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Mittwoch, 29. August 2012

"Was gibt's'n da zu gewinnen?"

... So lautete eine häufig gestellte Frage während jener Wochen, in denen ich meinen Freundes- und Bekanntenkreis auf das Voting zum Schwester-Robusta-Preis der deutschsprachigen Blogoezese 2012 aufmerksam zu machen bestrebt war. Natürlich erklärte ich stets geduldig, es gehe da nicht um Gewinn in irgendeiner materiellen Form, vielmehr sei die Auszeichnung an sich schon der Preis... fügte dann aber doch gern hinzu: "Naja, die Gewinner kriegen 'ne schicke Plakette, die sie sich dann auf ihre Seite hochladen können."

Und hier ist sie! Ist sie nicht prächtig?




An dieser Stelle also erneut innigsten Dank an alle, die für diesen Blog gestimmt und/oder ihn weiterempfohlen haben, und nicht zuletzt natürlich auch an den Herrn Alipius von den Klosterneuburger Marginalien, der diesen schönen Preis gestiftet hat...!

Nicht minder schön als den Preis finde ich es, dass "Huhn meets Ei..." während des Votings so viel gelesen wurde wie nie zuvor; und dass so ein Wettbewerb einen ganz erheblichen Ansporn bedeutet, merkt man auch daran, dass ich im Monat August deutlich mehr neue Beiträge verfasst habe als sonst. Nun sollte ich natürlich eigentlich nicht nachlassen; wird also mal Zeit für neue Beiträge. Ist auch nicht so, dass ich nichts zu schreiben wüsste, eher im Gegenteil...: Wo anfangen?

Daher an dieser Stelle eine kleine Leserbefragung: Zu welchem Thema/welchen Themen möchtet Ihr hier demnächst gern etwas lesen? Was wünscht Ihr Euch allgemein von diesem Blog? Mehr Rock'n'Roll? Mehr Momentaufnahmen aus dem Alltag? Mehr Satire, mehr Literarisches? Oder etwa doch noch mehr kirchenpolitische Aktualia? Lasst es mich wissen!

(Eins muss aber dazu gesagt werden: Auch wenn ich Euch hier ausdrücklich nach Euren Wünschen frage, behalte ich mir das Recht vor, sie gegebenenfalls auch zu ignorieren. Bin ja nicht umsonst DJ... Ein Beitrag zu diesem Thema ist übrigens schon seit Längerem in Arbeit!!)

Mittwoch, 22. August 2012

Pack die Badehose ein, die Sintflut ist da!

Ich habe einen skurrilen neuen Follower auf Twitter: Ohne dass ich sagen könnte, womit ich das verdient habe, folgt mir seit gestern Abend ein Account namens Bibel und 2012. Auf den ersten Blick fand ich den Namen leicht sonderbar und speziell das "und" darin irgendwie deplatziert, aber bei näherem Hinsehen wurde schnell offensichtlich, was es mit dem Namen dieses Accounts – der auf eine gleichnamige Website verweist – auf sich hat: Er bezieht sich auf den nicht zuletzt durch Roland Emmerichs Film 2012 (der von der NASA zum "absurdesten Science-Fiction-Film" gewählt wurde) beförderten Hype um den angeblich im Maya-Kalender prophezeiten Weltuntergang im Jahr 2012. Zwar hätte man denken können, nachdem Wissenschaftler die Behauptung, das am 21.12.2012 anstehende Ende des Maya-Kalenderzyklus bedeute den Weltuntergang, schlüssig widerlegt haben, wäre das Thema so langsam mal "durch", aber nix da: Nun hat man sich schon so auf den Weltuntergang gefreut hat, lässt man sich das doch nicht durch schnöde wissenschaftliche Erkenntnisse kaputt machen. Wenn die Maya als Gewährsleute des bevorstehenden Weltendes unsichere Kantonisten werden, müssen eben andere herhalten.Der alte Nostradamus zum Beispiel. Die Hopi-Indianer. Die Zulu. Der "Bibel-Code". Und zur Not sogar die Weissagungen des Malachias. So ist halt für jeden was dabei.

Der Weltuntergang hat also Hochkonjunktur dieses Jahr, und der Accountname "Bibel und 2012" soll also wohl in etwa heißen: "Alle reden vom Weltuntergang – was sagt die Bibel dazu?" Eine berechtigte Frage, auf die man eine kurze Antwort geben könnte: "Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater" (Mt 24,36). Das ist aber wohl Manchem ganz einfach zu langweilig, oder auch zu unsicher. Menschen, die es trotz dieses Schriftworts gern etwas genauer wissen wollen oder auch genauer zu wissen meinen, gibt es auch nicht erst seit gestern. William Miller, ein Baptistenprediger aus Massachusetts, aus dessen Anhängerschaft schließlich die Siebenten-Tages-Adventisten hervorgingen, prophezeite den Anbruch der Apokalypse zuerst für 1843, dann für 1844, schließlich für 1845, danach gab er es auf, neue Termine anzusetzen. Charles Taze Russell, der Gründervater der Zeugen Jehovas, errechnete den Anbruch der Endzeit für das Jahr 1914, und seine Anhänger glauben auch bis heute, dass die Endzeit 1914 angebrochen sei. Dies nur die bekanntesten Beispiele.

Und der Betreiber der "Bibel und 2012"-Website und des dazugehörigen Twitter-Accounts? Der gehört offenbar auch zu jenen, die sich auf die Apokalypse freuen, denn auch seiner Homepage ist zu lesen: "Im Fall der Entrückung steht diese Domain zur freien Verfügung..."

Zu meinen weiteren Ausführungen empfehle ich etwas musikalische Untermalung. Diese hier zum Beispiel.


Die "Entrückung" (engl. rapture) der Auserwählten Gottes von der Erde hatte der US-Radioevangelist Harold Camping zwar schon für den 21.05.2011 vorausgesagt, aber wer wird so kleinlich sein...

Wer sich mit den Details der biblischen Endzeitprophezeiungen und deren Auslegungen, speziell jenen von fundamentalistisch-protestantischer Seite, noch nicht allzu intensiv auseinandergesetzt hat, der wird mit dem Begriff "Entrückung"/"rapture" erst einmal wenig anzufangen wissen; aber dafür ist ja der Bibel und 2012-Betreiber da, der seine Leser aufklärt: "[W]ir, die Jesus als ihren Retter und Herrn angenommen haben, werden vor Beginn der Endzeit von Jesus in den sicheren Himmel entrückt (siehe 1 Thessalonicher Kapitel 4, Verse 13 – 18). Ehe es hier auf Erden richtig schlimm wird, ruft Jesus uns bei der Entrückung in die Sicherheit des Himmels."

Übrigens legt der Autor sich durchaus nicht darauf fest, dass die Entrückung noch in diesem Jahr stattfinden wird. Überhaupt ist nicht ganz klar zu erkennen, ob er selbst an den Anbruch der Apokalypse im Jahr 2012 glaubt oder lediglich das gesteigerte Interesse an Weltuntergangsprophezeiungen nutzen will, um darauf aufmerksam zu machen, was die Bibel über die Endzeit aussagt. Allerdings geht er sehr entschieden davon aus, dass die Letzten Tage nicht mehr fern sind; darum will er seinen Lesern praktische Hinweise geben, wie sie gerettet werden können – und woran sie den Anbruch der Endzeit erkennen können: Ein Großteil der Beiträge dreht sich um den Abgleich aktueller Nachrichten aus aller Welt mit biblischen Prophezeiungen - vor allem aus der Offenbarung des Johannes, aber auch aus Ezechiel, Daniel und anderen Prophetenbüchern. Und siehe da: Ob es um den "Arabischen Frühling" geht, um die Lage im Nahen Osten oder um die Staatsschuldenkrise in der EU (die als wiedererstandenes Römisches Reich gedeutet wird!) -- allüberall zeigen sich die Vorboten der Apokalypse! Sogar die Meldung, dass "die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Spieler- und Jugendschutz den Zugang und die Benutzung von Geldspielautomaten regulieren will", zählt der Autor zu diesen Vorboten: "Es geht anscheinend immer mehr in Richtung übermächtiger, allwissender Staat bei gleichzeitiger Reduzierung der individuellen Eigenverantwortung und Freiheiten. Genau das, nämlich die Kontrolle des Staates über die Menschen, prophezeit die Bibel für die Endzeit." Das mag man belächeln, aber an anderer Stelle geht es weit weniger lustig zu - etwa wenn subtil angedeutet wird, Obama sei der Antichrist: "[A]m Anfang ist der Antichrist ein sympatischer Friedensstifter, ein glatter und eloquenter Politiker, der es aufgrund seines Auftretens und seiner sprachlichen Beredtheit versteht, die Unterstützung der meisten Menschen zu erlangen. Sie folgen ihm gerne." Erst gegen Ende seiner Herrschaft – sagen wir ruhig: in seiner zweiten Amtszeit – wird der Antichrist sein wahres Gesicht zeigen: "Der Antichrist wird eine so große Not und bisher nicht gekannte Pein verursachen, so daß Menschenschlächter wie Hitler, Stalin und Mao im Vergleich mit dem Antichristen wie Waisenknaben erscheinen."

Spätestens jetzt möchte man doch gerne mal wissen, wer eigentlich hinter Bibel und 2012 steckt. Der Text macht an vielen Stellen den Eindruck, als sei er zwar grammatikalisch weitgehend korrekt, aber etwas unbeholfen und ziemlich wortwörtlich aus dem Englischen übersetzt; etwa wenn wiederholt vom "Zweiten Kommen von Jesus" die Rede ist: Second Coming heißt die Wiederkunft Christi auf Englisch, aber im Deutschen ist dieser Ausdruck eigentlich nicht gebräuchlich; und die Vermeidung des Genitivs durch "von"+Dativ wird zwar auch im Deutschen immer beliebter – Bastian Sick nennt diese Konstruktion in einem seiner Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod-Bücher scherzhaft den "Vonitiv" –, wirkt aber plump und etwas missverständlich, denn das "Kommen von Jesus" könnte schließlich auch bedeuten, dass nicht Jesus selbst kommt, sondern dass jemand Anderes von Jesus (her) kommt. Die "Vonitiv"-Konstruktion findet sich auf der Website und den darauf verweisenden Tweets häufiger; hier zwei Beispiele in einem: "Die Grundsteine vom Neuen Jerusalem (Hauptstadt vom Himmel)" – da kriege ich als leidenschaftlicher Germanist Gänsehaut auf den Trommelfellen!

Das Impressum der Website nennt als Urheber einen Kurt Nane Jürgensen aus Sandpoint/Idaho; der Name klingt recht deutschstämmig, was im Mittleren Westen der USA ja keine Seltenheit ist. Angesichts des Umstandes, dass Mr. Jürgensen im Kartoffelfarmer-Eldorado Idaho zu Hause ist, stehen natürlich prompt sämtliche gängigen antiamerikanischen Klischeevorstellungen Schrotflinte bei Fuß: Wer kennt sie nicht aus diversen Filmen - seien es Spielfilme wie Robert Altmans The Gingerbread Man oder Dokumentationen wie Michael Moores Bowling for Columbine -, diese Landkommunen fanatisch bibelgläubiger Waldschrate, die ihr privates Waffenarsenal für die Teilnahme an der Schlacht von Harmagedon im Wandschrank horten und glauben, die Regierung würde Drogen ins Trinkwasser mischen? – Ganz so ein Hinterwäldler kann Mr. Jürgensen letztlich aber wohl doch nicht sein, immerhin hat er Internetanschluss und recht umfangreiche, wenn auch tendenziös verzerrte Kenntnisse über das politische Weltgeschehen. Und was erst recht nicht ins Bild des evangelisch-freikirchlich geprägten Ultrafundamentalisten passt: Er bedient sich in seinen deutschsprachigen Bibelzitaten der Einheitsübersetzung und gibt als Quelle eine Bibel aus dem Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart, 1980, an!

