Beim Stöbern in meinem Blog-Archiv bin ich unlängst
auf einen, wie ich finde, arg unterschätzten - d.h. viel zu wenig
gelesenen - Artikel aus dem Sommer 2018 gestoßen: Es geht darin um
Wölfe im Yellowstone-Nationalpark und ehemalige Klöster in der
Wesermarsch, aber eigentlich bildet dieser Artikel sozusagen das
Kernstück einer ganzen Reihe von Beiträgen aus dem letzten Sommer,
in denen ich mir Gedanken über mögliche Kombinationen aus
alternativen Wohn- und christlichen Missionsprojekten gemacht habe –
sozusagen eine Schnittmenge aus BenOp und Punkpastoral,
und das alles mit Blick auf meinen Heimatlandkreis, die schöne
Wesermarsch. Denn einerseits kenne ich mich da aus und andererseits
sind strukturschwache Regionen ja aus offensichtlichen Gründen
besonders geeignet für solche Projekte.
Nicht eingegangen war ich in diesem Zusammenhang auf den Nordenhamer Stadtteil Einswarden – und das ist eigentlich erstaunlich, denn gerade über diesen gäbe es eine ganze Menge zu sagen. Einswarden ist nämlich ein sogenannter "sozialer Brennpunkt". Bemerkenswerterweise gibt es mindestens zwei Blogs von Einwohnern Einswardens, die sich mit dem Wohl und Wehe ihres Stadtteils befassen: Der eine heißt schlicht "Einswardenblog", der andere "Blogwarden".
In beide Blogs hatte ich schon früher gelegentlich mal reingeschaut, aber so richtig wurde mein Interesse an den aktuellen Plänen der Stadt Nordenham zur Stadtteilsanierung erst geweckt durch einen Artikel, der am letzten Tag des Jahres 2018 auf "Blogwarden" erschien. Darin berichtet der Autor, er habe "eine
Einladung der Stadt Nordenham zu einer Bürgerversammlung im
Mehrzweckhaus Einswarden am 15. Januar 2019 um 18 Uhr" erhalten, und richtet dabei besonderes Augenmerk auf den Umstand, dass im Text der Einladung sogenannte "Schrottimmobilien" als "Schwerpunkte der Missstände" im Stadtteil hervorgehoben werden:
"[I]n dem Anschreiben ist nunmehr [...] die Rede [...] von 'Schrottimmobilien' im Bereich Niedersachsenstraße/Friesenstraße […]. Mit anderen Worten, es geht der Stadt nicht nur um den Abriss der Schrottimmobilien an der Niedersachsenstraße. Die Stadt und die Stadtbaurätin denken in größeren Dimensionen",
stellt der Blogger fest -- und fügt hinzu:
"Man darf nun gespannt sein, mit welchen wohlgesetzten Worten den Einswarder Bürgern der Abriss eines ganzen Stadtviertel-Karres und somit die Verknappung von Wohnraum mit entsprechenden Auswirkungen auf die Mieten schmackhaft gemacht wird."
Da wurde ich dann doch hellhörig! -- Wie ein Blick aufs Datum uns belehrt, hat die angekündigte Bürgerversammlung inzwischen stattgefunden - laut einem Bericht der Nordwest-Zeitung "vor
rund 60 Bürgern" -, und der Verfasser des "Einswardenblogs" fasst seinen Gesamteindruck gleich zu Beginn seines Berichts mit den Worten "Bürgerbeteiligung
gleich Null!" zusammen (dieselbe Formulierung findet sich einen Tag später auch als Artikelüberschrift auf "Blogwarden"), und in einem "P.S." merkt er an: "Ob
das den Bewohnern des Sanierungsgebietes so 'schmeckt' wage ich
zu bezweifeln."
