Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Donnerstag, 18. Oktober 2012

Wie hältst du's mit der Handkommunion?

Neulich in der Sonntagsmesse stand bei der Kommunion ein kleines Mädchen neben mir. Es waren auch einige noch kleinere Kinder mit an die Altarstufen vorgetreten; der Pfarrer legte ihnen die Hand auf und segnete sie. Dieses kleine Mädchen jedoch streckte ihm die offenen Hände entgegen und zeigte somit an, dass es kommunizieren wolle. Der Pfarrer stutzte.

Pfarrer (irritiert): Warst du schon zur Erstkommunion?
Mädchen (stolz): Jaaa...!
Pfarrer (lächelnd): Ach, Mensch!

Irgendwie, ich weiß selbst nicht warum, fand ich diese kleine Szene ganz reizend. Gleichzeitig erinnerte sie mich daran, dass ich unlängst angekündigt hatte, mal etwas Persönliches zum Thema "Mund- oder Handkommunion" schreiben zu wollen - angeregt durch den von Blogger-Kollegin Huppicke geprägten Begriff "mundkommunionmäßig" (mit dem sie, wenn ich sie richtig verstanden habe, augenzwinkernd einen Typus besonders konservativer Katholiken kennzeichnen wollte).

Es ist gut fünfeinhalb Jahre her, dass ich mich erstmals bewusst mit dem Thema "Mund- oder Handkommunion?" befasst habe, und der konkrete Anlass dafür war recht ungewöhnlich. Ich habe wohl schon einmal angedeutet, dass ich als bekennender Katholik im mehrheitlich von religionslosen Menschen bevölkerten Ostteil Berlins in den Augen vieler meiner Bekannten eine Art Kuriosum darstelle - was in seinem praktischen Auswirkungen durchaus nicht immer unangenehm ist. Gelegentliche Spötteleien bleiben zwar nicht aus, aber andererseits kommt es immer wieder vor, dass Bekannte in mir den quasi "zuständigen Ansprechpartner" sehen, wenn sie Fragen oder Anmerkungen zu religiösen oder auch kirchenpolitischen Themen haben. Dadurch ergeben sich oft interessante Diskussionen - vor allem mit den Kollegen vom Dienstagabend-Domino-Stammtisch, die mich anfangs mit Spitznamen wie "der Christ mit dem Bart" beehrten, bei denen ich aber bald zum "Lieblingskatholiken" avancierte.

Eines Abends im Januar 2007 sprach mich einer meiner Dominokumpels auf den "Wiesbadener Hostienfrevel" an - ob ich davon schon gehört hätte. Hatte ich nicht, also referierte er kurz und sachlich die Fakten des Falles:

Laut einer dpa-Meldung hatte während einer Messe in der Wiesbadener Kirche St. Bonifatius ein konfessionsloser Besucher namens Thomas R. an der Kommunion teilgenommen, aber nur ein kleines Stück von der Hostie abgebissen und den Rest in die Tasche gesteckt. Von einigen Gemeindemitgliedern darauf aufmerksam gemacht, wollte der zelebrierende Geistliche, der damalige Wiesbadener Stadtdekan Johannes zu Eltz (heute in gleicher Funktion in Frankfurt am Main tätig), einschreiten; es kam zu einem Handgemenge, in dem der dem Dekan körperlich unterlegene Thomas R. den Kürzeren zog und daraufhin den Priester wegen Körperverletzung anzeigte. Er selbst hingegen kassierte eine Anzeige wegen Störung der Religionsausübung. (Wie der Fall damals juristisch "ausgegangen" ist, weiß ich nicht; vielleicht kann einer meiner Leser hier für Aufklärung sorgen.)

Mein Gesprächspartner wollte nun von mir wissen, wie ich "als Katholik" den Fall beurteile, und auch die anderen Teilnehmer der Dominorunde waren gespannt auf meine Antwort. Ich setzte ihnen also auseinander, dass eine konsekrierte Hostie nach katholischer Auffassung substantiell nicht (mehr) einfach ein Stück pappigen Gebäcks, sondern wahrhaftiger Leib Christi ist und dass ein Umgang mit einer Hostie, wie Herr R. ihn praktiziert hat, daher ein schwerwiegendes Sakrileg darstellt, und argumentierte, die Anzeige wegen Störung der Religionsausübung sei somit sachlich voll und ganz gerechtfertigt. (Dass der tätliche Angriff des Dekans auf Herrn R. unter diesen Umständen gewissermaßen als Notwehr zu betrachten sei, hob ich nicht eigens hervor.)

Ich war ein bisschen erstaunt, dass meine Dominokumpels - durchweg Atheisten, überwiegend mit protestantischem, zum Teil aber auch mit islamischem Hintergrund - meine Erklärung widerspruchslos akzeptierten; einige äußerten sogar ausdrücklich Respekt gegenüber Gläubigen, die ihren Glauben "so ernst nehmen". - Nachdem ich nun solcherart auf den Fall aufmerksam gemacht worden war, recherchierte ich in den nächsten Tagen ein wenig im Internet - und stellte fest: Atheistische oder einfach "religionsferne" Kommentatoren ergriffen entschieden die Partei des Thomas R.; einige fundamentalistische Protestanten nahmen den Fall zum Anlass, gegen das in ihren Augen "heidnische" katholische Eucharistieverständnis zu polemisieren; auf katholischer Seite hingegen löste der Fall hauptsächlich Diskussionen über die Praxis der Handkommunion aus. Verschiedentlich wurde argumentiert, "mit Mundkommunion wäre das nicht passiert". Ganz überzeugend fand und finde ich das nicht - auch bei Mundkommunion wäre es ja nicht völlig auszuschließen, dass jemand die Hostie erst einmal auf der Zunge liegen lässt, um sie in einem unbeobachteten Moment etwa in ein Taschentuch zu spucken und sie dann, zu welchen Zwecken auch immer, nach Hause mitzunehmen -, aber dennoch blieb die Diskussion nicht ohne Eindruck auf mich.

Ich bin Mitte der 80er Jahre zur Erstkommunion gegangen; zumindest in meiner Heimatgemeinde war die Handkommunion damals eine Selbstverständlichkeit. Zwar zählten zu den regelmäßigsten Kirchgängern dieser Gemeinde einige betagte Damen, die ganz überwiegend aus Schlesien stammten und von denen man schon allein des Lebensalters wegen annehmen sollte, dass sie mit der Mundkommunion aufgewachsen waren - aber ich kann mich aus meiner Kindheit und Jugend nicht daran erinnern, dass mir jemals aufgefallen wäre, dass diese Seniorinnen auf andere Art kommunizierten, als ich es gelernt hatte. Dass die Liturgie der Katholischen Kirche eigentlich die Mundkommunion vorschreibt und die Handkommunion erst 1969 von Papst Paul VI. zugelassen wurde - und das nicht etwa als Regelfall, sondern nur in Form eines Indults, also gewissermaßen als Ausnahmegenehmigung -, wurde weder in der Erstkommunionvorbereitung noch im Firmunterricht oder gar im schulischen Religionsunterricht jemals zur Sprache gebracht; es war einfach kein Thema. Kommunikanten, die vor dem Altar knieten und die Hostie direkt auf die Zunge gelegt bekamen, kannte ich parktisch nur aus Filmen - Mafiafilmen zumeist, oder auch solchen, deren Handlung sich ganz oder teilweise in katholischen Internaten abspielte (wie z.B. Louis Malles Au revoir les enfants - den sahen wir sogar im Religionsunterricht!); jedenfalls schien das nichts zu sein, was der Gegenwart angehörte. Auch als ich nach Berlin zog, sah ich in den verschiedenen Kirchen, in denen ich dort die Messe besuchte, nur sehr vereinzelt mal jemanden die Mundkommunion praktizieren - und wenn, dann fast ausnahmslos im Stehen, obwohl einige Berliner Kirchen mit Kniebänken für den Kommunionempfang ausgestattet sind und in einigen anderen zum Niederkenieen einladende Polster auf den Altarstufen liegen.

