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Donnerstag, 31. Januar 2019

Pfadfinder-Feedback: Ein Gastbeitrag

Zu meinem unlängst hier veröffentlichten Artikel über Unterschiede zwischen den beiden katholischen Pfadfinderverbänden DPSG ("Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg") und KPE ("Katholische Pfadfinderschaft Europas") hat mir eine Mutter, die mit ihren Kindern in der DPSG aktiv ist, ein ausführliches Feedback zukommen lassen. Dabei bezieht sie sich vor allem auf die in meinem Beitrag eher zwischen den Zeilen, aber offenbar doch deutlich genug zum Ausdruck gekommene Beobachtung, die DPSG lasse im Vergleich zur KPE ein klares katholisches Profil vermissen. Dazu merkt die Leserin an:
"Wer nach allen Seiten offen ist, kann doch irgendwo nicht ganz dicht sein": So könnte man den Internetauftritt der DPSG zusammenfassen. Die Verfasser plagte offenbar die Angst, Eltern könnten denken, ihr Kind dürfe nicht kommen, weil sie geschieden sind oder lesbisch oder nicht-weiße Hautfarbe haben – oder eine Kombination davon. Das ist erst mal ausgemachter Blödsinn, so etwas anzunehmen: Es wird keiner von einem katholischen Jugendverband ausgeschlossen, weil die Herkunft nicht genehm ist – was übrigens für die gesamte katholische Kirche gilt. Voraussetzung fürs Pfadfinden ist nicht die letzte Beichte der Eltern, sondern Freude am "Draußensein", an einer robusteren Freizeitgestaltung und an körperlicher Aktivität. Pfadfinden möchte Kinder, Jugendliche und Erwachsene dazu befähigen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln, selbstständig und teamfähig zu sein, sich und seinen Kompetenzen zu vertrauen, kurz: gerundete Persönlichkeiten zu werden. Dummerweise hat die DPSG einen akuten "Wir sind ja eigentlich gar nicht so"-Komplex, womit sie ausgezeichnet in die restliche katholische Szene Deutschlands passt. Daher distanziert man sich heftig davon, für "so" gehalten zu werden. Das Ergebnis ist Profilverlust. 
Symbolbild; Quelle und Lizenz hier.
Auf der anderen Seite steht das "dunkelkatholische" Mantra, eine Mitgliedschaft in der DPSG sei eigentlich nicht möglich, weil der Verband ja eigentlich vom Pfad der Tugend abgewichen sei. Äh – ja. Stimmt. Liest man den Internetauftritt oder sitzt man auf einer Gremienkonferenz, fragt man sich schon, was bitte eigentlich das spezifisch Katholische sein soll, vor dem Eltern Angst haben könnten. Die Kritik ist berechtigt – wir sind hier in Deutschland. Aber was wären die Alternativen? Als meine Kinder zu den Pfadfindern wollten, gab es vor Ort drei Möglichkeiten: die Freikirchler, die Evangelen und die DPSG. Der katholische Herdentrieb siegte. Die Freikirchler benutzen ihre Pfadfinder übrigens ausdrücklich dazu, Kinder (und über die Kinder die Familien) an ihre Gemeinde zu binden – was man der DPSG nun wirklich nicht vorwerfen kann. Die "katholischere" Alternative KPE gab es schlicht nicht in erreichbarer Entfernung. Man trifft die auch nie (besser: ich treffe die nie), wenn man unterwegs ist. Ich habe immer mal wieder den Gedanken "Die gibt's wahrscheinlich nur im Internet", weil sie so unsichtbar sind. Was mich zum nächsten Punkt bringt: Die DPSG bemüht sich im gute Beziehungen zu anderen Verbänden. Das ist an sich auch gut so – Blick über den Tellerrand und so. Vor Ort läuft man sowieso eher den Nasen von nebenan über den Weg als irgendwelchen Verbandsgremien, da bildet sich auf der persönlichen Ebene schnell Kontakt; der fehlt bei der KPE zumindest mir hier. Ich argumentiere bei "Warum seid ihr immer noch in der DPSG?!" immer damit, dass, wenn alle Katholiken da wegliefen, eine großartige Möglichkeit verloren ginge, Kindern, die sonst nie eine Kirche von innen sehen würden, einen Kontakt zur Kirche zu vermitteln. Diese Möglichkeit verschenken wir, wenn wir den Verband gänzlich "den Politikern" überlassen.
Um das Thema "rund" zu kriegen, wäre es jetzt natürlich richtig schön, wenn sich nun noch jemand zu Wort meldete, der aus der "Innenperspektive" etwas über die KPE sagen kann... Ich bin gespannt! 



Mittwoch, 30. Januar 2019

Wer hat Angst vor Homeschoolern?

Ein Gespenst geht um in Deutschland: das Gespenst des Homeschoolings. Am 10. Januar entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall "Wunderlich gegen Deutschland" gegen eine Familie aus Hessen, die um das Recht kämpft, ihre vier Kinder selbst zu unterrichten. Geklagt hatten die Wunderlichs, nachdem "im August 2013 mehr als 30 Polizisten und Sozialarbeiter die Wohnung der Familie" gestürmt hatten:
"Sie hätten die Kinder auf brutale Weise von ihren Eltern und aus der Wohnung entfernt, sie in ein Heim gebracht und eine traumatisierte Familie hinterlassen. Die Kinder seien zwar ihren Eltern wieder übergeben worden, allerdings sei die rechtliche Situation weiterhin unklar."
Der Europäische Gerichtshof urteilte nun, die staatlichen Behörden seien mit ihrem Vorgehen im Recht gewesen: "Der Entzug des Sorgerechts und die Wegnahme der Kinder seien gerechtfertigt, um deren Integration in die Gesellschaft sicherzustellen. Das Kindeswohl sei gefährdet, wenn Eltern ihre Kinder nicht in die Schule schickten".  Durch dieses Gerichtsurteil ist das Thema Homeschooling in Deutschland aber nicht etwa, wie man denken könnte, "vom Tisch"; vielmehr scheint es, dass es erst jetzt überhaupt richtig auf den Tisch gekommen ist. Eine Debatte, die durch das Gerichtsurteil hätte beendet werden können, hat es meiner Wahrnehmung zufolge nämlich praktisch gar nicht gegeben. In Politik und Gesellschaft gab es bisher keine nennenswerten Stimmen, die die in Deutschland geltende Form der Schulpflicht ernsthaft in Frage gestellt hätten. Auch jetzt noch ist das Eintreten für eine Lockerung der strikten Schulpflicht sicherlich eine Minderheitenposition, aber das Interesse am Thema hat spürbar zugenommen.

Mein Freund Rod Dreher hat auf seinem Blog über das Gerichtsurteil gegen die Familie Wunderlich berichtet und es - wenig überraschend - zum Anlass genommen, darauf hinzuweisen, wie dringend gläubige Christen in Deutschland eine auf die hiesigen Verhältnisse zugeschnittene Version der Benedikt-Option benötigen, um ihre Kinder im Glauben erziehen zu können. Außerdem bat er mich, auch etwas zum Thema zu schreiben, und dieser Bitte kam ich gerne nach; allerdings ging es in meinem Artikel, der dann einen Tag später als Gastbeitragauf Rods Blog erschien, schwerpunktmäßig eher um das Thema KiTa-Erziehung als um das Thema Schulpflicht, da mir ersteres - als Vater eines noch lange nicht schulpflichtigen Kindes - persönlich derzeit einfach näher ist.

Vorige Woche haben nun sowohl das evangelikal orientierte Magazin "idea Spektrum" als auch die katholische Wochenzeitung "Die Tagespost" das Thema aufgegriffen; beide haben ein "Pro & Contra" zum Thema Homeschooling veröffentlicht. (Das unterstreicht, nebenbei bemerkt, meinen Eindruck, dass die wirklich relevanten und zukunftsweisenden Debatten über die Zukunft der Christenheit derzeit weniger zwischen einem liberalen und einem konservativen Lager geführt werden als vielmehr innerhalb des konservativen Spektrums.)

Johann Peter Hasenclever: "Jobs als Schulmeister", 1845 (gemeinfrei). 
Im idea Spektrum wird die Frage "Sollte man Hausschulunterricht in Deutschland erlauben?" von Andreas Thonhauser, Sprecher der christlichen Organisation ADF International, die die Familie Wunderlich auch vor Gericht vertritt, zustimmend ("Hausschulunterricht ist eine Bereicherung für die Gesellschaft") und von Jörg Birnbacher, Schulleiter des privaten evangelischen Lukas-Gymnasiums in München, ablehnend beantwortet ("Die Schulpflicht ist ein hohes demokratisches Gut"). In der Tagespost ist die Frage andersherum formuliert ("Soll Homeschooling verboten bleiben?"), "Pro" und "Contra" sind hier also sozusagen vertauscht; für eine Beibehaltung der unbedingten Schulpflicht spricht sich hier der ehemalige Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, aus, dagegen wiederum Andreas Thonhauser. Dieser Name kam mir übrigens gleich so bekannt vor; ein kurzes Nachschlagen in meinem eMail-Postfach ergab, dass Rod Dreher ihn mir bereits vor über einem Jahr als jemanden empfohlen hatte, zu dem ich mal Kontakt aufnehmen sollte. Dann wird's vielleicht mal Zeit, dass ich das wirklich tue.

Dass Andreas Thonhauser in beiden genannten Publikationen als Homeschooling-Fürsprecher zu Wort kommt, während der Gegenstandpunkt von zwei verschiedenen Personen vertreten wird, scheint mir übrigens durchaus aussagekräftig in Hinblick auf die, sagen wir mal, Popularität der jeweiligen Position. Jemanden zu finden, der sich öffentlich für die Schulpflicht und gegen Homeschooling ausspricht, ist offenkundig einfacher als umgekehrt. Ich kann nicht sagen, dass mich das überrascht.  Homeschooling hat in Deutschland einen außerordentlich schlechten Ruf. Das habe ich bei meiner jüngsten Buchvorstellung zur Benedikt-Option mal wieder zu spüren bekommen, obwohl ich das Thema in meinem Vortrag überhaupt nicht angeschnitten hatte: Einige meiner Zuhörer hatten sich offenbar im Vorfeld schon ausreichend über die Thesen des Buches informiert, um zu wissen, dass darin auch das Thema Homeschooling eine Rolle spielt, und meinten, das gehe ja nun gar nicht. (Es ist durchaus eine eigentümliche Ironie des Schicksals, dass die Familie, die im Mittelpunkt des eingangs erwähnten Rechtsstreits steht, ausgerechnet "Wunderlich" heißt -- denn genau so, nämlich als "wunderlich", werden sie zweifellos von vielen Deutschen wahrgenommen.)

Zugleich fällt auf, dass Birnbacher im idea-Spektrum und Kraus in der Tagespost im Wesentlichen dasselbe sagen -- und auch im Wesentlichen dasselbe wie die Leute bei meiner Buchvorstellung und wie so ziemlich jeder Durchschnittsbürger, mit dem man sich an der Wursttheke im Supermarkt über das Thema unterhält. Man kommt sich schon ein bisschen vor wie beim guten alten RTL-"Familienduell": "Wir haben hundert Leute gefragt: Was spricht gegen Homeschooling?" Und voilà, man erhält stets denselben, mäßig bunten Strauß aus Scheinargumenten, Vorurteilen und blanken Unwahrheiten. In der Hauptsache läuft es immer wieder auf dieselben drei Punkte hinaus: Die Schulpflicht sei ein hohes Gut, das "nicht leichtfertig zur Disposition gestellt werden" dürfe (Birnbacher); "qualifizierte Pädagogen" könnten Kinder besser unterrichten als Eltern (lustigerweise sogar dann, wenn diese selbst "qualifizierte Pädagogen" sind!); und last not least würde Homeschooling die Entwicklung von "Parallelgesellschaften" begünstigen und die Kinder zu "Sonderlingen" erziehen.

Natürlich interessiert mich der letztgenannte Punkt hier am meisten, denn tatsächlich ist die Entwicklung von "Parallelgesellschaften" ja genau das, worauf die Benedikt-Option abzielt, und dass dieser Begriff in der öffentlichen Debatte in Deutschland so extrem negativ besetzt ist, stellt ein wesentliches Akzeptanzproblem für dieses Konzept dar. Sagen wir trotzdem erst mal noch ein paar Worte zu den beiden anderen Punkten.

