Wie kommt es, dass in diesem Blog noch nichts über den Marsch für das Leben zu lesen war? - Die Antwort lautet: weil ich dabei war. Ich weiß, es gibt Bloggerinnen und Blogger, die waren ebenfalls da und haben trotzdem darüber geschrieben, und zwar sogar sehr zeitnah und gut (siehe z.B. hier, hier und hier). Aber mich würde das überfordern. Ich finde es immer schwierig, an einem Ereignis teilzunehmen und es gleichzeitig zu beobachten. Eine Erfahrung, die seit dem Aufkommen der ersten Camcorder vielen Menschen vor allem im Zusammenhang mit ihrem Urlaub vertraut sein dürfte: Da läuft man wochenlang mit der Kamera vorm Gesicht durch die Weltgeschichte, um sich dann zu Hause vo dem Fernseher in Ruhe anzusehen, wo man war und wie schön der Urlaub gewesen ist; und dann muss man feststellen, dass man in seinen eigenen Urlaubserinnerungen selbst gar nicht vorkommt.
Ich gebe zu, der Vergleich hinkt ein wenig, aber den wollte ich schon immer mal bringen; da zumindest kann ich jetzt einen Haken dran machen. Doch zurück zum Thema: Beim Marsch für das Leben war mir die Teilnahme am Ereignis selbst erheblich wichtiger als die Beobachtung des Ereignisses zu Dokumentationszwecken. (Womit ich, ich betone es nochmals, niemandem, der darüber berichtet hat, unterstellen will, er habe nicht richtig "teilgenommen"; es hat ja nicht jeder diese Kompatibilitätsprobleme...) Ganz gut beobachten konnte ich dabei allerdings das kleine Häuflein der Gegendemonstranten. Nach allem, was ich im Vorfeld so gehört und gelesen hatte, war ich überrascht und beinahe enttäuscht von der geringen Zahl der Protestler, aber die Dümmlichkeit und Plattheit ihrer Parolen übertraf meine Erwartungen noch. Interessant fand ich auch, dass, während die Teilnehmer am Marsch für das Leben hinsichtlich Alter, Herkunft und allgemeinem Erscheinungsbild eine sehr bunt gemischte Truppe bildeten, die Gegendemonstranten ein sehr viel homogeneres Bild abgaben: Mit ganz wenigen Ausnahmen waren sie schätzungsweise zwischen Mitte 20 und Mitte 30, weiß (mir fällt gerade nicht ein, wie das auf politically correct heißt) und trugen teils mehr, teils weniger deutlich Punk-inspirierte Kleidung und Frisuren.
Während der Kundgebung am Bundeskanzleramt konnte ich die Gegendemonstranten von meinem Standort aus allerdings noch gar nicht sehen, sondern nur (undeutlich) hören, und das blieb auch auf den ersten Metern des eigentlichen Marsches so. Der erste Demo-Gegner, den ich tatsächlich zu Gesicht bekam, wirkte auf den ersten Blick wie ein zufälliger Passant, rief dem Demonstrationszug dann jedoch zu: "Mittelalter, Mittelalter - hey, hey!" Einige junge Frauen auf der anderen Straßenseite stimmten in diesen Ruf ein; im weiteren Verlauf des Marsches sollte man ihn noch oft zu hören bekommen.
Bei mir warf dieser Schlachtruf mehrere Fragen auf. Zunächst einmal die, was genau die Gegendemonstranten denn so "mittelalterlich" am Marsch für das Leben fanden. Ist es mittelalterlich, sich für das Lebensrecht aller Menschen einzusetzen, auch solcher mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten und auch solcher, die von ihren Eltern nicht gewollt werden? Oder nahmen die Protestler am religiösen Hintergrund des Schweigemarsches Anstoß, an den weißen Holzkreuzen, die das Erscheinungsbild des Zuges prägten? Ist es "Mittelalter", wenn Christen sich in einer öffentlichen Demonstration zu ihrem Glauben bekennen? Müsste man demnach ähnliche Protestrufe auch beispielsweise bei einer Fronleichnamsprozession erwarten? - So oder so, die womöglich noch interessantere Frage, die sich mir aufdrängte, lautet: Wieso glauben die Gegendemonstranten, dass "Mittelalter" ein Schimpfwort oder eine Beleidigung wäre? Eine Diskussion mit den den Krakeelern über ihr Mittelalterbild wäre theoretisch vielleicht reizvoll gewesen, aber praktisch gab es kaum die Möglichkeit dazu.
