat eine Stärke"; oder, wie Tucholsky sagen würde: "Wat brauchst du Jrundsätze, wenn du'n Apparat hast!". Im Ernst: Haverkamps Argumente dafür, warum es um die Kirche in Deutschland so schlecht doch gar nicht stehe, sind derart erbärmlich, dass ich nicht weiß, ob ich lachen oder weinen soll. "Gegner des Synodalen Weges in Rom und hierzulande reden die katholische Kirche in Deutschland gerne klein", meint er. "Doch wer so abfällig urteilt, übersieht die Stärken: zum Beispiel eine Theologie auf hohem Niveau – oder die Leistungen der Hilfswerke." Auf das angeblich hohe Niveau der deutschen Theologie geht er dann im Folgenden glücklicherweise nicht weiter ein; aber die Hilfswerke! "Die Leistungsfähigkeit von Organisationen im Bereich der Zivilisation in den Tätigkeiten der sozialen, praktischen Ordnung hat die Illusion erzeugt, daß diese mechanisierte, unpersönliche Art Probleme zu lösen gerade das ist, was das religiöse Leben braucht", schrieb schon Dietrich von Hildebrand in "Das Trojanische Pferd in der Stadt Gottes". "Die Überschätzung der Organisation als solcher fand ihren reinsten Ausdruck in den Worten eines berühmten deutschen Erzbischofs, der in ihrem Lob so weit ging, daß er sagte: 'Die katholischen Vereine sind das achte Sakrament der Kirche'". Insoweit also nichts Neues unter der Sonne. Erinnert sei hier auch an den anno 2018 an selber Stelle veröffentlichten Kommentar "Die deutsche Kirche ist immer der Buhmann" von Abtpräses Jeremias Schröder OSB, dessen Entgegnung auf weltkirchliche Kritik an der Glaubensschwäche der kirchlichen Institutionen in Deutschland – wie ich seinerzeit schrieb – im Kern auf "Das, was man uns vorwirft, stimmt, aber wir finden das gut so" und "Ihr seid doch nur neidisch, dass wir mehr Kohle haben als ihr! P.S.: Deinemudda!!" hinauslief; erinnern wir uns auch, wie der Freiburger Theologiedozent Daniel Bogner in einem Gastkommentar auf kath.ch die "Entweltlichungs"-Thesen Benedikts XVI. mit dem Argument verwarf, es gebe "auch so etwas wie ein institutionelles, amtliches Zeugnis der Kirche", das darin bestehe, "dass in ihrem Namen gute Bildungsarbeit, bestmögliche medizinische Versorgung, sensible Beratungsarbeit oder nachhaltige Entwicklungshilfe angeboten werden", und dafür brauche es eben "Manpower, große Stäbe und Management. Die christliche Gesinnung zeigt sich dann eben darin, dass Kirche keine eigene Welt aufbaut, sondern schlicht und einfach nach den Kriterien der jeweiligen Aufgabe professionell ist." Und last not least reite ich immer wieder gern darauf herum, dass sich anlässlich des Erscheinens von Erik Flügges Pamphlet "Eine Kirche für viele statt heiligem Rest" allen Ernstes jemand fand – nämlich Norbert Bauer, Leiter der Karl-Rahner-Akademie in Köln –, der Flügges Ansatz deshalb kritisierte, weil er zu religiös sei; genauer gesagt, weil er auf eine Kirche abziele, die sich "nur noch [!] als Glaubensgemeinschaft definiert und den [...] Anspruch als Dienstleister für die Gesellschaft und für ihre Mitglieder aufgibt". "Das größte Ansehen" habe die Kirche schließlich "vor allem da, wo sie als professionelle Dienstleister wirkt, bei Caritas und Bildung". – Auf mich macht es ja den Eindruck einer gewissen Verzweiflung, dass einem solche kläglichen Argumente immer und immer wieder aufgetischt werden. Sicher, wenn man die institutionelle Kirche in Deutschland unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet, dann mag es plausibel scheinen, ihr zu raten, sie solle sich auf ihre Stärken konzentrieren, und der ganze Glaubenskram gehöre ja nun wohl offensichtlich nicht zu diesen Stärken. Aber eben diese betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise verrät bereits eine im Ansatz verfehlte Auffassung davon, was die Kirche ist und wozu sie da ist. Ich halte es da lieber mit Darth Vader: 


Was ich gerade lese 

Reden wir nicht lange drumherum: Ich habe noch keine Zeit und Muße gefunden, mich mit Klaus Hemmerles Keynote Speach (wie man heute sagen würde) bei der Eröffnung des Katholikentags 1968 zu befassen. Hoffentlich nächste Woche! Kommen wir also direkt zur aktuellen 

Abermals ein Zufallsfund aus der Stadtteilbibliothek; und auch wenn ich nicht mit Sicherheit weiß, welches Familienmitglied das Buch zuerst im Regal entdeckt hat, war es definitiv meine Entscheidung, es mitzunehmen – als Gegengewicht zu den ganzen Büchern über magische Einhörner, die das Tochterkind so gern anschleppt. Und nun bin ich nicht mehr so sicher, ob das so eine gute Idee war. 

Aber mal der Reihe nach. Titelfigur Pembo ist ein Mädchen, das als Tochter eines türkischen Friseurs und einer deutschen Tätowiererin an der türkischen Riviera aufwächst – bis ihr Vater die lang ersehnte Chance bekommt, sich selbständig zu machen, indem er den Salon eines verstorbenen Onkels übernimmt. Der Haken an der Sache: Dieses Geschäft liegt in Deutschland. Und Pembo ist, gelinde gesagt, nicht sehr glücklich darüber, in ein fremdes Land umziehen zu müssen (auch wenn es das Heimatland ihrer Mutter ist.) 