Josef Kraus erklärt in der Tagespost, die Schulpflicht sei "eine großartige pädagogische und vor allem eine große soziale Errungenschaft"; Jörg Birnbacher nennt sie im idea Spektrum sogar "ein hohes demokratisches [!] Gut". Na klar, deshalb gibt es sie in dieser strikten Form ja auch nur in Deutschland und vielleicht noch in Nordkorea, nicht wahr? -- Im Ernst: Für Demokratien ist es normalerweise eher typisch, dass es in ihnen eine Bildungs- bzw. Unterrichtspflicht gibt, zu deren Erfüllung aber nicht zwingend der Besuch einer Schule vorgeschrieben ist. Der Versuch, die Schulpflicht mit dem Hinweis darauf zu rechtfertigen, dass man "[e]rst durch solide Bildung [...] zum mündigen Bürger" werde (Kraus), wirkt vollends tragikomisch, wenn man bedenkt, dass die verbindliche gesetzliche Regelung der Schulpflicht, wie sie bis heute in Deutschland gilt, 1938 von den Nazis geschaffen wurde. Ja, echt

Bezüglich der fachlichen und pädagogischen Kompetenz von Lehrern hat vermutlich jeder so seine eigenen Erfahrungen, wobei ich sagen muss, dass ich mit meinen Lehrern - zumindest auf dem Gymnasium - noch überwiegend Glück hatte, wenn ich meine Erinnerungen an die Schule mal mit denen einiger Freunde und Bekannter abgleiche. Dennoch reagiere ich auf dieses Argument empfindlich, nicht zuletzt deshalb, weil es heutzutage ja zunehmend auch schon zugunsten der KiTa-Erziehung vorgebracht wird: Professionell geschultes Potential könne die Kinder viel besser "fördern" als die eigenen Eltern. Und dann behauptet Ex-Lehrerverbands-Präsident Kraus allen Ernstes, der Umstand, dass Homeschooling sich in den USA wachsender Beliebtheit erfreue, rühre nicht zuletzt daher, dass "das öffentliche Schulwesen dort in einem oft desaströsen Zustand" sei. Also bitte: Wenn der gute Mann wirklich meint, um dysfunktionale Schulen zu sehen zu bekommen, müsse man erst mal über den großen Teich reisen, dann war er wohl noch nie in Berlin. Der Annahme, Hausunterricht könne nicht dieselbe fachliche und pädagogische Qualität erreichen, wie sie an öffentlichen Schulen gegeben sei, widerspricht Andreas Thonhauser entschieden. Im Gegenteil - so fasst die Tagespost seine Ausführungen zusammen - "können die besonderen Fähigkeiten der Schüler besser beim Homeschooling entwickelt werden": "Je individualisierter [...] der Unterricht gestaltet ist, je stärker die Lehrperson auf den einzelnen Schüler, seine Stärken und Schwächen eingeht, desto eher findet eine optimale Förderung statt." Auch auf das Lerntempo könne man "beim Homeschooling besser eingehen, und der Lernfortschritt kann regelmäßig überprüft werden".

Bleibt also noch der "soziale Aspekt". Da frage ich mich immer - zumal man sich dieselben "Argumente" ja inzwischen auch schon anhören darf, wenn man sein Kleinkind nicht in die KiTa gehen lassen will -, was diejenigen, die gegen häusliche Erziehung polemisieren, sich eigentlich vorstellen: Ob die ernsthaft denken, Eltern würden ihre Kinder in der Besenkammer aufbewahren, wenn man sie ließe. Josef Kraus stellt es sich jedenfalls anscheinend so vor:
"Solche Kinder erleben nicht, was ein Skikurs, eine Studienfahrt mit einer ganzen Klasse oder was eine gemeinsame Theateraufführung, ein sportlicher Wettstreit [...] bedeuten. Sie erfahren nie, was es heißt, sich mit einer Gruppe zusammengemixter Alterskameraden zu einem schulischen Projektauftrag zusammenraufen zu müssen." 
Völliger Quatsch, widerspricht Andreas Thonhauser:
"Dass der Unterricht nämlich ausschließlich zu Hause stattfindet, stimmt für die meisten Homeschooler nicht. Vielmehr wird das gesamte Umfeld eines Kindes in den Unterricht einbezogen: von Eltern über Freunde, außenstehende Experten, Museen, technische Anlagen, Reisen, Veranstaltungen, Konzerte, Vernissagen, Sport, bis hin zu religiösem Programm." 
Ja, aber die Parallelgesellschaften! In den USA, so meint Josef Kraus, sei das Homeschooling "auch zum Spielfeld fundamentalistischer und sektiererischer Eltern geworden":
"Das könnte […] auch in Deutschland kommen. Eine der führenden Gruppen in den USA sind etwa die Kreationisten, die nicht wollen, dass ihre Kinder in der Schule mit der Lehre der Evolution konfrontiert werden." 
Also, zunächst mal, lieber Herr Kraus: Kreationisten sind keine Gruppe. Kreationismus ist zunächst einmal eine Theorie über die Entstehung der Welt, und auch wenn diese in bestimmten Glaubensgemeinschaften verbreiteter ist als außerhalb dieser (und in manchen "fundamentalistischen" Konfessionen sogar verbindliche Glaubenslehre sein mag), ist sie an und für sich nicht mit einer bestimmten Glaubensrichtung deckungsgleich. Ich gehe davon aus, dass Herr Kraus das durchaus weiß und mit seiner Formulierung nur Sektenängste schüren will. Und dann spricht er auch noch den Elefanten im Raum an -- oder, wenn man so will, die Lieblingsangst des deutschen (Spieß-)Bürgers: die Angst vor dem Islam
"Im übrigen darf man nicht übersehen, welche Folgen die Zulassung von Homeschooling gerade in Populationen mit Migrationshintergrund hätte. [...] Wer Homeschooling zulässt, müsste als Alternative zum staatlichen beziehungsweise zum staatlich anerkannten oder staatlich genehmigten Schulwesen sogar privat organisierte Koranschulen zulassen." 
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich dem Herrn Kraus Respekt für so viel Chuzpe zollen oder einmal mehr indigniert den Kopf darüber schütteln sollte, dass diese Strategie bei so vielen Christen verfängt. Dass sie sich durch das Schreckgespenst fundamentalistisch-islamischer Parallelgesellschaften dazu verleiten lassen, sich eine im Kern säkularistisch motivierte Islamkritik zu eigen zu machen, ohne dabei zu merken, dass man mit exakt denselben Argumenten auch gegen sie selbst vorgehen könnte. Anstatt mal auf die Idee zu kommen, dass man von den Fähigkeiten der Muslime, quasi "in Feindesland" Parallelgesellschaften aufzubauen, etwas lernen könnte. Aber da sehe ich wieder die Gesprächsrunde vom vorletzten Freitag vor mir. "Radikal" sein, sich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen, das will man ja nicht. Das muss dieser typisch deutsche Hang zum Konformismus (manche sagen auch "Herdenmentalität" dazu) sein, der die Mehrheit der Deutschen stets dazu befähigt hat, sich unter den unterschiedlichsten politischen Systemen mit der jeweils herrschenden Ideologie nicht nur zu arrangieren, sondern sogar zu identifizieren. Als gefährlich, bedrohlich wurde und wird immer nur der angesehen, der anders ist -- der nicht mitmacht, nicht nach den Regeln spielt. Wenn also jemand - wie Andreas Thonhauser in der Tagespost argumentiert - im Homeschooling eine Möglichkeit sieht, sich ein Stück "Freiheit gegenüber dem Staat" und gegenüber ideologischer Beeinflussung durch diesen - "wie beim Sexualkundeunterricht" - zu bewahren, dann ist das dem Durchschnittsdeutschen von vornherein suspekt. 

-- Nebenbei bemerkt: Dass ich persönlich mit dieser Angst vor Parallelgesellschaften nichts anfangen kann, hat sicherlich auch damit zu tun, dass ich selbst in einer Parallelgesellschaft aufgewachsen bin -- und das, obwohl ich von der ersten Klasse an ausschließlich öffentliche Schulen besucht habe. (Dazu - also über die Parallelgesellschaft, in der ich aufgewachsen bin - wird es hier demnächst mehr zu lesen geben, denn ich habe gerade von einem Leser ein Buch zugeschickt bekommen, das dieses Thema wieder stark in mein Bewusstsein gerückt hat.) 

Jörg Birnbacher, wie gesagt Schulleiter eines evangelischen Gymnasiums, spricht offenkundig pro domo, wenn er meint, wer "aus christlicher Sicht Vorbehalte gegen staatliche Schulen hege, könne sich für eine Schule in privater Trägerschaft entscheiden, die von engagierten Christen betrieben werde": "Dort erlebten Kinder ein Umfeld, das dem biblischen Menschenbild entspreche, und sie erhielten gleichzeitig eine überdurchschnittlich gute Ausbildung." Ich sag mal so: Da habe ich von Leuten, die solche Schulen aus eigener Erfahrung kennen, aber auch schon ganz andere Einschätzungen gehört. Und selbst wenn man einräumt, dass es durchaus gute christliche Bekenntnisschulen geben mag, muss man da halt auch erst mal einen Platz bekommen. Josef Kraus gibt derweil zu bedenken, dass es, um einem Kind eine wirklich umfassende Bildung zu ermöglichen, "schon eines verwandtschaftlichen oder nachbarschaftlichen Netzwerkes" bedürfe, "das schier der regulären Gründung einer Privatschule gleichkäme". --- 

--- Ja, eben! Verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Netzwerke, genau das wäre der BenOp-Ansatz -- das wäre das, was Rod Dreher in seinem Buch als "Die Idee eines christlichen Dorfes" bezeichnet. Und wenn man das dann als "regelrechte Privatschule" deklariert, dann hätte Kraus nichts mehr dagegen? Na wie schön. Der Haken dabei ist natürlich, dass es in Deutschland gar nicht so einfach ist, die Gründung einer Privatschule genehmigt zu bekommen, und dass auch Privatschulen nicht frei von staatlicher Einflussnahme auf ihr Unterrichtskonzept sind. Da gab es gerade erst so einen Fall, wo eine evangelische Privatschule ein Konzept entwickelt hatte, bei dem die Schüler überwiegend "zu Hause, also 'im natürlichen Lebensumfeld' lernen" sollten, "mit Unterstützung einer Internetplattform. Richtig [!] in die Schule gehen sollten sie nur einmal pro Woche." Und dies wurde der Schule untersagt. Begründet wurde die Ablehnung dieses Unterrichtskonzepts damit, dass "ein einziger gemeinsamer Schultag pro Woche [nicht] zum Erreichen der staatlichen Erziehungsziele reiche. Der Trend gehe eher hin zur Ganztagsschule, also zu mehr gemeinsamem Unterricht".

"Staatliche Erziehungsziele". Wenn ich so etwas schon höre. "Lufthoheit über den Kinderbetten". Alles im Interesse der Demokratie, versteht sich. Im Grundgesetz steht zwar, dass die Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern sei und dass der Staat dieses Recht zu schützen habe; aber das fällt heutzutage wohl unter "Verfassungspoesie"

Immerhin: In Bremen gab es 26 Jahre lang (und bis vor gar nicht so langer Zeit) eine "illegale", von Eltern in Eigenregie betriebene Grundschule. Das ging deshalb so lange gut, weil schlichtweg niemand gemerkt hat, dass diese Schule nicht genehmigt war. Ich würde mal sagen, das Beispiel lässt hoffen...  



Sonntag, 27. Januar 2019

Tante Wiki und die Pfadfinder

Es ist schon eine Weile her, dass ich in einer geschlossenen Facebook-Gruppe auf eine Diskussion über verschiedene Pfadfinderverbände aufmerksam wurde. Ich beteiligte mich nicht aktiv daran. So ziemlich alles, was ich über Pfadfinder weiß, habe ich von Tick, Trick und Track und dem Fähnlein Fieselschweif. Immerhin konnte ich der Diskussion aber entnehmen, dass es im Wesentlichen zwei katholische Pfadfinderverbände in Deutschland gibt: die "Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg" (DPSG) und die "Katholische Pfadfinderschaft Europas" (KPE). Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden ist, dass die DPSG zum BDKJ gehört und die KPE nicht. Nun habe ich den BDKJ, den "Bund der deutschen katholischen Jugend", an anderer Stelle mal als das katholische Pendant zu den JuSos bezeichnet und sehe auch keinen Grund, diese Einschätzung zu revidieren; aber das sagt noch nicht unbedingt viel über die DPSG-Pfadfinder aus. Schließlich ist der BDKJ ein Dachverband, dem dem theoretischen Anspruch nach alle katholischen Jugendorganisation Deutschlands angehören und tatsächlich die meisten. Das wiederum macht jetzt natürlich die KPE interessant, auf die das nicht zutrifft. 