Dass er gerade diese Bibelausgabe verwendet hat, kann natürlich Zufall sein; man könnte auch – angesichts einer auf der Homepage wiedergegebenen Leserzuschrift des Inhalts "Danke für Ihre Seite! Mein Herz hat oft herzhaft lachen und auch weinen müssen, vielen Dank!" – auf die Idee kommen, das ganze Projekt Bibel und 2012 sei eine groß angelegte Satire. Aber darauf deutet im Grunde wenig hin, außer einem vagen Gefühl, das alles könne doch unmöglich ernst gemeint sein. Und dieses Gefühl kann bekanntlich ganz erheblich trügen.

Sonntag, 19. August 2012

The Rabbit Diaries, Pt. III

Gestern Nacht, kurz vor dem Einschlafen, schreckte ich plötzlich noch einmal auf und dachte in Panik: "ICH HABE DIE KANINCHEN VERGESSEN!" Gleich darauf fiel mir ein, dass ich schon seit Tagen gar nicht mehr für die Betreuung von Flocke und König Friedrich zuständig bin, denn es wohnt ja jetzt wieder jemand in der Wohnung, in denen die beiden flauschigen Nager ihr Domizil haben, und ich habe allen Grund, davon auszugehen, dass sie in guten Händen sind; und morgen oder übermorgen kommt dann wohl auch die eigentliche Kaninchenmama wieder aus dem Urlaub zurück. Trotzdem, eine gewisse Unruhe blieb und verfolgte mich bis in meine Träume, und heute musste ich erst mal meiner Nachfolgerin in der Kaninchenbetreuung eine Nachricht schicken und mich erkundigen, wie es den lieben Tierchen gehe.

Ich vermisse sie richtig. Muss sie wohl mal besuchen.

Es ist erstaunlich, wie schnell einem solche kleinen Geschöpfe ans Herz wachsen können, und das, obwohl sie den lieben langen Tag eigentlich nur ihren eigenen Angelegenheiten nachgehen und dem Menschen, der sie füttert und ihren Stall sauber macht, anfänglich sogar mit offenem Misstrauen begegnen. Es kommt mir so vor, als wäre das eine ganz gute Metapher für irgendwas, aber was genau das sein könnte, überlasse ich dem Nachdenken meiner Leser... - Wahrscheinlich war es aber gerade dieses anfängliche Misstrauen der Kaninchen, das es für mich so rührend machte, nach ein paar Tagen festzustellen, dass sie anfingen, mich zu akzeptieren, und nach und nach immer zutraulicher wurden.

Kurz und gut, es war eine schöne, ja, eine beglückende Erfahrung, Zeit mit den Kaninchen zu verbringen, die Verantwortung für sie zu haben, auf eine ganz unspektakuläre, alltägliche Weise für sie da zu sein. Es war schön, jeden Abend erst die Kaninchen zu füttern und dann mir selbst etwas zu essen zu machen. Wenn ich mich an die Bedenken zurückerinnere, die ich anfänglich hatte, ehe ich diese Aufgabe übernommen habe, dann muss ich ein wenig über mich lächeln. Was wiederum auch was Schönes ist.

Jetzt mag es nahe liegen, mir vorzuschlagen, ich solle mir ein eigenes Haustier zulegen - oder, wenn es Kaninchen sein sollen, lieber gleich zwei, da die nicht gern allein leben. Aber ich glaube, so weit bin ich dann doch noch nicht...

Samstag, 18. August 2012

"Famoses Land, dieses Sibirien, und allerliebste Verhältnisse!"

Anfangs war es nur ein Sommerloch-Thema unter vielen. Aber seit gestern werde ich von allen Seiten mit "Free Pussy Riot"-Solidaritätsbekundungen überschwemmt. Und zwar wirklich von ALLEN Seiten: Von meinen Freunden aus der linksautonom-veganen Volksküchen-Szene bis hin zu der alten Frau F., deren politischen Standpunkt man bei allerbestem Willen gerade noch als rechtspopulistisch bezeichnen kann -- überall herrscht lautstarke Empörung über Putin, die russische Justiz und nicht zuletzt die Russisch-Orthodoxe Kirche. Damit man mir nun nicht gleich die Freundschaft kündigt, sei es bei Facebook oder sogar im wirklichen Leben, will ich gleich vorausschicken, dass ich grundsätzlich große Sympathie für das Ansinnen empfinde, die künstlerische Freiheit gegen politische und/oder juristische Verfolgung zu verteidigen. Ich hege auch keinerlei feindselige Gefühle gegen die drei inhaftierten Pussy Riot-Musikerinnen Nadeschda Tolokonnikowa, Marija Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch und will hier durchaus nicht dazu aufrufen, die Delinquentinnen in einem sibirischen Arbeitslager verrotten zu lassen. Und ich erkenne an, dass Punk nun mal von Provokation und Tabubruch lebt. Trotzdem habe ich den Eindruck, angesichts der überall zu hörenden Bekundungen, die Welt sei hier Zeuge eines Schauprozesses, mit dem das erzdiktatorische Putin-Regime seine Kritiker mundtot machen wolle, sind einige Klarstellungen durchaus am Platz.

Zunächst einmal: Angeklagt und verurteilt wurden die drei jungen Damen nicht dafür, dass sie gegen Putin demonstriert haben, sondern dafür, dass sie dies im Altarraum einer russisch-orthodoxen Kathedrale getan haben, was nach Auffassung des Gerichts den Straftatbestand des "Rowdytums aus religiösem Hass" erfüllt. Wer diese Begrifflichkeit als etwas abstrus empfindet und typisch russische Willkür in gleichermaßen zaristischer wie stalinistischer Tradition dahinter wittert, der sei darauf verwiesen, dass die als "Punk-Gebet" bezeichnete Pussy Riot-Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale auch nach deutschem Strafrecht justiziabel gewesen wäre, nämlich nach §167 StGB (Störung der Religionsausübung) und §123 StGB (Hausfriedensbruch). Vor der gestrigen Urteils- und Strafmaßverkündung war vielfach Kritik an der langen Untersuchungshaft und an den Haftbedingungen geübt worden, und dieser Kritik will ich keinesfalls widersprechen. Gegen den Schuldspruch als solchen lässt sich aber kaum etwas einwenden; er entspricht ganz einfach der Gesetzeslage. Nun kann man es durchaus unverhältnismäßig finden, dass die jungen Punkrockerinnen eine nicht einmal eine Minute dauernde Performance mit zwei Jahren Haft büßen sollen; allerdings sieht auch das deutsche Strafrecht - vgl. den oben bereits angesprochenen § 167 StGB - für "Störung der Religionsausübung" bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe vor; nach russischem Recht, das hier ja maßgeblich ist, wären sogar bis zu sieben Jahre möglich, sodass man behaupten kann, das Strafmaß sei vergleichsweise moderat ausgefallen. Hätte mit dem Prozess gegen die drei Pussy Riot-Sängerinnen ein Exempel gegen Putin-Kritiker statuiert werden sollen, hätte man mit einer härteren Strafe rechnen können; so erwartete die oben erwähnte Frau F. gar, die jungen Frauen würden zum Tode verurteilt werden - sie wusste offenbar nicht, dass es in Russland, anders als etwa in den USA, keine Todesstrafe gibt.

Ob Tolokonnikowa, Aljochina und Samuzewitsch nun wirklich für eineinhalb Jahre (die Untersuchungshaft wird auf die Gesamtstrafe angerechnet) ins Straflager müssen, ist angesichts der öffentlichen Reaktionen im In- und Ausland indes noch keinesfalls sicher. Einiges Gewicht dürfte in diesem Zusammenhang dem Umstand zukommen, dass nun auch die Russisch-Orthodoxe Kirche - die zuvor gefordert hatte, das Sakrileg in der Christ-Erlöser-Kathedrale streng zu ahnden - zu Gnade für die Verurteilten aufgerufen hat.

Einen sehr bündigen Kommentar zu dieser jüngsten Stellungnahme des Obersten Kirchenrates der Russisch-Orthodoxen Kirche las ich heute Mittag auf Twitter: "Heuchler!", donnerte @chrlenzen, seines Zeichens Pastor einer Freien evangelischen Gemeinde, mit biblischem Furor. Auf Kritik an dieser Äußerung reagierte er mit dem Hinweis, auch Jesus habe Heuchelei sehr entschieden beim Namen zu nennen gewusst. So richtig das ist: Man sollte denken, zwischen dem Sohn Gottes und dem Pastor einer Freien evangelischen Gemeinde gebe es noch gewisse Unterschiede, und letzterer täte womöglich ganz gut daran, Matthäus 7,1-5 ("Vom Richten") zu beherzigen - wo, wir registrieren es nicht ohne Verblüffung, ebenfalls von Heuchelei die Rede ist! Davon unbeirrt erklärte @chrlenzen jedoch: "Ich richte nicht, ich beurteile. Biblischer Unterschied. Es gibt die Gabe der Unterscheidung etc.". - In der Tat, die gibt es. Die Selbstgewissheit, mit der mein Diskussionspartner sich auf diese beruft, macht mich allerdings ein wenig sprachlos. Liegt vielleicht daran, dass ich kein Evangelikaler, sondern nur Katholik bin und trotz intensiver Bemühungen noch nicht einmal gelernt habe, übers Wasser zu gehen.

Aber davon einmal ganz abgesehen, worin besteht denn hier der Vorwurf an die Russisch-Orthodoxe Kirche? Vor dem Urteil gegen die drei Pussy Riot-Musikerinnen hat sie schlicht ihr Recht eingefordert, nämlich den Schutz des Gesetzes gegen Entweihung ihrer Gotteshäuser und Schmähung ihres Glaubens. Mit dem Schuldspruch gegen die Angeklagten ist der Kirche dieses Recht bestätigt worden, und somit hat sie ihr Ziel erreicht; wenn sie nun zeigt, dass sie an der tatsächlichen Bestrafung der Verurteilten nicht interessiert ist, und dazu aufruft, Gnade vor Recht (!) ergehen zu lassen, dann hat das - in meinen Augen - nichts mit Heuchelei zu tun; im Gegenteil empfinde ich dies als ausgesprochen christliche Handlungsweise: Nicht von ungefähr erinnert die Äußerung des Obersten Kirchenrates, er hoffe, dass die Gruppe  "künftig von blasphemischen Handlungen absehen" werde, an die Worte Jesu an die vor der Steinigung bewahrte Ehebrecherin: "Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!" (Joh 8,11).