Nun, jedenfalls ist das "Städtebauliche Entwicklungskonzept für den Bereich Einswarden-Zentrum", das auf dieser Bürgerversammlung vorgestellt wurde, online als PDF-Datei verfügbar, also habe ich mir das mal zu Gemüte geführt. Praktisch das erste, was mir daran auffiel, war, dass auf S. 4 der Umstand, dass der Stadtteil Einswarden trotz seiner Randlage "flächenmäßig außerordentlich stark eingeengt" sei, u.a. damit begründet wurde, dass
"auf den westlich der stark befahrenen Martin-Pauls-Straße liegenden Flächen [...] wegen der gegenwärtig zu hohen Schadstoffbelastungen des Bodens eine Wohnbebauung nur nach erheblichen Sanierungsmaßnahmen möglich"sei. Hm, dachte ich. Verseuchte Böden? Da gab es doch mal diesen Anime-Film, mit Pilzen, die dem Boden Schadstoffe entziehen -- wie hieß der denn noch? Ach ja:
Den Film habe ich vor Jahren mal mit meiner Liebsten gesehen, die, wie ich wohl schon verschiedentlich erwähnt habe, Biologin ist und mich darauf hinwies, dass so eine Art biologischer Abbau von Schadstoffen im Boden im Prinzip durchaus möglich sei, wenn auch nicht ganz so spektakulär wie im Film. Ein Twitter-Bekannter von mir (ein Dominikanerpater, der zugleich auch Biochemiker ist) hat sogar über dieses Thema promoviert und mir ein Abstract seiner Doktorarbeit geschickt. Aber das vorerst nur mal am Rande.
Zur Gesamtsituation in Einswarden ist übrigens anzumerken, dass von 1999 bis 2013 im
Rahmen des Städtebauförderungsprogramms "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt" bereits rd. 7 Mio Euro
an Fördermitteln in den Stadtteil investiert wurden; demgegenüber sehen die aktuellen Sanierungsvorhaben lediglich ein Budget von rd. 1,2 Mio Euro vor. Im Entwicklungskonzept heißt es auf S. 4, die "in
den Stadtteil Einswarden geflossenen Städtebauförderungsmittel" hätten "ihre positiven Spuren hinterlassen und dazu geführt,
wesentliche Zielsetzungen zu erreichen"; auch hätten die "durchgeführten investiven Maßnahmen [...] bei der Einswarder Bevölkerung
einen positiven Eindruck hinterlassen". Ich habe indes den Eindruck, dass beispielsweise die Autoren von "Einswardenblog" und "Blogwarden" dieser optimistischen Einschätzung eher widersprechen würden; genauer gesagt hat einer von ihnen die behaupteten positiven Auswirkungen mir gegenüber auf Nachfrage explizit bestritten. Was umso weniger überrascht, als die Ausführungen im Entwicklungskonzept sich im Grunde selbst widersprechen: Auf S. 7 liest man nämlich, "[s]eit
dem Ende des Städtebauförderungsprogramms 'Soziale Stadt'" habe sich "die Situation in Einswarden entgegen den Erwartungen leider
verschlechtert". Schuld daran sollen vor allem die weiter oben bereits angesprochenen "Schrottimmobilien" sein.
"Hierbei handelt es sich um Wohnblöcke, die sich in einem stark sanierungsbedürftigen Zustand befinden oder zum großen Teil nicht mehr bewohnbar sind und daher leer stehen", heißt es auf S. 6. "Die Vernachlässigung dieser Wohnblöcke, die sich heute in einem noch schlimmeren Zustand befinden, schädigt das Image des Stadtteils nachhaltig" (ebd.). "Teilweise zeigen sich irreparable Schäden. Das negative Bild in diesem Gebiet färbt sich auf den gesamten Stadtteil ab" (S. 7). "Insofern sorgt der Zahn der Zeit für eine kontinuierliche Abwärtsspirale, die es aufzuhalten gilt" (ebd.).