Symbolbild, Quelle: flickr 
Fangen wir aber trotzdem erst mal mit der DPSG an. Auf deren Website gibt es eine Rubrik "Eltern-Fragen", in der Eltern, die sich womöglich unsicher sind, ob sie ihre Kinder bei den Pfadfindern anmelden sollen oder nicht, u.a. erfahren, dass es das Ziel der DPSG sei, "Kinder und Jugendliche in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu unterstützen", dass das Pfadfinden "die Entwicklung der sozialen Fähigkeiten und des Selbstbewusstseins" unterstütze und "die Möglichkeit [eröffne], sich in vielen Bereichen auszuprobieren". Da es sich ja explizit um einen christlichen, ja katholischen Pfadfinderverband handelt, darf auch ein Unterpunkt "Wie steht die DPSG zur Religion?" nicht fehlen. Darin heißt es: 
"Als katholischer Verband ziehen wir viele unserer Werte und unsere Motivation aus dem christlichen Glauben. In Kirche bringen wir uns aktiv ein und leben unseren Glauben im Pfadfinden. Gemeinsam wollen wir so die Welt ein Stück besser zurücklassen, als wir sie vorgefunden haben. Die DPSG steht auch Kindern und Jugendlichen aus anderen Religionen offen. Mit anderen christlichen und nicht-konfessionellen Pfadfinderverbänden sowie dem Bund der moslemischen Pfadfinder und Pfadfinderinnen Deutschlands (BMPPD) haben wir freundschaftliche Beziehungen. So reden wir nicht nur von Respekt und Toleranz zu allen Menschen, sondern leben sie auch – unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder Religion.“
Alles klar? – Einem Bericht über die 83. Bundesversammlung unter dem Motto "Pfadfinden ist politisch – wir mischen uns ein!" vom 28.05.2017 kann man entnehmen, dass die DPSG u.a. für "[m]ehr Partizipationsrechte für junge Menschen", "Chancengerechtigkeit für junge Menschen in Deutschland" – "unabhängig von Alter, körperlicher und geistiger Entwicklung, Geschlecht und sexueller Orientierung, Herkunft, Religion oder Bildung" –, "[e]in fremdenfreundliches, buntes Deutschland" und "[e]in offenes, solidarisches und demokratisches Europa" eintritt. Da ist man also ganz auf JuSo-, äh, ich meine, BDKJ-Linie. 

Im Unterschied dazu wird die KPE, wie Wikipedia zu berichten weiß, "dem Traditionalismus zugeordnet", und ihr werden "radikale Tendenzen vorgeworfen". Nun gut, Radikalität ist ja, meinem Verständnis nach zumindest, nicht zwangsläufig etwas Schlechtes. Schon gar nicht, wenn dieser Vorwurf mit Blick auf die religiöse Ausrichtung einer katholischen Gruppierung erhoben wird. In den USA werden neuerdings sogar schon die "Knights of Columbus", eine 1882 quasi als katholische Gegengründung zu den Freimaurern entstandene Wohltätigkeitsorganisation, von namhaften Politikern der Demokratischen Partei als extremistische Gruppierung bezeichnet. Fast bin ich geneigt zu sagen, angesichts des vorherrschenden Klimas in den öffentlichen Debatten müsste eine katholische Organisation sich schon Gedanken machen, ob sie etwas falsch macht, wenn sie nicht als "radikal" oder "fundamentalistisch" eingestuft wird. (Ja, der Begriff des "christlichen Fundamentalismus" findet sich im Wikipedia-Artikel über die KPE wiederholt.)

Mehr noch: Im Jahr 2000, so berichtet Tante Wiki, hat die Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz der KPE und der eng mit ihr verbundenen, "päpstlich anerkannte[n] und zur Jugendseelsorge beauftragte[n] Kongregation der Diener Jesu und Mariens (Ordenskürzel SJM)" "Merkmale einer Sekte" attestiert. "Vor allem seit den 1990er Jahren erfuhr die KPE wegen ihrer pädagogischen und religiösen Ausrichtung immer wieder Kritik. Aus den 1990er Jahren stammt der Vorwurf, ihre Katechese enthalte apokalyptische Vorstellungen." Ach was. Apokalyptische Vorstellungen? Du musst jetzt ganz tapfer sein, Leser: Apokalyptische Vorstellungen finden sich sogar in der Bibel, schwerpunktmäßig in verschiedenen Prophetenbüchern des Alten Testaments und in der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament, und in ganz normalen katholischen Gottesdiensten wird mehrmals im Jahr aus diesen gefährlichen Schriften vorgelesen. Kann man dagegen denn gar nichts tun? Was macht eigentlich der Verfassungsschutz den ganzen Tag lang??!!??

Aber mal anders gefragt: Worin zeigt sich die "fundamentalistische" religiöse Ausrichtung der KPE denn nun in der Praxis? Tante Wiki verrät es:
"Bezüglich der Glaubensvermittlung wurde der KPE vorgeworfen, ihre Mitglieder zur Beteiligung an religiösen Übungen zu drängen, besonders zur heiligen Messe und zur Beichte." 
Schockierend! Ein katholischer Verband, der seine Mitglieder zur Einhaltung der Kirchengebote anhält!

Nun aber mal Spaß beiseite: Der besagte Wikipedia-Artikel führt in dem umfangreichen Abschnitt "Unterstützung, Kritik und Stellungnahmen" durchaus auch gewichtigere Vorwürfe gegen die KPE auf, nämlich "Judenfeindlichkeit, Homophobie, Rechtsextremismus und Nähe zum Engelwerk". Nun, ich denke, den Vorwurf der "Homophobie" können wir wohl getrost ausklammern -- den zieht man nur allzu leicht auf sich, wenn man sich in Fragen menschlicher Sexualität einfach nur zur Lehre der katholischen Kirche bekennt. Und was hat es mit dem "Engelwerk" auf sich? Keine Bange, auch dazu gibt es einen Wikipedia-Artikel:
"Das Engelwerk […] ist eine 1949 von Gabriele Bitterlich (1896–1978) gegründete geistliche Bewegung, die 2008 von Papst Benedikt XVI. für die Katholische Kirche anerkannt wurde. Nach eigenen Angaben will sie sich unter anderem für eine Förderung der 'Verehrung der heiligen Engel in der Kirche' einsetzen. Es wird von Kritikern als Sekte innerhalb der römisch-katholischen Kirche angesehen. Einige Bischöfe unterstützten die Bewegung, der Salzburger Erzbischof Georg Eder verteidigte sie 2002 gegen den Sektenvorwurf. Die Glaubenskongregation schrieb dem Engelwerk 2010 eine 'Übereinstimmung mit der überlieferten Lehre und den Weisungen der höchsten Autorität' der Kirche zu."
Aha. Fassen wir zusammen: Der KPE werden religiöser Fundamentalismus und "Merkmale einer Sekte" vorgeworfen, und zur Untermauerung dieser Vorwürfe wird auf Verbindungen zu einer anderen katholischen Gruppierung hingewiesen, der dasselbe vorgeworfen wird. Sieht ein bisschen so aus, als könnte man dieses Prinzip endlos fortsetzen. Wobei ich zugeben muss, dass vieles von dem, was man so über das Engelwerk liest, tatsächlich reichlich suspekt anmutet. Schon allein, weil die Gründung dieser geistlichen Bewegung auf obskure Privatoffenbarungen der Gründerin Gabriele Bitterlich zurückgeht, die teilweise nach esoterisch-okkultistischen Geheimlehren aussehen und daher von der Glaubenskongregation wiederholt (1983 und 1992) als nicht vereinbar mit dem katholischen Glauben verurteilt wurden. Die offizielle Anerkennung des Engelwerks durch Papst Benedikt XVI. im Jahr 2008 erfolgte zwar auf der Grundlage erneuerter Statuten, die dem Dekret der Glaubenskongregation von 1992 Rechnung trugen und u.a. vorsahen, dass die auf Bitterlichs Visionen beruhenden Lehren "weder gelehrt noch in irgendeiner Weise, explizit oder implizit, verwendet werden" sollten; aber man kann sich dennoch fragen, wieso eine geistliche Bewegung unter Auflagen anerkannt oder bestehen gelassen wird, wenn offenbar schon mit ihrem Gründungscharisma etwas faul ist. -- Dasselbe könnte man sich freilich, aus teilweise anderen Gründen, beispielsweise auch bei den Legionären Christi fragen. -- Wenn ich hier von "teilweise anderen Gründen" spreche, dann meine ich damit, dass es neben erheblichen Unterschieden auch manche Gemeinsamkeiten gibt. Kriecht man etwas tiefer in den Kaninchenbau, dessen Eingang der Wikipedia-Artikel zum Engelwerk sozusagen darstellt, stößt man beispielsweise bald auch auf grausige Missbrauchs- und sogar Mordfälle

Aber was hat das Engelwerk überhaupt mit der KPE zu tun? Nichts, behauptet die KPE. In einer Stellungnahme aus dem Jahr 2011 ließ der Pfadfinderverband verlauten, "[i]n religiösen Fragen lehne man Sonderlehren, die von der allgemeinen Lehre der Kirche abweichen, [...] grundsätzlich ab, [...]. Verbindungen zum Engelwerk – sowohl organisatorischer als auch inhaltlicher Art – wurden nachdrücklich bestritten." Tante Wiki jedoch lässt sich nicht lumpen und führt eine Reihe von Belegen dafür an, dass es da eben doch Verbindungen gibt -- personelle Querverbindungen zumeist: Mitglieder und Freunde des Engelwerks oder der diesem angeschlossenen Ordensgemeinschaft der Regularkanoniker vom Heiligen Kreuz, die zugleich auch als Förderer der KPE hervorgetreten sind; Veranstaltungen der KPE in dem Engelwerk verbundenen Einrichtungen; ein dem Ordenszweig des Engelwerks angehöriger Bischof, der KPE-Mitglieder zu Priestern weiht. Ja die Autoren des Artikels gehen sogar so weit, zu einer Aufzählung von Bischöfen, die sich lobend über die Arbeit der KPE geäußert haben, anzumerken, dass in all deren Diözesen auch das Engelwerk aktiv sei.

Nun gut: So viel verstehe ich durchaus auch von investigativem Journalismus, dass mir klar ist, dass jemand, der Verflechtungen zwischen verschiedenen Organisationen oder Personenkreisen untersuchen will, genau so vorgeht – dass er nach genau solchen Indizien sucht: Wer hat wem eine Empfehlung ausgesprochen, was für Leute schreiben Artikel im Mitgliedermagazin, wer zitiert wen, wer lädt wen auf ein Podium ein, und so weiter. Aber letztendlich sind das eben alles nur Indizien, die auf eine größere Story im Hintergrund hindeuten. Solange man nichts als Indizien hat und die größere Story weiterhin spekulativ bleibt, würde ich persönlich mich hüten, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, sondern würde mich erst einmal bemühen, die Spur solange weiterzuverfolgen, bis ich auf etwas Handfesteres stoße. Die Akribie, mit der in dem Wikipedia-Artikel zur KPE unter dem Abschnitt "Kritik" nichts als solche kleinteiligen Indizien aufgelistet werden, davon aber eine geradezu erdrückende Menge, erweckt doch sehr stark den Eindruck, das es eben nichts Handfesteres gibt.

Ganz ähnlich steht es um die behauptete Nähe der KPE zum Rechtsextremismus: Da werden zwar Einschätzungen verschiedener Personen zitiert, denen zufolge es eine solche Nähe geben soll; belegt wird das aber lediglich durch den Hinweis auf zwei Artikel in der Mitgliederzeitschrift Pfadfinder Mariens aus dem Jahr 2003, von denen einer (übrigens ein Gastbeitrag von einem Engelwerk-Mitglied, womit sich ein Kreis in der "Beweisführung" schließt!) angesichts des demographischen Wandels von einer Bedrohung des deutschen Volkes "in seinem biologisch-ethnischen Bestand" schwadroniert und der andere einen Quellenhinweis auf ein von einem NPD-Funktionär verfasstes Buch enthält. Auf der Basis eigener Erfahrungen kann ich sagen: Ein solches Maß an "Nähe zum Rechtsextremismus" kann man, wenn man nur gründlich genug sucht, auch bei der Jungen Union finden. -- Dem stehen wiederholte entschiedene Distanzierungen der KPE-Bundesleitung "von rechtsextremem und antisemitischem Gedankengut" gegenüber. 

Zitiert wird in dem Wikipedia-Artikel schließlich auch eine Einschätzung der "auf Rechtsextremismus spezialisierte[n] Diplompolitologin Andrea Röpke [...] über die bündische Jugend": "Dort missfallen auch der Freibund – Bund Heimattreuer Jugend e.V., die 'Deutsche Gildenschaft' sowie die 'Katholische Pfadfinderschaft Europas' wegen ihrer rechtslastigen Ausrichtungen." Aha. Mir hingegen missfällt hier das Wort "missfallen": Wem missfällt hier was warum und wofür ist das ein Argument? Wenn es nur um Fragen des persönlichen Geschmacks geht, brauchen wir gar nicht erst anfangen zu diskutieren. -- Dass ich in diesem Kontext auf den Namen Andrea Röpke stoße, finde ich allerdings interessant, denn dieselbe Autorin hat gerade zusammen mit Andreas Speit ein Buch über Völkische Siedler verfasst, das im Frühjahr erscheinen soll. Ich habe beim Verlag bereits um ein Rezensionsexemplar angefragt und bin sehr gespannt. 

Weiterhin erfährt man noch, dass sich "[s]eit 1995 […] mehrere ehemalige KPE-Mitglieder ablehnend und warnend zu ihrer vormaligen Gemeinschaft" geäußert hätten. Na klar, die "Aussteiger"-Perspektive darf nicht fehlen. Aber auch hier erfährt man nichts Konkretes. Ich möchte mal behaupten, es ist ein weit verbreitetes Phänomen, dass es unter ehemaligen Mitgliedern einer Organisation, eines Vereins oder Verbands immer auch solche gibt, die im Rückblick kein gutes Haar an der Gemeinschaft lassen, die sie verlassen haben. Trotzdem würde man einen solchen Satz in einem Artikel über die JuSos wohl eher nicht lesen.