Aber wie es scheint, sind in der öffentlichen Wahrnehmung der Pussy Riot-Affäre die moralischen Gewichte allzu klar verteilt, als dass Kritik an den Punk-Rebellinnen und Verständnis für jene, die ihre Performance in der Christ-Erlöser-Kathedrale als Sakrileg ansehen, viel Gehör finden könnten. Selbst auf christlicher Seite nicht. Ein anderer Twitter-Nutzer, @HiramTemplar, äußerte gar, Pussy Riot hätten "mit ihrer Kirchen-Aktion mehr biblische Werte vertreten als die Russisch-Orthodoxe Kirche mit ihrer Reaktion darauf" (Rechtschreibung angepasst, ich weiß, macht man in Zitaten eigentlich nicht); was für biblische Werte das im Einzelnen sein sollen, wird allerdings wohl sein Geheimnis bleiben. - Angesichts der seltenen Einmütigkeit der öffentlichen Meinung in dieser Angelegenheit - die sich, wie eingangs angemerkt, auch auf meinen persönlichen Freundes- und Bekanntenkreis erstreckt - bin ich mir sehr bewusst, dass ich mich mit diesem Diskussionsbeitrag auf recht dünnes Eis begebe; aber ich baue einfach mal auf die Achtung vor der Meinungsfreiheit, um deren Verteidigung es bei den weltweiten Protesten gegen das Pussy Riot-Urteil dem Vernehmen nach ja in erster Linie gehen soll...

(P.S.: Der Titel dieses Beitrags ist ein Zitat aus Karl Mays Kolportageroman Deutsche Herzen, deutsche Helden - und gleichzeitg der Titel eines Aufsatzes von Ekkehard Koch über das Russlandbild dieses Romans.)

Weißer Rauch über Klosterneuburg!


Gestern Abend ist das Voting für den von Alipius Müller (Klosterneuburger Marginalien) ausgerichteten "Schwester-Robusta-Preis der deutschsprachigen Blogoezese 2012" zu Ende gegangen, und heute Mittag wurden die Ergebnisse verkündet. In 14 Kategorien wurden Gold-, Silber- und Bronzemedaillen vergeben; der große Gewinner der Abstimmung ist JoBo 72's Weblog. der nicht nur so zu sagen den "Hauptpreis" - Gold in der Kategorie "Qualität" -, sondern zudem noch zwei weitere Gold- und zwei Silbermedaillen abgeräumt hat. Herzlichen Glückwunsch dazu! (In einer der diversen Kategorien, für die JoBo nominiert war, habe auch ich für ihn gestimmt, aber unter Berufung auf das Wahlgeheimnis verschweige ich, welche das war...)

Insgesamt haben ganze 28 der 129 nominierten Blogs mindestens eine Auszeichnung erhalten, und, man lese und staune: Mein Blog ist auch dabei! Ich habe, wie ich gestehen muss, von diesem Wettbewerb überhaupt nur dadurch erfahren, dass ich zu meiner Freude und Überraschung von Claudia Sperlich (Mein Leben als Rezitatorin und Verlegerin) für die Kategorie "Frische" vorgeschlagen wurde - die Newcomer-Kategorie, reserviert für Blogs, die zum Zeitpunkt der Nominierung noch nicht älter als ein Jahr waren. Nun könnte man sagen, in der Newcomer-Kategorie hat man gewissermaßen noch "Welpenschutz", weil man sich mit bzw. an den "Großen" gar nicht messen (lassen) muss; da ist sicherlich was Wahres dran, trotzdem war die Konkurrenz auch und nicht zuletzt in dieser Kategorie stark: Ganze 19 Blogs waren hier nominiert, und man kann durchaus nicht behaupten, dass man denen ansähe, dass sie quasi noch in den Kinderschuhen stecken. Ich habe es daher als große Auszeichnung betrachtet, überhaupt im Rennen zu sein, aber bei aller olympischen Gesinnung, man kennt das ja: Läuft der Wettbewerb erst mal, packt einen doch schnell der Ehrgeiz. Und dann wurde es auch noch so extrem spannend! Während sich in einigen anderen Kategorien schnell klare Favoriten herauskristallisierten, blieb es im "Frische"-Voting bis zuletzt sehr knapp - und nun das Ergebnis:


Kurz und schlicht gesagt: Ich bin platt. Dass ich sogar noch vor dem Pimpfblog landen würde, den ich für den eindeutigen Favoriten in dieser Kategorie gehalten hätte und den ich auch selbst sehr gern lese, hätte ich nie gedacht. Da bleibt mir nur noch, mich sehr, sehr herzlich zu bedanken -- bei Alipius für die Ausrichtung des Preises, bei Claudia für die Nominierung und natürlich bei allen, die für "Huhn meets Ei" gestimmt und/oder diesen Blog weiterempfohlen haben. Und natürlich ist diese Auszeichnung mir ein erheblicher Ansporn fürs weitere Bloggen...

Wie der Berliner sagt (der ich als Nicht-Eingeborener allerdings nur in Anführungs- bzw. mit Abstrichen bin): Ick freu mir!

Nochmals Danke an alle,

KingBear

P.S.: Zur vollständigen Ergebnisliste geht's hier!

Sonntag, 12. August 2012

Morgen früh, wenn Gott will

Im Zuge der jüngsten Beschneidungsdebatte meldeten sich von atheistischer und/oder religionskritischer Seite verstärkt Stimmen zu Wort, die - unabhängig von der Frage körperlicher Eingriffe - jegliche Form von religiöser Kindererziehung (oder, wie es vielfach genannt wird, "religiöser Indoktrination" von Kindern) scharf kritisierten: Es sei nicht zu rechtfertigen, einem Kind, das noch nicht in der Lage ist, sich frei dafür oder dagegen zu entscheiden, eine religiöse Weltanschauung aufzuzwingen. - Wer Religion insgesamt nichts Positives abgewinnen kann, für den ist eine solche Einstellung zweifellos einigermaßen konsequent - wenngleich sie verkennt, dass Erziehung immer auch weltanschauliche Beeinflussung bedeutet: Wird dem Kind keine religiöse Anschauung "aufgezwungen", dann eben eine nicht- oder sogar antireligiöse; und selbst wenn die Eltern sich redlich bemühen, ihre Erziehung in diesem Punkt "neutral" zu halten, lässt sich ein gewisser Grad an Beinflussung in der Praxis gar nicht vermeiden (einmal ganz davon abgesehen, dass ein Bemühen um "Neutralität" auch ganz einfach in Verwirrung und Orientierungslosigkeit münden kann).

Kritik an religiöser - und speziell christlicher - Kindererziehung hat es selbstverständlich auch schon vor der Beschneidungsdebatte gegeben; und wenn es schon Eltern und Pädagogen gibt, die beispielsweise die Grimmschen Märchen aufgrund ihrer Grausamkeit und zuweilen fragwürdigen Moral als ungeeignet für Kinder ansehen, dann braucht man sich über die Argumente gegen die Vermittlung des christlichen Glaubens an Kinder nicht zu wundern. Das beginnt schon damit, dass im Zentrum der christlichen Erlösungslehre die Kreuzigung Christi steht - was dazu führt, dass ein antikes Folter- und Hinrichtungsgerät als Symbol dieser Religionsgemeinschaft fungiert und dass Kirchen, illustrierte Bibeln usw. voll sind mit Darstellungen eines geschundenen, blutüberströmten Christus. Kann man das einem Kind zumuten? Und die zahllosen Mord- und Totschlagsgeschichten in der Bibel, vor allem im Alten Testament? Und ist nicht die Vorstellung eines allmächtigen und allwissenden Gottes an sich schon geeignet, ein Kind zu traumatisieren? (Vgl. Friedrich Nietzsche, Nietzsche contra Wagner: "'Ist es wahr, daß der liebe Gott überall zugegen ist?' fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: 'aber ich finde das unanständig'".)

Gehört hat man diese Argumente alle schon mal, und ich will mich hier nicht damit aufhalten, im Einzelnen auf sie zu antworten. Bemerkenswert finde ich es in diesem Zusammenhang jedoch, dass ich schon mehrfach von jungen Müttern Einwände gegen den Text des bekannten Kinderliedes "Guten Abend, gute Nacht" gehört habe, dessen erste Strophe lautet:

Guten Abend, gute Nacht
Mit Rosen bedacht
Mit Näglein besteckt
Schlupf unter die Deck
Morgen früh, wenn Gott will
Wirst du wieder geweckt.

Während der kryptische Vers "Mit Näglein besteckt" in der Regel allenfalls irritiertes Stirnrunzeln auslöst, entzündet sich die Kritik für gewöhnlich an den beiden letzten Versen. Wie brutal, Kinder damit zu konfrontieren, dass sie am nächsten Morgen womöglich nicht wieder aufwachen - und das auch noch mit Gott in Verbindung zu bringen! - Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass derselbe Gedanke in einem ebenfalls recht bekannten angloamerikanischen Kinder-Nachtgebet noch expliziter ausgesprochen wird:

Now I lay me down to sleep,
I pray the Lord my soul to keep,
If I shall die before I wake,
I pray the Lord my soul to take.

Konfrontiert man die hierüber empörten Mütter mit der Frage, was denn so falsch daran sei, Kindern frühzeitig ein Bewusstsein ihrer eigenen Sterblichkeit zu vermitteln, wird ihnen wohl erst einmal vor Schreck der Mund offen stehen. Dass man jeden Gedanken an den Tod, ja möglichst das Wissen um die bloße Existenz des Todes so weit und so lange wie möglich von Kindern fernhalten sollte, erscheint ihnen so evident, dass ihnen gar nicht einfiele, das irgendwie zu begründen. Wahrscheinlich kennen sie es aber auch nicht anders, weil sie selbst so erzogen wurden. Der Tod ist eine Art negativer Weihnachtsmann: Es gibt ihn zwar, aber das Kind soll das erst möglichst spät erfahren.

Wenn hierzulande ein Kind zum ersten Mal in seinem Leben mit dem Tod konfrontiert wird, dann dürfte es sich in den meisten Fällen entweder um den Tod älterer Familienangehöriger - etwa der Großeltern - oder aber um den Tod von Haustieren handeln. Aber wie viele Kinder - gerade in Großstädten - haben noch regelmäßigen Kontakt zu ihren Großeltern? Oder umgekehrt, wie viele Senioren sterben heute noch im Kreis ihrer Familie? Gestorben wird heute im Krankenkhaus oder im Pflegeheim, und dahin müssen besorgte Eltern ihre Kinder ja nicht mitnehmen. Und was die Haustiere betrifft: Liegt der Hamster oder der Wellensittich eines Tages tot im Käfig, während das Kind im Kindergarten, in der Schule oder sonstwie außer Haus ist, dann kann ich mir gut vorstellen, dass viele Eltern den kleinen Kadaver stillschweigend entsorgen und dem Kind später weismachen, das Tier wäre davongelaufen oder -geflogen. Das ist für das Kind nicht unbedingt weniger traurig, aber es erspart den Eltern, das heikle Thema Tod ansprechen zu müssen.

Es liegt auf der Hand, dass Erwachsene, die ihren Kindern gegenüber die Existenz des Todes verleugnen, damit ihre eigene Angst vor dem Tod auf die Kinder projizieren, die diese Angst sonst vermutlich gar nicht hätten. Fragt man Erwachsene, wie sie gern sterben möchten, dann erhält man häufig zur Antwort: Am liebsten möchten sie ganz plötzlich, von einem Moment auf den anderen, tot umfallen. Ohne Vorwarnung mitten aus dem Leben gerissen zu werden, das gilt als guter Tod. Mit anderen Worten: Die Angst vor dem Tod ist so groß, dass die Leute ihm auch dann noch nicht ins Auge sehen wollen, wenn er schon unmittelbar bevorsteht. Sie wollen leben, als ob es keinen Tod gäbe - und das bis zuletzt.