Von der Erzählweise her hat das Buch durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit der "Lola"-Reihe, allerdings macht dieser Vergleich nur den qualitativen Abstand deutlich. Das erste Problem des Buches ist, dass die Handlung nicht in Gang kommt. Dass Pembos Familie nach Deutschland übersiedeln wird und Pembo deswegen wütend und frustriert ist, erfährt der Leser schon auf den ersten Seiten; sieben Kapitel und rund 60 Seiten später ist die Familie immer noch nicht abgereist und es ist auch sonst noch nichts Bedeutsames passiert, außer dass die Protagonistin und Ich-Erzählerin sich in ihrer schlechten Laune suhlt. Was direkt zum nächsten Problem führt: Das dauernde Geschimpfe und Genörgel macht die Protagonistin nicht unbedingt sympathisch. Sicher, Lola hat auch mal schlechte Laune, gar nicht mal so selten sogar; aber bei ihr hat der Leser nicht das Gefühl, dass das sozusagen ihre Grundeinstellung ist. Wenn Lola mal aggressiv und selbstgerecht ist, kommt sie recht bald zur Besinnung und entschuldigt sich. Bei Pembo hat man den Eindruck, sie findet es toll, aggressiv und selbstgerecht zu sein. 

Nicht ganz von dieser Beobachtung zu trennen ist die Frage nach dem Wokeness-Faktor. Hier habe ich noch kein anschließendes Urteil gefällt, da ich noch ziemlich mittendrin im Buch bin. Festzuhalten ist jedenfalls, dass Pembo ein ziemlich burschikoses Mädchen ist: Eigentlich lautet ihr Name Pembegül, was wörtlich übersetzt "rosa- bzw. pinkfarbene Rose" bedeutet, aber sie hasst ihren Namen, die Farbe Rosa und überhaupt alles, was als mädchenhaft und niedlich gilt. Was daran positiv zu vermerken ist: Es wird dennoch nicht in Frage gestellt, dass Pembo ein Mädchen ist, und es ist auch nicht die Rede davon, dass sie lieber ein Junge wäre. – Zum Thema Geschlechterrollen ist es auch bezeichnend, dass Pembos Vater ein ziemliches Weichei ist, während es von ihrer Mutter heißt, dass sie ihn "gut im Griff" hat (S. 97). Nach ihrem Umzug nach Hamburg lernt die Familie einen "liebe[n] Freund" (S. 101) des verstorbenen Großonkels Hasan kennen, und die Art und Weise, wie er um diesen trauert, lässt den Verdacht aufkommen, dass die beiden alten Männer womöglich ein Liebespaar waren; da passt es auch ins Bild, dass sich der Laden, den Großonkel Hasan Pembos Vater vererbt hat, als Hundesalon entpuppt, mit einem pinkfarbenen Königspudel als Firmenlogo. 

Vorläufig würde ich also sagen, der Wokeness-Faktor ist signifikant höher als in allen anderen Kinderbüchern, die wir bisher als Bettlektüre hatten, aber noch lange nicht so hoch, wie man es sich theoretisch vorstellen oder befürchten könnte. Das größere Problem an diesem Buch ist, dass es mir einfach unsympathisch ist. Und ich bezweifle, dass sich daran noch etwas ändert. 


Aus dem Stundenbuch 

Jeder, der glaubt, dass Jesus der Christus ist, stammt von Gott und jeder, der den Vater liebt, liebt auch den, der von ihm stammt. Wir erkennen, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote erfüllen. Denn die Liebe zu Gott besteht darin, dass wir seine Gebote halten. Seine Gebote sind nicht schwer. Denn alles, was von Gott stammt, besiegt die Welt. Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube. Wer sonst besiegt die Welt, außer dem, der glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist? Dieser ist es, der durch Wasser und Blut gekommen ist: Jesus Christus. Er ist nicht nur im Wasser gekommen, sondern im Wasser und im Blut. Und der Geist ist es, der Zeugnis ablegt; denn der Geist ist die Wahrheit. Drei sind es, die Zeugnis ablegen: der Geist, das Wasser und das Blut; und diese drei sind eins. 