Aufschlussreich ist in diesem Kontext der Text eines Sprechchors, der den Marsch für das Leben an einer anderen Straßenecke empfing:
Es liegt nahe, hier einen Zusammenhang mit den "Mittelalter, Mittelalter!"-Rufen zu vermuten, auch wenn man aus historischer Sicht Einwände erheben könnte: Die große Welle der Hexenverfolgungen in Mitteleuropa fand nicht im Mittelalter, sondern in der Neuzeit statt, und dasselbe gilt im Wesentlichen auch für das Wirken der Heiligen Inquisition. Man darf aber wohl davon ausgehen, dass die Gegendemonstranten das so genau nicht nehmen; die sind vermutlich, ohne sich dessen recht bewusst zu sein, Anhänger der These vom Langen Mittelalter, die argumentiert, mentalitätsgeschichtlich habe das Mittelalter bis weit in die Neuzeit fortgewirkt, so etwa bis zur Französischen Revolution. - Übrigens dürfte es durchaus einen tieferen Sinn gehabt haben, dass die Leute, die am Straßenrand lautstark ein "Recht auf Abtreibung" propagierten, es für gut fanden, die Teilnehmer des Marsches für das Leben an die Hexenverfolgungen zu erinnern. Mir fällt dazu der 1989er Abtreibungsprozess im oberpfälzischen Memmingen ein, der seinerzeit großes Aufsehen erregte: In den Medien wurde dieser Prozess vielfach als "moderne Hexenjagd" gescholten, der SPIEGEL steuerte ein eindrucksvolles Titelbild bei. Vermutlich hat die gern gezogene Parallele zwischen strafrechtlicher Verfolgung von Abtreibung einerseits und Hexenverfolgung andererseits sogar einen Anknüpfungspunkt in der historischen Realität: Es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass unter den Frauen, die in der frühen Neuzeit der Hexerei bezichtigt und deshalb hingerichtet wurden, auch solche waren, die Abtreibungen vornahmen.
Aber diesen Punkt will ich jetzt und hier nicht vertiefen. Auch unabhängig vom Abtreibungsthema sind Inquisition und Hexenverfolgung - neben den Kreuzzügen, die indes tatsächlich im Mittelalter stattfanden - unverkennbar die Klassiker eines antiklerikal verzerrten Mittelalterbildes, das sich, unterstützt durch einschlägige Historienromane, -filme und populärwissenschaftliche TV-Magazine à la Terra X, einer erstaunlichen Verbreitung und Beliebtheit erfreut. Seine ganze Brisanz entfaltet dieses Mittelalterbild freilich erst dann, wenn man der Katholischen Kirche im selben Atemzug unterstellt, mentalitätsmäßig noch heute mit beiden Beinen fest in diesem imaginären Mittelalter verwurzelt zu sein. Exemplarisch zu beobachten war das jüngst anlässlich der Klage des Heiligen Stuhls gegen das geschmacklose Papst-Cover der Titanic: Im Vorfeld der angesetzten Verhandlung vor dem Hamburger Landgericht - die dann gar nicht stattfand, weil die Klage quasi im letzten Moment zurückgezogen wurde - kündigte die von Titanic-Redakteuren gegründete Spaßpartei Die PARTEI an, einen Mittelaltermarkt veranstalten zu wollen, der, wie es hieß "die Lebenswelt des Papstes" illustrieren sollte: "Neben Auftritten von Jongleuren und Feuerspuckern soll den Besuchern auch die Möglichkeit geboten werden, symbolisch eine Hexe zu verbrennen oder sich an den Pranger zu stellen." Was haben wir gelacht.
Dass ein derartiges Veranstaltungsangebot mit der "Lebenswelt des Papstes" tatsächlich nicht das Geringste zu tun hat, dürfte eigentlich jedem klar sein, vermutlich sogar den Veranstaltern selbst. Eine tolle Marketing-Maßnahme für Titanic und PARTEI wäre so ein Mittelaltermarkt, wenn er denn stattgefunden hätte, aber wohl trotzdem gewesen, schließlich erfreuen sich Mittelaltermärkte seit Jahren einer enormen Beliebtheit. Was nun wieder ein sonderbar ambivalentes Licht auf das populäre, scheinbar so negativ besetzte Mittelalterbild wirft. Wenn das Mittelalter so "finster" war, warum wollen die Leute dann ihre Freizeit darin verbringen? Gut, für viele Besucher von Mittelaltermärkten ist dieses befristete Eintauchen in eine (wenn auch imaginäre) Vergangenheit wohl lediglich ein skurriler kleiner Spaß, ein bisschen Urlaub vom Alltag, und hinterher ist man dann vielleicht doch ganz froh, wieder in die Gegenwart zurückkehren zu können. Es gibt aber auch Leute, die das Ganze wesentlich ernster bzw. wichtiger nehmen. Unter den Besuchern eines durchschnittlichen Mittelaltermarktes mögen die in der Minderheit sein, aber ohne sie, wage ich zu behaupten, gäbe es dieses Veranstaltungsformat gar nicht, zumindest nicht in diesem Ausmaß. Ich war vor einigen Jahren ausgesprochen verblüfft, festzustellen, dass es in Deutschland (und, so steht zu berfürchten, auch anderswo) eine vielleicht kleine, aber dafür umso aktivere Subkultur von Hobbyrittern und -burgfräuleins gibt, die viel Zeit, Geld und Mühe aufwenden, um sich aus wie auch immer zweifelhaften Quellen über mittelalterliche Kleidung, Musik, Speisen und Getränke und überhaupt mittelalterlichen "Lifestyle" kundig zu machen und dann noch mehr Zeit, Geld und Mühe darauf verwenden, sich solche Gewänder zu schneidern oder schneidern zu lassen, auf nach mittelalterlichem Vorbild gebauten Musikinstrumenten mittelalterliche Melodien zu klimpern, mittelalterliche Mähler zu verspeisen, in Live-Rollenspielen imaginären Drachen oder aber einander aufs Haupt zu hauen und in geschwollenem Deutsch zu radebrechen, das sie womöglich für Mittelhochdeutsch halten, das aber tatsächlich eine krude Mischung aus Lutherbibel-Deutsch, Hochbarock und witzig sein sollenden Neologismen darstellt. Sie können stundenlang über den Saum eines Gewandes streiten und bilden sich ein, sie hätten etwas vom Mittelalter verstanden, wenn sie herausgefunden haben, wie die Saiten einer walisischen Crwth gestimmt waren (oder wie man das Wort Crwth ausspricht).