Man muss gar nicht besonders religiös sein, um diese Haltung gegenüber dem Tod - die an das Verhalten kleiner Kinder erinnert, die glauben, wenn sie nur fest genug die Augen schließen, verschwinden die Dinge, vor denen sie Angst haben, von allein - unreif und ein bisschen lächerlich zu finden. Aus christlicher Perspektive kommen jedoch noch allerlei andere Aspekte hinzu. Für den Christen ist der Tod nicht nur ein selbstverständlicher Bestandteil des Lebens, sondern sogar ein ganz zentraler - der Übergang zu einem anderen, einem ewigen Leben. Daraus folgt nicht automatisch, dass der Christ mehr oder weniger Angst vor dem Tod hat als der Nichtchrist - denn einerseits erwartet er, dass er nach dem Tod für sein Tun und Lassen auf Erden gerichtet wird, andererseits vertraut er auf die Liebe und Barmherzigkeit Gottes -; in jedem Fall aber ist der Tod für den Christen ein allzu bedeutendes Ereignis, als dass er sich nicht darauf sollte vorbereiten wollen. Berühmt wurden die letzten Worte des Renaissancefürsten und Papstsohnes Cesare Borgia: "Ich habe für alles Vorsorge getroffen im Laufe meines Lebens, nur nicht für den Tod, und jetzt muss ich völlig unvorbereitet sterben." Das memento mori - die permanente Erinnerung daran, dass der Mensch sterben müsse - war vom Mittelalter bis ins Barock allgegenwärtig; so fanden sich Sinnsprüche, die den Gedanken an den Tod wach halten sollten, häufig auf Sonnenuhren, und so erklären sich auch häufige Abbildungen von Gerippen, Totenschädeln usw. in Kirchen, auf Gemälden, Reliefs und Siegeln. Gerade aus der Tatsache, dass der Tod gewiss, sein Zeitpunkt jedoch ungewiss ist, ergab sich nach damaligem Verständnis die Notwendigkeit, jederzeit auf den Tod vorbereitet zu sein. Wie wir gesehen haben, ist diese Auffassung - bedingt vielleicht zum Teil  durch eine stark gestiegene statistische Lebenserwartung, mindestens ebensosehr aber durch das Schwinden des Glaubens an ein Leben nach dem Tod - unmodern geworden. Das heißt aber nicht, dass sie deshalb weniger richtig und beherzigenswert wäre. So gesehen kann man es aus christlicher Sicht eigentlich nur begrüßen, wenn Kinder schon frühzeitig, wenn auch behutsam, an eine Auseinandersetzung mit dem Tod herangeführt werden, beispielsweise etwa durch Schlaflieder oder Nachtgebete wie die oben zitierten.

Ein interessantes Erlebnis in diesem Zusammenhang hatte ich am vergangenen Donnerstag in der St. Antonius-Kirche in Berlin-Friedrichshain. Dort fand eine Messe für Schulanfänger statt, gleichzeitig war es aber eben auch der Gedenktag der hl. Theresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein), und ich war sehr gespannt, wie Pfarrer Hans-Joachim Birkhahn das unter einen Hut bekommen würde. Tatsächlich gestaltete der Pfarrer dann seine Predigt als eine Art Frage-und-Antwort-Spiel mit den Kindern, und seine erste Frage war, warum er denn wohl heute ein rotes Gewand trage. Einige der anwesenden Kinder bewiesen für ihr Alter sehr beachtliche Kenntnisse, und so kam Pfarrer Birkhahn ganz zwanglos auf das Thema des Martyriums und auf die Vita der Heiligen des Tages zu sprechen. Wer gemeint hätte, solche Themen seien Kindern im Schulanfängeralter nicht zuzumuten, wurde hier eindrucksvoll eines Besseren belehrt.

Ein anderes Beispiel: Zu meiner Erstkommunion vor nunmehr bald dreißig Jahren schenkte meine aus Schlesien stammende Großmutter mir das Buch Fromme Geschichten für kleine Leute von Josef Quadflieg (12. Auflage Düsseldorf 1977), das noch heute einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal hat. Viele der 46 Geschichten in diesem Band sind als moralische Beispielerzählungen angelegt, in anderen geht es ganz konkret um die katholische Sakramentenlehre - und in auffallend vielen geht es um den Tod. Gleich die erste Geschichte, "Gemeinschaft der Heiligen", die den Ausflug einer Schulklasse schildert, beginnt damit, dass die Schüler sich zum Beginn ihres Klassenausflugs am Grab eines ehemaligen Mitschülers versammeln. Der Lehrer erklärt:
"Wir sind seit seinem Tod schon oft an sein Grab gekommen, wenn wir dem Harald etwas sagen mußten, was wir auf dem Herzen hatten. Er gehört ja immer noch zu unserer Klasse, wenn er auch nicht mehr in unseren Bänken sitzt. Denn alle Christen, die Lebenden und die Toten, die im Fegefeuer und die im Himmel, sind eine große Familie, die man die Gemeinschaft der Heiligen nennt. Sie helfen einander und bitten füreinander. So hat Harald bei Gott für uns gebetet, als wir ihm vor drei Wochen erzählten, daß en Kind in unserer Klasse zum Dieb geworden war und ein Federmäppchen gestohlen hatte; und vorige Woche, als die Hannelore so schwer krank war. Alles, was wir dem Harald aus unserer Klasse erzählten, hat er dem lieben Gott weitererzählt." (S. 10)
Gegen Ende des Bandes folgt eine Geschichte, von der ich noch sehr wohl weiß, dass sie mich als Kind eher befremdet hat, die ich heute aber als eine der bewegendsten des Buches empfinde; sie trägt den Titel "Lebe täglich sterben". Darin geht es um einen Jungen, der während eines Familienurlaubs ertrinkt und in dessen Hosentasche man den Totengedenkzettel einer gewissen Frau Lindfart findet, der (auf Lateinisch) die Inschrift "Lerne täglich sterben; es ist die Kunst aller Künste!" trägt. Als die Eltern des verunglückten Knaben seinen Leichnam aus dem Leichenschauhaus abholen, sind sie verhältnismäßig gefasst. Angesichts des Totengedenkzettels erklärt der Vater:
"Die Frau Lindfart ist weder die Mutter noch die Großmutter des Kindes. Sie ist gar nicht mit uns verwandt. Der Junge hat den Zettel zufällig mal bekommen, als er in einer Totenmesse war. Es ging ihm nicht um den Zettel oder die tote Frau. Er hatte sich vielmehr den lateinischen Spruch von seinem Pastor übersetzen lassen. Seitdem hat er sich diesen Spruch als seinen Leitspruch überallhin mitgenommen. Er hat versucht, danach zu leben; so zu leben, daß Gott ihn täglich holen dürfte. Wir haben deshalb auch guten Mut und frohe Hoffnung, daß er wohl jetzt, wo wir diesen unglücklichen Ort verlassen, schon im Himmel ist." (S. 140f.)
Dass mir diese Geschichte kürzlich wieder in den Sinn kam, war bedingt durch die öffentliche Stellungnahme Kardinal Meisners zum aktuellen Gesetzentwurf zur Sterbehilfe. Darin äußerte der Kölner Erzbischof, "[d]as Christentum habe im Mittelalter den Begriff einer 'ars moriendi', der 'Kunst des guten Sterbens' noch gekannt, die immer auch eine Lebenskunst meine: weil sie den Tod nicht verschwiege und verdränge". Dass Kardinal Meisner sich gerade angesichts des Themas Sterbehilfe veranlasst sieht, an die Sterbekunst zu erinnern, die auch eine Lebenskunst sei, erscheint mir ausgesprochen bezeichnend: Die Sterbehilfe-Debatte zeigt, dass die Verleugnung des Todes, die Weigerung, sich dem Tod zu stellen und mit ihm auseinanderzusetzen, paradoxerweise gerade dazu führt, den Selbstmord und die Beihilfe zum Selbstmord konsensfähig zu machen. Anders ausgedrückt: Die Ausblendung des Todes beeinträchtigt auch den Respekt vor dem Leben - dem eigenen wie auch dem der Mitmenschen. Das entbehrt, wenn man einmal darüber nachdenkt, nicht einer gewissen Folgerichtigkeit: Die Unausweichlichkeit des Todes beinhaltet die ultimative Mahnung daran, dass das Leben nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen liegt. Aus dem verzweifelten Versuch, diese Wahrheit zu leugnen, resultiert die Absicht, auch den Tod, wenn man ihm schon nicht entgehen kann, wenigstens selbst in die Hand zu nehmen. Für Christen ist dieses Streben des Menschen nach völliger Autonomie in Fragen des Lebens und des Todes (das, wie nur am Rande angemerkt sei, neben dem Thema Sterbehilfe auch das Thema Abtreibung betrifft) unannehmbar, und nicht zuletzt deshalb tun Christen gut daran, an dem so unpopulär gewordenen memento mori festzuhalten. Auch und gerade in der Kindererziehung.


Freitag, 10. August 2012

Frohe Ostern, Deutschland! - Teil 4: Durch Deutschland muss ein Rock gehen!

Zunächst einmal muss ich mich entschuldigen. Entschuldigen dafür, dass ich mich diesem Thema mit so erheblicher Verspätung zuwende. Die diesjährige Wallfahrt zum Heiligen Rock in Trier fand vom 13. April bis 13. Mai statt, und ich komme erst jetzt, im August, dazu, darüber zu schreiben. Nun gut, der Reihentitel verrät, dass ich einen Beitrag zu diesem Thema schon so ungefähr seit Ostern geplant hatte. Aber manche Dinge dauern eben etwas länger, als man es gern hätte; andere Themen haben sich zwischenzeitlich in den Vordergrund gedrängt, aber das soll nun kein Grund sein, den Beitrag über die Rockfahrt gänzlich fallen zu lassen, nur weil er nicht mehr ganz so "aktuell" ist.

Der Heilige Rock - ein Gewand, das Fragmente der Tunika Jesu Christi enthalten soll - dürfte die wohl berühmteste und bedeutendste Reliquie auf deutschem Boden sein. Nachdem das Gewand zuletzt 1996 öffentlich ausgestellt worden war, kündigte der Trierer Bischof Reinhard Marx im Jahr 2007 an, zum 500. Jubiläum der ersten Wallfahrt zum Heiligen Rock solle es 2012 erneut eine große Wallfahrt geben. Nicht lange nach dieser Ankündigung wurde Marx jedoch zum Erzbischof von München und Freising ernannt, sodass die Aufgabe, die Jubiläums-Rockfahrt zu organisieren, im Wesentlichen seinem Nachfolger auf dem bischöflichen Stuhl von Trier, Stephan Ackermann, zufiel. Es ist eine interessante, wenn auch letztlich müßige Frage, ob Bischof (jetzt Kardinal) Marx, wäre die Rockfahrt unter seiner Federführung veranstaltet worden, andere Schwerpunkte gesetzt hätte, als es sein Nachfolger Ackermann dann tat. Darauf wird noch zurückzukommen sein; wenden wir uns jedoch zunächst der Geschichte der illustren Reliquie zu.