(1 Joh 5,1-8


Ohrwurm der Woche 

Brother D & Collective Effort: How We Gonna Make the Black Nation Rise 


Diesen Song habe ich ursprünglich mal vor Jahren in der CD-Mappe eines DJ-Kollegen "entdeckt"; und erinnert habe ich mich an ihn, als unlängst auf dem (stets empfehlenswerten) YouTube-Kanal von Popmusik-Kritiker "Todd in the Shadows" ein Beitrag über Run-DMC erschien – der mir zum wiederholten Male bewusst machte, dass ich vom Gesamtphänomen Rap/HipHop gerade genug verstehe, um eine Ahnung davon zu haben, wie viel ich davon nicht verstehe. Und genau das finde ich reizvoll daran. – An "How We Gonna Make the Black Nation Rise", das musikalisch auf dem Disco-Hit "Got to Be Real" von Cheryl Lynn (1978) basiert, ist nicht zuletzt bemerkenswert, dass es als die erste explizit politische Rap-Single gilt – erschienen 1980, volle zwei Jahre vor "The Message" von Grandmaster Flash & The Furious Five.  Daryl Aamaa Nubyahn, der sich als Rapper "Brother D" nannte, war Mathelehrer an einer berufsbildenden Schule in der Bronx und nahm wahr, dass seine Schüler sich für Rapmusik begeisterten; was ihn jedoch ärgerte, war, dass es in den damaligen Rap-Songs typischerweise um Mädchen, Geld und schicke Autos ging. Seine Antwort darauf war ein Song, der darauf abzielte, das politische Bewusstsein der Jugendlichen zu schärfen oder überhaupt erst zu wecken. – Freilich sagt die Tatsache, dass ein Song eine politische Message hat, noch nichts über die Qualität dieser Message aus, und so kann man im Text von "How We Gonna Make the Black Nation Rise" durchaus manches Fragwürdige und Problematische entdecken. Schon die im Titel genannte Idee der "Black Nation" verweist auf die Ideologie des militanteren Flügels der afroamerikanischen Emanzipationsbewegung wie etwa der "Black Panther Party" oder der "Black Liberation Army"; auch dass im Text die Rede davon ist, dass die US-Regierung Konzentrationslager betreibe und einen (nicht nur metaphorischen, sondern buchstäblichen) Völkermord an der schwarzen Bevölkerung plane, ist in diesem Kontext zu betrachten. (Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass ich so ziemlich alles, was ich über dieses Thema weiß, aus Darryl Coopers Podcast "God's Socialist" habe, den ich gern und eindringlich empfehle.) Nubyahn alias Brother D. selbst war Mitglied einer radikalen Splittergruppe namens "Family of Black Science". Zugespitzt könnte man den Song "How We Gonna Make the Black Nation Rise" mitsamt seiner Hintergrundgeschichte mit dem hypothetischen Fall vergleichen, dass ein mit den Reichsbürgern sympathisierender Berufsschullehrer Instrumentalpassagen aus Helene-Fischer-Songs hernimmt, um dazu über das Great Replacement und Massensterilisation durch Chemtrails und mRNA-Impfstoffe zu rappen, aber ich will hier niemanden auf Ideen bringen. Ich bezweifle auch, dass das Ergebnis so tight wäre. 


Blogvorschau 

In der zurückliegenden Woche war ich einigermaßen erfolgreich darin, meine "Blogschulden" abzuarbeiten, und habe sowohl den recht arbeitsintensiven Artikel "Der Geist und die Synodalen" als auch den 17. Teil der "eingekerkerten Nonne", der von den Fans der Serie bereits voller Ungeduld erwartet wurde, fertig gekriegt; nun steht noch der Artikel zum Thema "Kochen für die Familie" aus, und danach will ich mich dem "Dossier Erstkommunion" zuwenden. Und wie geht's dann weiter? 

Zum einen habe ich meine Leser am vergangenen Wochenende auf Facebook und Twitter über die Weiterführung der Artikelserien "God Gave Rock'n'Roll to You" und "Die 100-Bücher-Challenge" abstimmen lassen, und das Ergebnis lautet, dass ich beide Reihen wieder aufgreifen soll, die "Rock'n'Roll"-Reihe jedoch zuerst. Da werde ich mir also etwas einfallen lassen müssen; ein Aufhänger könnte der jüngste Shitstorm gegen den Wiesbadener Schlachthof wegen des Auftritts der Gruppe Skillet sein, aber darüber will ich auch für die Tagespost noch was schreiben – da gilt es Dopplungen zu vermeiden. 

Jedenfalls habe ich nun (von den Wochenbriefings einmal abgesehen) schon vier Artikelserien, die nach halbwegs regelmäßiger Fortsetzung verlangen – die eingekerkerte Nonne, die "Lola"-Rezensionen, "God Gave Rock'n'Roll to You" und die Bücher-Challenge, wobei es durchaus eine Überlegung wert wäre, die "Lola"-Bücher in die Bücher-Challenge zu integrieren. So oder so möchte ich am kommenden Wochenende aber erst einmal über die nächsten "serienunabhängigen" Artikelthemen abstimmen lassen – nämlich die folgenden: 
  • Hol dir deine Kirche zurück! 
Ich habe es vor zwei Wochen schon erwähnt: Mein Manager "Patrick" aus Wien hat mich auf ein YouTube-Video mit dem vielversprechenden Titel "How and why to retake the Mainline Churches" aufmerksam gemacht. Auch wenn ich mit den Thesen des Videos nicht durchweg einverstanden bin, denke ich doch, dass es einige auch und gerade für deutsche Katholiken in Zeiten des "Schmutzigen Schismas" möglicherweise richtungsweisende Gedanken enthält, und das würde ich gern einmal auseinanderklamüsern. 
  • Bloggen als unehrenhafte Form des Journalismus 
Bald acht Jahre sind vergangen seit Kardinal Marx' berüchtigtem "Verblödungs"-Diktum, und ich denke, es wird mal wieder Zeit, einen kritischen Blick auf die Rolle des Bloggers bzw. des Bloggens in der katholischen Öffentlichkeit insbesondere Deutschlands zu werfen. Dabei soll es aber schwerpunktmäßig weniger darum gehen, wie die offiziösen Presseportale der Amtskirche damit umgehen, dass ein unbeugsames Häuflein von Freibeutern ihnen die Diskurshoheit streitig macht – dazu habe ich schließlich schon öfter etwas geschrieben –, als vielmehr um die Erfahrung, dass man an der kirchlichen Basis, wo das Internet für Viele immer noch Neuland ist, nicht selten der Auffassung begegnet, das Bloggen sei eine unseriöse und sogar anrüchige Tätigkeit. 
  • Der Traum von der erneuerten Gemeinde 