"Hierbei handelt es sich um Wohnblöcke, die sich in einem stark sanierungsbedürftigen Zustand befinden oder zum großen Teil nicht mehr bewohnbar sind und daher leer stehen", heißt es auf S. 6. "Die Vernachlässigung dieser Wohnblöcke, die sich heute in einem noch schlimmeren Zustand befinden, schädigt das Image des Stadtteils nachhaltig" (ebd.). "Teilweise zeigen sich irreparable Schäden. Das negative Bild in diesem Gebiet färbt sich auf den gesamten Stadtteil ab" (S. 7). "Insofern sorgt der Zahn der Zeit für eine kontinuierliche Abwärtsspirale, die es aufzuhalten gilt" (ebd.).
Das mit der "Abwärtsspirale" ist übrigens ein durchaus interessantes Stichwort. Es gibt allerlei empirische Studien über den sozialen Abstieg von Wohnvierteln, und auch präzise darüber, wie bzw. womit ein solcher Abstieg beginnt. Eine zentrale Erkenntnis dieser Forschungen wird in dem Schlagwort "Broken-Window-Effekt" zusammengefasst, benannt nach dem Phänomen, dass eine einzige kaputte Fensterscheibe, wenn sie nicht innerhalb einer bestimmten Zeitspanne repariert wird, in der Nachbarschaft eine wahre Kettenreaktion der Verwahrlosung auslösen kann. Ähnlich ist es etwa mit Müll, der auf dem Gehsteig liegt: Ab einer bestimmten Menge ist die Wahrscheinlichkeit, dass Leute ihren eigenen Müll dazu schmeißen, höher als die, dass sich mal jemand die Mühe macht, den Müll wegzuräumen.
In diesem Sinne mag also durchaus etwas dran sein an der Vorstellung, die "Schrottimmobilien" seien quasi ein eiternder Entzündungsherd im Organismus des Stadtteils. Die stadtplanerischen Überlegungen, die dem Entwicklungskonzept zugrunde liegen, zielen jedoch auf mehr ab als bloß darauf, den Trend zum weiteren Verfall des Stadtteils aufzuhalten und, soweit möglich, umzukehren. In dem bereits angesprochenen NWZ-Artikel ist von "Vorhaben mit Initialwirkung" die Rede, "um den Stadtteil
nach vorne zu bringen und ihm zu einem besseren Image zu verhelfen"; das Entwicklungskonzept selbst spricht von einer "zukunftsorientierte[n] Stadtentwicklungspolitik" mit dem Ziel einer "frühzeitige[n] Anpassung [...] auf die städtebaulichen Auswirkungen des
Strukturwandels, der hauptsächlich durch demographische
Veränderungen ('Weniger-Bunter-Älter') und wirtschaftlichen
Wandel herbeigeführt wird" (S. 3).
Die angestrebte "Aufwertung" des Stadtteils hat somit nicht in erster Linie zum Ziel, die Lebensqualität für die vorhandenen Einwohner zu verbessern; vielmehr werden die vorhandenen Einwohner als Teil des Problems betrachtet:
"Der völlig veraltete Immobilienbestand mit Schwerpunkt im südlichen Zentrum, der stark anwachsende Anteil von Migranten und von einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen, der starke Rückgang der ehemals intakten Handels- und Handwerkerstruktur und damit des Mittelstandes, die Auflösung von Vereinen sowie die Konzeptlosigkeit einer großen auswärtigen Immobiliengesellschaft und von anderen Privateigentümern bilden letztlich die Ursache für den stetigen Abstieg des Stadtteils." (S. 8)
Mit anderen Worten: Der Kern des ganzen Problems
"liegt ganz offensichtlich im Zusammenhang zwischen niedrigeren Einkommen und dem günstigem, da wenig attraktivem Wohnraum. Gleichzeitig verhindern diese Rahmenbedingungen zum einen die Sanierung der betroffenen Wohnungen, da eine Abschöpfung von Investitionen über die Mieten kaum möglich ist, zum anderen blockieren diese Entwicklung und die sich im Verfall befindlichen Gebäude einen Zuzug einkommensstärkerer Bevölkerungsgruppen, die die Sozialstruktur in diesem Gebiet verändern würden." (S. 7)