Die enorme Bedeutung des Heiligen Rocks etwa im Vergleich zu den Sandalen Christi, die in der Sankt-Salvator-Basilika in Prüm aufbewahrt werden, leitet sich sehr wesentlich davon her, dass dieses Kleidungsstück im Kreuzigungsbericht des Johannesevangeliums ausdrücklich erwähnt und hervorgehoben wird. In Joh 19,23-24 ist zu lesen:
"Nachdem die Soldaten Jesus ans Kreuz geschlagen hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile daraus, für jeden Soldaten einen. Sie nahmen auch sein Untergewand, das von oben her ganz durchgewebt und ohne Naht war. Sie sagten zueinander: Wir wollen es nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte sich das Schriftwort erfüllen: Sie verteilten meine Kleider unter sich und warfen das Los um mein Gewand. Dies führten die Soldaten aus."
Bei dem Schriftwort, auf das der Evangelist hier verweist, handelt es sich um Psalm 22,19; der Evangelist hebt somit hier wie auch an vielen anderen Stellen Jesus Christus als denjenigen hervor, in dessen Person sich die Prophezeiungen des Alten Testaments erfüllen. - Am Rande sei erwähnt, dass die oben zitierte Passage aus dem Johannesevangelium den US-amerikanischen lutherischen Pfarrer und Romanautor Lloyd C. Douglas zu dem Roman The Robe (1942; dt. Das Gewand des Erlösers) inspirierte, in dem der weitere Lebensweg jenes römischen Soldaten beschrieben wird, der die Tunika Christi beim Würfelspiel gewinnt; der Roman wurde 1953 verfilmt, 1954 folgte eine Fortsetzung unter dem Titel Die Gladiatoren. Dass die Tunika Christi in Douglas' Roman und dessen Verfilmung nach Rom gelangt, steht allerdings im Widerspruch zu jener Überlieferung, die sich an den Heiligen Rock von Trier knüpft: Der Legende nach soll nämlich Kaiserin Helena, die Mutter Konstantins des Großen, auf einer Wallfahrt ins Heilige Land im Jahr 324 oder 325 Ausgrabungen veranlasst haben, bei denen sie neben dem Kreuz Christi und den Kreuzesnägeln auch noch zahlreiche andere Reliquien aufgefunden haben soll - darunter eben auch die Tunika, die Helena ihrer Heimatstadt Trier geschenkt haben soll. - Eine eher skurrile Variante der Auffindungsgeschichte erzählt das gegen Ende des 12. Jhs. entstandene Spielmannsepos Orendel: Darin soll der Titelheld, der Sohn des Königs von Trier, die Königin von Jerusalem heiraten, erleidet jedoch infolge des Zusammenstoßes mit einem Eisberg (!) Schiffbruch und findet den Rock Christi im Bauch eines Wals!

Urkundlich bezeugt ist die Aufbewahrung des Heiligen Rocks im Dom zu Trier ab dem Jahr 1196; die Reliquie blieb jedoch noch Jahrhunderte lang unter Verschluss, bis Kaiser Maximilian I. sie im Jahr 1512 zu sehen wünschte, als er anlässlich eines Reichstags in Trier war. Der eben erst in sein Amt eingeführte Trierer Erzbischof und Kurfürst Richard von Greiffenklau entsprach diesem Wunsch, wie es heißt, nur widerstrebend; nun aber verlangte auch das Volk den Leibrock Christi zu sehen, woraufhin die Reliquie 23 Tage öffentlich ausgestellt wurde. Damit war der Anstoß für die Wallfahrten zum Heiligen Rock gegeben, die in der Folgezeit jährlich stattfanden, bis Papst Leo X. im Jahr 1517 bestimmte, der Heilige Rock solle künftig nur noch alle sieben Jahre gezeigt werden. Weitere Rockfahrten fanden also in den Jahren 1524, 1531, 1538 und 1545 statt, danach wurde der Siebenjahreszyklus infolge kriegerischer Ereignisse und reformationsbedingter Unruhen ausgesetzt. Im Jahre 1628 wurde der Heilige Rock auf die Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz verbracht, wo er mit einigen Unterbrechungen insgesamt bis 1794 blieb; während dieser Zeit wurde er immerhin einmal, 1765, öffentlich ausgestellt und zum Ziel einer Wallfahrt. Der letzte Kurfürst von Trier, Clemens Wenzeslaus von Sachsen, nahm die Reliquie mit sich, als er infolge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 sein Amt verlor und sich nach Augsburg zurückzog. 1810 kehrte der Heilige Rock jedoch nach Trier zurück, woraufhin dort auch die Wallfahrten wieder aufgenommen wurden - allerdings in erheblich größeren Zeitabständen als im 16. Jahrhundert.

Die Reformatoren, die Wallfahrtswesen und Reliquienverehrung ablehnten, polemisierten heftig gegen die Wallfahrten zum Heiligen Rock, die zu ihrer Zeit noch ein sehr junges Phänomen waren; so wetterte Dr. Martin Luther in der ihm eigenen derben Wortwahl gegen die "Bescheißerei zu Trier, mit Christi Rock", wo "der Teufel großen Jahrmarkt gehalten" habe: "Und das noch das Allerärgest ist, daß sie die Leute hiemit verführet und von Christo gezogen haben, auf solche Lügen zu trauen und bauen...". Die ablehnende Haltung der protestantischen Kirchen gegen die Rockfahrten blieb auch nach deren Wiederaufnahme im 19. Jh. ungebrochen. Umso überraschender mag es anmuten, dass anlässlich der Rockfahrt 1996 der damalige Trierer Bischof Hermann Josef Spital den Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Peter Beier, zur Teilnahme einlud; dieser nahm die Einladung nicht nur an, sondern dichtete sogar ein Pilgerlied für die Wallfahrt. Die Rockfahrt 2012 wurde unter das betont ökumenisch ausgerichtete Motto "...und führe zusammen, was getrennt ist" gestellt; das Motto nahm Bezug auf die Rolle des aus einem Stück gewebten Leibrocks Christi als Symbol für die Einheit der Kirche. Ende 2011 erklärte dann die für Ökumene zuständige Oberkirchenrätin der Evangelischen Kirche im Rheinland, Barbara Rudolph, bei einer Pressekonferenz: "Auf Einladung von Bischof Stephan Ackermann beteiligen wir uns an der Heilig-Rock-Wallfahrt im Jahr 2012". Diese ökumenische Ausrichtung der Rockfahrt erforderte allerdings - angesichts bleibender Vorbehalte der Protestanten gegen ebenjene religiösen Praktiken, gegen die schon die Reformatoren Stellung bezogen hatten - auf katholischer Seite einige Kompromisse; so verzichtete Bischof Ackermann entgegen der gängigen Praxis darauf, anlässlich der Rockfahrt 2012 in Rom die Genehmigung eines Ablasses zu erbitten - um "die ökumenischen Beziehungen nicht zu konterkarieren". Man kann in der Tat davon ausgehen, dass die Gewährung eines Ablasses die Bereitschaft der evangelischen Kirche, an der Rockfahrt teilzunehmen, erheblich beeinträchtigt hätte - gilt doch der Kampf gegen den Ablass weithin als Initialzündung der lutherischen Reformation in Deutschland (wenngleich, dies nur am Rande, Luther sich in seinen 95 Thesen keinesfalls so prinzipiell gegen den Ablass positionierte, wie vielfach angenommen wird - Näheres dazu hier). Der Verzicht auf den Ablass wie auch insgesamt die ökumenische Ausrichtung der Wallfahrt sorgten allerdings wiederum auf katholischer Seite für Irritationen - besonders in traditionalistischen Kreisen, die Bischof Ackermann eine "Uminterpretation der Heilig-Rock-Wallfahrt" vorwarfen. Angesichts solcher Auseinandersetzungen ging die Tatsache, dass letztlich - im Anschluss an ein von dem emeritierten Kardinal Walter Brandmüller zelebriertes Pontifikalamt - doch noch ein Ablass zu den üblichen Bedingungen verkündet wurde, in der öffentlichen Wahrnehmung beinahe unter.

Im Großen und Ganzen gewährleistete die ökumenische Ausrichtung der Rockfahrt aber doch eine von konfessionellen Animositäten unbeeinträchtigte Atmosphäre; Misstöne kamen von anderer Seite. Atheistische Organisationen riefen - wieder einmal, und wieder einmal ohne nennenswerte Resonanz - zum massenhaften Kirchenaustritt auf; wie schon 1996 wurde als eine Art "Gegenreliquie" die (keinen Anspruch auf Authentizität erhebende) Unterhose von Karl Marx ausgestellt; und unter dem Motto "Papst trifft Hitler" zogen die Aktionskünstler Wolfram P. Kastner und Linus Heilig, verkleidet als Hitler und Papst Pius XII., durch Trier - womit sie darauf anspielten, dass die mit über zwei Millionen Teilnehmern größte Wallfahrt zum Heiligen Rock 1933 anlässlich des Abschlusses des Reichskonkordats zwischen Heiligem Stuhl und Deutschem Reich stattfand; über diese historische Tatsache hinaus zielte diese "Kunstaktion" erkennbar darauf ab, die verbreiteten Vor- und Fehlurteile über eine angebliche Affinität der katholischen Kirche und insbesondere Papst Pius' XII. zum Nationalsozialismus zu bestärken. Alles in allem kann man diese Protestaktionen wohl kaum anders als läppisch und albern nennen; sie entfalteten auch keinerlei Breitenwirkung - sehr im Gegensatz zu Protesten gegen frühere Rockfahrten, insbesondere jene des Jahres 1844, auf die ich hier etwas ausführlicher eingehen möchte.
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Heilig-Rock-Wallfahrt: „Papst trifft Hitler“ – Protestaktion empört Trier - weiter lesen auf FOCUS Online: http://www.focus.de/panorama/welt/parodie-auf-die-heilig-rock-wallfahrt-papst-trifft-hitler-protestaktion-empoert-trier_aid_737551.html

1810 hatte es anlässlich der Rückführung des Heiligen Rocks nach Trier erstmals seit Langem wieder eine Wallfahrt gegeben; die nächste folgte 1844 und wurde weithin als "gegen den preußischen Staat gerichtete Machtdemonstration" der katholischen Kirche wahrgenommen (vgl. Sylvia Paletschek, Frauen und Dissens. Frauen im Deutschkatholizismus und in den freien Gemeinden 1841-1852. Göttingen 1990, S. 20). Vom 18. August bis zum 6. Oktober 1844 pilgerten zwischen einer halben und einer Million Menschen zum Heiligen Rock in Trier – die mit Abstand größte Massendemonstration im deutschen Vormärz:

"Wunder geschahen, am bekanntesten wurde die 'Heilung' der gelähmten Gräfin von Droste-Vischering, die zwar nicht lange anhielt, jedoch […] nicht so schnell in Vergessenheit geriet. Die Gastwirte, Bilderhändler, die Verkäufer von geweihten Bändchen, Schärpen und ähnlichen Gegenständen machten gute Geschäfte, während im Dom die Pilger die Reliquie mit dem Stoßseufzer 'Heiliger Rock, bitt' für uns' anbeteten. Die Rockfahrt hinterließ in ganz Deutschland einen starken Eindruck, allein schon wegen ihrer hohen Teilnehmerzahl, die von Befürwortern wie Kritikern als sensationell empfunden wurde, zumal Massenveranstaltungen angesichts staatlicher Verbote, ungenügender Verkehrsverbindungen und geringem Organisationsgrad der Bevölkerung keine alltägliche Erscheinung waren." (Paletschek, S. 19)