Auf den Gedanken, die Praxis der Handkommunion in Frage zu stellen, kam ich somit tatsächlich erst durch die Diskussionen, die auf den "Wiesbadener Hostienfrevel" folgten. Ausschlaggebend war dabei für mich - wie schon angedeutet - nicht das Argument, dass die Mundkommunion größere "Sicherheit" vor missbräublichem Umgang mit der Hostie bietet; vielmehr machte diese Debatte mich darauf aufmerksam, dass der Unterschied zwischen Mund- und Handkommunion kein bloß konventioneller ist (nach dem Schema "Früher hat man's so gemacht, heute macht man's eben so"). Mir schien, den Leib Christi in die Hand zu nehmen (und dann folgerichtig selbst zum Mund zu führen), bedinge eine nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich signifikant andere Haltung gegenüber dem Sakrament als die rein empfangende Haltung der Mundkommunion. Seither bewegte mich der Gedanke, ob die Mundkommunion, möglichst knieend, nicht die bessere, richtigere, weil ehrfürchtigere und der Würde des Sakraments angemessenere Form des Kommunizierens sei. Das Problem war nur, ich hatte es nun mal "anders gelernt"; und solche Gewohnheiten sitzen tief, besonders wenn man allsonntäglich sieht, dass (fast) "alle anderen es genauso machen". Ich möchte mal unterstellen, dass es Vielen so geht, die ihre religiöse Sozialisation in "nachkonziliarer" Zeit erhalten haben und von Kindesbeinen an, nämlich seit der Erstkommunion, nichts anderes als die Handkommunion gewöhnt sind. Hat man keine Erfahrung mit der Mundkommunion, stellen sich gern auch noch ganz praktische Unsicherheiten ein: Wie weit muss ich den Mund öffnen? Muss ich die Zunge ein Stück vorstrecken? Sieht das nicht irgendwie blöd aus?

Ich blieb also vorerst bei der Handkommunion und tröstete mich damit, dass diese ja immerhin erlaubt sei. Aber "erlaubt" ist unter Umständen eben etwas Anderes als "erwünscht" oder "empfohlen". Interessant fand ich, was in dem Interview-Buch Gott und die Welt (Joseph Ratzinger im Gespräch mit Peter Seewald, München 2000) zu diesem Thema zu lesen ist. Zunächst äußert sich der damalige Kardinal Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., zur Frage des Knieens oder Stehens bei der Kommunion:
"Früher wurde Kommunion, was durchaus sinnvoll war, kniend empfangen. Heute geschieht es stehend. Aber dann soll auch dieses Stehen ein ehrfürchtiges Stehen vor dem Herrn sein.
Die Haltung des Kniens darf auf keinen Fall aus der Kirche verschwinden. Es ist die eindringlichste körperliche Darstellung der christlichen Frömmigkeit, durch die wir einerseits aufrecht bleiben, hinschauend, hinaufschauend auf ihn, und uns andererseits doch beugen."
Peter Seewald zitiert an dieser Stelle Papst Johannes XXIII. mit dem Ausspruch: "Nie ist der Mensch so groß, als wenn er kniet."
Von Seewald direkt auf die Frage "Hand- oder Mundkommunion?" angesprochen, erklärt der Kardinal:
"Da würde ich nicht kleinlich sein wollen. Das gab es ja auch in der alten Kirche. An sich ist eine ehrfürchtige Form der Handkommunion durchaus eine sinnvolle Weise des Kommunion-Empfangs." (S. 392)
Man merkt der Formulierung - mit ihrem "an sich" und "durchaus" - allerdings doch gewisse Vorbehalte gegenüber der Handkommunion an. Dieser Beobachtung entspricht es, dass Papst Benedikt XVI. bei der Abschlussmesse des Weltjugendtages 2008 in Sydney darum bat, dass alle, denen er selbst die Kommunion spende, diese kniend und in der Form der Mundkommunion empfangen sollten, und am 24. Dezember 2010 setzte Papst Benedikt XVI. den Indult für die Handkommunion für liturgische Feiern im Petersdom außer Kraft. Man sieht: Der Papst toleriert die Handkommunion zwar - sonst hätte er den oder das Indult Pauls VI. ja auch ganz aufheben können -, betrachtet die Mundkommunion aber als die zu bevorzugende Form. Was im Übrigen auch dem Wortlaut und der offenkundigen Intention des besagten Indults selbst entspricht.

Es ist noch nicht lange her, da besuchte ich - in der realistischen Einschätzung, dass ich es, auch bedingt durch meine nächtliche DJ-Tätigkeit, am nächsten Morgen nicht in die Sonntagsmesse schaffen würde - die Vorabendmesse in der St. Hedwigs-Kathedrale; bei der Kommunion kam kurz vor mir ein mit mir ungefähr gleichaltriger Mann an die Reihe, kniete sich, ohne dafür irgendwelche Bänke oder Polster zur Verfügung zu haben, auf die Altarstufen und empfing die Mundkommunion. So, sagte ich mir, jetzt hab' ich keine Ausrede mehr. Jetzt mach' ich das auch so. Ich kniete nieder und empfing die Hostie auf meine Zunge; das ging ganz einfach, und nicht nur das: Es war ein überraschend großartiges Erlebnis. Ich fühlte mich so erfüllt vom Leib Christi, den ich auf für mich so ungewohnte Weise empfing, wie nie zuvor. Damit stand für mich fest, dass dies für mich in Zukunft die einzig wahre Art des Kommunizierens sein und bleiben würde. In "meiner" Gemeinde (St.Antonius-St. Pius in Berlin-Friedrichshain) bin ich da zwar oft - jedoch nicht immer - der Einzige, aber die Besorgnis, durch diese Eigenwilligkeit unangemessenes Aufsehen zu erregen, habe ich recht schnell abgelegt. Ich kann die Mundkommunion nur Jedem Empfehlen. Auch wenn es erst einmal Überwindung kosten mag.

Ein paar Kleinigkeiten zu Pius XII.

Meine Mutter erzählte mir mal, sie habe früher Angst vor Papst Pius XII. gehabt. Man muss allerdings dazu sagen, dass sie, als Pius XII. am 9. Oktober 1958 nach fast 20jährigem Pontifikat starb, noch keine zehn Jahre alt war. Jahrzehnte später - ich war elf - besuchten meine Eltern, meine Geschister und ich den Petersdom, und da fiel mir eine Statue Pius' XII. ins Auge, die mich tief beeindruckte. Scharfe Gesichtszüge, eine große runde Brille unter einer riesenhaften Mitra; eine lange, schmale Hand, die an unerwarteter Stelle aus dem Umhang hervorschaut; eine Haltung, die Wachsamkeit und Distanz ausdrückt. Dass eine solche Gestalt manchem Betrachter angst machen mag, konnte (und kann) ich durchaus verstehen; aber auf mich wirkte sie nicht beängstigend, sondern zutiefst faszinierend. Ich wusste damals kaum etwas über den Papst, den dieses Standbild darstellte, aber ich vergaß diesen Anblick nie.

Inzwischen weiß ich natürlich erheblich mehr über Pius XII. - und glücklicherweise nicht nur das, was man von kirchenkritischer Seite so hört oder liest. Unmittelbar nach dem Tod dieses Papstes erschienen in der internationalen Presse - auch in als ausgesprochen kirchenkritisch bekannten Blättern - sehr respektvolle Nachrufe, die ihn als bedeutende und ehrwürdige Persönlichkeit zeichneten; aber wenige Jahre später, 1963, erschien Rolf Hochhuths Drama Der Stellvertreter, dem der erstaunliche Erfolg beschieden war, einen schriftstellerisch nur mäßig begabten ehemaligen Buchhändler zum shooting star der dramatischen Literatur zu machen und gleichzeitig das Andenken Pius' XII. nachhaltig zu beschädigen. Fortan war er in den Augen einer breiten Öffentlichkeit nur noch "der Papst, der den Holocaust nicht verhindert hat". Über dieses Thema ist viel geschrieben und gestritten worden, und es ist wohl nicht notwendig, die Debatte darüber, was Pius XII. während der NS-Zeit tatsächlich getan und nicht getan hat, was er hätte tun können, tun sollen oder tun müssen, hier im Detail nachzuzeichnen; festzuhalten bleibt, dass sich trotz aller Gegenbeweise, die zum Teil schon lange, zum Teil aber auch - bedingt durch die Freigabefristen für Dokumente aus den Vatikan-Archiven - erst seit relativ kurzer Zeit vorliegen, bei vielen Menschen hartnäckig die Meinung hält, Pius XII. habe sich den Nazis gegenüber entweder feige und opportunistisch verhalten oder aber sogar mit ihnen sympathisiert.

Dass er es unterlassen habe, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die europäischen Juden vor der Verfolgung und Ermordung durch die Nazis zu schützen, ist allerdings nicht das Einzige, was man Papst Pius XII. zu Unrecht vorwirft. In Hinblick auf innerkirchliche Fragen wird er vielfach als erzreaktionärer Hardliner dargestellt, der die Kirche in eine ideologische Erstarrung geführt habe, die erst von seinem bis heute enorm populären Nachfolger Johannes XXIII. aufgebrochen worden sei. Gerade anlässlich des aktuellen Jubiläums des II. Vatikanischen Konzils wird dieses Bild in den Medien gern wieder aufgewärmt, anstatt dass mal jemand darauf hinweisen würde, dass Pius XII. bedeutende Vorarbeiten für dieses Konzil geleistet hat.