Das eigentliche Ziel des von der Stadtverwaltung betriebenen Sanierungsvorhabens liegt also, wie das Entwicklungskonzept mit bemerkenswerter Offenheit zu erkennen gibt, darin, den Stadtteil Einswarden zu gentrifizieren. Das Dumme daran ist: Gentrifizierung kann man eben nicht "machen". Sie ist ein organischer Prozess, der üblicherweise damit beginnt, dass eine im weitesten Sinne irgendwie "alternative" Klientel sich, gewissermaßen als "Pioniere", gezielt in schlechten und darum billigen Wohngegenden niederlässt und diesen durch ihre Kreativität und Eigeninitiative ein Flair verschafft, das auf längere Sicht auch Besserverdienende anlockt. Ob das in einer Industriesiedlung in Randlage wie Einswarden, die weder die Vorzüge des Landlebens noch echte Urbanität bieten kann und somit quasi "worst of both worlds" ist, überhaupt funktionieren würde, ist schon fraglich genug; was jedoch ganz sicher nicht funktioniert, ist der Versuch, die "Pionierphase" der Gentrifizierung durch stadtplanerische Maßnahmen quasi zu überspringen und gleich mit den Besserverdienenden anzufangen. Mal ganz abgesehen von der Frage, wo die Besserverdienenden angesichts offenbar nicht gerade berauschender Erwerbsmöglichkeiten vor Ort überhaupt herkommen sollen -- bzw. wie man erwarten können sollte, dass sie ihr höheres Einkommen quasi nach Einswarden mitbringen, wenn sie es nicht vor Ort erwirtschaften können. Das ergäbe ja höchstens bei einer Klientel Sinn, die ihr Geld ortsunabhängig, also beispielsweise im Internet, verdient. Aber ob die sich nun gerade in einer Industriesiedlung in Randlage... ich wiederhole mich.
Das scheint mir der entscheidende Webfehler auch derjenigen Aspekte des Entwicklungskonzepts zu sein, die sich an und für sich gar nicht so schlecht anhören. Etwa der Punkt "Gemeinschaftliches Wohnen": Nach einem geplanten "Abbruch
der sich im Verfall befindlichen Gebäude an der Niedersachsenstraße
52 bis 62", wodurch "die wohl problematischste Bausubstanz in
Einswarden beseitigt" und zugleich "eine neue Platzsituation" entstehen würde, der "eine neue urbane Funktion zugewiesen
werden" soll ("mit
der Möglichkeit, dort durch ein/einen Cafe/Bäcker/Kiosk etc. einen
neuen Ort des Miteinanders zu etablieren" -- alle Zitate von S. 12), wobei im Gegenzug geplant ist, "den
leider wenig ambitioniert gestalteten und funktionslos gewordenen
Marktplatz aufzugeben" und dessen Fläche lieber "für
eine Wohnbebauung" zu nutzen (S. 14), wird eine "Modernisierung/Instandsetzung/Erweiterung
der verbliebenen 'Schrottimmobilen“ zur Schaffung eines 'Mehrgenerationenquartiers'" angestrebt --
"ein vielfältiges Immobilienangebot für Jung und Alt, Familien und Singles [...]. Altbauflair in Neubau-Qualität. [...] Ein lebendiger Austausch zwischen den Generationen, Kulturen, Menschen mit und ohne Behinderungen bereichert den Lebensalltag und fördert die Gemeinschaft und Integration der Menschen. Barrierefreie Architektur ermöglicht Gemeinschaft und schafft gleichzeitig Raum für Rückzug und Privatheit." (S. 11)
Die strategische Überlegung hinter diesem Wohnkonzept lautet:
"Das Wohnen im zukünftigen Quartier soll auf die demographische Entwicklung und die Veränderungen der Stadt eingehen. Diese ist geprägt von der Singularisierung der älteren Menschen und Migranten in jedem Alter, Alleinerziehende, Auflösung nachbarschaftlicher und familiärer Strukturen, Bindungen und Unterstützungen. [...] Bei diesem Wohnmodell/Mehrgenerationenwohnen besteht die Idee darin, dass aus dem bewussten Miteinander verschiedener Generationen gegenseitige Hilfestellung und Betreuung erwachsen. Auch die sog. soziale Kontrolle kann durch solche Wohnformen zunächst entwickelt und dann gestärkt werden ('verlässliche Nachbarschaft'). Hilfsbedürftige Ältere können mit Unterstützung der Mitbewohner länger in ihrer Wohnung bleiben, Jüngere (zum Beispiel Alleinerziehende mit Kindern) erfahren Entlastung durch Ältere, die geistig und körperlich noch vital sind. Mitgefördert werden soll darüber hinaus auch das gemeinschaftliche Wohnen von überwiegend Älteren, die bereit sind, sich gegenseitig zu unterstützen (Alt hilft Alt)." (ebd.)