Auch von diesem Themenentwurf war vor zwei Wochen schon die Rede: Er ist gewissermaßen ein Nebenprodukt meiner Recherchen für den Artikel "Auf der Werft der Erneuerung?". Von dem 1966 erschienenen Buch "Heiße (W)Eisen" des damaligen Frankfurter Stadtjugendpfarrers Lothar Zenetti bis hin zu den Jahrgängen 1970-73 des legendären "Komm-mit-Kalenders" habe ich allerlei recht bemerkenswerte Impulse zur Gemeindeerneuerung in der Nachkonzilszeit entdeckt, die ich in mehrfacher Hinsicht diskussionswürdig finde: sowohl in Hinblick darauf, was davon auch für die Gegenwart und Zukunft richtungsweisend sein könnte,  als auch in Hinblick darauf, warum damals so wenig "daraus geworden" ist. 

Und last not least möchte ich dem Teil meines Publikums, der "Huhn meets Ei" zumindest unter anderem auch als Parenting-Blog liest (allen anderen Lesern sei an dieser Stelle versichert: Ja, dieses Publikumssegment gibt es!), auch mal über die Wochenbriefings hinaus etwas bieten; dazu dient der in Arbeit befindliche, hoffentlich in Kürze erscheinende Koch-Artikel, und dazu soll auch der folgende Themenvorschlag mit dem Arbeitstitel 
  • Shopping-Queens und Horsefluencerinnen 
dienen. Darin soll's um die Lieblings-YouTuberinnen meiner fünfjährigen Tochter gehen, sowie darum, warum ich eine von diesen tendenziell besser finde als die andere. Allgemeine kritische Reflexionen zum Thema "Medienkonsum im Vorschulalter" gehören da natürlich auch mit hinein. 

Die Abstimmung über die Reihenfolge dieser Themen gedenke ich Samstag früh zu starten, aber Ihr dürft gern auch jetzt schon im Kommentarfeld Euer Votum abgeben! 



Montag, 22. Mai 2023

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 17

Was ist eigentlich aus Jovita von den Engeln geworden? Es ist schon wieder recht viel Zeit ins Land gegangen, seit hier von den Schicksalen der eingekerkerten Nonne zu lesen war; was hauptsächlich daran liegt, dass die Arbeit an zwei Artikeln über die theo-ideologischen und kirchengeschichtlichen Wurzeln des Schismatischen Wegs mich ziemlich lange aufgehalten hat. Daher wird es nun aber höchste Zeit, dass ich mich dem LX. Kapitel des Romans "Barbara Ubryk oder Die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau" zuwende, das den ominösen Titel "Der Wink Gottes" trägt und das ich eigentlich schon in der vorigen Folge dieser Artikelserie hatte besprechen wollen, es dann aber aus Platzgründen auf später verschoben habe. Wohlan denn: Später ist jetzt

Das Kapitel beginnt mit Ausführungen über den schlechten Gesundheitszustand der Protagonistin: "Von Natur aus schwächlich und zart in ihrer Constitution, schwächte sie die harte klösterliche Lebensweise , die Entbehrung von Fleischspeisen und der Genuß süßlichen Backwerkes und von Fischen nur noch mehr" (S. 895); guck an, Ernährungsberatung kann der Autor also auch. "Jovita [...] wurde zusehends blässer und magerer. Ihre Wangen wurden hohl, die Augen sanken ein und die Haare fielen büschelweise aus" (ebd.). 

Damit aber noch nicht genug, ereignet sich "kurz nach Ostern" (S. 896) "des Jahres 1845" (S. 895) ein in der Kapitelüberschrift als "Wink Gottes" bezeichneter Unfall: "Beim Abstauben eines Altares" fällt "einer der großen Leuchter, welche neben dem Tabernakel stehen, in Folge eines Anstoßes" Jovita auf den Kopf, und zwar "so heftig , daß sie besinnungslos am Altare hinsank und erst nach längerer Zeit in diesem Zustande aufgefunden ward" (S. 896). Zu allem Übel trifft der schwere Leuchter auch noch ausgerechnet "den Theil des Hauptes [...], an dem sich die große Narbe [...] befand", die Jovita alias Barbara im Alter von 13 Jahren von den Barrikadenkämpfen in Warschau davongetragen hat (ebd.). Wie wir gesehen haben, hat der Autor den Leser und vermutlich auch sich selbst erst kürzlich an diese Episode aus dem Polnischen Aufstand von 1830/31 erinnert, und nun scheint er entschlossen, das Möglichste daraus zu machen. Die alte Wunde bricht wieder auf und entzündet sich, und das Ergebnis lautet: "Den Krankensaal sollte Jovita sobald nicht mehr verlassen" (ebd.). 

Alexander Zick, Illustration zu "Die zweite Frau" von E. Marlitt. Auch so ein klassischer Kulturkampfroman. 