Freilich verschweigt der Artikel nicht, dass die "Bewertung [der KPE] durch verschiedene deutschsprachige Bischöfe [...] uneinheitlich" ist -- dass es also durchaus auch positive Stimmen gibt, die den Verband als "Lernort des Lebens und des Glaubens" würdigen und seinen "kirchliche[n] Sinn" und sein "caritatives Engagement" loben; den KPE-Pfadfindergruppen wird attestiert, sie seien "Orte, an denen Kinder und Jugendliche den christlichen Glauben als Bereicherung erfahren und so eine persönliche Beziehung zu Christus entwickeln können". Auch hier wird allerdings kaum ein Zweifel daran gelassen, was der geneigte Leser davon zu halten hat, denn die Liste derer, die sich wohlwollend über die KPE geäußert haben, liest sich wie ein Who's Who des "konservativen Flügels" der deutschsprachigen Kirchenhierarchie: der verstorbene Erzbischof Dyba (Fulda), der verstorbene Kardinal Meisner (Köln), Kardinal Brandmüller, Erzbischof Gänswein, last not least "Joseph Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI.", der "2003 vor seiner Wahl zum Papst die KPE ausdrücklich gelobt und alle Unterstützung empfohlen" habe. Vom ehemaligen St. Pöltner Bischof Klaus Küng wird in diesem Zusammenhang gesagt, er sei "ein Mitglied des Opus Dei"; da das Opus Dei in diesem Artikel ansonsten nirgends erwähnt wird, wirkt dieser Hinweis etwas zusammenhangslos, aber wenn der Leser dabei an mordende Albino-Mönche denkt, hat die Erwähnung ihren Zweck wohl erfüllt.

Im Bistum Augsburg ist die KPE übrigens seit 1992 als "kirchliche Jugendgemeinschaft" anerkannt; der dortige Weihbischof Florian Wörner (guter Mann!) "erklärte im Februar 2013 anlässlich eines Treffens mit der KPE [...], dass sich KPE-Mitglieder auch außerhalb der eigenen Verbandsstruktur in verschiedenen Initiativen wie z. B. Nightfever im Bistum engagierten". In anderen deutschen Diözesen steht es um die Anerkennung weniger gut. Im Jahr wurde der KPE die Teilnahme am Katholikentag in Hamburg verboten:
"Nach Angaben der Katholischen Nachrichtenagentur habe die Kirchentagsleitung die KPE ausgeschlossen, weil deren Wirken im erklärten Gegensatz zur pädagogischen und jugendpastoralen Arbeit der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg und der Pfadfinderinnenschaft St. Georg stehe. Diese seien die in Deutschland alleinigen kirchlich anerkannten Pfadfinderverbände; dies sei von der Jugendkommission der Deutschen Bischofskonferenz kurz zuvor nochmals ausdrücklich bestätigt worden." 
Noch Fragen? Im Jahr 2004 betonte die Deutsche Bischofskonferenz abermals, die KPE sei "kein offiziell anerkannter Jugendverband". Wer sich mit den bürokratischen Strukturen in der Kirche ein bisschen auskennt, den wird diese Haltung nicht unbedingt überraschen; man könnte sie in der Aussage zusammenfassen: "Wir brauchen euch nicht, wir haben schon einen Pfadfinderverband."

Abschließend sei aber der DPSG noch ein warnendes Wort in Hinblick auf ihren "progressiven" Kurs unter dem Dach des BDKJ gesagt. In den USA stehen die (überkonfessionellen) "Boy Scouts of America" gerade am Rande der Insolvenz. Ursächlich dafür sind neben galoppierendem Mitgliederschwund wohl vor allem die zu erwartenden Kosten von 29 Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs. Konservative Kommentatoren haben allerdings darauf hingewiesen, dass dem finanziellen Bankrott der "Boy Scouts" ein moralischer vorangegangen sei: Der Verband habe gewissermaßen seine Seele verkauft.  Dieser Vorwurf bezieht sich auf eine Reihe von Änderungen der Statuten des Pfadfinderverbands in den letzten Jahren, angefangen damit, dass der Glaube an Gott nicht mehr Voraussetzung für die Mitgliedschaft ist (obwohl der Pfadfinderschwur eine explizite Anrufung Gottes enthält), über die Zulassung offen homosexueller Erwachsener als Gruppenleiter bis hin zur Öffnung des Verbands für transgender-Jugendliche und schließlich auch für Mädchen (was ihnen übrigens eine Klage seitens der Girl Scouts wegen Abgrabens ihrer Mitgliederbasis eintrug). Beim diesjährigen 24. Internationalen Pfadfindertreffen in West Virginia sollen erstmals Kondome an die Teilnehmer ausgegeben werden (was den BDKJ sicherlich freuen wird). Princeton-Dozent Alfred Siewers, selbst Pfadfinder seit 1969, schreibt im Federalist, mit ihrer Unterwerfung unter die Dogmen der LGBTI-Agenda hätten die Boy Scouts den Grundgedanken des traditionellen Pfadfinder-Ethos über Bord geworfen, das im Kern nicht auf Selbstentfaltung, sondern auf Selbstbeschränkung abziele.  




Freitag, 25. Januar 2019

Neues aus Einswarden


Ich will mich ja nicht selber loben – oder will ich das doch? –, aber ich möchte meinen Lesern doch nicht die Information vorenthalten, dass meine unlängst hier veröffentlichte Analyse eines umstrittenen Stadtentwicklungskonzepts für den Nordenhamer Stadtteil Einswarden von mehreren Personen, die sich mit der Situation vor Ort sehr gut auskennen, in nahezu allen wesentlichen Punkten – selbst in solchen, die eingestandenermaßen zu einem gewissen Grad auf Spekulation beruhten – bestätigt worden ist. Derweil gibt es allerlei neue Entwicklungen. Nach der schon erwähnten Bürgerversammlung und einer Sitzung des Bauausschusses am folgenden Tag, bei der das Sanierungskonzept "kurzfristig – quasi über Nacht" auf die Tagesordnung gesetzt worden war, was zu kontroversen Diskussionen und schließlich zur Vertagung der Sitzung auf den 22. Januar führte, schrieben engagierte Einswarder Leserbriefe an die Lokalpresse, führten Unterredungen mit Stadtratsmitgliedern und diskutierten eifrig in sozialen Netzwerken. Dabei stieß offenbar vor allem der Plan zur Bebauung des Marktplatzes auf Kritik; dieser ist durch einen einstimmigen Beschluss des Bauausschusses nun vom Tisch. Weiterhin geplant ist hingegen der Abriss der vieldiskutierten "Schrottimmobilien" an der Niedersachsenstraße 52-62. Ich habe ein paar Fotos von Häusern in dieser Straße geschickt bekommen: 

"Broken-Window-Effekt" in Aktion. 


Wenn man sich die Häuser nur von außen ansieht (und weitere Standortfaktoren unberücksichtigt lässt), könnte man durchaus auf die Idee kommen, dass das geeignete Objekte für eine Luxussanierung wären. Im Inneren sollen sie zum Teil allerdings völlig marode sein. Unbestätigten Gerüchten zufolge sollen in den Häusern Niedersachsenstraße 52-62 sämtliche Wasser- und Stromleitungen sowie Heizkörper von Einbrechern ausgebaut und stellenweise sogar die Fußböden entfernt worden sein.

Zur Vorgeschichte dieser und weiterer "Schrottimmobilien" ist zu sagen, dass Einswarden – noch 1860 ein kleines Fischerdörfchen mit gerade mal 107 Einwohnern – in der Zeit der Industrialisierung sehr schnell gewachsen ist und dass viele dort noch heute stehende Wohnhäuser zwischen 1908 und 1912 sowie zwischen 1936 und 1938 als billige Arbeiterquartiere gebaut wurden. Anstatt sie zu modernisieren und an gestiegene Ansprüche in Sachen Wohnkomfort anzupassen, wurden sie über Jahrzehnte hinweg gezielt an Personengruppen vermietet, die bezüglich ihrer Wohnsituation nicht wählerisch sein konnten: in den 70ern an damals so genannte "Gastarbeiter" aus der Türkei, in den 90ern an Spätaussiedler aus Polen und Russland, und wie es heißt, "setzte das Sozialamt der Stadt dann noch gerne Alkoholiker in günstige Wohnungen in Einswarden". Klar, dass sich so etwas auf die Sozialstruktur eines Stadtteils auswirkt. 

Wobei die soziale Situation im Stadtteil insgesamt wohl nicht annähernd so schlimm ist, wie man sich das vorstellen könnte. Kriminalität soll es, wie mir versichert wurde, in Einswarden in keinem größeren Ausmaß geben als in anderen Stadtteilen Nordenhams. "Frauen können hier nachts auch durch unbeleuchtete Straßen gehen ohne Angst". In mehreren Facebook-Diskussionen wurde hervorgehoben, dass Einswarden immerhin einen Kindergarten, zwei Schulen, ein Schwimmbad, Einkaufsmöglichkeiten, eine Apotheke, ein Ärztehaus und ein Kinder-und Jugendzentrum habe und somit von der Infrastruktur gar nicht mal schlecht aufgestellt sei. Also doch ein Ort, an dem Familien sich niederlassen könnten, um "Stadtteilentwicklung von unten" zu betreiben – vorausgesetzt, es gibt ausreichende Möglichkeiten zum Geldverdienen? Anders gefragt: Wäre Einswarden ein geeigneter Ort für ein BenOp-Projekt?

Nun, für mich persönlich kommt es aus familiären Gründen zumindest für die nächsten fünf Jahre nicht in Frage, da hinzuziehen. Auf längere Sicht würde ich es nicht ausschließen, und in der Zwischenzeit interessiert sich ja vielleicht der eine oder andere meiner Leser dafür. Denn irgendwie scheint mir die Sache doch ein gewisses Potential zu haben. 

Natürlich ist für das Thema "BenOp-Community" die kirchliche Situation vor Ort nicht unerheblich, und was das angeht, wurde mir mitgeteilt, dass nicht nur die 1928 geweihte katholische Herz-Jesu-Kirche in Einswarden seit Anfang 2015 geschlossen ist, sondern dass die evangelischeFriedenskirche bereits 2013 entwidmet wurde. Die "großen" Konfessionen sind also beide nicht mehr im Stadtteil präsent, dagegen finden im Mehrzweckhaus Gottesdienste einer Freikirche statt, und in der Niedersachsenstraße gibt es eine Moschee, in deren Räumen auch eine Teestube betrieben wird – einer der wenigen verbleibenden geselligen Orte Einswardens nach dem (auch im Stadtentwicklungskonzept beklagten) weitgehenden Niedergang des Vereinslebens. Die in meinem vorigen Einswarden-Artikel indirekt aufgeworfene Frage, ob die einstmals sehr aktive katholische Gemeinde womöglich, trotz der Aufgabe des Gottesdienststandorts Herz Jesu, im Stadtteil noch sozial aktiv sei, kann man nach den Informationen, die ich in der Zwischenzeit erhalten habe, wohl weitgehend verneinen, auch wenn die örtliche Kolpingsfamilie (die 1983 von dem damaligen Kaplan Carl Trenkamp, heute Pfarrer in Westerstede, mit der bemerkenswert vorausschauenden Begründung "Wenn ihr selbständig bleiben wollt, müsst ihr eine Kolpinggruppe gründen" ins Lebengerufen wurde) sich ihre Selbständigkeit gegen allerlei Widerstände bewahrt hat. Das "Witten-Huus", zu "meiner Zeit" noch ein schönes und gut ausgestattetes Gemeindehaus, wird offenbar nur noch als Lager für die Litauen-Hilfe genutzt. 


Und eine cool aussehende Blockhütte, genannt "Der Frilling", gibt es auf dem Kirchengrundstück auch. Die habe ich allerdings noch nie von innen gesehen.


Das sicherlich nicht uninteressanteste Ergebnis meiner Beschäftigung mit dem Stadtteil Einswarden ist übrigens, dass mir gestern ein Exemplar einer im Jahr 2010 vom damaligen Pfarrer Alfons Kordecki herausgegebenen Chronik der Kirchengemeinde Herz Jesu Einswarden sowie der katholischen Gemeinden in den Butjadinger Ortsteilen Burhave und Stollhamm und der OASE in Tossens ins Haus geflattert ist. Dieses Büchlein werde ich hier demnächst mal ausführlich würdigen müssen... 

Donnerstag, 24. Januar 2019

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 12

Nachdem ich mich in der 11. Folge dieser Serie der Darstellung des Polnischen Aufstands von 1830/31 in Dr. A. Rodes „Barbara Ubryk“-Roman gewidmet habe, habe ich nun noch zweierlei nachzutragen: zum einen die Analyse des in die Schilderung des Aufstands eingeschobenen und daher zunächst übergangenen Kapitels XLVII, „Der Apfel des Tantalus“; und zum anderen eine anekdotische Passage in der zweiten Hälfte des Kapitels „Das bittere Brod der Verbannung“, die ihrerseits an eine frühere, in meiner bisherigen Analyse des Romans ebenfalls übergangene Episode anknüpft.