Klingt eigentlich ganz vielversprechend, oder? -- Nun ja, teils-teils, würde ich mal sagen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist offenbar die Feststellung: Die Auflösung traditioneller Familien- und Nachbarschaftsstrukturen hat die Menschen voneinander isoliert, und das verursacht soziale Probleme. Soweit stimme ich zu. Daraus schlussfolgert man nun einen Bedarf an neuen Formen von Gemeinschaft. Ebenfalls einverstanden. Aber was für eine Gemeinschaft soll das denn überhaupt sein, was ist das gemeinschaftsstiftende Element? Glauben die Stadtplaner ernsthaft, die Menschen hätten sich quasi aus Versehen voneinander isoliert, und man müsse ihnen nur die Infrastruktur für gemeinschaftliches Wohnen hinstellen, dann würden sie schon von alleine merken, dass das viel besser ist?
"Das
Zusammenleben basiert ausschließlich auf Freiwilligkeit,
verbindliche, das heißt verpflichtende Regeln für einen
qualifizierten Leistungsaustausch gibt es nicht", stellt das Entwicklungskonzept klar (ebd.). Na, viel Glück damit. Ich hätte da mal einen Pro-Tipp: Die goldene Mitte zwischen totaler Unverbindlichkeit und Zwang heißt freiwillige Selbstverpflichtung -- die dann aber, wenn sie einmal eingegangen wurde, sehr wohl verbindlich sein muss, sonst hat das Ganze von vornherein keinen Zweck. Freilich kann man eine solche freiwillige Selbstverpflichtung nur von Menschen erwarten, die mehr miteinander verbindet als nur die zufällige Tatsache, im selben Wohnblock zu leben. Und da fragt sich dann eben wieder, was dieses Mehr in diesem Falle sein soll.
Und schließlich stellt das Entwicklungskonzept auch hier wieder klar, dass es darum geht, eine einkommensstarke Klientel anzulocken: "Und
dieses Quartier sollte ein gehobenes Niveau haben, um eine
entsprechende Zielgruppe zu erreichen" (ebd.). --- Lest es mir von den Lippen ab, Freunde:
Es. Wird. Nicht. Funktionieren.
Wesentlich aussichtsreicher erschiene es mir, diejenigen "Schrottimmobilien", die noch nicht völlig irreparabel verkommen sind, gezielt (und billig) an "Pioniere" im oben angedeuteten Sinne zu vermieten -- Leute mit wenig Geld, aber viel Eigeninitiative, Do-It-Yourself-Heimwerker-Fähigkeiten und einem Hang zu sozialem Engagement. Und die könnten dann ihre eigenen Mehrgenerationen-Gemeinschaftswohnprojekte organisch "von unten her" aufbauen, statt sie von überambitionierten Stadtplanern fertig hingestellt zu bekommen.