Die Verbissenheit, mit der diese "Fundis" unter den Mittelalterfreaks um vermeintliche Authentizität ringen, steht natürlich in krassem Widerspruch zum prinzipiell fiktionalen Charakter des Mittelalterbildes, das auf solchen Märkten, in solchen Romanen, Filmen und Rollenspielen transportiert wird. Und es wirkt schon einigermaßen tragikomisch, wenn Menschen, die im 20. oder genau genommen ja sogar schon im 21. Jahrhundert leben, nicht einsehen, dass es das glatte Gegenteil von Authentizität ist, in seiner Freizeit so zu tun, als lebe man in einem anderen Zeitalter.
An und für sich ist die Konstruktion fiktionaler Mittelalterbilder ja durchaus keine neue Erscheinung, und an und für sich ist das auch nicht unbedingt schlimm. Ja, man kann sogar behaupten, "das Mittelalter" als Ganzes sei eine Erfindung späterer Zeiten. Damit ziele ich nicht etwa auf die berühmt-berüchtigte These vom Erfundenen Mittelalter ab, derzufolge rund drei Jahrhunderte europäischer Geschichtsschreibung schlicht gefälscht seien und es beispielsweise Karl den Großen nie gegeben habe; die fällt für mich in eine Kategorie von Verschwörungstheorien, die ich zwar irgendwie hübsch finde, aber nicht ernst nehmen kann. (Ein Dozent für mittelelaterliche Germanistik, bei dem ich in meinem Studium mehrere Seminare genossen habe, erledigte die ganze Theorie einmal mit dem augenzwinkernden Satz "Und die ganzen Bauwerke aus der Zeit gibt es auch nicht wirklich.") Was ich meine, ist, dass es ein nachträgliches Konstrukt ist, die Zeitspanne zwischen Völkerwanderung und Renaissance als eine Epoche namens "Mittelalter" zu betrachten und dieser Epoche bestimmte Charakteristika zuzuschreiben.
Der Begriff "Mittelalter" ( medium aevum) stammt meines Wissens von Petrarca; als er diesen Begriff prägte, war er offenbar der Auffassung, die so bezeichnete Zeit sei vorbei - was damals, also im 14. Jh., auf Florenz und einige andere florierende Handelsstädte Oberitaliens zugetroffen haben mag, auf weite Teile des übrigen Europa aber wohl kaum. Jedenfalls betrachtete der Renaissance-Humanismus das "Mittelalter" als eine Zeit des wissenschaftlichen und kulturellen Niedergangs, eine Zeit, in der die Errungenschaften der Antike verloren gegangen seien und die darum von Unwissenheit und Gewalt, kurz: von Barbarei geprägt gewesen sei; und er selbst, der Renaissance-Humanismus nämlich, habe mit seiner Wiederentdeckung des kulturellen Erbes der Antike dieses dunkle Zeitalter überwunden. Da sich nach der Renaissance auch Barock und Aufklärung, auf jeweils unterschiedliche Weise, auf das Erbe der Antike bezogen und beriefen, verfestigte sich dieses einseitig negative Mittelalterbild, und es ist nur konsequent, dass ein anderes, positiveres Mitelalterbild zuerst in aufklärungskritischen Bewegungen aufkam - erst im Sturm und Drang, massiver und nachhaltiger dann in der Romantik. Das stark idealisierte Mittelalterbild der Romantik wirkte sich das ganze 19. Jh. hindurch aus, und wenn man auch zugeben muss, dass es mindestens ebensosehr wie das Klischee vom "finsteren Mittelalter" ein ahistorisch verzerrtes Konstrukt ist, haben wir der romantischen Mittelalterbegeisterung doch so Manches zu verdanken: so zum Beispiel literarische Meisterwerke wie Novalis' Heinrich von Ofterdingen (1800/02) und Kleists Käthchen von Heilbronn (1807/08), einen Großteil der Wagnerschen Musikdramen und nicht zuletzt eine Vielzahl imposanter neoromanischer und neogotischer Bauwerke, vom 1880 vollendeten Kölner Dom bis hin zu Schloss Neuschwanstein. War das romantische Mittelalterbild ein Missverständnis, dann war es immerhin ein produktives: Die Schöpfer der genannten und anderer Werke verwandelten sich das an, was ihnen am Mittelalter, so wie sie es sahen, entsprach, sie nutzten das Phantasiegebilde "Mittelalter" als Projektionsfläche für ihre eigenen Vorstellungen einer anderen, vielleicht besseren Welt und waren sich möglicherweise sogar sehr bewusst, dass das mehr mit ihrer eigenen Vorstellungswelt als mit einer irgendwann einmal real gewesenen Vergangenheit zu tun hatte.