Für Bewunderer und Verehrer Pius' XII. ist es natürlich schmerzlich - oder, weil man das alles irgendwann ja zur Genüge kennt, vielleicht auch einfach nur ermüdend - zu sehen, wie viel "schlechte Presse" er bis heute bekommt (was aber ja, beispielsweise, bei Benedikt XVI. auch nur graduell anders ist); umso schöner ist es dann aber, an Orten auf positive Würdigungen dieses großen Papstes zu stoßen, wo man es am wenigsten erwarten würde. Ein paar solcher Erlebnisse möchte ich hier gern mit meinen Lesern teilen.

Vor einigen Jahren besuchte ich einmal einen ökumenisch ausgerichteten geselligen Abend "mit Programm" in einem von der katholischen Pfarrei Herz Jesu in Berlin-Prenzlauer Berg betriebenen Café; neben dem Pfarrer von Herz Jesu, Pater Gerold Jäger, wurde dort auch eine evangelische Diakonissin "interviewt" - ich hatte bis dahin gar nicht gewusst oder geahnt, dass es in den evangelischen Kirchen auch so etwas Ähnliches wie Ordensschwestern gibt. Die besagte Frau, Schwester Heidi, arbeitete damals an einem Projekt für "Kinder aus Problemfamilien" und machte einen außerordentlich sympathischen Eindruck; ich schätzte sie auf etwa 60 Jahre. Sie berichtete, wichtige Impulse für ihr Leben mit Gott habe sie dadurch erhalten, dass sie als Kind in einem katholischen Kinderheim in Freiburg gelebt habe. Einmal, so erzählte sie, habe sie es durchgesetzt, zusammen mit den katholischen Kindern aus ihrem Heim zu einer Maiandacht im Freiburger Münster gehen zu dürfen, die - man höre und staune - von Papst Pius XII. zelebriert wurde. Als die anwesenden Kinder vom Papst gesegnet werden sollten, wies die kleine Heidi schüchtern darauf hin, sie sei aber evangelisch; man beschied ihr jedoch, das "mache nichts". Die Begegnung mit dem Papst beeindruckte sie jedenfalls tief - so tief, dass sie hinterher ihre Betreuer aus dem Kinderheim fragte, ob das der liebe Gott gewesen sei...

Eine erstaunliche Erwähnung Pius' XII. entdeckte ich zudem in dem, wie ich glaube, unverdientermaßen ziemlich unbekannten Roman Pinocchios Nase von Jerome Charyn (deutsche Ausgabe Düsseldorf 1990). Der Autor stammt väterlicher- wie mütterlicherseits von in die USA emigrierten ukrainischen Juden ab, und dieses Herkunftsmilieu prägt in unterschiedlichem Maße auch alle Romane von ihm, die ich kenne; davon abgesehen kommt in seinen Büchern, auch in diesem, regelmäßig jede Menge Sex & Crime vor. Besondere Sympathien für die Katholische Kirche wird man von ihm nicht unbedingt erwarten. Die Handlung von Pinocchios Nase ist sehr komplex; ein zentraler Handlungsstrang dreht sich darum, dass der Ich-Erzähler, ein gescheiterter High-School-Lehrer und erfolgloser Romanautor, für seinen Cousin, den er von einer schweren Schreib- und Leseschwäche (Dyslexie) heilen soll, eine Version des Kinderklassikers Pinocchio erfindet, die im faschistischen Italien spielt. Im Verlauf der Handlung schlüpft der Ich-Erzähler dann selbst in die Rolle Pinocchios und erlebt aus dessen Perspektive die Endphase des II. Weltkriegs in Italien bis zur Ermordung Mussolinis mit. Im Zuge dessen schildert er einen alliierten Luftangriff auf den römischen Stadtteil San Lorenzo; unmittelbar daran schließt sich die folgende Passage an:
"Eine schwarze Limousine fuhr in die Trümmer, eine gelb-weiße Flagge am Stander. Ich wußte, zu welchem Emirat diese Flagge gehörte. Meine Kinder brauchten nicht in den Wagen zu starren.
'Ecco - il papa!'
Sie bedeckten ihre Brustwarzen mit den Händen, fanden es unanständig, unbekleidet vor dem schwarzen Mercedes zu stehen. Zwei Priester halfen einem Mann mit langer Nase aus dem Auto. Ich hätte schwören können, es war ein weiterer Pinocchio mit Goldrandbrille. Es war nur Pius.
Seine Heiligkeit segnete die Kinder für ihre Schufterei in den Ruinen; und daß ihnen die Hemden fehlten, störte ihn gar nicht. Er spazierte durch die Trümmer, Tränen unter dem Goldrand. Die beiden Priester verteilten Geld und kleine Essenspäckchen. Pius ging von Haufen zu Haufen und sprach jene los, die im Sterben lagen, seine weiße Soutane war mit Blut befleckt.
Ich mochte diesen anderen Pinocchio, Leute, auch wenn es il papa war, vor dem mich mein Babbo gewarnt hatte und den ich mißachten sollte. Pius war kein Fuzzi, der nur im Petersdom herumsaß. Er war der erste Soldat, der nach der Entwarnung in San Lorenzo eintraf." (S. 270f.)
Die Wirkung dieser Szene wird noch gesteigert dadurch, dass kurz nach dem Papst auch der König in San Lorenzo auftaucht, auch er begleitet von Untergebenen, die Spenden verteilen; aber im Gegensatz zu Pius wird Vittorio Emanuele von den Luftangriffsopfern beschimpft.

Im Kontext der Romanhandlung ist das nur eine Episode, hebt aber einen wenig gewürdigten Aspekt des Pontifikats Pius' XII. hervor: wie viel es für die Bevölkerung Roms bedeutete, dass der Papst trotz des Luftkriegs im Vatikan ausharrte, statt sich an einen sicheren Ort zurückzuziehen. Da wirkt es denn doch mehr als abwegig, ihm angesichts seines Verhaltens in der Zeit der faschistischen Diktatur und des II. Weltkriegs Feigheit und/oder Opportunismus zu unterstellen...

Sonntag, 14. Oktober 2012

Mittelalter, Mittelalter - hey, hey!

Wie kommt es, dass in diesem Blog noch nichts über den Marsch für das Leben zu lesen war? - Die Antwort lautet: weil ich dabei war. Ich weiß, es gibt Bloggerinnen und Blogger, die waren ebenfalls da und haben trotzdem darüber geschrieben, und zwar sogar sehr zeitnah und gut (siehe z.B. hier, hier und hier). Aber mich würde das überfordern. Ich finde es immer schwierig, an einem Ereignis teilzunehmen und es gleichzeitig zu beobachten. Eine Erfahrung, die seit dem Aufkommen der ersten Camcorder vielen Menschen vor allem im Zusammenhang mit ihrem Urlaub vertraut sein dürfte:  Da läuft man wochenlang mit der Kamera vorm Gesicht durch die Weltgeschichte, um sich dann zu Hause vo dem Fernseher in Ruhe anzusehen, wo man war und wie schön der Urlaub gewesen ist; und dann muss man feststellen, dass man in seinen eigenen Urlaubserinnerungen selbst gar nicht vorkommt.

Ich gebe zu, der Vergleich hinkt ein wenig, aber den wollte ich schon immer mal bringen; da zumindest kann ich jetzt einen Haken dran machen. Doch zurück zum Thema: Beim Marsch für das Leben war mir die Teilnahme am Ereignis selbst erheblich wichtiger als die Beobachtung des Ereignisses zu Dokumentationszwecken. (Womit ich, ich betone es nochmals, niemandem, der darüber berichtet hat, unterstellen will, er habe nicht richtig "teilgenommen"; es hat ja nicht jeder diese Kompatibilitätsprobleme...) Ganz gut beobachten konnte ich dabei allerdings das kleine Häuflein der Gegendemonstranten. Nach allem, was ich im Vorfeld so gehört und gelesen hatte, war ich überrascht und beinahe enttäuscht von der geringen Zahl der Protestler, aber die Dümmlichkeit und Plattheit ihrer Parolen übertraf meine Erwartungen noch. Interessant fand ich auch, dass, während die Teilnehmer am Marsch für das Leben hinsichtlich Alter, Herkunft und allgemeinem Erscheinungsbild eine sehr bunt gemischte Truppe bildeten, die Gegendemonstranten ein sehr viel homogeneres Bild abgaben: Mit ganz wenigen Ausnahmen waren sie schätzungsweise zwischen Mitte 20 und Mitte 30, weiß (mir fällt gerade nicht ein, wie das auf politically correct heißt) und trugen teils mehr, teils weniger deutlich Punk-inspirierte Kleidung und Frisuren.

Während der Kundgebung am Bundeskanzleramt konnte ich die Gegendemonstranten von meinem Standort aus allerdings noch gar nicht sehen, sondern nur (undeutlich) hören, und das blieb auch auf den ersten Metern des eigentlichen Marsches so. Der erste Demo-Gegner, den ich tatsächlich zu Gesicht bekam, wirkte auf den ersten Blick wie ein zufälliger Passant, rief dem Demonstrationszug dann jedoch zu: "Mittelalter, Mittelalter - hey, hey!" Einige junge Frauen auf der anderen Straßenseite stimmten in diesen Ruf ein; im weiteren Verlauf des Marsches sollte man ihn noch oft zu hören bekommen.