Kritiker der Rockfahrt tadelten den anachronistischen Charakter dieser Reliquienverehrung sowie "den krassen Aberglauben und die Ausbeutung der ungebildeten und armen Pilger" (Paletschek, S. 20); der katholischen Kirche wurde vorgeworfen, "die religiösen Gefühle der Menschen irrezuleiten und sie materiell auszubeuten" (ebd.). Zu den prominentesten Kritikern der Wallfahrt zählte der suspendierte katholische Kaplan Johannes Ronge, der in der Folge zum Mitbegründer einer der bedeutendsten religiösen Oppositionsbewegungen seiner Zeit, des so genannten Deutschkatholizismus, wurde. Eine der ersten deutschkatholichen Gemeinden wurde 1845 in Breslau gegründet; sie beschloss bereits in ihren "konstituierenden Versammlungen [...] [die] Lossagung von Rom, demokratische Selbstverwaltung der Gemeinde und Wahl des Predigers, Abschaffung der Ohrenbeichte, der lateinischen Sprache im Gottesdienst, des Zölibats, der Ablässe, der Wallfahrten, der Heiligenverehrung und des Sakramentes der Ehe" (Paletschek, S. 24). Wem dieser Forderungskatalog irgendwie bekannt vorkommt, der mag sich einerseits die Frage stellen, wie "modern" und "zeitgemäß" die Programmatik heutiger kirchenkritischer Initiativen tatsächlich ist, möge sich aber darüber hinaus auch vor Augen halten, wie schnell im Falle der deutschkatholischen Gemeinden der Bruch mit dem Lehramt der katholischen Kirche und die Auffassung, dass "nur Bibel und Vernunft das Fundament des christlichen Glaubens" bilden sollten (ebd.), dazu führten, dass sämtliche spezifisch christliche Glaubensinhalte über Bord geworfen wurden. Schon rund ein Jahrzehnt nach ihrer Entstehung verschmolz die deutschkatholische Bewegung mit den von den evangelischen Landeskirchen abgespaltenen Freien Gemeinden zum Bund Freireligiöser Gemeinden, der als Dachverband verschiedener 'freidenkerischer' bzw. 'humanistischer' Organisationen noch heute besteht, dem es aber noch immer nicht gelungen ist, die christlichen Kirchen abzuschaffen bzw. zu ersetzen. Anlässlich der Rockfahrt 2012 erinnerten sich verschiedene freireligiöse Gemeinden und Gemeindeverbände der Pfalz, Württembergs und Rheinhessens wieder ihrer Entstehungsgeschichte und schmiedeten ein Aktionsbündnis, das ein Gegenprogramm zur Wallfahrt organisierte, damit aber auf weit weniger Resonanz stieß als die Altvorderen ihrer Bewegung.

Insgesamt nahmen rund 500.000 Pilger an der diesjährigen Wallfahrt zum Heiligen Rock teil. Das waren bedeutend weniger als noch 1996; dennoch zogen die Veranstalter eine positive Bilanz: Bischof Ackermann sprach von einer "vierwöchigen Festzeit" und von einem "Glaubensereignis"; es sei "spürbar geworden, dass die Heilig-Rock-Wallfahrt ein Bekenntnis zu Jesus und eine wirkliche Christuswallfahrt sein wolle". Wallfahrtsleiter Georg Bätzing erklärte, "das Pilgertreffen habe Kirche als lebendige, freundliche, hilfreiche, tröstliche und bestärkende Gemeinschaft konkret gemacht"; er sei "jetzt fester denn je davon überzeugt, dass der Heilige Rock ein echtes Bild Jesu Christi sei, das die Herzen von Menschen unmittelbar berühre". Letzteres ist allen Beteiligten nur zu wünschen; festzuhalten ist aber allemal, dass die Rockfahrt - wie schon der Papstbesuch im vorigen Jahr - angesichts eines der öffentlichen Religionsausübung im Allgemeinen und der katholischen Kirche im Besonderen zunehmend feindseligen Klimas ein weithin sichtbares Zeugnis für einen lebendigen Glauben gesetzt hat, allen öffentlichen Anfeindungen zum Trotz.

Donnerstag, 9. August 2012

In eigener Sache...


... möchte ich meine Leser darauf hinweisen, dass Huhn meets Ei (hey hey, my my) für einen Preis nominiert wurde -- nämlich für den "Schwester-Robusta-Preis der deutschsprachigen Blogoezese 2012", in der Newcomer-Kategorie ("Frische").

Nun ist die Nominierung an sich natürlich schon ein schöner Erfolg, aber noch schöner wäre natürlich ein einigermaßen achtbares Abschneiden beim Voting. Wer diesen Blog also nach eingehender oder auch nur punktueller Lektüre gut und unterstützenswert findet, der sei herzlich dazu aufgerufen, dies durch eine Stimmabgabe zu dokumentieren -- nämlich hier!


Das Voting läuft noch bis zum 17. August. Ich freue mich über jede Stimme!

Der nächste "richtige" Beitrag zu diesem Blog wird voraussichtlich in den nächsten Tagen folgen: die lange erwartete Fortsetzung der Reihe "Frohe Ostern, Deutschland!" - mit dem Titel "Durch Deutschland muss ein Rock gehen!"!

Sonntag, 5. August 2012

The Rabbit Diaries, Pt. II

Als meine Freundin Kati mich zwei Tage vor ihrer Abreise in die hohe Kunst der Kaninchenbetreuung einwies, sagte sie mir, der Stall müsse ungefähr alle drei Tage ausgemistet werden, "aber man riecht das dann auch". In dieser Hinsicht ist auf die lieben Tierchen wirklich Verlass: Als ich meinen Dienst als Kaninchensitter antrat, war die letzte Käfigreinigung gerade zwei Tage her; als ich am frühen Abend des nächsten Tages die Wohnung betrat, stellte ich schon im Flur fest: Oh ja, man riecht es.

Flockes und König Friedrichs luxuriöses Domizil besteht aus zwei baugleichen, miteinander verbundenen Käfigen; in dem einen schlafen sie, in dem anderen fressen und trinken sie und verrichten ihre Ausscheidungen. Das Gute daran ist, dass man den Käfig, in dem die Kaninchen schlafen, nicht putzen muss: Den halten sie selbst sauber. Allerdings frage ich mich, wie sie das hinkriegen. Besondere Intelligenz kann man den Kaninchen nämlich im Allgemeinen nicht nachsagen: Ständig fressen sie das Stroh, das eigentlich als Bodenbelag gedacht ist; Futter, das sie nicht mögen, versuchen sie zu vergraben; und andauernd verunreinigen sie ihr Trinkwasser, mit der Folge, dass sie es dann nicht mehr trinken mögen. Wobei, letzteres ist ja fast schon menschlich.

Glücklicherweise kommt Kaninchenkot in kompakten kleinen Kügelchen mit erfreulich niedrigem Ekelfaktor daher. Der Urin riecht dafür umso strenger. Aber das hat, wie gesagt, auch seine guten Seiten, denn auf diese Weise kann man schlechterdings nicht vergessen, dass der Käfig mal wieder ausgemistet werden muss. Und sich zweimal in der Woche zu dieser Arbeit aufzuraffen, ist so schlimm nun auch nicht. Allerdings unterlief mir bei meiner ersten Käfigausmistung gleich ein dämlicher Anfängerfehler: Ich hatte nicht beachtet, dass das Stroh beinahe alle war. Die beiden anderen Komponenten der Käfig-Innenausstattung - Streu und Heu - gibt's im Supermarkt, der von der Wohnung aus in zwei Minuten zu Fuß zu erreichen ist; aber ausgerechnet Stroh gibt es dort nicht. Auf Nachfrage erfuhr ich, dafür müsse ich in den Baumarkt. Um diesen sogleich aufzusuchen, war es aber schon zu spät, also beschloss ich, das als erste Amtshandlung am nächsten Morgen zu erledigen; eine Nacht, so hoffte ich, würden die lieben Kleinen es ja wohl ohne Stroh (bzw. nur mit einem kläglichen Rest) in ihrem Laufstall aushalten.

Ich stand also am nächsten Morgen extra früh auf, um am Baumarkt zu sein, sobald dieser die Pforten öffnete. Da ich in diesem riesigen Geschäft noch nie gewesen war und auf der Suche nach der Haustierabteilung nicht ewig herumirren wollte, dachte ich, frage ich doch einfach mal einen Mitarbeiter. Sprach gleich den ersten, der mir über den Weg lief, mit einem fröhlichen "Guten Morgen!" an; das war wohl die falsche Strategie, denn er zeigte keinerlei Reaktion und ging seiner Wege. Dann nicht, sagte ich mir und fand die Haustierabteilung tatsächlich auch ohne Hilfe recht schnell. Wünschte dennoch demonstrativ jedem und jeder Baumarktangestellten, der /die mir begegnete, einen guten Morgen, aber niemand reagierte. Auch die Kassiererin nicht. Man hat den Eindruck, die Arbeit in diesem Geschäft macht die Menschen nicht sonderlich froh. Der Besuch lohnte sich trotzdem, denn ich zog mit einem Kilo feinsten Bio-Strohs für nur zwei Euro nochwas von dannen. Wissen möchte ich aber mal, wie es zu verstehen sein soll, dass das Stroh (laut Packungsaufdruck) "nicht staubt". Wörtlich kann das nicht gemeint sein... hust! - Die gute Nachricht ist, dass die Kaninchen mir die verspätete Strohbeschaffung offensichtlich nicht übel genommen haben. Fühle mich von Tag zu Tag besser akzeptiert in ihrem Reich; am ersten Tag war ich da noch etwas skeptisch. Da kamen sie kaum aus ihrer Schlafhöhle heraus, und wenn doch, schlichen sie misstrauisch um die Kohlrabiblätter herum, die ich ihnen in ihre Fressecke gelegt hatte. Als ich dann aber - kurz bevor ich die Wohnung verließ, um wieder meine eigene aufzusuchen - beschloss, ihnen für alle Fälle noch etwas Trockenfutter zu geben, kamen Flocke und König Friedrich, kaum dass sie das Rascheln der Trockenfutterpackung hörten, angerannt und wackelten fröhlich mit den Ohren. Moral: Kaninchen sind wie Kinder. Da gibt man ihnen schönstes frisches Grünzeug, aber sie wollen Fast Food.

Nun gut, es mag bezeichnend sein, dass besonders das jüngere der beiden Kaninchen, König Friedrich, auf Fast Food steht. Das Schöne daran: Wenn er mit Fressen beschäftigt ist, lässt der sonst so scheue Friedrich sich manchmal sogar streicheln. Diese Erfahrung machte ich erstmals, als ich ihm ein paar Halme Heu aus dem Fell streichen wollte; ich war ausgesprochen gerührt, als er sich das ohne Murren gefallen ließ. Wenn man die Schale mit dem Trockenfutter von oben in den Käfig stellt, macht er manchmal sogar Männchen. Noch schöner ist es aber trotzdem, wenn die Kaninchen angehoppelt kommen, um das frische Gemüse zu fressen, das man ihnen in den Käfig legt. Klingt vielleicht banal, aber das hat etwas ausgesprochen Beglückendes.