Ob das, wenn auch auf einem erheblich anderen ästhetischen Niveau, auch auf die heutigen Mittelalterfreaks zutrifft, darüber ließe sich streiten. Entscheidender finde ich aber allemal die Frage, wo sich das populäre Mittelalterbild unserer Gegenwart zwischen aufklärerischer Verdammung des "rückständigen" Mittelalters und romantischer Verklärung einsortiert. Aber ist es überhaupt richtig, von dem, also nur einem, "populären Mittelalterbild unserer Gegenwart" zu sprechen? Gibt es da nicht mehrere verschiedene? Sollte man nicht annehmen, dass die punkig gewandeten Abtreibungsbefürworter am Straßenrand, die "Mittelalter, Mittelalter!" rufen, sobald sie ein Kreuz sehen, ein substantiell anderes Mittelalterbold haben als jene Zeitgenossen, die Mittelalter-Rollenspielen frönen und sich dabei um die Authentizität ihres Kostüms sorgen? - Könnte man meinen, aber ich glaub's eigentlich nicht. Ich glaube, es sind zum Teil sogar dieselben Leute.
Klar ist: Wer die Kirche als "mittelalterlich" kritisiert, will sie damit als rückständig, unaufgeklärt, ja anti-aufklärerisch kennzeichnen und stellt sich damit in die Tradition des Mittelalterbildes der Aufklärung. Wollte man nun annehmen, die passionierten Hobbyritter und -burgfräuleins seien demgegenüber die Erben der Romantik, dann wäre ja zu vermuten, dass sie auch das, was die Erben der Aufklärung an der Kirche so "mittelalterlich" finden, zu schätzen wissen und scharenweise in die tridentinische Messe laufen. Das wäre mir aber neu.
Aber ganz im Ernst: Die Vorliebe der Romantiker für das Mittelalter war zu einem nicht unwesentlichen Teil dadurch motiviert, dass das Mittelalter - im Unterschied zur Antike - ein christliches Zeitalter war. So schrieb Novalis in Die Christenheit oder Europa (1799):
Im Einklang mit dieser antiklerikalen Tendenz trivialer Historienromane - die, wie mir scheint, auf den Kulturkampf des späten 19. Jhs. zurückgeht (vgl. Günther Hirschmann, Kulturkampf im historischen Roman der Gründerzeit 1859-1878, München 1978) - sind auch Mittelalter-Rollenspielgruppen usw. in der Regel weniger christlich als neuheidnisch orientiert. Sie selbst würden die Bezeichnung "neuheidnisch" aber vermutlich zurückweisen, da der Begriff ja impliziert, dass das behauptete Anknüpfen an heidnische Traditionen des Mittelalters im Wesentlichen fiktiv ist. Aber wie sollte es anders sein? Schließlich weiß man über die vorchristlichen Religionen West- und Mitteleuropas so gut wie nichts Verlässliches - über die keltische schon sehr wenig, über die germanische noch viel weniger. Was an schriftlichen Quellen aus mittelalterlicher Zeit vorliegt, sei es die Edda, das Mabinogion oder der Táin Bo Cuailgne, stammt praktisch durchweg von christianisierten und zudem vermutlich klassisch gebildeten Autoren, sodass sich nur schwer unterscheiden lässt, was da authentische Überlieferung aus dem germanischen oder keltischen Heidentum, was aus christlicher Überformung und was aus Anleihen bei der klassischen griechisch-römischen Mythologie entstanden ist (die vermeintlich germanischen Nornen etwa sind ziemlich unverkennbar den griechischen Moiren bzw. den römischen Parzen nachempfunden). - Die Mittelalterfreaks kümmert das alles nicht, ihrer vorgeblichen Leidenschaft für Authentizität zum Trotz; sie rühren sich aus germanischen und keltischen Versatzstücken, allgemeinen Klischeevorstellungen über Naturreligionen und eigenen Erfindungen eine Privatmythologie zusammen, die von Fall zu Fall eine unappetitliche Nähe zur Nazi-Esoterik aufweist.
An dieser Stelle muss noch einmal auf die Hexen zurückgekommen werden, die sich, wen wundert's, im populären Mittelalterbild unserer Zeit einer enormen Beliebtheit erfreuen - exemplarisch sei auf die (in der TV-Verfilmung von Natalia Wörner verkörperte) Figur Ellen aus Ken Follets Bestseller Die Säulen der Erde verwiesen. Das populäre, durch zahllose Romane, Filme und auch durch vermeintliche Dokumentationen geisternde Klischee zum Thema Hexenverfolgung sieht in etwa so aus: Bei den so genannten Hexen des europäischen Mittelalters handelte es sich um "weise Frauen", die über ein seit vorchristlicher Zeit mündlich tradiertes Geheimwissen – z.B. über Naturheilkunde – verfügten; die große Hexenverfolgungswelle des Spätmittelalters (bzw. eigentlich der frühen Neuzeit) wurde von der Kirche zu dem Zweck organisiert, diese "heidnische" Überlieferung auszulöschen, die Konkurrenz für die kirchlichen Institutionen, die von den "weisen Frauen" ausging, zu eliminieren und zugleich insgesamt den Einfluss von Frauen in der Gesellschaft zurückzudrängen. Unter den zahlreichen Menschen, die dieser Auffassung anhängen, dürfte den Wenigsten bewusst sein, dass sie praktisch eins zu eins von den Nazis (insbesondere von Heinrich Himmler, der in den mittelalterlichen Hexen Vertreterinnen einer "altgermanischen Urreligion" sah bzw. sehen wollte) übernommen wurde, in neuerer Zeit lediglich ergänzt um einen ausgeprägt feministischen Zug.