Bei mir warf dieser Schlachtruf mehrere Fragen auf. Zunächst einmal die, was genau die Gegendemonstranten denn so "mittelalterlich" am Marsch für das Leben fanden. Ist es mittelalterlich, sich für das Lebensrecht aller Menschen einzusetzen, auch solcher mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten und auch solcher, die von ihren Eltern nicht gewollt werden? Oder nahmen die Protestler am religiösen Hintergrund des Schweigemarsches Anstoß, an den weißen Holzkreuzen, die das Erscheinungsbild des Zuges prägten? Ist es "Mittelalter", wenn Christen sich in einer öffentlichen Demonstration zu ihrem Glauben bekennen? Müsste man demnach ähnliche Protestrufe auch beispielsweise bei einer Fronleichnamsprozession erwarten? - So oder so, die womöglich noch interessantere Frage, die sich mir aufdrängte, lautet: Wieso glauben die Gegendemonstranten, dass "Mittelalter" ein Schimpfwort oder eine Beleidigung wäre? Eine Diskussion mit den den Krakeelern über ihr Mittelalterbild wäre theoretisch vielleicht reizvoll gewesen, aber praktisch gab es kaum die Möglichkeit dazu.

Aufschlussreich ist in diesem Kontext der Text eines Sprechchors, der den Marsch für das Leben an einer anderen Straßenecke empfing:


"Hexenverbrennung, Inquisition - das ist christliche Tradition!"

Es liegt nahe, hier einen Zusammenhang mit den "Mittelalter, Mittelalter!"-Rufen zu vermuten, auch wenn man aus historischer Sicht Einwände erheben könnte: Die große Welle der Hexenverfolgungen in Mitteleuropa fand nicht im Mittelalter, sondern in der Neuzeit statt, und dasselbe gilt im Wesentlichen auch für das Wirken der Heiligen Inquisition. Man darf aber wohl davon ausgehen, dass die Gegendemonstranten das so genau nicht nehmen; die sind vermutlich, ohne sich dessen recht bewusst zu sein, Anhänger der These vom Langen Mittelalter, die argumentiert, mentalitätsgeschichtlich habe das Mittelalter bis weit in die Neuzeit fortgewirkt, so etwa bis zur Französischen Revolution. - Übrigens dürfte es durchaus einen tieferen Sinn gehabt haben, dass die Leute, die am Straßenrand lautstark ein "Recht auf Abtreibung" propagierten, es für gut fanden, die Teilnehmer des Marsches für das Leben an die Hexenverfolgungen zu erinnern. Mir fällt dazu der 1989er Abtreibungsprozess im oberpfälzischen Memmingen ein, der seinerzeit großes Aufsehen erregte: In den Medien wurde dieser Prozess vielfach als "moderne Hexenjagd" gescholten, der SPIEGEL steuerte ein eindrucksvolles Titelbild bei. Vermutlich hat die gern gezogene Parallele zwischen strafrechtlicher Verfolgung von Abtreibung einerseits und Hexenverfolgung andererseits sogar einen Anknüpfungspunkt in der historischen Realität: Es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass unter den Frauen, die in der frühen Neuzeit der Hexerei bezichtigt und deshalb hingerichtet wurden, auch solche waren, die Abtreibungen vornahmen.


Aber diesen Punkt will ich jetzt und hier nicht vertiefen. Auch unabhängig vom Abtreibungsthema sind Inquisition und Hexenverfolgung - neben den Kreuzzügen, die indes tatsächlich im Mittelalter stattfanden - unverkennbar die Klassiker eines antiklerikal verzerrten Mittelalterbildes, das sich, unterstützt durch einschlägige Historienromane, -filme und populärwissenschaftliche TV-Magazine à la Terra X, einer erstaunlichen Verbreitung und Beliebtheit erfreut. Seine ganze Brisanz entfaltet dieses Mittelalterbild freilich erst dann, wenn man der Katholischen Kirche im selben Atemzug unterstellt, mentalitätsmäßig noch heute mit beiden Beinen fest in diesem imaginären Mittelalter verwurzelt zu sein. Exemplarisch zu beobachten war das jüngst anlässlich der Klage des Heiligen Stuhls gegen das geschmacklose Papst-Cover der Titanic: Im Vorfeld der angesetzten Verhandlung vor dem Hamburger Landgericht - die dann gar nicht stattfand, weil die Klage quasi im letzten Moment zurückgezogen wurde - kündigte die von Titanic-Redakteuren gegründete Spaßpartei Die PARTEI an, einen Mittelaltermarkt veranstalten zu wollen, der, wie es hieß "die Lebenswelt des Papstes" illustrieren sollte: "Neben Auftritten von Jongleuren und Feuerspuckern soll den Besuchern auch die Möglichkeit geboten werden, symbolisch eine Hexe zu verbrennen oder sich an den Pranger zu stellen." Was haben wir gelacht.

Dass ein derartiges Veranstaltungsangebot mit der "Lebenswelt des Papstes" tatsächlich nicht das Geringste zu tun hat, dürfte eigentlich jedem klar sein, vermutlich sogar den Veranstaltern selbst. Eine tolle Marketing-Maßnahme für Titanic und PARTEI wäre so ein Mittelaltermarkt, wenn er denn stattgefunden hätte, aber wohl trotzdem gewesen, schließlich erfreuen sich Mittelaltermärkte seit Jahren einer enormen Beliebtheit. Was nun wieder ein sonderbar ambivalentes Licht auf das populäre, scheinbar so negativ besetzte Mittelalterbild wirft. Wenn das Mittelalter so "finster" war, warum wollen die Leute dann ihre Freizeit darin verbringen? Gut, für viele Besucher von Mittelaltermärkten ist dieses befristete Eintauchen in eine (wenn auch imaginäre) Vergangenheit wohl lediglich ein skurriler kleiner Spaß, ein bisschen Urlaub vom Alltag, und hinterher ist man dann vielleicht doch ganz froh, wieder in die Gegenwart zurückkehren zu können. Es gibt aber auch Leute, die das Ganze wesentlich ernster bzw. wichtiger nehmen. Unter den Besuchern eines durchschnittlichen Mittelaltermarktes mögen die in der Minderheit sein, aber ohne sie, wage ich zu behaupten, gäbe es dieses Veranstaltungsformat gar nicht, zumindest nicht in diesem Ausmaß. Ich war vor einigen Jahren ausgesprochen verblüfft, festzustellen, dass es in Deutschland (und, so steht zu berfürchten, auch anderswo) eine vielleicht kleine, aber dafür umso aktivere Subkultur von Hobbyrittern und -burgfräuleins gibt, die viel Zeit, Geld und Mühe aufwenden, um sich aus wie auch immer zweifelhaften Quellen über mittelalterliche Kleidung, Musik, Speisen und Getränke und überhaupt mittelalterlichen "Lifestyle" kundig zu machen und dann noch mehr Zeit, Geld und Mühe darauf verwenden, sich solche Gewänder zu schneidern oder schneidern zu lassen, auf nach mittelalterlichem Vorbild gebauten Musikinstrumenten mittelalterliche Melodien zu klimpern, mittelalterliche Mähler zu verspeisen, in Live-Rollenspielen imaginären Drachen oder aber einander aufs Haupt zu hauen und in geschwollenem Deutsch zu radebrechen, das sie womöglich für Mittelhochdeutsch halten, das aber tatsächlich eine krude Mischung aus Lutherbibel-Deutsch, Hochbarock und witzig sein sollenden Neologismen darstellt. Sie können stundenlang über den Saum eines Gewandes streiten und bilden sich ein, sie hätten etwas vom Mittelalter verstanden, wenn sie herausgefunden haben, wie die Saiten einer walisischen Crwth gestimmt waren (oder wie man das Wort Crwth ausspricht).


Die Verbissenheit, mit der diese "Fundis" unter den Mittelalterfreaks um vermeintliche Authentizität ringen, steht natürlich in krassem Widerspruch zum prinzipiell fiktionalen Charakter des Mittelalterbildes, das auf solchen Märkten, in solchen Romanen, Filmen und Rollenspielen transportiert wird. Und es wirkt schon einigermaßen tragikomisch, wenn Menschen, die im 20. oder genau genommen ja sogar schon im 21. Jahrhundert leben, nicht einsehen, dass es das glatte Gegenteil von Authentizität ist, in seiner Freizeit so zu tun, als lebe man in einem anderen Zeitalter.