Im „Apfel des Tantalus“ geht es um einen langwierigen Rechtsstreit zwischen der Familie Ubryk und dem Jesuitenorden um das Erbe von Elkas als Zögling des Jesuitenkollegs in Rom verstorbenen jüngeren Halbbruders Wratislaw, dessen Tod im XLII. Kapitel (und mithin mehr als 70 Seiten früher) geschildert worden war. Angesichts diverser chronologischer Inkonsistenzen in der Romanhandlung lässt sich dieser Todesfall nicht klar datieren, müsste aber ungefähr um 1820 herum anzusiedeln sein. Die Kapitelüberschrift wird wie folgt erläutert:
"Kennen Sie die Geschichte des Tantalus? Dieser Bursche hat, obwohl er schon in grauer Vorzeit lebte, wo die Kühe noch am Himmel weideten und die Götter mit ihren Maitressen einsam in den Wäldern spazieren gingen, bereits etwas von einem Jesuiten in sich gehabt. Er liebte das Geld und sammelte es zu großen Haufen. [...] Nicht genug dieses Geizes, spielte er auch noch gegen den allmächtigen Zeus im Olymp den Flegel, erlaubte sich Impertinenzen gegen schöne Göttinnen, und wurde daher von dem zornigen Zeus in den Tartarus geworfen. Die Griechen haben [...] ihren Bösen nach diesem irdischen Leben mancherlei Strafen in der Unterwelt aufbewahrt. Während die unersättlichen Danaiden fort während ein bodenloses Faß mit Wasser auffüllen, Sysiphus einen Marmorstein auf den Gipfel eines Berges rollen sollte, der ihm immer wieder auf halbem Wege entrollte, wurde die Habgier des ungezogenen Tantalus dadurch bestraft, daß er mitten in einem Teiche stehend, den gräßlichsten Durst leiden mußte; so oft er trinken wollte, wich das Wasser zurück. Ueberdies ließ der erzürnte Zeus die Zweige eines mit lockenden Aepfeln beschwerten Baumes über ihn hereinhängen; so oft aber Tantalus, von Hunger gemartert, nach einen Apfel langte, wichen die Aeste zurück, und er mußte mit langen Zähnen und sauerm Gesichte den reizenden Aepfeln nachsehen. So werde ich die Jesuiten nach dem Apfel des Tantalus, Ihrem Vermögen, haschen lassen; wenn sie aber, getrieben von Habgier, ihn erreicht zu haben wähnen, werde ich ihren Zähnen denselben wieder weit entrückt haben." (S. 630f.) 
Der so spricht, ist "Doktor Laszy, der erste Advokat Warschaus" (S. 628) und "langjähriger Anwalt der Familie Zolkiewicz und Ubryk" (S. 629f.): "Ein Mann ohne Umschweife, machte er Niemand Complimente und sprach in allen Dingen so treffend [...]. Seine größte Unart war, daß er die Processe auf Jahre hinaus verschleppte, und seine kleinste, daß er jede Rede mit dem Wörtchen 'so' anfing" (ebd.) Anscheinend hat Dr. Rode mit dieser Figur die Absicht verfolgt, einen Charakter von Dickensschem Format zu schaffen; vielleicht stellt der Leser sich den exzentrischen Anwalt aber auch einfach nur so vor, wenn er zuvor bereits einiges von Dickens (oder auch Wilkie Collins) gelesen hat. So oder so: Eine Figur geschaffen zu haben, die zu solchen Vergleichen einlädt, ist schon eine beachtliche Leistung des Autors -- eine, die ich ihm ehrlich gesagt gar nicht zugetraut hätte.

Dieser Advokat Laszy ist "selbst ein Jesuitenzögling" und kennt daher "die Jesuiten wie [s]eine Rocktasche" (S. 629); er wendet alle ihm zu Gebote stehenden verfahrenstechnischen Tricks an, um den Rechtsstreit in die Länge zu ziehen, und wird dabei von Elkas unehelichem Sohn Ladislaus, der "eben bei Gericht als Beamter thätig" ist, unterstützt: "der Sohn des Jesuiten machte dem Orden jetzt die größten Schwierigkeiten" (S. 634). Nur am Rande sei angemerkt, dass Ladislaus, der zu Beginn der Romanhandlung noch nicht geboren, ja nicht einmal gezeugt war, jünger sein müsste als Wratislaw, der zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht 21 Jahre alt war. Demnach könnte er selbst am Ende des jahrelangen Rechtsstreits um Wratislaws Erbe noch nicht älter als Mitte 20 sein. Ein tüchtiger Beamter, offenbar.

Derweil sind die Jesuiten, allen voran der "Rektor des Collegiums in Warschau, Pater Optatus", verständlicherweise bestrebt, ihren Widersacher Laszy loszuwerden:
"Elka wurde mit anonymen Briefen überschwemmt, welche ihr Laszy auf die gemeinste Weise verdächtigen sollten; der gleichen erhielt dieser mehrere Drohbriefe zugestellt. Als aber diese Ränke zu keinem Erfolge führten, griff Pater Optatus zu einem andern Mittel. Er bestellte sich ein Paar handfeste Gauner und verhieß ihnen reichliche Belohnung, wenn sie dem Advokaten Laszy [...] tüchtig durchprügelten [...]. Die christliche Nächstenliebe des Paters wäre zwar noch weiter gegangen und hätte am liebsten den Advokaten todtgeschlagen, allein er hoffte, wenn die Burschen ihm fest zu Leibe gingen, würde er vorläufig mit dieser Lektion genug haben.  
Die zwei Kerle [...] überfielen ihn an einer einsamen Straßenecke, warfen ihn zu Boden, schlugen und traten ihn mit den Füssen. Laszy [...] kam aber doch mit einigen großen Beulen und blutigem Gesichte davon. Zum großen Aerger des Rektors ging Laszy bereits am andern Tage, wie wenn nichts vorgefallen wäre, wieder in seine tägliche Gesellschaft. Nur nahm er von jenem denkwürdigen Abend an einen Bedienten zur Begleitung mit sich, und beide waren mit großen Knitteln bewaffnet. [...] Seine Zuneigung für die Jesuiten wurde dadurch nicht gerade gehoben." (S. 634f.) 
Als die Jesuiten schließlich jedoch nicht nur ein Testament Wratislaws vorlegen, in dem der Orden zum Universalerben bestimmt ist, sondern auch zehn Zeugenaussagen beibringen, die die Echtheit dieses Testaments bestätigen sollen, scheint die Lage aussichtslos; daraufhin reist jedoch Laszy persönlich nach Rom, um vor Ort Ermittlungen anzustellen. In Rom gibt er sich als schrulliger „reisender Engländer“ aus – ein in der seinerzeitigen Unterhaltungsliteratur sehr verbreiteter Figurentypus, wie nicht nur Karl-May-Leser wissen dürften. Als schwächstes Glied in der Beweiskette der Gegenseite macht er die Zeugenaussage zweier Köhler aus; und wie er diese Köhler in Trastevere ausfindig macht und ihnen so lange Wein spendiert, bis sie redselig werden, ist tatsächlich eine der erzählerisch gelungeneren Passagen des Romans. Freilich spart der Autor dabei weder an boshaften Klischees über Italiener - "um Geld verrathe in Italien das Hemd seinen Herrn", erfährt man da etwa (S. 638); "Beim Anblicke von gehörig eingeölten Makkaroni wird das Herz des Italieners butterweich, und sein Dank kennt keine Grenzen gegen den Gönner, der ihm solche kauft" (S. 642); überhaupt weiß ein "Kenner des italienischen Charakters, dessen Hauptzug der vollendetste Egoismus bildet, [...] sehr wohl, daß bei einem Italiener und zumal Römer in letzter Instanz immer die Geldsucht entscheidet" (S. 648) - noch, wie sollte es anders sein, an antiklerikalen Verschwörungstheorien. Nicht nur wissen die beiden Köhler zu berichten, dass im Jesuitenkolleg geradezu regelmäßig die Leichen von zur Unzeit - nämlich vor dem Erreichen der Volljährigkeit - verstorbenen Zöglingen beiseite geschafft werden, damit man später mittels gefälschter Testamente ihr Erbe beanspruchen kann; Laszys Informanten wagen es auch nie, den Namen des Santo officio, d.h. der Inquisitionsbehörde, auszusprechen, ohne dabei ein Kreuzzeichen zu machen, "denn die Inquisition hat überall ihre Spione. Sie würde uns die Ohren abschneiden, wenn wir beim Gebrauche ihres Namens kein Kreuz schlügen. Jeder Römer hat seine Ohren lieb und läßt sich nicht gerne davon trennen" (S. 643). Die Aufforderung des vermeintlichen Engländers, ihre Aussagen bei Gericht zu Protokoll zu geben, lehnen sie zunächst erschrocken ab:
"Kennt Ihr die Kerker des Santo Officio hier in Rom, genannt Carceri Nuovi? Enge, niedrig sind die unterirdischen Keuchen; kein Licht- oder Sonnenstrahl stiehlt sich hinab zu dem feuchten Modergerüche, zu dem Fiebergestanke. Die Wellen des Tiber stießen durch die Zellen, so daß der Gefangene bis zur Hälfte des Leibes im Wasser stehen muß und ertrinken müßte, wenn er sich zum Schlafe niederlegen wollte. Schwere Ketten an Händen und Füßen, welche den Gefangenen an die von Ungeziefer strotzende Wand fesseln, verhindern ihn, sich gegen die Wasserratten und Tiberaale zu erwehren, die an feinem Leibe nagen. In diese Keuchen würden wir unfehlbar geworfen, wenn wir gegen die Jesuiten eine Aussage machten. Kein Verbrechen wird in Rom strenger bestraft, als das: die Wahrheit zu sagen." (S. 646f.) 
Der Autor versieht diese Passage mit einer Fußnote:
"Dieselben Keuchen existiren heute, noch im Jahre 1870 in Rom und sind mit Garibaldianern, Deserteuren und Staatsverbrechern überfüllt. Wer sie gesehen hat, dem ist aller Glaube an die Diener der Kirche, die sie da nennt die Apostel des Friedens und der Liebe, im menschlichen Herzen erstorben." 
Interessant ist daran auch und nicht zuletzt, dass diese Fußnote Rückschlüsse auf die Chronologie des Erscheinens dieses Fortsetzungsromans zulässt. Wie aus dem Vorwort hervorgeht, erschien die erste Folge des Romans im August 1869, "[k]aum [...] vierzehn Tage" nachdem die Presse erstmals von der Entdeckung der eingekerkerten Nonne im Karmelitinnenkloster in Krakau berichtet hatte. Das obige Zitat stammt aus der 14. Lieferung des Romans, und die Fußnote gibt die aktuelle Jahreszahl mit 1870 an. Das heißt, seit dem Beginn des Erscheinens des Romans sind bereits mindestens fünf Monate vergangen. Wären die Fortsetzungen des Romans wöchentlich erschienen, müsste man jedoch davon ausgehen, dass es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Folge 14 erst Ende November 1869 gewesen wäre. Somit spricht diese Fußnote dafür, dass die Fortsetzungen des Romans entweder nur alle 14 Tage oder aber unregelmäßig erschienen. Darauf wird zu einem späteren Zeitpunkt der Analyse noch zurückzukommen sein.

Übrigens begnügt sich der Verfasser nicht damit, die weltliche Herrschaft des Papsttums in das denkbar schlechteste Licht zu rücken und die Korruption und Skrupellosigkeit des Jesuitenordens anzuprangern, nein, er muss partout auch katholische Glaubenslehren angreifen. Nachdem Laszy bereits in seine oben zitierte Tantalus-Erzählung die Bemerkung eingeflochten hatte, die alten Griechen hätten sich "bei manchen Ausschweifungen ihrer Phantasie doch nicht zu dem Blödsinne verstiegen, daß es einen Teufel mit schwarzen Zotten, Hörnern und anderm Firlefanz gäbe; das blieb nur römischen Geistern vorbehalten" (S. 631), erklärt er später den beiden Köhlern, der Umstand, dass sie Wratislaws Leichnam verbrannt und die Asche im Meer verstreut hätten, führe die Lehre von der leiblichen Auferstehung ad absurdum.