Gerade in der Zeit, in der die Protagonistin solcherart außer Gefecht gesetzt ist, ereignen sich einige Dinge, die für den weiteren Handlungsverlauf bedeutsam zu sein versprechen. Zunächst stirbt Jovitas Mutter, "die verwittibte Frau Elka von Ubryk, geborne Gräfin Zolkiewicz, [...] in ihrem 74. Lebensjahre" (S. 898). Halten wir anlässlich dieser Altersangabe gleich mal fest, dass der Verfasser sich wieder einmal in der Chronologie der Romanhandlung verheddert hat: Die Todesanzeige ist auf den 13. März 1845 datiert (ebd.), demnach müsste Elka 1771 oder '72 geboren sein; aber obwohl der Beginn der Romanhandlung auf den Oktober "des letzten Jahres im vorigen Jahrhunderte", also 1799, datiert ist (S. 15), ist Elka bei ihrem ersten Auftritt, auf S. 67, erst "ungefähr dreizehn Jahre" alt. Bedeutsamer als die Altersangabe dürfte indes der Ort sein, an dem Elka das Zeitliche gesegnet hat: "Wie fiel es denn der Alten ein, in Krakau zu sterben?", fragt Pater Gratian nicht ohne Grund, als er die Todesanzeige liest. "War sie denn nicht mehr hier?" (S. 898). Die Antwort auf diese Frage geht aus einem Brief hervor, den Barbaras alias Jovitas Schwestern ihr zusammen mit der Todesanzeige geschickt haben, den die Priorin Zitta jedoch abgefangen hat: Aus diesem Brief erfährt man, dass Elka überraschend vom Tod ereilt wurde, während sie bei ihrer zweiten Tochter Therese und deren Ehemann, dem Kaufmann Paul Niemojowski, in Krakau zu Besuch war. Auf S. 704 hatte es zwar geheißen, Niemojowski sei in Warschau ansässig und Elkas anderer Schwiegersohn, der Privatgelehrte Ludwig Gorzkowski, in Krakau, aber das kann man ja mal verwechseln, oder das Ehepaar Niemojowski könnte in der Zwischenzeit umgezogen sein. Jedenfalls mehren sich die Indizien, dass Krakau als Handlungsschauplatz noch eine größere Rolle spielen wird als bisher. Die Priorin und Pater Gratian interessieren sich für Elkas Tod natürlich vorrangig wegen der damit verbundenen Erbschaft: "Dieses Vermögen muß uns zufallen. [...] Gott, unser Kloster würde das reichste in Warschau, welche Reliquien könnten wir in Rom ankaufen, welche Ablässe vom Papste erhalten, welche Begünstigungen vom hochwürdigsten Generale auswirken!" (S. 901). 

Um dieses Vermögens schnellstmöglich habhaft zu werden, fingiert die Priorin einen Brief "an die Schwestern Jovitas [...], worin sie – als Jovita – ihre tiefe Trauer wegen des Todesfalles der Mutter und endlich den lebhaften Wunsch aussprach, die Vermögensangelegenheiten umgehend erledigt zu sehen" (S. 901). Als "[k]urz darauf [...] der Gemahl Theresens von Krakau nach Warschau" kommt, "um Jovita persönlich das ganze Erbtheil hinauszubezahlen" (ebd.), verhindert die Priorin eine persönliche Begegnung, indem sie "dem Herrn Niemojowski" weismacht, "seine Schwägerin wäre auf ihr Ansuchen, um sich wegen des Ablebens der Mutter zerstreuen zu können, auf Bettel, das ist Einsammeln von Almosen für das Kloster, ausgeschickt worden, und also nicht zu Hause. Da sie erst in drei Wochen zurückkehren würde, so möge er das Geld einstweilen dem Klosterpriorate zur Verwahrung anvertrauen" (ebd.). Kaum hat sie das Geld in Empfang genommen, meldet die Priorin schon ihrem Ordensgeneral in Rom, "das ganze Vermögen der Nonne Barbara Ubryk, genannt Jovita von den Engeln, befinde sich jezt im Depot des Klosters und stehe zur Disposition. Sie bitte einen Theil desselben für das Kloster St. Theresia verwenden zu dürfen" (S. 902). Besonders frohlocken sie und Pater Gratian darüber, dass sie "den Jesuiten einen guten Bissen weggeschnappt" haben (ebd.) – was uns daran erinnert, dass es über weite Teile der Romanhandlung ja die Jesuiten waren, die mit allen Mitteln danach trachteten, das Vermögen der Familie Zolkiewicz an sich zu bringen; seit Barbaras Eintritt bei den Karmelitinnen ist davon aber nicht mehr die Rede gewesen. Sollte man diese beiläufige Bemerkung als Indiz dafür auffassen, dass die Jesuiten zukünftig nochmals in die Romanhandlung eingreifen werden? 

Im nächsten Schritt fassen Pater Gratian und die Priorin den Entschluss, Jovita endgültig ihrer Familie zu entfremden, "damit wir mit ihr nach Belieben schalten und walten können" (S. 903); sie erreichen dies durch einen weiteren fingierten Brief an Jovitas Schwestern, in dem es u.a. heißt: "Mein einziger Wunsch ist die baldige Heimkehr zur seligen Mutter. Ich habe nichts mehr auf dieser Welt zu suchen. [...] Unter solchen Umständen fühle ich keinerlei Bedürfniß mehr zu Berbindungen mit der Außenwelt. Bestrebt Euch daher, mich zu vergessen; betrachtet mich als Todte. [...] Ich will alle und jede Verbindung mit Euch abgebrochen wissen und werde mich bemühen, die Erinnerung an Geschwisterte und Verwandte meinem Gedächtniße auszutilgen, wie die Liebe zu Euch im Herzen längst erstorben ist , um einer reineren überirdischen Platz zu machen" (ebd.). – Man kann sich vorstellen, dass dieser Brief die "beabsichtigte Wirkung" nicht verfehlt: "Die Schwestern Jovitas fühlten sich tief gekränkt durch denselben und sagten sich, jetzt, nachdem ihre Schwester das Geld erhalten habe, fange sie an brutal zu werden" (ebd.). 