An und für sich ist die Konstruktion fiktionaler Mittelalterbilder ja durchaus keine neue Erscheinung, und an und für sich ist das auch nicht unbedingt schlimm. Ja, man kann sogar behaupten, "das Mittelalter" als Ganzes sei eine Erfindung späterer Zeiten. Damit ziele ich nicht etwa auf die berühmt-berüchtigte These vom Erfundenen Mittelalter ab, derzufolge rund drei Jahrhunderte europäischer Geschichtsschreibung schlicht gefälscht seien und es beispielsweise Karl den Großen nie gegeben habe; die fällt für mich in eine Kategorie von Verschwörungstheorien, die ich zwar irgendwie hübsch finde, aber nicht ernst nehmen kann. (Ein Dozent für mittelelaterliche Germanistik, bei dem ich in meinem Studium mehrere Seminare genossen habe, erledigte die ganze Theorie einmal mit dem augenzwinkernden Satz "Und die ganzen Bauwerke aus der Zeit gibt es auch nicht wirklich.") Was ich meine, ist, dass es ein nachträgliches Konstrukt ist, die Zeitspanne zwischen Völkerwanderung und Renaissance als eine Epoche namens "Mittelalter" zu betrachten und dieser Epoche bestimmte Charakteristika zuzuschreiben.


Der Begriff "Mittelalter" ( medium aevum) stammt meines Wissens von Petrarca; als er diesen Begriff prägte, war er offenbar der Auffassung, die so bezeichnete Zeit sei vorbei - was damals, also im 14. Jh., auf Florenz und einige andere florierende Handelsstädte Oberitaliens zugetroffen haben mag, auf weite Teile des übrigen Europa aber wohl kaum. Jedenfalls betrachtete der Renaissance-Humanismus das "Mittelalter" als eine Zeit des wissenschaftlichen und kulturellen Niedergangs, eine Zeit, in der die Errungenschaften der Antike verloren gegangen seien und die darum von Unwissenheit und Gewalt, kurz: von Barbarei geprägt gewesen sei; und er selbst, der Renaissance-Humanismus nämlich, habe mit seiner Wiederentdeckung des kulturellen Erbes der Antike dieses dunkle Zeitalter überwunden. Da sich nach der Renaissance auch Barock und Aufklärung, auf jeweils unterschiedliche Weise, auf das Erbe der Antike bezogen und beriefen, verfestigte sich dieses einseitig negative Mittelalterbild, und es ist nur konsequent, dass ein anderes, positiveres Mitelalterbild zuerst in aufklärungskritischen Bewegungen aufkam - erst im Sturm und Drang, massiver und nachhaltiger dann in der Romantik. Das stark idealisierte Mittelalterbild der Romantik wirkte sich das ganze 19. Jh. hindurch aus, und wenn man auch zugeben muss, dass es mindestens ebensosehr wie das Klischee vom "finsteren Mittelalter" ein ahistorisch verzerrtes Konstrukt ist, haben wir der romantischen Mittelalterbegeisterung doch so Manches zu verdanken: so zum Beispiel literarische Meisterwerke wie Novalis' Heinrich von Ofterdingen (1800/02) und Kleists Käthchen von Heilbronn (1807/08), einen Großteil der Wagnerschen Musikdramen und nicht zuletzt eine Vielzahl imposanter neoromanischer und neogotischer Bauwerke, vom 1880 vollendeten Kölner Dom bis hin zu Schloss Neuschwanstein. War das romantische Mittelalterbild ein Missverständnis, dann war es immerhin ein produktives: Die Schöpfer der genannten und anderer Werke verwandelten sich das an, was ihnen am Mittelalter, so wie sie es sahen, entsprach, sie nutzten das Phantasiegebilde "Mittelalter" als Projektionsfläche für ihre eigenen Vorstellungen einer anderen, vielleicht besseren Welt und waren sich möglicherweise sogar sehr bewusst, dass das mehr mit ihrer eigenen Vorstellungswelt als mit einer irgendwann einmal real gewesenen Vergangenheit zu tun hatte.


Ob das, wenn auch auf einem erheblich anderen ästhetischen Niveau, auch auf die heutigen Mittelalterfreaks zutrifft, darüber ließe sich streiten. Entscheidender finde ich aber allemal die Frage, wo sich das populäre Mittelalterbild unserer Gegenwart zwischen aufklärerischer Verdammung des "rückständigen" Mittelalters und romantischer Verklärung einsortiert. Aber ist es überhaupt richtig, von dem, also nur einem, "populären Mittelalterbild unserer Gegenwart" zu sprechen? Gibt es da nicht mehrere verschiedene? Sollte man nicht annehmen, dass die punkig gewandeten Abtreibungsbefürworter am Straßenrand, die "Mittelalter, Mittelalter!" rufen, sobald sie ein Kreuz sehen, ein substantiell anderes Mittelalterbold haben als jene Zeitgenossen, die Mittelalter-Rollenspielen frönen und sich dabei um die Authentizität ihres Kostüms sorgen? - Könnte man meinen, aber ich glaub's eigentlich nicht. Ich glaube, es sind zum Teil sogar dieselben Leute.


Klar ist: Wer die Kirche als "mittelalterlich" kritisiert, will sie damit als rückständig, unaufgeklärt, ja anti-aufklärerisch kennzeichnen und stellt sich damit in die Tradition des Mittelalterbildes der Aufklärung. Wollte man nun annehmen, die passionierten Hobbyritter und -burgfräuleins seien demgegenüber die Erben der Romantik, dann wäre ja zu vermuten, dass sie auch das, was die Erben der Aufklärung an der Kirche so "mittelalterlich" finden, zu schätzen wissen und scharenweise in die tridentinische Messe laufen. Das wäre mir aber neu.

Aber ganz im Ernst: Die Vorliebe der Romantiker für das Mittelalter war zu einem nicht unwesentlichen Teil dadurch motiviert, dass das Mittelalter - im Unterschied zur Antike - ein christliches Zeitalter war. So schrieb Novalis in Die Christenheit oder Europa (1799):
"Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs."
Das sieht die heutige Mittelalter-Szene aber ganz anders. Christliches Zeitalter? Ja, woher denn? Bei den einfachen Leuten ist das Christentum doch gar nicht angekommen, war ja alles in Latein, das verstand doch keiner; und außerdem waren die Pfaffen viel zu beschäftigt damit, Landbesitz anzuhäufen, Jungfrauen zu schänden und Ketzer zu verbrennen. Das jedenfalls ist der Eindruck, den man gewinnt, wenn man einen beliebigen Mittelalter-Taschenbuchroman zur Hand nimmt oder dessen wahlweise vom ZDF oder von Sat1 produzierte TV-Verfilmung (mit ehemaligen GZSZ-Sternchen in den Hauptrollen und Uwe Ochsenknecht als Bösewicht) ansieht. Das dort dargestellte Mittelalter ist ganz entschieden nicht das Goldenen Zeitalter der Christenheit, von dem die Romantik träumte, sondern punktgenau das finstere, barbarische Mittelalter der Aufklärung, und wenn davon eine solche Faszination ausgeht, dass nicht nur diese Bücher und Filme, sondern eben auch Mittelaltermärkte und Mittelalter-Rollenspiele immer populärer werden, lässt sich das wohl nur mit Freuds Begriff des Unbehagens in der Kultur erklären: mit der tief verwurzelten, wenn auch letztlich uneingestandenen Sehnsucht des aufgeklärten Menschen nach vor-aufgeklärten Zuständen. - Wo in solchen Storys mal ein positiv gezeichneter Geistlicher vorkommt, da muss es schon ein unkonventioneller Außenseiter sein, der - als eine Art mittelalterlicher Vorläufer heutiger "Pfarrerinitiativen" - permanent mit seinen Vorgesetzten im Clinch liegt, dem in aller Regel ausgesprochen sündhaften Treiben der Protagonisten mit Nachsicht begegnet und auch schon mal an seinem Glauben zweifelt.

Im Einklang mit dieser antiklerikalen Tendenz trivialer Historienromane - die, wie mir scheint, auf den Kulturkampf des späten 19. Jhs. zurückgeht (vgl. Günther Hirschmann, Kulturkampf im historischen Roman der Gründerzeit 1859-1878, München 1978) - sind auch Mittelalter-Rollenspielgruppen usw. in der Regel weniger christlich als neuheidnisch orientiert. Sie selbst würden die Bezeichnung "neuheidnisch" aber vermutlich zurückweisen, da der Begriff ja impliziert, dass das behauptete Anknüpfen an heidnische Traditionen des Mittelalters im Wesentlichen fiktiv ist. Aber wie sollte es anders sein? Schließlich weiß man über die vorchristlichen Religionen West- und Mitteleuropas so gut wie nichts Verlässliches - über die keltische schon sehr wenig, über die germanische noch viel weniger. Was an schriftlichen Quellen aus mittelalterlicher Zeit vorliegt, sei es die Edda, das Mabinogion oder der Táin Bo Cuailgne, stammt praktisch durchweg von christianisierten und zudem vermutlich klassisch gebildeten Autoren, sodass sich nur schwer unterscheiden lässt, was da authentische Überlieferung aus dem germanischen oder keltischen Heidentum, was aus christlicher Überformung und was aus Anleihen bei der klassischen griechisch-römischen Mythologie entstanden ist (die vermeintlich germanischen Nornen etwa sind ziemlich unverkennbar den griechischen Moiren bzw. den römischen Parzen nachempfunden). - Die Mittelalterfreaks kümmert das alles nicht, ihrer vorgeblichen Leidenschaft für Authentizität zum Trotz; sie rühren sich aus germanischen und keltischen Versatzstücken, allgemeinen Klischeevorstellungen über Naturreligionen und eigenen Erfindungen eine Privatmythologie zusammen, die von Fall zu Fall eine unappetitliche Nähe zur Nazi-Esoterik aufweist.