Jedenfalls bringt Laszy die beiden Köhler schließlich doch dazu, ihre Aussage amtlich zu Protokoll zu geben (und zwar vor einem Gericht in Mailand, das damals zu Österreich gehörte), und gewinnt mit Hilfe dieser Aussage den Prozess um Wratislaws Erbe, womit dieser Handlungsstrang des Romans zumindest vorläufig an sein Ende gekommen zu sein scheint.
"Unter den Verwünschungen des Volkes verließ Pater Optatus Czrenk den Gerichtssaal. Aus Gram über die ungeheuere öffentliche Beschämung seiner schwarzen Brüder und die Vereitelung seiner jahrelangen rastlosen Bestrebungen verfiel er bald darauf in eine Krankheit und starb. Vielleicht haben ihn seine Brüder vergiftet, um nachher alle Schuld auf ihn hinüberwälzen zu können, was sie auch wirklich thaten." (S. 650) 
Abgesehen von einigen wenigen Details, die unschwer in einer späteren Bearbeitungsstufe eingefügt worden sein können, spricht kaum etwas gegen die Annahme, dass das Kapitel "Der Apfel des Tantalus" im Wesentlichen bereits der frühesten Schicht der Entstehungsgeschichte dieses Romans angehört -- dass er also bereits in einer Fassung des Romans enthalten war, die schon mehr oder weniger fertig vorlag, bevor die Affäre Ubryk durch die Presse ging, und folglich mit dem realen Fall der "unglücklichen Nonne von Krakau" gar nichts zu tun hatte. Das würde auch einige chronologische Inkonsistenzen erklären, und ebenso den Umstand, dass das Kapitel wie ein Fremdkörper in einer Romanhandlung herumsteht, die inzwischen einen ganz anderen Weg eingeschlagen hat. Merken wir uns das mal für den im weiteren Verlauf dieser Serie irgendwann fällig werdenden Versuch einer Rekonstruktion der Urfassung des Romans vor.

Martin Disteli: Zelotenpredigt. Entwurf für ein Taschentuch, 1834. (gemeinfrei
Nun aber zum "bitteren Brod der Verbannung"! Wie bereits geschildert, dreht sich die erste Hälfte dieses Kapitels um die Schicksale der Familie Ubryk nach der Niederschlagung des Polnischen Aufstands von 1830/31; die zweite Hälfte des Kapitels hingegen wird größtenteils von einer nur äußerst notdürftig mit der sonstigen Romanhandlung verknüpften Episode eingenommen, die so sonderbar ist, dass ich Lust habe, mich hier ein wenig mit ihr aufzuhalten. 
"Eines Abends, die Sonne nahte sich bereits ihrem Untergange, schritten drei lustige Gesellen auf der Straße von Bautzen Dresden zu. Nach ihrem schofflen zerlumpten Aussehen hätte man sie entweder für fechtende Handwerksburschen oder für schiffbrüchige Schauspieler oder für vagabundirende Seiltänzer halten können. Allein bei näherer Betrachtung zeigte es sich, daß drei unserer alten guten Bekannten im Begriffe standen, Dresden mit ihrer Anwesenheit zu beglücken" (S. 677) -- 
Ach ja? Alte Bekannte? Echt? 
"Die drei Wanderer waren Siglowsky und Zandrowitsch père et fils." (ebd.) 
Wer? 

Ich gebe zu, geschätzte Leser, ich hatte im ersten Moment nicht die geringste Ahnung, von wem der Verfasser redet. Was aber insofern vielleicht kein Wunder ist, als die letzte (und bis dahin einzige) Erwähnung der genannten dramatis personae an dieser Stelle bereits etwa 250 Seiten zurücklag. Was in der Chronologie der Handlung reichlich über 20 Jahre ausmacht. Und meine Leser werden sich erst recht nicht an Siglowsky und die beiden Zandrowitsche erinnern, da ich sie in meiner Romananalyse bisher überhaupt nicht berücksichtigt hatte. Das gilt es jetzt nachzuholen. Erinnern wir uns also an die gute alte Zeit, als der Jesuit Rebinsky als Hauptbösewicht des Romans die Fäden der Handlung in der Hand hielt, Kasimir Ubryk in Russland verschollen war und Elka mit ihrem Part-Time Lover Hugo durch die Weltgeschichte gondelte. In dieser Phase lässt der Autor den Leser en passant wissen, dass Rebinsky neben seinen Bemühungen, das gewaltige Vermögen der Familie Zolkiewicz in die Finger zu bekommen, noch weitere Intrigen im Interesse seines Ordens spinnt; und dazu gehört es, die öffentliche Meinung zugunsten der Jesuiten zu beeinflussen, "[d]a man zu dieser Zeit gerade in Rom eifriger als je daran arbeitete, den Papst zur öffentlichen Wiederherstellung des Jesuitenordens zu bestimmen" (S.425). Zu diesem Zweck sollen "auch in der Hauptstadt Polens [...] einige Journale, die bisher immer gegen den Jesuitenorden kämpften, durch Geld zu freundlicheren Gesinnungen umgewandelt und vom Orden gänzlich angekauft werden" (ebd.):
"Es erschienen nun zur damaligen Zeit zwei Zeitungen in Warschau, die zwar nur vom ungebildeten rohesten Theile der Bevölkerung gelesen, aber gerade deßhalb ihrer freisinnigen Tendenzen halber um so gefährlicher für den Orden waren. Zwei obscure Subjekte nannten sich die Redakteure dieser Blätter, und […] [d]iese wollte Rebinsky für den Orden und dann insbesondere für seine engeren Pläne gewinnen. [...] Beide waren gute Deutsche und hatten nicht nur ein paar Barrikaden und Religionen, sondern überhaupt ein sehr bewegtes abenteuerliches Leben hinter sich. Ihre ursprünglich deutschen Namen hatten sie in Siglowski und Zandrowitsch umgeändert." (S. 425f.) 
Von Siglowski heißt es, dass er "damals so herabgekommen" war, "daß er theils um das Holz für Heizung zu sparen, theils aus Mangel an einem Redaktionslokale in einem Kaffeehause Warschaus sein Schmutzblatt redigirte" (S. 426) -- ein farbenprächtiges und womöglich gar nicht so unrealistisches Detail. Zandrowitsch führt "gemeinsam mit seinem Sohne die Redaktion der Gazetta Ludova, d. i. in deutscher Sprache 'Volksbote'"; der Sohn war früher Soldat, erst "in einem der damaligen Staaten" Deutschlands, dann im Kirchenstaat (was theoretisch Material für weitere antiklerikale "Enthüllungen" böte, aber diese Gelegenheit lässt der Autor ungenutzt verstreichen), aber seine militärische Karriere endete damit, dass er einem "guten Kameraden und Freunde [...] Kleider und eine Uhr entwendete und damit desertirte" (S. 427). Oberschurke Rebinsky betraut den jungen Zandrowitsch "mit einer Mission nach Petersburg, um dort in Erfahrung zu bringen, ob der junge Ubryk, Elka's Gemahl, noch lebe und wo er in Sibirien internirt sei" (S. 428); der hat aber nichts besseres zu tun, als seine Spesen zu verprassen und hernach unverrichteter Dinge wieder heimzukehren. 

Gerade diese auffällige Ergebnislosigkeit der Episode um die beiden verkommenen Journalisten und den nichtsnutzigen Sohn des einen, und mithin ihre anscheinende Überflüssigkeit für die Gesamthandlung, dürfte der entscheidende Grund dafür gewesen sein, dass ich diese Nebenfiguren bei ihrem ersten Auftreten nicht erwähnt und bis zu ihrem zweiten Auftreten schon wieder völlig vergessen hatte. Dabei hätte mich eigentlich gerade diese offenkundige Überflüssigkeit stutzig machen sollen. Merken wir uns als Faustregel: In einem guten Roman gibt es nichts Überflüssiges, in einem schlechten Roman ist das Überflüssige niemals zufällig. Besonders gibt es zu denken, dass Dr. Rode in seinem Bestreben, an Siglowski und Zandrowitsch nicht das kleinste gute Haar zu lassen, so dick aufträgt, dass er damit die Plausibilität ihrer Handlungsfunktion untergräbt. Wenn die beiden Redakteure in ihrem Handwerk derart erfolglos sind, wenn ihre Blätter also, wie man heute wohl sagen würde, keinerlei "publizistische Relevanz" haben, inwiefern kann ihre Rekrutierung dem Jesuitenorden dann von Nutzen sein? Das ergibt schlechterdings keinen Sinn. Was also treibt den Verfasser hier um?

Der Figurentypus des "verkommenen Journalisten" ist in der Kolportage-Literatur jener Zeit alles andere als selten. So klischeehaft und überzeichnet diese Figuren oft (und hier ganz besonders) erscheinen, tut man doch gut daran, sich vor Augen zu halten, dass die Berufsbilder des Journalisten und des Schundroman-Schriftstellers seinerzeit oft recht fließend ineinander übergingen. Somit mögen durchaus Beobachtungen aus Kollegenkreisen in solche Schilderungen eingeflossen sein, aber natürlich wirft das auch Fragen hinsichtlich des Selbstbildes der Autoren auf. Der Meister des Genres, Sir John Retcliffe, lässt in seinen Romanen wiederholt (v.a. in seinem elfbändigen Romanzyklus "Villafranca", 1860-66) einen Journalisten auftreten, der unschwer als alter ego des Autors zu erkennen ist: weltgewandt und scharfzüngig, hat er von den Salons des Adels bis zu den übelsten Kaschemmen der Vorstädte überall Zutritt und überall Kontaktpersonen, und über jeden, der in der "guten Gesellschaft" Rang und Namen hat, hat er eine kompromittierende Anekdote auf Lager. An anderen Stellen seiner Romane tritt jedoch auch das Negativklischee des korrupten, gewissenlosen "Schmierfinken" in Erscheinung. Bei Retcliffe wie auch bei anderen Autoren sind diese "verkommenen Journalisten" häufig Juden. In dieser Hinsicht verhält sich der "Barbara Ubryk"-Autor Dr. Rode bemerkenswert ausgewogen, oder sagen wir vielleicht lieber zweigleisig: Aus dem einen seiner Journalisten-Zerrbilder, dem alten Zandrowitsch, macht er einen konvertierten Juden, der "aus Speculation das Christenthum angenommen" hat, "welches sich wahrhaftig auf eine solche Eroberung nichts zu Gute thun durfte", der jedoch "auch als Christ an Geist und Nieren beschnitten" bleibt (S. 427); zum Ausgleich ist jedoch der andere, Siglowski, ein extremer Antisemit, der "über die Juden mit wahrhaft vernichtendem Blödsinne" herzufallen pflegt (S. 426). Wie man später sehen wird, hindert dies die gute Kameradschaft der beiden Redakteure nicht sonderlich.

Wie schon gesagt, vergehen über 20 Jahre Handlungszeit und über 250 Druckseiten, bis der Leser diese illustren Gestalten wiedersieht: "Aber beim Blitz, wie sahen die Kerle aus! Ausgehungert, abgemagert und so zerrissen, daß es der hellste Jammer war" (S. 677). Nach der Niederschlagung des Aufstands von 1830/31 sind sie aus Polen geflohen und haben bei dieser Gelegenheit auch ihre früheren deutschen Namen wieder angenommen: Siglowski hat "[a]n der Gränze [...] das ski weggeworfen" und nennt sich nur noch Siglow, "sowie Zandrowitsch sich jetzt wieder Zandrow nannte" (S. 678). Während Siglow um "das arme Vaterland" trauert, beurteilt Zandrow die Lage pragmatisch: 
"Na, [...] um das ist kein Schade, an dem Vaterland war doch nichts. Hinten nichts, vornen nichts, und in der Mitte ein Wisch lumpiges Papier. Das eine ging zum Teufel, man gründet sich ein neues. Merke Dir: gescheidte Menschen und Butterbrode fallen immer auf die fette Seite. […] In Dresden scheint es sehr gemüthlich zu sein. Dort gründen wir uns ein neues Vaterland." (S. 678f.) 
Sein Plan ist, in der sächsischen Residenzstadt ein neues "Journal" zu gründen - "mit viel Unverschämtheit und wenig Geld, das ist der Witz": 
"Wir finden einen Drucker, der Satz und Druck pumpt, eine Papierfabrik wird sich auch finden, die das Papier pumpt, und gib Acht, es müßte nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn drei Bursche von unserer Suada, ehe drei Wochen herum sind, nicht einen reichen Kerl so angebohrt haben, daß er Geld schwitzt." (S. 679) 
Man darf davon ausgehen, dass der Autor hier sehr genau weiß, wovon er spricht, und insofern ist diese Romanpassage auch und nicht zuletzt ein interessantes Dokument zum Thema Mediengeschichte. In einer Zeit der explosionsartigen Vermehrung des potentiellen Lesepublikums und der ebenso rasanten Verbilligung von Druckerzeugnissen waren schnell und billig produzierte Wochenschriften, aber eben auch Kolportageromane eine Art "Web 2.0" des 19. Jahrhunderts -- durchaus auch in inhaltlicher Hinsicht: 
"Ueberhaupt, Brüderchen, merke Dir, Schimpfen ist die Hauptsache. Je ärger, desto besser. Unser neues Blatt muß blos auf Skandal gegründet sein. Gesinnung brauchen wir gar keine dabei, die ist etwas ordinäres, die kann jeder Lump haben. Um aber Skandal zu machen, dazu gehört Talent und Witz. Ich sage Dir, unser neues Blatt muß mit Dreschflegel und Mistgabel geschrieben sein. [...] Was es Hohes und Edles gibt, herunter damit in den Koth. Hervorragende Persönlichkeiten heruntergerissen, — Männer von Talent, Frauen von Charakter, angegriffen, — neue Erzeugnisse der Literatur, mit Kanalräumerstiefeln darauf herumgetrampelt! [...] Mit Heißhunger muß alle Welt über jede neue Nummer herfallen, um zu sehen, wem es heute wieder an den Kragen geht." (S. 679f.) 
Man kann hier wohl mit einigem Recht den Eindruck haben, der Autor beschreibe seine eigene Arbeitsmethode -- was nicht zuletzt auch dafür gilt, dass er Siglow den Vorschlag in den Mund legt, "im gröbsten Bauerndeutsch" zu schreiben, um so die "zahlreichen Böcke gegen Grammatik und Orthographie und jeden Stil zu bemänteln" (S. 680). 