"Jovita lag unterdessen schwerkrank im Krankensaale und ahnte nicht, welch boshaftes Spiel hinter ihrem Rücken getrieben wurde" (S. 904). – "Ihr Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Die Entzündung der Narbe raubte ihr zeitweilig die Besinnung, und der Arzt fürchtete sehr für ihr Leben. Wäre sie damals gestorben – das Schauderhafteste wäre ihr erspart geblieben" (S. 905). Die Nachricht vom Tod ihrer Mutter überbringt Gratian ihr in grell überzeichneter Form: Während Elka tatsächlich friedlich im Bett gestorben ist, behauptet Gratian "Sie fiel über die Stiege herab und brach das Genick" (S. 907) – und fügt hinzu: "Die Eltern büßen auch die Sünden ihrer Kinder" (ebd.). Damit nicht genug, macht er der leidenden Jovita weis, "noch ein anderes Unglück" habe die Familie getroffen: "Eine Deiner Schwestern starb im Kindbette, die andere entfloh ihrem Manne und man weiß nicht, wohin" (ebd.). 

Gegen Ende des Kapitels gibt es dann aber doch einen Lichtblick für die arg gepeinigte Jovita: Sie bekommt einen neuen Beichtvater. Wie es dazu kommt, ist eine Geschichte für sich, und da lohnt es sich, ein bisschen auszuholen: 

"Der erzbischöfliche Generalvikar war in einer Nacht plötzlich aus dem Bette geholt und von Kosaken nach Sibirien transportirt worden", erfährt man auf S. 908. "Man munkelte in Warschau, die russische Regierung ginge damit um, die katholischen Geistlichen Polens zur griechischen Kirche hinüberzuziehen und habe den Generalvikar, der dieselben im Falle des Uebertrittes mit dem Banne bedrohte, deshalb verhaften und in die Verbannung abführen lassen." So so, "man munkelte". Da lehne ich mich mal ein Stück aus dem Fenster und sage, das ist ausgedachter Quatsch. Immerhin hat mich diese Passage aber veranlasst, ein bisschen zur Geschichte des Erzbistums Warschau im handlungsrelevanten Zeitraum zu recherchieren. Dabei habe ich festgestellt, dass der erzbischöfliche Stuhl von Warschau bereits seit 1838 vakant war; bis 1844 war Tomasz Chmielewski Kapitularvikar der Erzdiözese, nach dessen Tod dann Antoni Melchior Fijałkowski, der 1857 Erzbischof wurde und sich als spiritueller Führer der polnischen Nationalbewegung einen Namen machte. – Wenn man also bedenkt, dass ein bedeutender Wechsel in der Leitung der Diözese in der Realität ziemlich genau ein Jahr früher stattfand als in der Romanhandlung, könnte man meinen, der Autor hätte sich ruhig ein bisschen mehr Mühe geben können, seine Erzählung so zu konstruieren, dass sie zu den nachprüfbaren historischen Fakten passt; aber dass er sich diese Mühe gerade nicht gibt, unterstreicht einmal mehr den Gesamteindruck, dass er die Romanhandlung überhaupt nicht in nennenswertem Ausmaß vorausgeplant hat, sondern von Woche zu Woche aufs Geratewohl drauflosschreibt. Beachten wir übrigens, wie nah die Handlungszeit inzwischen an den Zeitpunkt des Erscheinens dieses Fortsetzungsromans herangerückt ist: Es liegen nur noch ungefähr 25 Jahre dazwischen. Zur Verdeutlichung: Das ist so, als würde ich heute einen Roman herausbringen, der 1998 spielt. Und wenn in diesem Roman dann Wolfgang Schäuble Bundeskanzler wäre und die DDR noch existierte, würden die Leser vielleicht sagen "Oh, ein Alternate History-Roman"; aber den Anspruch, die authentischen Hintergründe eines realen Kriminalfalls aufzudecken, würde man diesem Roman wohl eher nicht abkaufen. 

Nun aber mal weiter im Text: "Der betrübte Erzbischof" – von dem wir ja nun wissen, dass es einen solchen zu diesem Zeitpunkt realiter gar nicht gab – ernennt "sogleich in der Stille einen etwas vorsichtigeren Priester zum Generalvikar" (S. 908). Für die Handlung ist das deshalb von Belang, weil der schurkische Pater Gratian ein Protegé des bisherigen, nun nach Sibirien deportierten Generalvikars war, wohingegen der neue Generalvikar "ein vertrauter Freund und das Beichtkind des Carmeliterpaters Alfons" ist; und dieser "benützte sogleich seinen Einfluß auf ihn und ließ sich zum Beichtvater im Kloster St. Theresia designiren" (ebd.). So erhält Jovita "endlich einen Beichtvater [...], der es wirklich aufrichtig und gut mit ihr meinte", nämlich eben "den kleinen schmächtigen Pater Alfons" (ebd.), von dem ja bereits abzusehen war, dass er noch eine einigermaßen bedeutsame Rolle im Romangeschehen zu spielen haben würde. Obwohl nicht frei von menschlichen Schwächen, wird er als grundsätzlich sympathischer Charakter gezeichnet. "Pater Alfons hatte sich aus keinem selbstsüchtigen Grunde zu dem Amte eines Beichtvaters im Carmeliterinnenkloster gedrängt", heißt es auf S. 909: "Er wollte nur von dem ihm lästigen Chorgebete zur Nachtzeit befreit werden, eine Begünstigung, die den auswärtigen Beichtvätern zu Theil wird." (Das ist demnach also kein selbstsüchtiger Grund? Interessant.) "Er verlangte daher auch von seinen Beichtkindern weit größeren Ernst in der Befolgung der Ordensregeln, da ihm Pläne, wie sie von Pater Gratian gehegt wurden, gänzlich ferne lagen" (ebd.). Ein Seelsorgegespräch zwischen Alfons und Jovita dient dem Autor einmal mehr als Vorwand zu seitenlangen Exkursen über das Leben und die Schriften der Hl. Teresa von Àvila; während er bei früheren Gelegenheiten aber die Leidensmystik der großen Ordensreformerin als Beleg für den krankhaft masochistischen Charakter des kontemplativen Klosterwesens herangezogen haben würde, lautet sein Urteil hier: "Durch solche Belehrungen und Zusprüche richtete Pater Alfons die kranke Jovita auf. Auch Gratian hatte ihr viele Züge aus dem Leben der Heiligen vorgeführt, aber nicht in der frommen Absicht, sie zu erbauen und ihr Seelenheil zu befördern. Pater Alfons dagegen, dem stets eine höhere Pflicht vor Augen schwebte, erwies sich ihr als wirklicher geistlicher Vater" (S. 912). 