An dieser Stelle muss noch einmal auf die Hexen zurückgekommen werden, die sich, wen wundert's, im populären Mittelalterbild unserer Zeit einer enormen Beliebtheit erfreuen - exemplarisch sei auf die (in der TV-Verfilmung von Natalia Wörner verkörperte) Figur Ellen aus Ken Follets Bestseller Die Säulen der Erde verwiesen. Das populäre, durch zahllose Romane, Filme und auch durch vermeintliche Dokumentationen geisternde Klischee zum Thema Hexenverfolgung sieht in etwa so aus: Bei den so genannten Hexen des europäischen Mittelalters handelte es sich um "weise Frauen", die über ein seit vorchristlicher Zeit mündlich tradiertes Geheimwissen – z.B. über Naturheilkunde – verfügten; die große Hexenverfolgungswelle des Spätmittelalters (bzw. eigentlich der frühen Neuzeit) wurde von der Kirche zu dem Zweck organisiert, diese "heidnische" Überlieferung auszulöschen, die Konkurrenz für die kirchlichen Institutionen, die von den "weisen Frauen" ausging, zu eliminieren und zugleich insgesamt den Einfluss von Frauen in der Gesellschaft zurückzudrängen. Unter den zahlreichen Menschen, die dieser Auffassung anhängen, dürfte den Wenigsten bewusst sein, dass sie praktisch eins zu eins von den Nazis (insbesondere von Heinrich Himmler, der in den mittelalterlichen Hexen Vertreterinnen einer "altgermanischen Urreligion" sah bzw. sehen wollte) übernommen wurde, in neuerer Zeit lediglich ergänzt um einen ausgeprägt feministischen Zug.

Wenn Angehörige dieser verschrobenen Mittelalter-Szene heiraten wollen, dann könnte man denken, sie gehen in den Wald und lassen sich dort von einem Druiden trauen. Ich nehme an, einige tun das auch tatsächlich. Es gibt aber auch andere Fälle. Anno 2003 war ich mal zu einer Mittelalterhochzeit eingeladen; das Brautpaar hatte sich im Internet kennengelernt, und zwar nicht über eins der handelsüblichen Dating-Portale, sondern, man ahnt es schon fast, durch ein Online-Rollenspiel. Diese beiden heirateten nun aber tatsächlich kirchlich, sogar katholisch (aber nicht etwa, was vielleicht ein hübsches Detail gewesen wäre, nach mittelalterlichem Ritus); sie trugen dabei aber Ritter- und Burgfräuleingewänder, auch die Gäste waren angehalten, entsprechend kostümiert zu erscheinen, und die anschließende Feier fand auf einer echten Burg statt. Meine Einladung zu diesem illustren Ereignis verdankte ich meiner damaligen Freundin, die die Braut von der Schule her kannte. Ich kam dann aber nicht mit. Die Fahrt - nach Eltville am Rhein - war mir zu teuer, ich hätte dort kaum jemanden gekannt, und mangels Übernachtungsmöglichkeit hätte ich noch in derselben Nacht wieder zurück fahren müssen. Das war es mir dann doch nicht wert, obwohl ich - als unverbesserlicher Liebhaber alles Bizarren, selbst da, wo es schon weh tut - eigentlich ganz gern dabei gewesen wäre. Diese Veranstaltung hätte sicherlich reiches Anschauungsmaterial für ganze Bände voll essayistischer oder auch belletristischer Betrachtungen über eine bei aller Bescheuertheit doch malerische Spielart psychischer Deformation geliefert. Auf dieses Anschauungsmaterial musste ich nun also verzichten, beschloss aber, darüber schreiben könne ich ja vielleicht trotzdem. Herausgekommen sind dabei einige Gedichte, die ich nun erstmals der Öffentlichkeit präsentiere...:


Mittelalterhochzeit, Nr. 1

Zu Eltville am deutschen Rheine
Da steht eine Burg so alt
Da brät man gestopfte Schweine
Und singet, dass alles schallt
Von tapferer Helden Taten
Und Jungfern von hohem Sinn
Und während die Schweine braten
Fließt träge der Rhein dahin.

Ohne eitel klingen zu wollen, muss ich sagen, das gefällt mir heute noch ganz gut. Nr. 2 ist hingegen Fragment geblieben:

Mittelalterhochzeit, Nr. 2

Bis hier hat mich die Bahn gebracht
Ich muss ein gutes Stück noch laufen
Ich muss zurück noch in der Nacht
Doch vorher will ich kräftig saufen.
Was mir an diesem Orte blüht
Weiß ich nicht nüchtern zu ertragen
Doch hab ich mich hierher bemüht
So hab ich auch kein Recht zu klagen.
Ich hab's ja selber so gewollt!
Nur weil ich das Bizarre liebe
Hab ich mich nun hierher getrollt - 
Ins Reich der tumben Tagediebe.
Gebt mir ein Stierhorn voll mit Met
Und lasst mich weidlich schmausen --

Tja, an der Stelle wusste ich erst mal nicht weiter und habe das Gedicht dann liegen gelassen. Vielleicht schreibe ich es irgendwann noch fertig. Zwei weitere Verse würden vermutlich genügen, und ich denke mal, der letzte wird auf "Grausen" enden.

Mittelalterhochzeit, Nr. 3

Blaugewirkte
Strümpfe waten
Durch einen Teppich aus
Mist.

Hätte ich damals schon gewusst, was ein Haiku ist, wäre das hier womöglich eins geworden. So stimmt die Silbenzahl nicht ganz, aber ich hatte keine Lust, es noch einmal umzuarbeiten. Einen gewissen Haiku-Touch hat das Gedicht ja auch so, und das reicht mir. Ursprünglich war das mal als ein einzelner Vers gedacht, es sollten weitere folgen, aber als ich den Satz niedergeschrieben hatte, fand ich: Da gibt es eigentlich gar nichts mehr hinzuzufügen.

Abschließend: Nummer 4!

Mittelalterhochzeit, Nr. 4

Kennst du das Land, wo die Idioten blüh'n?
Wo lächerlich Gewandete in hellen Scharen zieh'n?
Wo Leiern traulich klimpern
Und Stierhörner schäumen voll Met?
Wo knöcherne Würfel und hölzerne Schwerter
Erschallen von früh bis spät?
Am Rhein, am Rhein, am deutschen Rhein
Da schlachten die Heiden ein Schwein.

Kennst du das Land, wo man das Gestern liebt?
Wo es noch tapf're Ritter und holde Jungfern gibt?
Wo linnene Gewänder
Und härene Wämser man webt?
Wo man nach alter Vorväter Sitte
Heute noch lebt und strebt?
Am Rhein, am Rhein, am deutschen Rhein
Da könnte ich heute auch sein.

Kennst du das Land, wo der Verstand versagt?
Wo mit dem grauen Heute man sich nicht gerne plagt?
Wo man noch kämpft mit Drachen
Und betet zum Donnerer Thor?
Oder kommt dir das alles
Ein wenig behämmert vor?
Am Rhein, am Rhein, am deutschen Rhein --
Ich bleibe doch lieber daheim.


Ganz beachtliche Ausbeute, wenn man bedenkt, dass ich das Ereignis selbst gar nicht miterlebt habe. So gesehen fast schade, dass ich mir diese Expedition ins Pseudo-Mittelalter nicht doch zugemutet habe, wer weiß, was dabei noch so alles herausgekommen wäre. Oder vielleicht - bedenkt man die oben angesprochenen Probleme, die ich damit habe, an einem Ereignis teilzunehmen und darüber zu berichten - auch gerade nicht...

Samstag, 6. Oktober 2012

Saufen macht gleichgültig? - Mir doch egal!