Tatsächlich leihen sich Siglow und die beiden Zandrows das Startkapital für ihr neues Unternehmen bei keinem anderen als Kasimir Ubryk, womit also wiederum eine notdürftige Verbindung zur Haupthandlung hergestellt wird. Der Erfolg des neuen Journals erweist sich jedoch als von sehr kurzer Dauer, und so kommen die drei Journalisten bald "wieder dorthin, wo sie schon gewesen waren", nämlich "auf den Hund" (S. 681). Ihr weiteres Schicksal handelt der Autor - ohne sich dabei die Möglichkeit offen zu halten, sie bei Bedarf noch ein drittes Mal auftreten zu lassen - in wenigen Absätzen ab und lässt seiner Bosheit dabei gewaltig die Zügel schießen. Spekuliert man, dass Siglow und die Zandrows real existierende Vorbilder in Kollegen- bzw. Konkurrentenkreisen des Dr. Rode gehabt haben mögen, dann war er auf diese offenkundig äußerst schlecht zu sprechen: 
"Siglow verfiel in Tobsucht und mußte ins Narrenhaus gebracht werden. Dort wurde er in die Zwangsjacke gesteckt. [...] Eines Morgens hatte er ausgetobt. Nach der Klinik gebracht, öffneten die Aerzte seinen Schädel und fanden zu ihrem größten Erstaunen statt des Gehirns — einen schrecklichen leeren Raum. Sie erklärten, er sei an chronischer Gehirnverminderung gestorben. 
Zandrow jun. kam ebenfalls ins Spital. Wie sein College verfiel er auch in eine Geisteskrankheit — er starb an unheilbarem Blödsinn." (S. 681) 
Bedeutend besser kommt der alte Zandrow weg, der, nachdem er vom jüdischen zunächst zum protestantischen und dann zum katholischen Glauben konvertiert war, schließlich sein Glück darin sucht, zum Islam überzutreten: 
"Nicht allein die Einfachheit der muhamedanischen Religion zog ihn an, nicht blos der geheime Zug seines Stammes wies ihn nach dem Orient, es war auch besonders die türkische Justiz, die ihm wie ein Ideal vorschwebte.
Und so zog er denn hin gegen Aufgang, ließ sich aus dem Deutschen ins Türkische, aus dem Katholischen ins Moslemitische übersetzen, und niemals hat man wieder von ihm gehört.
Die Erde sei ihm leicht, wie er ihr es war." (S. 682) 
Schönes Schlusswort, nicht? -- In Folge 13 dieser Serie werde ich mich den Kapiteln L und LI zuwenden, die schildern, wie es dazu kommt, dass die Titelheldin Barbara Ubryk in ein Kloster eintritt -- womit wir uns also endlich, endlich dem Teil der Geschichte nähern, der die zeitgenössischen Leser in erster Linie interessiert haben dürfte und der ihnen schon im Vorwort als Hauptinhalt des ganzen Wälzers versprochen worden war. Das wird also langsam mal Zeit... 


Mittwoch, 23. Januar 2019

Ins Wasser fällt ein Senfkorn (...oder so)

Das vergangene Wochenende hat mir einige interessante und durchaus gemischte Eindrücke und Anregungen in Hinblick auf mein Dauerbrennerthema "Gemeindeentwicklung/-erneuerung" beschert: Am Freitagabend durfte ich in einem Erwachsenenkreis einer Innenstadtpfarrei über die "Benedikt-Option" referieren, am Samstagabend war dann in "meiner" Pfarrei "Neujahrsempfang" für die Ehrenamtlichen. Zu letzterem Anlass brachte ich übrigens meinen ersten mit selbstgemachtem Sauerteig gebackenen Kuchen mit, aber das erwähne ich eigentlich nur deshalb schon gleich zu Beginn des Artikels, damit ich einen Vorwand habe, dieses Foto als Vorschaubild für den Artikel zu nutzen: 

Ist die Kuchenplatte halb voll oder halb leer? 

So, das wäre erledigt; nun also zurück zur chronologischen Reihenfolge. Die Gruppe, bei der ich am Freitagabend zu Gast war und die sich ungefähr einmal im Monat in einem gemütlichen, einem privaten Wohnzimmer ähnelnden Raum im Gemeindehaus ihrer Pfarrei trifft, ist - so wurde mir erzählt - von Gemeindemitgliedern gegründet worden, die für den "Kreis junger Erwachsener" zu alt geworden waren; das ist nun auch schon wieder einige Jahre her, sodass der Großteil der Mitglieder dieses Kreises im Alter etwa zwischen Mitte 40 und Mitte 50 liegen dürfte. Ehe ich meinen Vortrag begann, wurde mir mitgeteilt, die Gruppe eröffne ihre Treffen immer damit, gemeinsam ein Lied zu singen. Okay, einverstanden. Als die Gitarristin der Gruppe allerdings ausgerechnet "Kleines Senfkorn Hoffnung" aus dem Liederbuch auswählte, wurde mir schlagartig klar, dass ich hier keinen leichten Stand haben würde.  

Ich muss meinen Hang zum Sarkasmus hier ein wenig im Zaum zu halten versuchen, denn ich will die Veranstaltung durchaus nicht schlechtreden – und erst recht nichts Böses über die Leute sagen, aus denen dieser Gemeindekreis besteht. Es war alles in allem ein total netter Abend, und ich habe einen Blumenstrauß und eine Flasche Wein geschenkt bekommen. Aber es zeichnete sich eben schon sehr schnell ab, dass ich es mit einer Klientel zu tun hatte, die mit der BenOp, zurückhaltend formuliert, eher wenig anfangen kann. Übrigens aus einer Vielzahl von Gründen. Den einen war Rod Drehers Zukunftsprognose zu pessimistisch – was ich schon mal bemerkenswert finde, denn als pessimistisch empfinde ich sie eigentlich überhaupt nicht, oder höchstens in dem Sinne, wie Romano Guardini es in „Das Ende der Neuzeit“ (1954) formulierte: 
"Ich habe wohl deutlich machen können, daß hier kein Pessimismus verkündet werden soll. Besser gesagt, kein falscher Pessimismus, denn es gibt auch einen richtigen, und ohne ihn wird nichts Großes."  
 
Anderen war Drehers Ansatz zu streng, zu regelorientiert, insbesondere auch in moralischen Fragen -- was ich wiederum tendenziell für ein Missverständnis halte, aber um das zu verstehen, müsste man das Buch vermutlich ganz lesen (und selbst dann wäre das richtige Verständnis noch nicht garantiert). Vor allem aber war es mit Händen zu greifen, dass die Grundidee der BenOp - in Stichworten: geistliche Erneuerung als Graswurzelbewegung, Abgrenzung vom gesellschaftlich-kulturellen Mainstream statt Anbiederung an ihn, Priorisierung von "Identität" über "Relevanz" - der Mehrheit der Anwesenden zu radikal, zu "sektiererisch" war. Einzelne Diskussionsteilnehmer meinten darin sogar "extremistische" Tendenzen zu erkennen; als Beispiel dafür wurde etwa die Forderung genannt, christliche Eltern sollten ihre Kinder nicht auf öffentliche Schulen gehen lassen. Eine Frau kam von vornherein nicht mit den "Flut"-Metaphern des ersten Kapitels klar, glaubte, es gehe um die Klimakatastrophe, und wunderte sich darüber, wie da denn der christliche Glauben das Überleben der Zivilisation solle sichern können. 

Okay: Das war jetzt meine siebte Buchvorstellungs-Veranstaltung zur "Benedikt-Option", und neben der stark überalterten Baptistengemeinde in Nordenham war dies wohl mein schwierigstes Publikum bisher. Ist ja an und für sich nicht schlimm. Es ist mir an dieser Stelle ausgesprochen wichtig, zu betonen, dass es mir nicht um "Ihr seid doof, weil ihr das Buch nicht mögt" geht. Vielmehr habe ich den mehr oder weniger vagen Eindruck, dass die Art der geäußerten Vorbehalte etwas mit dem spezifischen Charakter dieser Gemeinde zu tun hat -- und dass das durchaus illustrativ ist, auch über den konkreten Einzelfall hinaus. (Das mal als Grundregel: Ich schreibe auf diesem Blog eigentlich nur über Dinge, die ich über den konkreten Einzelfall hinaus für signifikant halte. Es braucht sich also niemand persönlich angegriffen zu fühlen.) 

Jedenfalls kenne ich die hier in Frage stehende Gemeinde ein bisschen: Als ich noch innenstadtnäher wohnte, bin ich dort gelegentlich mal zur Messe gegangen, ein paarmal war ich dort z.B. in der Osternacht. Dass es bei den aktiven Mitgliedern dieser Gemeinde kein besonders ausgeprägtes Krisenbewusstsein hinsichtlich der Zukunftsaussichten der Christenheit in unseren Breiten gibt, kann man insofern verstehen, als es dieser Gemeinde, nach äußerlichen Kriterien beurteilt, tatsächlich noch relativ gut geht. Die Pfarrei hat ein sehr schönes Kirchengebäude, die Gottesdienste - auch an Werktagen - sind gut besucht, die Liturgie ist feierlich, der Organist ist exzellent, ich habe dort in der Vergangenheit auch sehr gute Predigten gehört, und die Gemeinde ist seit den 90er Jahren sogar gewachsen. Das hat sicherlich zu einem großen Teil mit dem Zuzug von Besserverdienenden aus Westdeutschland zu tun (darauf komme ich noch zurück), durchaus aber auch mit der Tatsache, dass sie Jahr für Jahr eine recht ordentliche Zahl von Erwachsenentäuflingen vorweisen können. Diese werden, soweit mir bekannt ist, hauptsächlich durch einen "Alpha-Kurs" rekrutiert; auch dazu wäre noch mehr zu sagen. 

Aber wie heißt es in der Offenbarung des Johannes über die Gemeinde in Laodizea? 

"Du behauptest: Ich bin reich und wohlhabend und nichts fehlt mir. Du weißt aber nicht, dass gerade du elend und erbärmlich bist, arm, blind und nackt" (Offb 3, 17)

Schon die Wohnungspreise im Einzugsgebiet dieser Pfarrei machen deutlich, dass man es hier im Wesentlichen mit einer relativ wohlhabenden Klientel zu tun haben muss. Das prägt eine Gemeinde. Man ist gutbürgerlich, arriviert, vom Gemüt her eher konservativ, dabei aber moderat -- auch und gerade in Glaubensdingen. Auf keinen Fall möchte man irgendwie für radikal gehalten werden. Das gilt nicht nur für die Zuzügler aus dem Westen, sondern auch und gerade für die, die in der DDR groß geworden sind und dort als praktizierende Katholiken bereits Marginalisierungserfahrungen gesammelt haben, wie sie so im Westen wohl kaum jemand aus eigener Erfahrung kennt. Man hat sich halt arrangieren müssen, "einen Mittelweg finden", so wurde mir wortwörtlich gesagt. Und jetzt, da die DDR Geschichte und der Atheismus nicht mehr offizielle Staatsdoktrin ist, will man auf keinen Fall wieder in eine marginalisierte Position zurück. Daher die Scheu gegenüber allem "Radikalen" oder "Extremen". Wenn jemand hierzulande wegen seines (christlichen) Glaubens Probleme bekommt, dann ja in der Regel - anders als zu DDR-Zeiten - nicht wegen seiner Religionszugehörigkeit als solcher, sondern nur, wenn er sich zu weit aus dem Fenster lehnt, und zwar vorzugsweise zu irgendwelchen Sex- oder Gender-Themen. Und da sind die betreffenden Personen dann ja letztlich selber schuld; der bürgerlich-wohlanständige Mittelklasse-Christ hat damit nichts zu tun und will es auch nicht. 

Zur gutbürgerlichen Mittelmäßigkeit passt es auch, dass Ökumene in dieser Gemeinde sehr groß geschrieben wird. Nicht dass das prinzipiell etwas Schlechtes wäre, also in der Theorie. In der Praxis begünstigt es aber häufig ein undogmatisches, gefühlsbetontes Glaubensverständnis, das nicht selten deutlich in Richtung MTD tendiert. An einigen Stellen der Diskussion war ich geradezu schockiert über das niedrige Niveau an Glaubenswissen, das sich da offenbarte -- "niedrig" zumindest gemessen an dem Umstand, dass ich es mit lauter seit ihrer Jugend aktiven und engagierten Kirchenmitgliedern zu tun hatte. Anlässlich der Frage, wie der christliche Glaube alltägliche Lebensentscheidungen beeinflusse, meinte eine Frau, es genüge doch, sich am Evangelium zu orientieren - konkreter gesagt: am Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe -, dann mache man schon alles richtig. Das hätten ihr im übrigen auch mehrere altgediente Seelsorger so gesagt. (Ich verkniff mir jeglichen Kommentar zu derjenigen Generation von Priestern, die heute alt ist.) 