Wenn Angehörige dieser verschrobenen Mittelalter-Szene heiraten wollen, dann könnte man denken, sie gehen in den Wald und lassen sich dort von einem Druiden trauen. Ich nehme an, einige tun das auch tatsächlich. Es gibt aber auch andere Fälle. Anno 2003 war ich mal zu einer Mittelalterhochzeit eingeladen; das Brautpaar hatte sich im Internet kennengelernt, und zwar nicht über eins der handelsüblichen Dating-Portale, sondern, man ahnt es schon fast, durch ein Online-Rollenspiel. Diese beiden heirateten nun aber tatsächlich kirchlich, sogar katholisch (aber nicht etwa, was vielleicht ein hübsches Detail gewesen wäre, nach mittelalterlichem Ritus); sie trugen dabei aber Ritter- und Burgfräuleingewänder, auch die Gäste waren angehalten, entsprechend kostümiert zu erscheinen, und die anschließende Feier fand auf einer echten Burg statt. Meine Einladung zu diesem illustren Ereignis verdankte ich meiner damaligen Freundin, die die Braut von der Schule her kannte. Ich kam dann aber nicht mit. Die Fahrt - nach Eltville am Rhein - war mir zu teuer, ich hätte dort kaum jemanden gekannt, und mangels Übernachtungsmöglichkeit hätte ich noch in derselben Nacht wieder zurück fahren müssen. Das war es mir dann doch nicht wert, obwohl ich - als unverbesserlicher Liebhaber alles Bizarren, selbst da, wo es schon weh tut - eigentlich ganz gern dabei gewesen wäre. Diese Veranstaltung hätte sicherlich reiches Anschauungsmaterial für ganze Bände voll essayistischer oder auch belletristischer Betrachtungen über eine bei aller Bescheuertheit doch malerische Spielart psychischer Deformation geliefert. Auf dieses Anschauungsmaterial musste ich nun also verzichten, beschloss aber, darüber schreiben könne ich ja vielleicht trotzdem. Herausgekommen sind dabei einige Gedichte, die ich nun erstmals der Öffentlichkeit präsentiere...:
Aufschlussreich ist in diesem Kontext der Text eines Sprechchors, der den Marsch für das Leben an einer anderen Straßenecke empfing:
"Hexenverbrennung, Inquisition - das ist christliche Tradition!"
Es liegt nahe, hier einen Zusammenhang mit den "Mittelalter, Mittelalter!"-Rufen zu vermuten, auch wenn man aus historischer Sicht Einwände erheben könnte: Die große Welle der Hexenverfolgungen in Mitteleuropa fand nicht im Mittelalter, sondern in der Neuzeit statt, und dasselbe gilt im Wesentlichen auch für das Wirken der Heiligen Inquisition. Man darf aber wohl davon ausgehen, dass die Gegendemonstranten das so genau nicht nehmen; die sind vermutlich, ohne sich dessen recht bewusst zu sein, Anhänger der These vom Langen Mittelalter, die argumentiert, mentalitätsgeschichtlich habe das Mittelalter bis weit in die Neuzeit fortgewirkt, so etwa bis zur Französischen Revolution. - Übrigens dürfte es durchaus einen tieferen Sinn gehabt haben, dass die Leute, die am Straßenrand lautstark ein "Recht auf Abtreibung" propagierten, es für gut fanden, die Teilnehmer des Marsches für das Leben an die Hexenverfolgungen zu erinnern. Mir fällt dazu der 1989er Abtreibungsprozess im oberpfälzischen Memmingen ein, der seinerzeit großes Aufsehen erregte: In den Medien wurde dieser Prozess vielfach als "moderne Hexenjagd" gescholten, der SPIEGEL steuerte ein eindrucksvolles Titelbild bei. Vermutlich hat die gern gezogene Parallele zwischen strafrechtlicher Verfolgung von Abtreibung einerseits und Hexenverfolgung andererseits sogar einen Anknüpfungspunkt in der historischen Realität: Es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass unter den Frauen, die in der frühen Neuzeit der Hexerei bezichtigt und deshalb hingerichtet wurden, auch solche waren, die Abtreibungen vornahmen.