Machen wir uns nichts vor: Alkoholmissbrauch ist ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem. Nicht zuletzt auch der Alkoholmissbrauch Jugendlicher. Um das festzustellen, muss man sich nicht der Faszination des Grauens reißerischer Reportagen zum Thema "Komasaufen" in Presse und Fernsehen hingeben; es genügt schon, freitags- oder samstagsabends wachen Auges durch die Straßen zu gehen. Man geht wohl kaum fehl, wenn man annimmt, dass der exzessive Konsum von Alkohol weitaus größeren Schaden anrichtet als der Konsum illegaler Rauschmittel. Was aber soll man dagegen tun? Mit einem generellen Alkoholverbot haben die USA in den 1920er Jahren schlechte Erfahrungen gemacht - sie haben damit praktisch nichts anderes erreicht, als die Organisierte Kriminalität großzufüttern -, außerdem wäre das der großen Mehrheit der Bevölkerung gegenüber, die durchaus maßvoll mit Alkohol umzugehen vermag, ungerecht. Einschränkungen des Verkaufs alkoholischer Getränke lassen sich nur allzu leicht umgehen. Daher hat sich die Auffassung, dass Aufklärung über die Gefahren des Alkohols das Mittel der Wahl sei, weitgehend durchgesetzt.

So richtet sich die Plakatkampagne "Alkohol? - Kenn Dein Limit!" der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und des Verbands der privaten Krankenversicherung e.V. direkt an die Jugendlichen, indem sie vor den negativen Auswirkungen exzessiven Alkoholkonsums warnt. Dabei suggeriert der Slogan "Kenn Dein Limit!" offenkundig: Trinkt ruhig Alkohol, aber seht zu, dass ihr's nicht übertreibt. Das ist schon mal ein bemerkenswertes Entgegenkommen, ja, gegenüber der offiziellen Gesetzeslage kann man sogar von einem "Ein-Auge-Zudrücken" sprechen. Mehr noch, der Slogan legt nahe, jeder habe sein eigenes "Limit" und könne am besten selbst einschätzen, wieviel er verträgt. Mit anderen Worten, es wird an die Eigenverantwortung der Jugendlichen appelliert. Das müsste ihnen doch gefallen, oder?

Nun ja: Teenager sind, auch wenn man manchmal den Eindruck haben mag, nicht zwangsläufig blöd. Vor allem haben Teenager für kaum etwas einen so wachen Sinn wie dafür, zu bemerken, wenn sie jemand verarschen will. Und die Plakatkampagne "Kenn Dein Limit!" ist der plumpeste, dümmste, zynischste und verlogenste Fall von Teenagerverarsche, der mir seit Langem untergekommen ist.

"Fakt: Über 61% aller Jugendlichen finden Betrunkene in ihrer Clique nervig", ist auf einem Plakat der Serie zu lesen. Das wirft bei mir zunächst die Frage auf, seit wann "Clique" eigentlich ein positiv besetzter Begriff ist oder sein soll. Ich frage mich das oft. Wenn ich mich recht erinnere, bin ich auf den Begriff "Clique" - bezogen auf Gruppenbildungen unter Jugendlichen - erstmals in den 80er Jahren in der BRAVO gestoßen, kannte damals aber niemanden, dem es eingefallen wäre, seinen eigenen Freundeskreis so zu bezeichnen. Kein Wunder - schließlich ist, wohl nicht nur für mein Empfinden, der Begriff "Clique" grundsätzlich negativ konnotiert, vergleichbar dem Begriff "Seilschaft", wenn er im metaphorischen, also nicht-bergsteigerischen Sinne gebraucht wird. Man assoziiert unweigerlich Korruption und andere unredliche Machenschaften damit. Wenn Erwachsene diesen Begriff auf Freundeskreise von Jugendlichen anwenden, dann sagt das schon eine Menge aus.

Und dann: Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast! Woher stammt denn die Information, dass über 61% der Jugendlichen Betrunkene "nervig" finden? Aus einer Meinungsumfrage etwa? Stellen wir uns das mal praktisch vor: Ein Meinungsforschungsinstitut befragt Teenager, wie sie es finden, wenn ihre Freunde betrunken sind. Wer würde da schon sagen "Ich find's voll korrekt, wenn meine Homies sich die Birne zuballern"? - Nun, dem Ergebnis zufolge sagen immerhin fast 39% etwas in dieser Richtung. Beachtlich. Sehr beachtlich.

Denn was ist eigentlich das Perfide an dieser Werbebotschaft? - Ebendies, dass sie den Teenager bei seiner schwachen Seite zu packen sucht - seinem Hang zum Konformismus. Selbst der rebellischste Teenager wird nicht völlig frei von dieser verderblichen Neigung sein: Rebellisch ist er wohl gegenüber Lehrern, Eltern und anderen Autoritäten, nicht aber gegenüber der peer group, jenem sozialen Biotop, das von der BRAVO und anderen Verderbern der Jugend diffamierend "Clique" genannt wird. Da will man nicht anecken, da will man akzeptiert werden - und um das zu erreichen, unterwirft man sich "wie ein Hirsch dem Stärkeren" (Botho Strauß, Kalldewey, Farce).

Auf diesen Unterwerfungstrieb setzt nun die Kampagne von BZgA und Privater Krankenversicherung, um den Jugendlichen die Lust am Komasaufen zu verleiden: Der Teufel Alkohol soll mit dem Beelzebub des Gruppenzwangs ausgetrieben werden. Man sagt sich: Die meisten Teenager saufen doch nur, weil sie vor ihrer "Clique" als cool dastehen wollen. Kann man ihnen glaubhaft machen, dass die "Clique" das gar nicht cool findet, lassen sie es vielleicht sein. Dass diese Argumentation es sich mit der Frage nach den Ursachen des Alkoholkonsums Minderjähriger arg einfach macht, dürfte auf der Hand liegen; aber nicht nur das: Ich bin damals noch dazu erzogen worden, mein Verhalten gerade nicht davon abhängig zu machen, was Mitschüler oder andere Gleichaltrige davon halten. "Wenn alle in den Graben springen, springst du ja auch nicht hinterher", pflegte meine Mutter zu sagen. Das ist heute offenbar out. Im Gegenteil versucht man die Angst des Jugendlichen, man könne ihn "nervig" finden, dazu einzusetzen, sein Verhalten in die gewünschten Bahnen zu lenken. Wer sich solcherart daran gewöhnt, sich dem Diktat der Gruppe zu beugen, der wird wahrscheinlich später auch ein verlässlicher Arbeitnehmer, Wähler und Steuerzahler. Na herzlichen Dank.

Es ist allerdings kaum zu erwarten, dass diese Strategie der "Kenn Dein Limit!"-Kampagne aufgeht. Selbst wenn die angegebene Zahl von 61% stimmen sollte, ist das einfach noch zu wenig: Wer selbst einmal ein Teenager war, wird sich daran erinnern, dass man in dieser Lebensphase mindestens zwei Drittel der Gleichaltrigen sowieso doof findet und mit ihnen nichts zu tun haben will. Da ist es dann nur allzu leicht möglich, dass der Jugendliche, der mit diesem Plakat angesprochen werden soll, sich seine Freunde lieber unter den 39% sucht, die Besoffensein cool finden.

Es geht aber auch noch blöder. Ein anderes Plakat derselben Serie konfrontiert den geneigten Leser mit einem weiteren bemerkenswerten "Fakt: Rund ein Drittel aller angeeigten schweren und gefährlichen Körperverletzungen werden unter Alkoholeinfluss verübt." Ja, was heißt denn das, für diejenigen unter uns, die rechnen können? Das heißt doch nichts anderes, als dass rund zwei Drittel aller angezeigten schweren und gefährlichen Körperverletzungen nicht unter Alkoholeinfluss verübt werden! Noch deutlicher gesagt: Nüchterne Menschen begehen doppelt so viele Körperverletzungen als Betrunkene! Die Lehre daraus kann nur lauten: Von Leuten, die keinen Alkohol trinken, sollte man sich fern halten. Die sind gefährlich. Wahrscheinlich sind das dieselben Leute, die Betrunkene in ihrer Clique nervig finden. Und denen hauen sie dann aufs Maul.

Eine tendenziell gute Nachricht will ich meinen Lesern nicht vorenthalten: In jüngster Zeit liest man, das extreme Rauschtrinken bei Jugendlichen sei im Ganzen rückläufig. Die Studie der BZgA, die zu diesem Ergebnis kommt, betont allerdings gleichzeitig, die Zahlen seien immer noch beunruhigend hoch. Wie man dieses Problem in den Griff bekommen könnte, weiß ich leider auch nicht. Aber die Jugendlichen für dumm verkaufen zu wollen, ist sicherlich die denkbar schlechteste Lösung.

Ich bin ein Sünder - Holt mich hier raus!

Vor wenigen Tagen, am 1. Oktober 2012, verstarb der beliebte Schauspieler, TV-Moderator und Komiker Dirk Bach völlig unerwartet im Alter von nur 51 Jahren in Berlin. Kollegen und Weggefährten äußerten sich bestürzt und betroffen, und viele Menschen, denen Bach mit seiner Arbeit in Film und Fernsehen und auf der Bühne Freude bereitet hat, gaben ihrer Trauer über den Tod des Entertainers in den einschlägigen sozialen Netzwerken Ausdruck. In die allgemeine Trauer mischten sich allerdings auch einige Misstöne - etwa grobe Witzeleien über Bachs Korpulenz und seine Homosexualität oder abfällige Bemerkungen über seine Rolle als Moderator des unsäglichen RTL-"Dschungelcamps". Zu Recht wurde Kritik an solchen pietätlosen Äußerungen laut; dann aber erschien auf der Internetseite kreuz.net ein Nachruf auf Dirk Bach, der eine ganz neue Dimension von Pietätlosigkeit eröffnete.