Kurz, ich habe mich mit meiner vorübergehenden Lebensaufgabe ganz gut angefreundet - so gut, dass ich es fast schade fand, dass ich mich in den letzten Tagen gar nicht so viel um die Kaninchen habe kümmern müssen. Seit letztem Sonntagabend, und noch bis morgen früh, ist nämlich Logierbesuch aus Österreich in der Wohnung: eine junge Dame, die für eine Woche in Berlin Urlaub macht. Für die Dauer ihres Aufenthalts die Kaninchenbetreuung zu übernehmen, sei für sie kein Problem, sagte sie: Sie sei auf einem Bauernhof aufgewachsen und komme mit Tieren gut klar. Das hat sich als richtig erwiesen. Flocke und König Friedrich mögen sie so gern, da könnte man direkt eifersüchtig werden. Obwohl die lieben Tierchen somit in den besten Händen sind, bin ich ziemlich regelmäßig vorbeigekommen, um mal kurz nach dem Rechten zu sehen, und auch, damit die Kaninchen mich nicht gleich wieder vergessen. Ein bisschen stolz bin ich aber auch auf mich, dass ich - in Absprache mit Kati natürlich - das "Kaninchensitting" und die Bereitstellung einer kostenlosen Übernachtungsmöglichkeit für Katka so effizient unter einen Hut gebracht habe. Mal wieder zwei Leuten (plus zwei Kaninchen!) auf einmal geholfen! So etwas tue ich gern - ich weiß nicht, ist es meine Auffassung von praktiziertem Christentum, bin ich einfach nett, oder genieße ich es, gelegentlich mal ein Held sein zu dürfen? Wahrscheinlich ist es ein bisschen was von alledem.

Derweil habe ich es mir natürlich auch nicht nehmen lassen, der Rolle des Kaninchens in der Literatur weiter nachzugehen. Ein Standardwerk wäre hier selbstverständlich Alice im Wunderland, aber das kennt man ja. Weitaus weniger bekannt ist dagegen der Roman Im Schillingshof der vielfach zu Unrecht als "Kitschtante" und Urmutter des trivialen Frauen- bzw. Liebesromans abgestempelten E. Marlitt (d.i. Eugenie John, 1825-1887); in diesem überraschend vielschichtigen und auch historisch interessanten Roman gibt es eine Sequenz, die womöglich von Alice im Wunderland beeinflusst ist (Im Schillingshof erschien 1879, zehn Jahre nach der ersten deutschsprachigen Ausgabe von Carrolls Roman): José Lucian, ein engelsgleicher Knabe, der mit Mutter, Schwester, Tante und zwei schwarzen Dienstboten aus dem Süden der USA nach Deutschland gekommen ist, spielt im Garten des Schillingshofs mit seinem weiße Kaninchen - "Er setzte das Tierchen behutsam in das Gras und kauerte sich daneben. Mit sanften Händen streichelte er das seidenweiche Fell; er sah entzückt in die seltsamen rotglühenden Augen und beobachtete aufmerksam das Spiel der Ohren" -, als der boshafte, tierquälende Nachbarsjunge Veit Wolfram, der durch die Hecke gekrochen ist, auftaucht und José verspottet:
"Ach, der dumme Kerl! Der Einfaktspinsel! er denkt Wunder was er hat - 's ist ja ein ganz gewöhnliches Karnickel - weißt du das denn nicht?"
Das Kaninchen ergreift prompt die Flucht; José will ihm nach, fühlt sich aber gleichzeitig auf fatale Weise von dem dämonischen Veit angezogen: "José hatte bis dahin nie einen Spielgefährten gehabt, und nun stand da plötzlich einer vor ihm, der wundervoll klettern konnte, der mir nichts dir nichts durch stachlige Zäune kroch und die imponierende Thatsache wußte, daß das Kaninchen eigentlich nur ein Karnickel war." So lässt sich José von Veit auf das Nachbargrundstück locken - "Ich will dir meine Lapins zeigen. Da wirst du gucken! Die sind freilich anders, als dein schauderhaftes Stallkarnickel" - und stellt fest: "Das war nun eine ganz andere Welt, jenseits des struppigen Zaunes". Ein Wunderland Carrollscher Qualität ist es freilich nicht; tatsächlich erwarten den kleinen José auf dem Dachboden des Nachbarhauses allerlei Schrecknisse: Die "wüste, sonnenheiße Dachkammer, in der alles aufgestapelt wurde, was sich als dienstuntauglich erwies", enthält neben allerlei teilweise Jahrhunderte altem Gerümpel "auch die halbentkleideten, kopflosen Puppenbälger, die einst die jüngsten Töchter des Wolframschen Hauses, die flachshaarigen Mägdlein der armen Frau Rätin, gewiegt und geherzt hatten"; der grausige Unterton, den diese Erinnerung an Wolframs unerwünschte Töchter, denen einst nur der Ausweg blieb, "sich vor dem gestrengen Vater in dunkle Winkel zu verkriechen, bis sie nach kurzem Dasein die hellockigen Köpfchen erlöst und friedfertig auf das weiße Kissen des Totenschreins betten durften", schon durch den verstümmelten Zustand der Puppen erhält, wird noch gesteigert dadurch, dass der boshafte Veit kurz zuvor angesichts eines Körbchens voller neugeborener Kätzchen erklärt hat: "Werd's gleich dem Papa sagen; Fritz muß sie heute noch ersäufen – das gibt allemal einen Hauptspaß!" (ISch, S. 182)

In dieser eindrucksvollen Romanpassage zeigt sich geradezu exemplarisch die symbolische Bedeutung des Dachbodens in der bürgerlichen Literatur, die Margret Rothe-Buddensieg in ihrer Studie Spuk im Bürgerhaus beschrieben hat - allerdings ohne dabei auf Im Schillingshof einzugehen:  Im bürgerlichen Haushalt ist der Dachboden,

"im Gegensatz zu dem durch die Lagerung von Speisen und Getränken noch mittelbar in die Nutzung einbezogenen Keller, nicht mehr Funktionsraum wie noch im Bauernhaus. Er ist Aufbewahrungsort für veraltetes Inventar, für mehr oder weniger ehrwürdige Ruinen eines abgelebten Lebens im Hause wie auch für Dinge, deren Erinnerung aus der Wohnsphäre des Hauses verdrängt wurde. Er ist eine Sphäre des Vergessens und des Vergessenen, das dort überdauert" (Rothe-Buddensieg, S. 3).

Was lernen wir nun daraus? Schwer zu sagen. Aber mitteilen wollte ich meine kaninchenbezogenen Lesefrüchte dann doch mal...

Ab morgen werde ich dann also wieder erheblich mehr Zeit mit den Kaninchen verbringen als in der zurückliegenden Woche, und ich bin gespannt, zu was sie mich noch so inspirieren werden. So oder so dürfte es demnächst aber mal wieder Zeit für einen Blogbeitrag mit religionspolitischem Inhalt sein...

Freitag, 3. August 2012

Margaritaville oder Das Evangelium der Ökonomie

Geldsorgen hat es, auch wenn die Erinnerung Manchem etwas anderes vorgaukeln mag, früher auch schon gegeben. "Arm ist [der Arbeiter] immer gewesen, meist sogar früher viel ärmer", stellte der konservative Sozialtheoretiker Wilhelm Heinrich Riehl schon 1851 fest. Daran, dass die meisten Menschen tendenziell eher zu wenig als zuviel Geld haben, hat sich seither nichts geändert; geändert hat sich etwas anderes. Wer früher kein Geld hatte, ließ beim Bäcker, beim Fleischer, beim Milchmann und nicht zuletzt beim Wirt anschreiben; heute nimmt er einen Kredit auf. Und wenn er dann mit den Raten in Verzug kommt, fühlt er sich gewissermaßen als Teil der internationalen Finanz- und Staatsschuldenkrise.

Irgendwie ist da ja auch was Wahres dran. Als ich unlängst im Freundeskreis die halb scherzhaft gemeinte Bemerkung fallen ließ, verglichen mit Griechenland gehe es mir finanziell noch relativ gut, löste ich zu meinem Erstaunen eine engagierte Diskussion aus, die sich in der Hauptsache darum drehte, dass man sich angesichts der Finanzkrise doch auch mal an die eigene Nase fassen solle, anstatt immer nur "die da oben" verantwortlich zu machen. Dass dieselbe Mentalität, die erst zur Immobilien-, dann zur Banken- und schließlich zur Staatsschuldenkrise geführt habe, auch schon in Privathaushalten zu beobachten sei; von mittelständischen Unternehmen ganz zu schweigen, die häufig - schon aus steuerlichen Gründen - bestrebt sind, möglichst wenig Gewinn zu erwirtschaften, die aber trotzdem ständig liquide sein müssen, was dann ja nur mit Hilfe von Krediten möglich ist. Irgendwann verlief die Diskussion mehr oder weniger im Sande, weil die Materie für alle Beteiligten zu kompliziert wurde; aber mir wurde noch der gute Rat mit auf den Weg gegeben, ich solle mir mal die South Park-Episode Margaritaville ansehen. Ich tat das gleich am nächsten Tag.

Die Cartoonserie South Park, kreiert von Matt Stone und Trey Parker (nebenbei bemerkt: zwei unzertrennliche Gefährten namens Stone und Parker, da schlägt das Herz des Karl-May-Fans höher! Fehlt nur noch Sam Hawkens...!), hat es seit 1997 auf 16 Staffeln mit insgesamt 237 Episoden gebracht und ist für ihren schlichten Zeichenstil und ihre fast schon primitiv zu nennende, an Handpuppenheater erinnernde (und somit wohl als bewusst eingesetztes Stilmittel anzusehende) Animation ebenso bekannt wie für ihren tiefschwarzen Humor. So war es bis zur 5. Staffel ein running gag der Serie, dass einer der Hauptcharaktere, Kenny, in annähernd jeder Folge auf möglichst bizarre Weise zu Tode kommt ("Oh mein Gott, sie haben Kenny getötet!" - "Ihr Schweine!"), in der nächsten Folge dann aber wieder quicklebendig mitspielt.