Aber diesen Punkt will ich jetzt und hier nicht vertiefen. Auch unabhängig vom Abtreibungsthema sind Inquisition und Hexenverfolgung - neben den Kreuzzügen, die indes tatsächlich im Mittelalter stattfanden - unverkennbar die Klassiker eines antiklerikal verzerrten Mittelalterbildes, das sich, unterstützt durch einschlägige Historienromane, -filme und populärwissenschaftliche TV-Magazine à la Terra X, einer erstaunlichen Verbreitung und Beliebtheit erfreut. Seine ganze Brisanz entfaltet dieses Mittelalterbild freilich erst dann, wenn man der Katholischen Kirche im selben Atemzug unterstellt, mentalitätsmäßig noch heute mit beiden Beinen fest in diesem imaginären Mittelalter verwurzelt zu sein. Exemplarisch zu beobachten war das jüngst anlässlich der Klage des Heiligen Stuhls gegen das geschmacklose Papst-Cover der Titanic: Im Vorfeld der angesetzten Verhandlung vor dem Hamburger Landgericht - die dann gar nicht stattfand, weil die Klage quasi im letzten Moment zurückgezogen wurde - kündigte die von Titanic-Redakteuren gegründete Spaßpartei Die PARTEI an, einen Mittelaltermarkt veranstalten zu wollen, der, wie es hieß "die Lebenswelt des Papstes" illustrieren sollte: "Neben Auftritten von Jongleuren und Feuerspuckern soll den Besuchern auch die Möglichkeit geboten werden, symbolisch eine Hexe zu verbrennen oder sich an den Pranger zu stellen." Was haben wir gelacht.
Dass ein derartiges Veranstaltungsangebot mit der "Lebenswelt des Papstes" tatsächlich nicht das Geringste zu tun hat, dürfte eigentlich jedem klar sein, vermutlich sogar den Veranstaltern selbst. Eine tolle Marketing-Maßnahme für Titanic und PARTEI wäre so ein Mittelaltermarkt, wenn er denn stattgefunden hätte, aber wohl trotzdem gewesen, schließlich erfreuen sich Mittelaltermärkte seit Jahren einer enormen Beliebtheit. Was nun wieder ein sonderbar ambivalentes Licht auf das populäre, scheinbar so negativ besetzte Mittelalterbild wirft. Wenn das Mittelalter so "finster" war, warum wollen die Leute dann ihre Freizeit darin verbringen? Gut, für viele Besucher von Mittelaltermärkten ist dieses befristete Eintauchen in eine (wenn auch imaginäre) Vergangenheit wohl lediglich ein skurriler kleiner Spaß, ein bisschen Urlaub vom Alltag, und hinterher ist man dann vielleicht doch ganz froh, wieder in die Gegenwart zurückkehren zu können. Es gibt aber auch Leute, die das Ganze wesentlich ernster bzw. wichtiger nehmen. Unter den Besuchern eines durchschnittlichen Mittelaltermarktes mögen die in der Minderheit sein, aber ohne sie, wage ich zu behaupten, gäbe es dieses Veranstaltungsformat gar nicht, zumindest nicht in diesem Ausmaß. Ich war vor einigen Jahren ausgesprochen verblüfft, festzustellen, dass es in Deutschland (und, so steht zu berfürchten, auch anderswo) eine vielleicht kleine, aber dafür umso aktivere Subkultur von Hobbyrittern und -burgfräuleins gibt, die viel Zeit, Geld und Mühe aufwenden, um sich aus wie auch immer zweifelhaften Quellen über mittelalterliche Kleidung, Musik, Speisen und Getränke und überhaupt mittelalterlichen "Lifestyle" kundig zu machen und dann noch mehr Zeit, Geld und Mühe darauf verwenden, sich solche Gewänder zu schneidern oder schneidern zu lassen, auf nach mittelalterlichem Vorbild gebauten Musikinstrumenten mittelalterliche Melodien zu klimpern, mittelalterliche Mähler zu verspeisen, in Live-Rollenspielen imaginären Drachen oder aber einander aufs Haupt zu hauen und in geschwollenem Deutsch zu radebrechen, das sie womöglich für Mittelhochdeutsch halten, das aber tatsächlich eine krude Mischung aus Lutherbibel-Deutsch, Hochbarock und witzig sein sollenden Neologismen darstellt. Sie können stundenlang über den Saum eines Gewandes streiten und bilden sich ein, sie hätten etwas vom Mittelalter verstanden, wenn sie herausgefunden haben, wie die Saiten einer walisischen Crwth gestimmt waren (oder wie man das Wort Crwth ausspricht).
Die Verbissenheit, mit der diese "Fundis" unter den Mittelalterfreaks um vermeintliche Authentizität ringen, steht natürlich in krassem Widerspruch zum prinzipiell fiktionalen Charakter des Mittelalterbildes, das auf solchen Märkten, in solchen Romanen, Filmen und Rollenspielen transportiert wird. Und es wirkt schon einigermaßen tragikomisch, wenn Menschen, die im 20. oder genau genommen ja sogar schon im 21. Jahrhundert leben, nicht einsehen, dass es das glatte Gegenteil von Authentizität ist, in seiner Freizeit so zu tun, als lebe man in einem anderen Zeitalter.
An und für sich ist die Konstruktion fiktionaler Mittelalterbilder ja durchaus keine neue Erscheinung, und an und für sich ist das auch nicht unbedingt schlimm. Ja, man kann sogar behaupten, "das Mittelalter" als Ganzes sei eine Erfindung späterer Zeiten. Damit ziele ich nicht etwa auf die berühmt-berüchtigte These vom Erfundenen Mittelalter ab, derzufolge rund drei Jahrhunderte europäischer Geschichtsschreibung schlicht gefälscht seien und es beispielsweise Karl den Großen nie gegeben habe; die fällt für mich in eine Kategorie von Verschwörungstheorien, die ich zwar irgendwie hübsch finde, aber nicht ernst nehmen kann. (Ein Dozent für mittelelaterliche Germanistik, bei dem ich in meinem Studium mehrere Seminare genossen habe, erledigte die ganze Theorie einmal mit dem augenzwinkernden Satz "Und die ganzen Bauwerke aus der Zeit gibt es auch nicht wirklich.") Was ich meine, ist, dass es ein nachträgliches Konstrukt ist, die Zeitspanne zwischen Völkerwanderung und Renaissance als eine Epoche namens "Mittelalter" zu betrachten und dieser Epoche bestimmte Charakteristika zuzuschreiben.