"Jetzt brennt er in der ewigen Homo-Hölle", frohlockte die Überschrift; Dirk Bach wurde als "homosexueller Sittenverderber" geschmäht, den "seine Unzucht [...] so früh ins Grab gebracht" habe; es wurde behauptet, dass "Homo-Perverse [...] im Vergleich zur sexuell gesunden Bevölkerung eine um zwanzig Jahre geringere Lebenserwartung" hätten, und unterstellt, "[p]raktisch alle Homos" nähmen Drogen, und abschließend wurde orakelt, Bachs plötzlicher Tod sei womöglich durch die Wechselwirkung zwischen "Poppers" und blutdrucksenkenden Medikamenten verursacht worden.

Nun ist die Seite kreuz.net hinlänglich bekannt für ihr allgemein rüdes Vokabular sowie insbesondere für hemmungslose antisemitische, antiislamische und homosexuellenfeindliche Pöbeleien, sodass man womöglich besser gar kein weiteres Wort darüber verlieren sollte; allerdings haben die Macher der Seite sich mit diesem Artikel in puncto Menschenverachtung und Widerwärtigkeit geradezu selbst übertroffen, und man muss zudem davon ausgehen, dass sie damit so große Aufmerksamkeit über ihre übliche Leserschaft hinaus erregt haben wie nur selten, wenn überhaupt je - innerhalb weniger Stunden wurde der Artikel zahllose Male auf Facebook und Twitter verlinkt, in der Regel begleitet von berechtigtermaßen empörten Kommentaren.

Zu den ärgerlichen Aspekten der Aufmerksamkeit, die kreuz.net auf diesem Wege zuteil wurde, gehört es, dass die Seite ihre Inhalte in der Unterzeile ihres Logos als "katholische Nachrichten" bezeichnet. Zwar haben die deutsche und die österreichische Bischofskonferenz, Radio Vatikan und andere kirchliche Stellen sich wiederholt in aller Schärfe von kreuz.net distanziert und werden nicht müde zu betonen, dass die Seite nicht von der Römisch-Katholischen Kirche betrieben wird und dass ihre Positionen nicht die der Kirche sind; dennoch besteht die Gefahr, dass Leser, die es nicht besser wissen, die Bezeichnung "katholische Nachrichten" für bare Münze nehmen. Und auch solche Internetnutzer, die die genannten Distanzierungen sehr wohl zur Kenntnis nehmen, mögen argwöhnen, die Katholische Kirche stoße sich in erster Linie am vulgären Tonfall der kreuz.net-Beiträge, sei inhaltlich aber gar nicht so weit davon entfernt. Die Auffassung, sowohl die Verdammung von Homosexuellen als auch das Drohen mit dem ewigen Höllenfeuer seien "typisch katholisch", ist schließlich nicht eben wenig verbreitet. Da gilt es denn doch Manches geradezurücken.

Zunächst: Tatsache ist, dass die Sittenlehre der Katholischen Kirche praktizierte Homosexualität nicht billigt. Der 1992 veröffentlichte Katechismus der Katholischen Kirche zitiert unter § 2357 die Erklärung Persona humana (1975) der Kongregation für die Glaubenslehre, derzufolge "die homosexuellen Handlungen in sich nicht in Ordnung sind". Diese Haltung zur Homosexualität ist in unseren Breiten sicherlich nicht (mehr) sehr populär; aber der Glaube ist nun mal kein Wunschkonzert. Wäre ja noch schöner, wenn man sich aussuchen könnte, woran man glauben möchte und woran lieber nicht. Wer nun meint, die katholische Lehre sei "homophob" (eine grausige Wortprägung für mein Empfinden - aber das nur am Rande), hat allerdings nur die Hälfte verstanden. Ja, die kirchliche Lehre betrachtet homosexuelle Handlungen als sündhaft; sagen wir ganz deutlich: als genauso sündhaft wie zahlreiche andere Handlungen, die von vielen Menschen - auch heterosexuellen - tagtäglich begangen werden. Gemessen an den ethischen Maßstäben der Bergpredigt ist ohnehin jeder Mensch, auch der Beste, ein Sünder und der Vergebung bedürftig. Schon deshalb ist es rein sachlich nicht korrekt, aus der Ablehnung homosexueller Handlungen eine feindselige Haltung gegenüber homosexuellen Menschen abzuleiten. Und mehr noch - unter § 2358 stellt der Katechismus der Katholischen Kirche klar:
"Eine nicht geringe Anzahl von Männern und Frauen sind homosexuell veranlagt. Sie haben diese Veranlagung nicht selbst gewählt; für die meisten von ihnen stellt sie eine Prüfung dar. Ihnen ist mit Achtung, Mitleid und Takt zu begegnen. Man hüte sich, sie in irgend einer Weise ungerecht zurückzusetzen."
Dazu ist anzumerken, dass bekennenden Homosexuellen, die ihre Neigung absolut in Ordnung finden und für ihre gesellschaftliche Anerkennung eintreten, am Mitleid gläubiger Katholiken wenig gelegen sein dürfte. Anders werden das vermutlich jene sehen, die mit ihrer homosexuellen Veranlagung hadern. So oder so bleibt festzuhalten, dass die Beschimpfung und Verleumdung Homosexueller, wie kreuz.net sie betreibt, mit der katholischen Lehre keinesfalls vereinbar sind.

Der andere Aspekt, zu dem hier etwas zu sagen ist, ist der des ewigen Höllenfeuers. Zweifellos wäre es Vielen lieber, die Katholische Kirche würde den Glauben an die Hölle ganz fallen lassen; man begegnet auch nicht selten der Frage, wie dieser Glaube sich denn mit dem Bild eines liebenden Gottes vereinbaren lasse. Tatsächlich ist der Glaube daran, dass es eine Hölle gibt - die man sich nun allerdings nicht zwingend als einen unterirdischen Glutofen vorstellen muss, in dem die Sünder am Spieß gebraten und von geschwänzten Teufeln mit Mistgabeln gepiesackt werden -, aber eine geradezu zwingende Folge des Glaubens an den Freien Willen des Menschen: Hat der Mensch einen Freien Willen, dann muss es ihm auch möglich sein, sich bewusst gegen Gott, gegen die ewige Seligkeit und für die Verdammnis zu entscheiden. Der Auffassung der Katholischen Kirche zufolge blüht die Hölle jenen, die im Zustand schwerer Sünde sterben, "ohne diese bereut zu haben und ohne die barmherzige Liebe Gottes anzunehmen" (Katechismus, § 1033). Der genannte kreuz.net-Artikel geht davon aus, dass dies auf Dirk Bach zutrifft, und konstatiert daher, er brenne in der Hölle.

Dazu ist zu sagen: Es als eine Tatsache zu behaupten, dass ein bestimmter Verstorbener in der Hölle sei, ist eine unzulässige Anmaßung. Auch wenn jemand dem äußeren Anschein nach "in seiner Sünden Blüte hingerafft" wird, wie der Geist von Hamlets Vater es über sich selbst sagt, kann kein lebender Mensch wissen, ob Gott diesem Sünder nicht doch vergeben hat, und darum steht es auch niemandem zu, darüber zu urteilen. Angesichts der oben angesprochenen Sündhaftigkeit jedes Menschen stünde es einem Christen vielmehr an, zu hoffen und zu wünschen, dass Gottes Barmherzigkeit letztlich größer ist als die Sünde des Menschen. Einem Mitmenschen geradezu zu gönnen oder zu wünschen, er möge zur Hölle fahren, ist nun vollends verwerflich; ich bin versucht zu sagen, wer das tut, der verdient selbst die Hölle (was, siehe oben, noch nicht heißen muss, dass er tatsächlich hinein kommt).

Diese (für meine Verhältnisse) knappen Bemerkungen mögen ausreichen, um zu illustrieren, dass die anonymen Betreiber der Seite kreuz.net - wie sich nicht nur, aber besonders drastisch an ihrem Nachruf auf Dirk Bach zeigt - ein bizarres Zerrbild dessen zeichnen, was die Katholische Kirche tatsächlich lehrt. Was Dirk Bach betrifft, so wünsche ich ihm für sein Leben nach dem Tod alles Gute. Nicht nur deshalb, weil er - ich erwähnte es bereits - sein Leben der Aufgabe gewidmet hat, unzähligen Menschen Vergnügen zu bereiten, sondern auch und vor allem einfach deshalb, weil er ein Mensch war.