Es liegt auf der Hand, dass South Park nicht primär für Kinder konzipiert ist - obwohl die vier Hauptfiguren, Stan, Kyle, Cartman und eben Kenny, Grundschüler sind. Man tut der Serie wohl nicht zuviel Ehre an, wenn man konstatiert, dass sie als Gesellschaftssatire angelegt ist. Der Handlungsort, die fiktive Vorstadt South Park irgendwo im Mittleren Westen der USA, hat zwar beträchtliche Ähnlichkeit mit Littleton/Colorado, einem Vorort von Denver, wo der Co-Autor Matt Stone zur Schule gegangen ist (nämlich auf ebenjene Columbine High School, die 1999 durch den spektakulären Amoklauf zweier Schüler zu trauriger Berühmtheit gelangt ist), aber wahrscheinlich ähnelt sie genausosehr Hunderten anderer Vorstädte in den USA. Ständiges Thema der Serie sind die Lebenslügen und Verschrobenheiten des amerikanischen Durchschnittsspießers; dass die Protagonisten Drittklässler sind, trägt dazu bei, die vermeintliche Normalität der Erwachsenenwelt aus einer ungewohnten Perspektive heraus als Absurdität zu entlarven. "Reine Toren" sind die Kinder in South Park jedoch nicht; im Gegenteil werden sie, durchaus realistisch, als Produkte der Gesellschaft charakterisiert, in der sie aufwachsen. In besonderem Maße gilt dies für Eric Cartman, einen fetten, feigen, großmäuligen Stinkstiefel, der kaum etwas anderes äußert als Obszönitäten und chauvinistische, rassistische oder antisemitische Schmähungen.
Da die Serie häufig brisante politische, gesellschaftliche und auch religiöse Themen aufgreift und diese, nach dem Motto "Gib einem Kind einen Hammer, und es wird hämmern", mit einem ausgesprochen anarchischen und um Fragen des "guten Geschmacks" unbekümmerten Humor behandelt, kann es nicht ausbleiben, dass South Park in verschiedenen Kreisen immer wieder Empörung, Proteste und Forderungen nach Zensur provoziert. Auch die Folge Margaritaville, um die es hier im Folgenden gehen soll - die dritte Folge der 13. Staffel und damit insgesamt die 184. Episode der Serie - mag bei dem einen oder anderen Betrachter derartige Reaktionen auslösen. Dies nur einmal als Warnung vorausgeschickt.

Die im Jahr 2009 produzierte Folge zeigt, wie die Auswirkungen der Bankenkrise in South Park spürbar werden. Stan hat von seiner Oma 100 Dollar geschenkt bekommen, aber sein Vater besteht darauf, dass er das Geld zur Bank bringt, damit er Sinn und Wert des Sparens lernt. Tatsächlich lernt Stan dort aber etwas ganz Anderes: In Echtzeit erlebt er mit, wie sein Geld durch missglückte Spekulationen der Bank verloren geht. Direkt im Anschluss verzockt die Bank dann auch noch die Rente eines alten Muttchens sowie das Geld vom Konto von Stans Vater; für diesen ist damit das Maß voll. Am Abendbrottisch setzt er seiner Familie auseinander, worin er die Ursachen der Finanzkrise sieht: in ungezügeltem Hedonismus, in maßlosem Konsum unnützer Luxusartikel. Ironischerweise wird seine Rede größtenteils von den Betriebsgeräuschen eines elektrischen Cocktailmixers übertönt, in dem er sich gleichzeitig einen Margarita kredenzt.

Der weitere Verlauf der Episode ist von zwei Handlungssträngen geprägt, die parallel zueinander erzählt werden. In dem einen Strang zieht Stan aus der konsumkritischen Rede seines Vaters die Konsequenz, dessen elektrischen Margaritamixer zurückzugeben - der Beginn einer Odyssee, in deren Verlauf Stan den Hintergründen der Finankrise auf die Spur kommt. Das Geschäft, in dem das Gerät gekauft wurde, weigert sich, es zurückzunehmen, weil der Kauf über eine externe Finanzierungsgesellschaft abgewickelt wurde; Stan muss sich also an diese wenden, aber dort verweist man ihn weiter -- an die Wall Street, da die Finanzierung dieses einen Cocktailmixers "mit Tausenden anderen [Finanzierungen] in eine große Bürgschaft zusammengefasst wurde". An der Börse erfährt Stan jedoch, dass die Regierung die Bürgschaften aufgekauft hat, um die Banken zu retten. So wendet er sich an das Finanzministerium, wo er zu seiner Verblüffung erfährt, dass der Cocktailmixer 90 Billionen Dollar wert sei; kurz darauf wird jedoch enthüllt, auf welche bizarre Weise die Ministeriumsmitarbeiter zu dieser Einschätzung gelangt sind: Auf einem "Diagramm", das ähnlich wie ein Glücksrad aufgebaut ist und dessen einzelne Felder mit "Rettungsplan", "Bankrott", "Versuch's nochmal" usw. beschriftet sind, lassen sie ein geköpftes Huhn herumlaufen, bis es tot umfällt -- eine makabere Metapher für die oft undurchschaubar und willkürlich wirkenden Entscheidungen des Finanzministeriums während der Wirtschaftskrise (wovon man auch in Deutschland ein Lied singen kann, wo es insbesondere um die Frage, ob der Staat Opel retten solle, erhitzte Debatten gab).

Der andere Handlungsstrang beginnt mit einer Szene, die - vielleicht nicht ganz zufällig - stark an Monty Pythons Das Leben des Brian erinnert: Im Zentrum von South Park treten verschiedene Endzeitpropheten auf, die mehr oder weniger wirre Predigten über die Finanzkrise halten; einer von ihnen ist Stans Vater, der, in ein zur Toga gewickeltes Bettlaken gehüllt, radikalen Konsumverzicht predigt. Als eine Art Mischung aus Johannes dem Täufer und Mahatma Gandhi ruft er seine Mitbürger dazu auf, Bettlaken zu tragen, statt Kleidung zu kaufen, und ihre Ausgaben auch sonst "auf das Lebensnotwendigste" zu reduzieren: "Nur Wasser und Brot und Margaritas!" Damit soll "die wütende Wirtschaft" besänftigt werden: "Wir haben unsere Wirtschaft verspottet, und nun rächt sich die Wirtschaft an uns allen." Stans Vater deutet die Finanzkrise also quasi-religiös; er betrachtet "die Wirtschaft" als eine Art höheres Wesen - ein überaus launisches obendrein -, und dies überzeugt die Bürger von South Park weit mehr als alle Analysen von Wirtschaftsexperten und Politikern. Nahezu die ganze Gemeinde folgt dem Aufruf dieses sonderbaren ökonomischen Bußpredigers; nur Kyle, der jüdische Schulfreund seines Sohnes, erkennt den Unsinn der rigorosen Sparpolitik: "Wir sollten eigentlich Geld ausgeben, denn Ausgaben helfen der Wirtschaft." Bald sammeln sich auch um Kyle Anhänger - durchweg Kinder -, während die Erwachsenen argwöhnisch beobachten, "dass ein kleiner Judenjunge der Wirtschaft gegenüber Ketzerei betreibt". Als der Lehrer Garrison von fanatisierten Mitbürgern mit Eichhörnchen beworfen wird, weil er einen Stabmixer kaufen wollte, greift Kyle ein: "Wer von euch noch nie etwas Unnötiges gekauft hat, der werfe das erste Eichhörnchen!" Bald darauf beginnt Kyle öffentlich zu predigen; man munkelt, er sei "der einzige Sohn der Wirtschaft und wurde geschickt, uns zu retten". Als die Anhänger von Stans Vater beschließen, sie müssten gegen Kyle vorgehen, bietet Cartman - der von Anfang an den Juden die Schuld an der Finanzkrise gegeben hat ("Sie haben unser Geld geklaut und horten es nun für sich selbst! Sie verstecken das Geld in einer geheimen Judenhöhle!") - an, ihn auszuliefern; als Lohn dafür verlangt er ein gerade neu erschienenes Konsolenspiel. - Beim Pizzaessen mit seinen Freunden prophezeit Kyle, dass einer der Anwesenden ihn verraten werde, und kündigt für den nächsten Tag eine bedeutende Tat an, mit der er "den Glauben der Menschen wiederherstellen" will. Diese große Tat besteht darin, dass Kyle mittels einer AMEX-Platin-Kreditkarte ohne Limit "die Schulden von allen Leuten" bezahlt, obwohl seine Mutter versucht, ihn davon abzuhalten. Schließlich bricht er vor Entkräftung leblos zusammen.

Die zahlreichen Anspielungen auf die Evangelien, die diesen Handlungsstrang von Margaritaville prägen, mögen manchem Christen unter den Zuschauern mehr oder minder blasphemisch vorkommen. Für einige Details gilt das in besonderem Maße: Wenn Kyle betont, "die Wirtschaft" sei kein höheres Wesen, sondern von Menschen geschaffen, hat er zwar ohne Zweifel Recht - darauf komme ich noch zurück -, aber im Kontext dieses von biblischen Motiven nur so strotzenden Handlungsstrangs erinnert diese Aussage doch stark an die Religionskritik Ludwig Feuerbachs ("Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde"). Ebenso lässt der Umstand, dass Kyle, als er zusammenbricht und zunächst für tot gehalten wird, tatsächlich nur ohnmächtig ist - was im Kontext der Serie natürlich so sein muss, denn Kyle ist ja nicht Kenny - an die schon seit dem späten 18. Jh. von rationalistischen Theologen vertretene Deutung der Auferstehung Christi als Erwachen vom Scheintod denken.

Bei alledem ist jedoch zu berücksichtigen, dass einzelne Aspekte der Episode zwar unschwer als Kritik an bzw. als Verspottung der Anfälligkeit vieler US-Amerikaner für religiösen Fanatismus zu erkennen sind, dass die Hauptkritik jedoch einer Vergötzung der Wirtschaft gilt, einer Auffassung, die "die Wirtschaft" tatsächlich als eine quasi-göttliche, übermenschliche Macht gleichermaße fürchtet wie verehrt und die somit im Kern selbst bzw. erst recht blasphemisch ist. Anders ausgedrückt, die Folge Margaritaville richtet sich gegen das "Evangelium der Ökonomie", das Novalis schon in der Frühzeit des Kapitalismus als Geist der Zeit erkannte uns gegen das er und andere Vertreter der Romantik entschieden Stellung bezogen. Gleichzeitig wird in der Figur Cartmans auch der politisch-ökonomische Antisemitismus, der historisch häufig mit dem romantischen Antikapitalismus in Verbindung gebracht wird, scharf karikiert. Nicht zuletzt verweist die Gegenüberstellung der in religiöse Sprachmuster gekleideten Standpunkte von Stans Vater und Kyle auch auf konkurrierende finanz- und wirtschaftspolitische Konzepte, wobei Kyle eine vereinfachte Version des Keynesianismus vertritt: Gerade in der Krise müsse Geld ausgegeben werden, um die Konjunktur anzukurbeln - eine Auffassung, die in den USA unter der Regierung Barack Obamas eine Renaissance erlebt hat. Umso mehr ist zu betonen, dass in Margaritaville nicht nur die "Religiösen Rechten" ihr Fett abbekommen, sondern auch die Gegenseite: Als Kyle sich am Ende der Episode von seinem Schwächeanfall erholt hat und die Medien Anzeichen für einen neuen Wirtschaftsaufschwung vermelden, muss er konsterniert feststellen, dass dieser Erfolg nicht ihm und seiner erlösenden Tat, sondern eben Barack Obama zugeschrieben wird - eine wohlgezielte Kritik an der geradezu messianischen Verehrung, die dem US-Präsidenten zumindest zu Beginn seiner Amtszeit (und davor) von Teilen seiner Anhängerschaft entgegengebracht wurde.

Alles in allem erweist sich Margaritaville somit als weit vielschichtiger, als man es einer nur rund 20 Minuten langen Episode einer Cartoonserie eigentlich zutrauen würde; die bleibende, vielleicht sogar wachsende Aktualität der hier angesprochen Probleme macht die Folge, die 2009 mit einem Emmy Award in der Kategorie "Bestes animiertes Programm (weniger als eine Stunde)" ausgezeichnet wurde, auch über drei Jahre nach ihrer Erstausstrahlung noch sehenswert und diskussionswürdig -- auch wenn der christliche Betrachter womöglich an der einen oder anderen Stelle schwer schlucken muss.