Dafür, wie realistisch solche Überlegungen sind, ist es natürlich nicht unerheblich, wie schlimm die Verslummung im Einswarder Zentrum tatsächlich ist. Ob also beispielsweise Familien, die sich da ansiedeln wollten, ernsthaft Angst um ihre Kinder haben müssten. -- Wie die NWZ berichtet, hat das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen eine Befragung unter Schülern der 7. bis 10. Klassen an Nordenhamer Schulen durchgeführt und dabei festgestellt, dass Gewalt, Mobbing und sexuelle Belästigung unter Nordenhamer Schülern häufiger vorkommen als im niedersächsischen Landesdurchschnitt. Interessant wäre nun, ob die Ergebnisse der Studie - die auch "delinquentes und abweichendes Verhalten" wie z.B. "Alkohol- und Drogenkonsum, Glücksspielsucht, Schulschwänzen" erfasst - nach einzelnen Schulen aufgeschlüsselt sind und wie da z.B. die Werte für das zum Stadtteil Einswarden gehörende Schulzentrum am Luisenhof aussehen. Wie mir die Projektleiterin auf Nachfrage mitteilte, ist der Forschungsbericht noch nicht veröffentlicht, aber sie hat versprochen, mir Bescheid zu geben, wenn es soweit ist. Aber auch damit wären ja diejenigen sozialen Brennpunktfaktoren, die sich außerhalb des schulischen Bereichs abspielen, noch nicht erfasst. Wie sieht's aus mit Drogensucht und Drogenhandel, Bandenkriminalität, illegaler Prostitution? Ich frag ja nur. Sollten die Straßenzüge mit den sogenannten "Schrottimmobilien" tatsächlich nicht nur in Hinblick auf die Bausubstanz, sondern auch in Hinblick auf die Sozialstruktur ihrer Bewohner ein echtes "shithole" sein, dann wäre das eventuell ein Fall für die "Franziskaner der Erneuerung". Die lassen sich gezielt in richtig üblen Gegenden nieder, um den Leuten dort sowohl lebenspraktische Hilfeleistungen als auch seelsorgerische Betreuung zu bringen. Ich habe mal einen spannenden Film darüber gesehen -- hier der Trailer:
Sollte es - was ich ehrlich gesagt nicht glaube - im Einswarder Sanierungsgebiet tatsächlich so finster aussehen wie in den Gegenden, in denen der Film spielt, könnte ich durchaus einen Kontakt zu den Franziskanern der Erneuerung herstellen. Falls es aber doch nicht so arg ist, stellt sich die Frage: Was macht eigentlich die örtliche Kirchengemeinde so? Ich denke da in erster Linie an die katholische. Deren Geschichte (die in einem NWZ-Artikel aus dem Jahr 2007 übersichtlich zusammengefasst wird) hat nämlich einen engen Bezug zur spezifischen Sozialstruktur des Stadtteils -- denn wie kommen überhaupt Katholiken in so eine seit Jahrhunderten erz-evangelisch geprägte Gegend? Die Antwort lautet: erstens durch Arbeitsmigration und zweitens durch die Vertreibung aus den Ostgebieten, insbesondere Schlesien, im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg. In Einswarden war es zunächst die Industrialisierung, die den Zuzug von "Werft- und vor allem Hüttenarbeiter[n] katholischer
Konfession aus dem Ruhrgebiet" veranlasste; diese feierten ihre Gottesdienste "zunächst im Kasino Friedrich-August-Hütte
[...], seit 1921 [...] in der Volksschule
[...]. Zunächst kam dafür ein katholischer Pfarrer aus Brake. [...] 1927 begann der Bau einer Kirche […], d[ie] Anfang
1928 geweiht wurde" und das Patrozinium Herz Jesu erhielt.