Nun, man wird sehen, wie sich das weiter entwickelt; das LXI. Kapitel trägt jedenfalls den Unheil verheißenden Titel "Geister, Kobolde, Dämone, Teufel, Belzebuben, Satanas". Aber bevor wir dazu kommen, bin ich den Fans dieser Artikelserie noch die Fortsetzung einer anderen gruseligen Klostergeschichte aus der Kolportageliteratur des späten 19. Jahrhunderts schuldig – nämlich des Kapitels "Die sieben Todsünden" aus Sir John Retcliffes Roman "Biarritz". Und sei es nur, um den qualitativen Abstand zwischen dem Großmeister des Genres und seinen Epigonen zu demonstrieren. – Gehen wir mal direkt rein in den Text:

"Dort, wo sich die Monti Quadri [...] erheben und die Scheidewand zwischen dem Flußgebiet des Sangro und des Garigliano bilden, von denen der erste östlich, der zweite westlich des Fuciner See's in den Gebirgen entspringen und der Sangro in die Adria, der Garigliano unterhalb Lanciano in das mittelländische Meer münden, [...] erhebt sich eine hohe Reihe von Felsgebirgen, deren Charakter an Rauhheit und Unzugänglichkeit zunimmt, je mehr sie sich dem hohen Bergriesen der Abruzzen nähern.
So zaudernd auch der Schritt der sonst so kühnen und nichts weniger als zaghaften Männer war, und mit so viel seltsamlichen und abenteuerlichen Geschichten auch der Aberglaube der eingebornen Gebirgsbewohner die Kameraden anderer Heimath über die Geheimnisse des Klosters unterhielt, – Niemand wagte doch, der Weisung des alten Banditenchefs ungehorsam zu sein, und der Marsch der Truppe endete in der That am späten Abend in der Nähe des verrufenen Klosters.
Einen gewissen Trost gewährte es freilich, daß man sich durch eine schroffe hohe Bergwand davon getrennt wußte." (S. 133f.) 

So viel zum Atmosphärischen! – Wir erinnern uns, dass der Brigantenhauptmann Tonelletto den Offizier Chevigné gebeten hatte, an seiner Stelle – da er wegen einer Fußverletzung nicht selbst gehen kann – einem Einsiedler, dessen Klause ganz in der Nähe des sogenannten "Klosters der Verdammten" liegt, eine geheime Botschaft zu überbringen. Nachdem die Freischärler ihr Lager aufgeschlagen haben, will Chevigné diesen Auftrag sogleich ausführen, obwohl es bereits dunkel geworden ist: "Die Nacht ist so schön, das Spiel des Mondlichts in diesen grotesken Felsen so malerisch, daß der Gang eher ein Vergnügen wäre, wenn ich nicht fürchten müßte, den Weg zu verfehlen" (S. 136). Wegen dieser Bedenken gibt Tonelletto ihm einen ortskundigen Führer mit: "Er hat früher schon den Weg bei Tage gemacht und ist der Einzige, der den Muth hat, ihn bei Nacht zu finden. Der Bursche war einmal Laienbruder in Rom, bis er eines schönen Abends bei irgend einer Hure einem Maler das Messer zwischen die Rippen stieß und deshalb in die Berge lief!" (S. 137f.). Selbst diesen ansonsten so unerschrockenen Burschen versetzt der Gedanke daran, "jetzt bei Nacht [...] nach dem verfluchten Kloster" gehen zu sollen, in erhebliche Unruhe, und er erklärt sich nur gegen eine großzügige Belohnung bereit, Chevigné zu begleiten – aber auch "nur so weit, daß der Signor nicht fehl gehen kann zur Klause des Eremiten" (S. 138). Unterwegs verrät er dem Offizier, dass "in dem Kloster der Verfluchten" nur die Mitternachtsmesse gelesen wird – "weil, wie das Volk erzählt, keine der Nonnen das Tageslicht wieder sehen darf" (S. 140). – Aber spulen wir noch einmal ein Stück zurück: Die Botschaft, die Chevigné dem Eremiten überbringen soll, besteht zu seiner Verwunderung lediglich aus einem scheinbar unbeschriebenen Blatt Papier. "Das fängt in der That an, ziemlich abenteuerlich zu werden", merkt er an. "Welcher Heiligen ist denn dieses geheimnißvolle Kloster gewidmet?", fragt er Tonelletto, und als dieser antwortet "Der Santa Maddalena!", ergibt sich der folgende bezeichnende Wortwechsel: 

"Parbleu - das klingt fast nach Meyerbeer und Robert dem Teufel. Ich würde Nichts dawider haben, wenn eine schöne Helena da wäre, um mich zu verlocken und wahrlich mich nicht so lange sträuben, wie der heilige Herr Robert von der Normandie." 

"Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen, Signor, aber kann Sie versichern, so furchtlos ich auch bin, es gäbe keinen Preis der Welt, für den ich eine Nacht in der Kirche der heiligen Maddalena zubringen möchte!" (S. 137). 

Die Anspielung auf Meyerbeers Oper "Robert le diable" (uraufgeführt 1831) bezieht sich offenbar auf eine Szene im dritten Akt, in der der Titelheld den Friedhof eines verfallenen Klosters aufsucht, wo die Geister verstorbener Nonnen auf ihren Gräbern tanzen: 

Dies bleibt indes nicht die einzige literarische Referenz: Den Einsiedler, dem Chevigné die Botschaft überbringen soll, stellt dieser sich zunächst in etwa so vor wie den "berühmten Bruder Tuck aus Walter Scott's 'Ivanhoe'" (S. 145) – und ist entsprechend überrascht, in der Klause einen etwa sechzigjährigen, großen, hageren Mann mit "abgezehrte[m] Gesicht" und "dunklen feurigen Augen" (S. 145f.) anzutreffen, der gerade dabei ist, sich zu geißeln. Chevigné schließt daraus, "daß er entweder einen jener Fanatiker des Glaubens vor sich hatte, die gleich den indischen Fakirs in der wüthendsten Selbstpeinigung den Dienst ihres Gottes suchen, oder einen Unglücklichen, der Sühnung für schwere Sünden darin findet" (S. 145). 

Auftragsgemäß übergibt Chevigné diesem düsteren Asketen das weiße Blatt Papier, das, wie man sich schon hat denken können, nicht wirklich unbeschrieben ist: 

"Der Klausner nahm einen alten Blechnapf aus dem Winkel, füllte ihn zur Hälfte mit klarem Wasser aus einem irdenen Krug und goß dann einige Tropfen aus der Phiole in den Napf.

Der Offizier bemerkte, daß sofort ein leichter Dampf aus der Schaale emporstieg. In diese Flüssigkeit tauchte der Eremit das erhaltene Blatt und zog es dann auf beiden Seiten über die Flamme der Lampe.

Das scharfe Auge des Offiziers bemerkte, daß sofort auf beiden Seiten des Papiers eine schwarze Schrift sichtbar wurde.

Nachdem der Klausner das Blatt getrocknet, begann er diese Schrift, die in Chiffern bestand, zu lesen" (S. 149f.). 

Den Inhalt der Nachricht erfährt der Leser an dieser Stelle nicht, wohl aber, dass sie den Einsiedler zu beunruhigen scheint: 

"'Der Wille Derer, die im Namen der Kirche zu gebieten haben, muß geschehen,' sagte er mit traurigem leisen Ton, 'wenn auch das schwache Auge des Dienenden seine Weisheit nicht zu erkennen vermag. Gott und die Heiligen mögen geben, daß es nicht selbst zum Schaden der Kirche ausschlage'" (S. 151). 

Gleich darauf erklärt der Einsiedler seinem Besucher, "eine dringende Pflicht" (ebd.) zwinge ihn zum sofortigen Aufbruch; er erlaubt Chevigné jedoch auf dessen Bitte hin, in seiner Klause zu übernachten – und ist plötzlich verschwunden, ohne dazu die Tür benutzt zu haben. Dieser Umstand veranlasst den allein zurückgebliebenen Offizier, sich in der Behausung des Eremiten genauer umzusehen – und dabei entdeckt er hinter dem Altar der Klause einen Geheimgang, der "in das Innere des Felsens" und somit offenbar in Richtung des Klosters führt, was Chevigné zu der bezeichnenden Bemerkung veranlasst: "[W]enn ich nicht Gelegenheit gehabt hätte, mich zu überzeugen, daß es diesem seltsamen Eremiten Ernst ist mit seiner Reue und Buße, würde mir dieser Weg zu seinen Beichttöchtern etwas verdächtig erscheinen" (S. 153). 

Die Entdeckung dieses Geheimgangs hält Chevigné allerdings nicht davon ab, sich erst einmal schlafen zu legen; erzähltechnisch ein ausgesprochen cleverer Schachzug, da es das darauffolgende Geschehen – ganz ähnlich wie im Fall des im ersten Band desselben Retcliffe-Romans enthaltenen Kapitels "Auf dem Judenkirchhof in Prag", das als literarische Vorlage für die berüchtigten "Protokolle der Weisen von Zion" gilt – in ein gewisses Zwielicht rückt: Zwar lautet der nächste Absatz "Der Offizier mochte etwas mehr als eine Stunde geschlafen haben, wobei es ihm träumte, er sei in der großen Oper zu Paris und höre den Gesang des Chors, als er erwachte" (ebd.); aber erwacht er wirklich? Könnte es nicht sein, dass auch die im Folgenden geschilderten Geschehnisse in Wirklichkeit nur ein Traum Chevignés sind? Mir scheint, das wird sehr bewusst in der Schwebe gehalten; und weiterhin scheint mir, dass dies eine Gelegenheit für einen Cliffhanger ist, die ich mir keinesfalls entgehen lassen darf. 

Fortsetzung folgt!