Der Begriff "Mittelalter" ( medium aevum) stammt meines Wissens von Petrarca; als er diesen Begriff prägte, war er offenbar der Auffassung, die so bezeichnete Zeit sei vorbei - was damals, also im 14. Jh., auf Florenz und einige andere florierende Handelsstädte Oberitaliens zugetroffen haben mag, auf weite Teile des übrigen Europa aber wohl kaum. Jedenfalls betrachtete der Renaissance-Humanismus das "Mittelalter" als eine Zeit des wissenschaftlichen und kulturellen Niedergangs, eine Zeit, in der die Errungenschaften der Antike verloren gegangen seien und die darum von Unwissenheit und Gewalt, kurz: von Barbarei geprägt gewesen sei; und er selbst, der Renaissance-Humanismus nämlich, habe mit seiner Wiederentdeckung des kulturellen Erbes der Antike dieses dunkle Zeitalter überwunden. Da sich nach der Renaissance auch Barock und Aufklärung, auf jeweils unterschiedliche Weise, auf das Erbe der Antike bezogen und beriefen, verfestigte sich dieses einseitig negative Mittelalterbild, und es ist nur konsequent, dass ein anderes, positiveres Mitelalterbild zuerst in aufklärungskritischen Bewegungen aufkam - erst im Sturm und Drang, massiver und nachhaltiger dann in der Romantik. Das stark idealisierte Mittelalterbild der Romantik wirkte sich das ganze 19. Jh. hindurch aus, und wenn man auch zugeben muss, dass es mindestens ebensosehr wie das Klischee vom "finsteren Mittelalter" ein ahistorisch verzerrtes Konstrukt ist, haben wir der romantischen Mittelalterbegeisterung doch so Manches zu verdanken: so zum Beispiel literarische Meisterwerke wie Novalis' Heinrich von Ofterdingen (1800/02) und Kleists Käthchen von Heilbronn (1807/08), einen Großteil der Wagnerschen Musikdramen und nicht zuletzt eine Vielzahl imposanter neoromanischer und neogotischer Bauwerke, vom 1880 vollendeten Kölner Dom bis hin zu Schloss Neuschwanstein. War das romantische Mittelalterbild ein Missverständnis, dann war es immerhin ein produktives: Die Schöpfer der genannten und anderer Werke verwandelten sich das an, was ihnen am Mittelalter, so wie sie es sahen, entsprach, sie nutzten das Phantasiegebilde "Mittelalter" als Projektionsfläche für ihre eigenen Vorstellungen einer anderen, vielleicht besseren Welt und waren sich möglicherweise sogar sehr bewusst, dass das mehr mit ihrer eigenen Vorstellungswelt als mit einer irgendwann einmal real gewesenen Vergangenheit zu tun hatte.
Ob das, wenn auch auf einem erheblich anderen ästhetischen Niveau, auch auf die heutigen Mittelalterfreaks zutrifft, darüber ließe sich streiten. Entscheidender finde ich aber allemal die Frage, wo sich das populäre Mittelalterbild unserer Gegenwart zwischen aufklärerischer Verdammung des "rückständigen" Mittelalters und romantischer Verklärung einsortiert. Aber ist es überhaupt richtig, von dem, also nur einem, "populären Mittelalterbild unserer Gegenwart" zu sprechen? Gibt es da nicht mehrere verschiedene? Sollte man nicht annehmen, dass die punkig gewandeten Abtreibungsbefürworter am Straßenrand, die "Mittelalter, Mittelalter!" rufen, sobald sie ein Kreuz sehen, ein substantiell anderes Mittelalterbold haben als jene Zeitgenossen, die Mittelalter-Rollenspielen frönen und sich dabei um die Authentizität ihres Kostüms sorgen? - Könnte man meinen, aber ich glaub's eigentlich nicht. Ich glaube, es sind zum Teil sogar dieselben Leute.
Klar ist: Wer die Kirche als "mittelalterlich" kritisiert, will sie damit als rückständig, unaufgeklärt, ja anti-aufklärerisch kennzeichnen und stellt sich damit in die Tradition des Mittelalterbildes der Aufklärung. Wollte man nun annehmen, die passionierten Hobbyritter und -burgfräuleins seien demgegenüber die Erben der Romantik, dann wäre ja zu vermuten, dass sie auch das, was die Erben der Aufklärung an der Kirche so "mittelalterlich" finden, zu schätzen wissen und scharenweise in die tridentinische Messe laufen. Das wäre mir aber neu.