Alles in allem scheint die Parreienfusion dem Einswarder Gemeindeteil nicht gut getan zu haben, und ich neige dazu, einen Grund dafür im sozialen Gefälle zwischen den Gemeindeteilen zu sehen. Ich mag mich täuschen, aber mein Eindruck ist, dass der katholische Bevölkerungsanteil in der Nordenhamer Innenstadt und im Stadtsüden eher von "Besserverdienenden-Arbeitsmigration" geprägt ist und dass folglich am Gemeindestandort St. Willehad eher Lehrer, Ärzte, Juristen und Unternehmer den Ton angeben. Und die haben mit den erheblich ärmeren Einswardern wohl eher wenig am Hut. Das ist bedauerlich, denn angesichts der zahlreichen Probleme in Einswarden hätte die Kirche dort einen echten sozialen Auftrag -- der leicht auch einen missionarischen (oder sagen wir "neuevangelisierenden") Aspekt haben könnte. Dem NWZ-Artikel von 2007 zufolge gehör(t)en zur Gemeinde von Herz Jesu "alt gewordene Vertriebene, Spätaussiedler aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion sowie Asylbewerber"; "In unserem Gottesdienst versammeln sich bis zu 30 Nationen", wird der damalige Pfarrer Alfons Kordecki zitiert. Da es im "Städtebaulichen Entwicklungskonzept" heißt, im Sanierungsgebiet lebten neben "Bürger/Innen mit türkischer Herkunft [...] auch deutsche Familien und Familien mit osteuropäischen Hintergrund, vielfach mit sozialen Problemen" (S. 7), könnte ich mir vorstellen, dass ein signifikanter Teil der Letzteren katholisch ist -- und selbst wenn nicht: Es hat wohl noch keiner Kirchengemeinde geschadet, sich auch um Menschen zu kümmern, die (noch) nicht zu ihrer Glaubensrichtung gehören. Wenn in Einswarden schon keine Gottesdienste mehr stattfinden, könnte man doch zumindest das Gemeindehaus - das 1978 errichtete "Witten-Huus" - für allerlei soziale Projekte nutzen. Eine Suppenküche, einen Foodsharing-Treffpunkt, einen Waschsalon auf Spendenbasis, was weiß ich. Ich spinne einfach mal rum. Wer die Verhältnisse vor Ort besser kennt, könnte leicht noch bessere Ideen haben als ich. Oder einfach mal in Erfahrung bringen, was die Leute vor Ort wollen und brauchen.
Ich gebe zu, ich habe keine Ahnung, was in dieser Richtung womöglich bereits unternommen wird. Immerhin hat der Einswarder Gemeindeteil noch eine eigene Kolpingsfamilie, und es kann ja sein, dass die schon eine ganze Menge macht, was bloß nicht so viel mediale Aufmerksamkeit bekommt, dass ich in Berlin etwas davon mitkriegen würde. Da lasse ich mich also gern von gut informierten Lesern belehren. Das gilt im Übrigen auch für andere Aspekte dessen, was ich in diesem Artikel so alles zusammenspekuliert habe. Ich freue mich also auf Kommentare, auch und gerade auf kritische!
"Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Zahl der Katholiken durch die Vertreibungen aus den Ostgebieten stark an: von 650 im Jahre 1940 auf 2500 im Jahre 1949. Erst 1964 wurde Einswarden von der Mutterpfarre St. Willehad abgetrennt und selbstständig."Diese Selbständigkeit bewahrte die Pfarrei Herz Jesu Einswarden bis 2010, dann wurde sie erneut mit St. Willehad zusammengelegt. Anfang 2015 wurde die Einswarder Kirche als Gottesdienststandort geschlossen -- "vorläufig", da über eine endgültige Schließung der Bischof in Münster entscheiden müsste. Was meines Wissens bis heute nicht erfolgt ist, weder in die eine noch in die andere Richtung.