In diesem Zusammenhang ist es vielleicht auch nicht ganz unbezeichnend, dass, wie erwähnt, in dieser Gemeinde der "Alpha-Kurs" offenbar als Taufvorbereitung für erwachsene Katechumenen genutzt wird. Der "Alpha-Kurs" ist zwar - nach allem, was ich über dieses Modell gehört und gelesen habe - ein ausgezeichnetes Instrument für die "Erst-Evangelisation", aber es ist im eigentlichen Sinne kein katechetisches Programm. Das kann es auch kaum sein, da es sich um ein überkonfessionelles Konzept handelt. Insbesondere die Sakramentenkatechese kommt darin folglich praktisch nicht vor, was freilich misslich ist, wenn man jemanden auf das Sakrament der Taufe vorbereiten will. Mit anderen Worten, der "Alpha-Kurs" ist an und für sich eine feine Sache, aber daran müsste sich dann noch ein spezieller Katechumenen-Kurs anschließen. Das scheint in dieser Gemeinde nicht der Fall zu sein; kein Wunder, wenn da die Auffassung herrscht, man müsse sich "nur am Evangelium orientieren" und die Details seien nicht so wichtig. 


Den Blumenstrauß brachte ich meiner Liebsten mit, aber sie fand, die Muttergottes solle ihn haben. 
Zeitgleich mit meiner Buchpräsentation war übrigens meine Liebste - mitsamt unserem Kind - beim ersten Treffen einer in Gründung befindlichen Nachbarschaftsinitiative, die so allerlei Projekte zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls im Stadtteil anstoßen möchte. Und natürlich hat meine Liebste dabei ein paar Ideen in der Hinterhand, wie man bei Projekten dieser Art die örtliche Pfarrei miteinbeziehen könnte. Ich werde zu gegebener Zeit berichten...


Am Samstagabend folgte dann also wie gesagt der Neujahrsempfang der Pfarrei. Unsere Pfarrei besteht seit 2004 aus drei vormals selbständigen Gemeindeteilen, und der Empfang fand nicht bei uns vor der Haustür, sondern in einem der anderen Gemeindeteile, ein paar Bushaltestellen weit weg, statt. Im Anschluss an die Vorabendmesse, an der wir bei dieser Gelegenheit auch gleich teilnahmen -- und uns auf diese Weise den Familiengottesdienst am Sonntagmorgen sparten





Der Termin war unter liturgischen Gesichtspunkten gut gewählt, denn die zweite Lesung dieses Sonntags - 1. Korinther 12, 4-11, über die verschiedenen Gaben des Heiligen Geistes - passte ja durchaus gut zum Anlass. Der Pfarrer hielt dazu eine Predigt, die sich vielleicht besser als Begrüßungsansprache beim anschließenden Empfang geeignet hätte -- zumal er sich bei dieser Begrüßung ohnehin veranlasst sah, noch einmal auf die Predigt zurückzukommen. Sie bestand zum größten Teil aus einem sogenannten "ABC der Unentbehrlichen": einer alphabetisch geordneten Aufzählung aller erdenklichen Dienste in einer Kirchengemeinde. Hätte ich die Predigt mittels der Diktierfunktion meines Mobilgeräts aufgezeichnet oder läge sie mir in schriftlicher Form vor, könnte ich sicherlich mühelos einen ganzen Blogartikel allein mit kritischen Anmerkungen zu dieser Liste füllen; so aber beschränke ich mich auf einige Schlaglichter. Recht bezeichnend fand ich es jedenfalls schon mal, dass die ABC-Liste mit "A wie Ausschussmitglieder" und "B wie Beter" begann; damit war schon mal eine ziemlich große Spannweite abgedeckt. Was ich damit meine? In der Liste ging das Verständnis einer Kirchengemeinde als kleinster und unterster Einheit eines bürokratischen Apparates, der einfach "funktionieren" muss, mit dem Verständnis einer Kirchengemeinde als Versammlung von Gläubigen, als Teil des lebendigen Leibes Christi, munter durcheinander, und die Ausführungen des Pfarrers zu den einzelnen Punkten der Aufzählung machten deutlich, dass ihm zum erstgenannten Aspekt erheblich mehr einfiel. Über den Glauben zu reden liegt liegt ihm nicht so. (Aber auch hier geht es mir wieder gar nicht so sehr um ihn persönlich.) 


Allemal scheint mir aber der Umstand hervorhebenswert, dass er unter dem Buchstaben K die "Kirchensteuerzahler" würdigen zu müssen glaubte -- weil deren Beitrag ja so wichtig sei, selbst wenn man sie nie in der Kirche sehe. Zum Vergleich erwähnte er, dass er selbst ja auch in allerlei Vereinen sei, in denen er sich mangels Freizeit gar nicht aktiv engagieren könne, aber trotzdem gern seinen Mitgliedsbeitrag zahle, um das Anliegen des Vereins zu unterstützen. Dasselbe Prinzip auf die Mitgliedschaft in der Kirche anzuwenden, sagt, wie ich finde, schon eine ganze Menge über das Kirchenverständnis aus, und ich glaube (bzw. hoffe?), ich brauche das gar nicht weiter auszuführen. Dass das Kirchensteuerzahlen ein Charisma im Sinne des Apostels Paulus - eine Gabe des Heiligen Geistes also - sei, möchte ich jedenfalls bezweifeln. (Mit dem Charisma des Tische- und Bänkeschleppens oder dem Charisma des Gemeindegesangs hingegen kann ich mich durchaus noch anfreunden.) 

Charismatisch wurde es dafür am Ende der Messe, denn als Auszugslied wurde das aus der Gemeinschaft Emmanuel stammende "Atme in uns, Heiliger Geist" (Gotteslob Nummer 346) gespielt. Mit Akkordeon, Gitarre und Percussion begleitet (wie beim Nightfever) finde ich es zwar noch ein Stück überzeugender als auf der Orgel, aber auch so war es durchaus mitreißend. 


Zum Neujahrsempfang hatte es übrigens keine persönlichen Einladungen gegeben -- für niemanden. Es hieß nur ganz allgemein, es sei ein Empfang für alle, die sich in der Gemeinde engagieren; und da musste nun jeder für sich selbst entscheiden, ob das auf ihn zutrifft oder nicht. Ich muss sagen, ich fand diese Vorgehensweise einerseits durchaus gut, andererseits aber doch auch nicht unproblematisch. Der offensichtliche Vorteil: Man konnte auf diese Weise nicht vergessen, jemanden einzuladen, und es bestand auch die Möglichkeit, dass jemand dazu kommen würde, bei dem niemand auf die Idee gekommen wäre, ihn einzuladen. Andererseits bestand natürlich die Gefahr, dass Leute wegbleiben, weil sie sich nicht eingeladen fühlen. Zusammenfassend gesagt: In einer Gemeinde mit einem gesunden Gemeinschaftsgefühl unter den aktiven Mitgliedern würde diese Methode hervorragend funktionieren; bei unserer war ich mir da nicht so sicher. 

Jedenfalls war ich angesichts dieser absichtlich unscharfen Einladungssituation gespannt, wie viele Leute denn da wohl so kommen würden. Gemäß meiner an anderer Stelle mal erläuterten Ein-Prozent-Hypothese ging ich davon aus, dass es bei gut 4.000 Gemeindemitgliedern (in allen drei Gemeindeteilen zusammen) ungefähr 40 "Aktive" geben müsse -- und ungefähr so viele kamen tatsächlich zu dem Neujahrsempfang. Einige Leute, von denen ich weiß, dass sie an "unserem" Gemeindestandort ausgesprochen aktiv sind, waren allerdings nicht dabei; andererseits hatten einige der Ehrenamtlichen eben auch ihre Ehepartner und Kinder mitgebracht und bei einigen der Anwesenden ging ich schon aus Altersgründen davon aus, dass ihre aktive Zeit wohl im Wesentlichen der Vergangenheit angehört. Das gleicht sich wohl so ungefähr aus, sodass ich davon ausgehen darf, mit meiner Ein-Prozent-Theorie nicht ganz falsch zu liegen

Für die zum Empfang erschienen Ehrenamtlichen ließ die Pfarrei neben allerlei alkoholischen und nichtalkoholischen Getränken Suppe und Würstchen springen, einige Gemeindemitglieder hatten Nachtisch (z.b. Rote Grütze und Pudding) mitgebracht, da fügte sich unser Kuchen ganz gut ein. Ich sage "unser" Kuchen, da ich ihn zwar gebacken hatte, meine Liebste ihn jedoch, da so ein simpler Rührkuchenteig vielleicht ein bisschen langweilig gewesen wäre, mit einer Schokocremefüllung und einer Haselnussglasur nachgebessert hatte. Das Gesamtergebnis überraschte nicht zuletzt mich selbst positiv. Auch von den anderen Gemeindemitgliedern wurde der Kuchen allgemein sehr gelobt; aber die zwei überschüssigen Portionen "Hermann"-Teig, die ich im Gepäck hatte, wurde ich trotzdem nicht los. Na ja: Aller Anfang ist schwer; das wird schon noch werden mit der "Hermann-Option"



Die Atmosphäre bei dem Empfang war jedenfalls rundum erfreulich, und am Rande gab es Gelegenheit zu einigen mehr oder weniger "konspirativen" Einzelgesprächen. Zum Beispiel: Ich glaube, ich habe schon mal erwähnt oder zumindest angedeutet, dass der "Mittwochsklub" sich seit einiger Zeit dafür einsetzt, in einem der Säle unseres Gemeindehauses ein Bücher-Tauschregal einzurichten. Mit Unterstützung des Lokalausschusses, aber gegen zum Teil heftigen Widerstand der Kolpingsfamilie haben wir das auch durchgesetzt, aber kaum waren wir soweit, trat ein relativ neu zugezogenes Gemeindemitglied an uns heran mit der Idee, das Konzept auszubauen zu einer richtigen Gemeindebücherei mit Lesecafé und regelmäßigen Veranstaltungen. Finden wir natürlich gut, und in Kürze soll es dazu ein Planungstreffen geben. Mit dem besagten neuen Gemeindemitglied unterhielt ich mich am Rande des Neujahrsempfangs ein wenig darüber, was mittelfristig noch so alles aus dieser Lesecafé-Idee hervorgehen könnte. 


Natürlich auch vor Ort war der Vorsitzende des Pfarrgemeinderats, der, wie ich ebenfalls schon mal erwähnt habe, seit geraumer Zeit den Aufbau eines Arbeitskreises "Kirche in Zukunft" anstrebt. Viel ist daraus bis jetzt noch nicht geworden, aber es gab immerhin ein Treffen, an dem meine Liebste und ich teilgenommen haben und dabei festgestellt haben, dass die Vorstellungen des Initiators grundsätzlich in eine ähnliche Richtung gehen wie unsere. Demnächst soll es dann ein neues Treffen das in Gründung befindlichen Arbeitskreises geben. Nun habe ich mir inzwischen das "Divine Renovation Handbuch" von Father James Mallon - quasi der begleitende Praxis-Leitfaden zu seinem Gemeindeerneuerungs-Manifest "Wenn Gott sein Haus saniert" - zugelegt bzw. von meiner Mutter zu Weihnachten schenken lassen; und ich nutzte die Gelegenheit des Neujahrsempfangs, um dem Pfarrgemeinderatsvorsitzenden dieses Buch zu zeigen und anzuregen, es als Arbeitsinstrument in die künftigen Treffen des "Kirche in Zukunft"-Arbeitskreises einzubeziehen. Er blätterte ein wenig in dem Buch, las sich das Inhaltsverzeichnis durch -- und war begeistert


Diese beiden Bücher kamen am selben Tag mit der Post. Über das kleinere, einen Gedichtband, werde ich mich zu gegebener Zeit noch äußern müssen. 

Ich bin sehr gespannt, wie sich das alles weiter entwickelt; aber eins kann man auf jeden Fall sagen: Unserer Pfarrei geht es in vielerlei Hinsicht erheblich schlechter als derjenigen, von der im ersten Teil dieses Artikels die Rede war -- aber gerade darin liegt eine Menge Potential. Das Bewusstsein, dass man nicht einfach so weitermachen kann wie bisher, ist unter den Aktiven der Gemeinde verhältnismäßig stark ausgeprägt, und deshalb gibt es eine Offenheit für neue Impulse und dafür, "außerhalb der Box zu denken". Mit gewissen Trägheitskräften muss man in den Strukturen einer Pfarrei natürlich dennoch immer rechnen, aber der Neujahrsempfang hat mich im Ganzen recht optimistisch gestimmt. Schauen wir mal, wie's weitergeht...