Alles in allem scheint die Parreienfusion dem Einswarder Gemeindeteil nicht gut getan zu haben, und ich neige dazu, einen Grund dafür im sozialen Gefälle zwischen den Gemeindeteilen zu sehen. Ich mag mich täuschen, aber mein Eindruck ist, dass der katholische Bevölkerungsanteil in der Nordenhamer Innenstadt und im Stadtsüden eher von "Besserverdienenden-Arbeitsmigration" geprägt ist und dass folglich am Gemeindestandort St. Willehad eher Lehrer, Ärzte, Juristen und Unternehmer den Ton angeben. Und die haben mit den erheblich ärmeren Einswardern wohl eher wenig am Hut. Das ist bedauerlich, denn angesichts der zahlreichen Probleme in Einswarden hätte die Kirche dort einen echten sozialen Auftrag -- der leicht auch einen missionarischen (oder sagen wir "neuevangelisierenden") Aspekt haben könnte. Dem NWZ-Artikel von 2007 zufolge gehör(t)en zur Gemeinde von Herz Jesu "alt gewordene Vertriebene, Spätaussiedler aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion sowie Asylbewerber"; "In unserem Gottesdienst versammeln sich bis zu 30 Nationen", wird der damalige Pfarrer Alfons Kordecki zitiert. Da es im "Städtebaulichen Entwicklungskonzept" heißt, im Sanierungsgebiet lebten neben "Bürger/Innen mit türkischer Herkunft [...] auch deutsche Familien und Familien mit osteuropäischen Hintergrund, vielfach mit sozialen Problemen" (S. 7), könnte ich mir vorstellen, dass ein signifikanter Teil der Letzteren katholisch ist -- und selbst wenn nicht: Es hat wohl noch keiner Kirchengemeinde geschadet, sich auch um Menschen zu kümmern, die (noch) nicht zu ihrer Glaubensrichtung gehören. Wenn in Einswarden schon keine Gottesdienste mehr stattfinden, könnte man doch zumindest das Gemeindehaus - das 1978 errichtete "Witten-Huus" - für allerlei soziale Projekte nutzen. Eine Suppenküche, einen Foodsharing-Treffpunkt, einen Waschsalon auf Spendenbasis, was weiß ich. Ich spinne einfach mal rum. Wer die Verhältnisse vor Ort besser kennt, könnte leicht noch bessere Ideen haben als ich. Oder einfach mal in Erfahrung bringen, was die Leute vor Ort wollen und brauchen.
Ich gebe zu, ich habe keine Ahnung, was in dieser Richtung womöglich bereits unternommen wird. Immerhin hat der Einswarder Gemeindeteil noch eine eigene Kolpingsfamilie, und es kann ja sein, dass die schon eine ganze Menge macht, was bloß nicht so viel mediale Aufmerksamkeit bekommt, dass ich in Berlin etwas davon mitkriegen würde. Da lasse ich mich also gern von gut informierten Lesern belehren. Das gilt im Übrigen auch für andere Aspekte dessen, was ich in diesem Artikel so alles zusammenspekuliert habe. Ich freue mich also auf Kommentare, auch und gerade auf kritische!
"Weniger - bunter - älter" ist doch nur eine höfliche Formulierung für "Wer noch jung ist und es sich irgendwie leisten kann, zieht hier weg - übrig bleiben die Armen, darunter besonders die Fremden und die Alten".
AntwortenLöschenNun schicke Häuser hinstellen, damit möglichst junge Familien dort hinziehen, wo Kinder wie Eltern absolut keine Freunde haben, wird nicht klappen. Die von Dir vorgeschlagenen Ideen (Franziskaner der Erneuerung; Schrottimmobilien jungen tüchtigen Leuten zum Sanieren und Bewohnen geben) werden auch nicht klappen, wegen der allgemeinen Betonschädeligkeit in Amtsstuben. Baustadtrat wird man nicht, indem man sich eine vernünftige Mischung aus Idealismus und praktischem Denken bewahrt. (Wie genau man Baustadtrat wird, weiß ich auch nicht, aber SO jedenfalls nicht.)