Aber ganz im Ernst: Die Vorliebe der Romantiker für das Mittelalter war zu einem nicht unwesentlichen Teil dadurch motiviert, dass das Mittelalter - im Unterschied zur Antike - ein christliches Zeitalter war. So schrieb Novalis in Die Christenheit oder Europa (1799):
"Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs."Das sieht die heutige Mittelalter-Szene aber ganz anders. Christliches Zeitalter? Ja, woher denn? Bei den einfachen Leuten ist das Christentum doch gar nicht angekommen, war ja alles in Latein, das verstand doch keiner; und außerdem waren die Pfaffen viel zu beschäftigt damit, Landbesitz anzuhäufen, Jungfrauen zu schänden und Ketzer zu verbrennen. Das jedenfalls ist der Eindruck, den man gewinnt, wenn man einen beliebigen Mittelalter-Taschenbuchroman zur Hand nimmt oder dessen wahlweise vom ZDF oder von Sat1 produzierte TV-Verfilmung (mit ehemaligen GZSZ-Sternchen in den Hauptrollen und Uwe Ochsenknecht als Bösewicht) ansieht. Das dort dargestellte Mittelalter ist ganz entschieden nicht das Goldenen Zeitalter der Christenheit, von dem die Romantik träumte, sondern punktgenau das finstere, barbarische Mittelalter der Aufklärung, und wenn davon eine solche Faszination ausgeht, dass nicht nur diese Bücher und Filme, sondern eben auch Mittelaltermärkte und Mittelalter-Rollenspiele immer populärer werden, lässt sich das wohl nur mit Freuds Begriff des Unbehagens in der Kultur erklären: mit der tief verwurzelten, wenn auch letztlich uneingestandenen Sehnsucht des aufgeklärten Menschen nach vor-aufgeklärten Zuständen. - Wo in solchen Storys mal ein positiv gezeichneter Geistlicher vorkommt, da muss es schon ein unkonventioneller Außenseiter sein, der - als eine Art mittelalterlicher Vorläufer heutiger "Pfarrerinitiativen" - permanent mit seinen Vorgesetzten im Clinch liegt, dem in aller Regel ausgesprochen sündhaften Treiben der Protagonisten mit Nachsicht begegnet und auch schon mal an seinem Glauben zweifelt.
Im Einklang mit dieser antiklerikalen Tendenz trivialer Historienromane - die, wie mir scheint, auf den Kulturkampf des späten 19. Jhs. zurückgeht (vgl. Günther Hirschmann, Kulturkampf im historischen Roman der Gründerzeit 1859-1878, München 1978) - sind auch Mittelalter-Rollenspielgruppen usw. in der Regel weniger christlich als neuheidnisch orientiert. Sie selbst würden die Bezeichnung "neuheidnisch" aber vermutlich zurückweisen, da der Begriff ja impliziert, dass das behauptete Anknüpfen an heidnische Traditionen des Mittelalters im Wesentlichen fiktiv ist. Aber wie sollte es anders sein? Schließlich weiß man über die vorchristlichen Religionen West- und Mitteleuropas so gut wie nichts Verlässliches - über die keltische schon sehr wenig, über die germanische noch viel weniger. Was an schriftlichen Quellen aus mittelalterlicher Zeit vorliegt, sei es die Edda, das Mabinogion oder der Táin Bo Cuailgne, stammt praktisch durchweg von christianisierten und zudem vermutlich klassisch gebildeten Autoren, sodass sich nur schwer unterscheiden lässt, was da authentische Überlieferung aus dem germanischen oder keltischen Heidentum, was aus christlicher Überformung und was aus Anleihen bei der klassischen griechisch-römischen Mythologie entstanden ist (die vermeintlich germanischen Nornen etwa sind ziemlich unverkennbar den griechischen Moiren bzw. den römischen Parzen nachempfunden). - Die Mittelalterfreaks kümmert das alles nicht, ihrer vorgeblichen Leidenschaft für Authentizität zum Trotz; sie rühren sich aus germanischen und keltischen Versatzstücken, allgemeinen Klischeevorstellungen über Naturreligionen und eigenen Erfindungen eine Privatmythologie zusammen, die von Fall zu Fall eine unappetitliche Nähe zur Nazi-Esoterik aufweist.
An dieser Stelle muss noch einmal auf die Hexen zurückgekommen werden, die sich, wen wundert's, im populären Mittelalterbild unserer Zeit einer enormen Beliebtheit erfreuen - exemplarisch sei auf die (in der TV-Verfilmung von Natalia Wörner verkörperte) Figur Ellen aus Ken Follets Bestseller Die Säulen der Erde verwiesen. Das populäre, durch zahllose Romane, Filme und auch durch vermeintliche Dokumentationen geisternde Klischee zum Thema Hexenverfolgung sieht in etwa so aus: Bei den so genannten Hexen des europäischen Mittelalters handelte es sich um "weise Frauen", die über ein seit vorchristlicher Zeit mündlich tradiertes Geheimwissen – z.B. über Naturheilkunde – verfügten; die große Hexenverfolgungswelle des Spätmittelalters (bzw. eigentlich der frühen Neuzeit) wurde von der Kirche zu dem Zweck organisiert, diese "heidnische" Überlieferung auszulöschen, die Konkurrenz für die kirchlichen Institutionen, die von den "weisen Frauen" ausging, zu eliminieren und zugleich insgesamt den Einfluss von Frauen in der Gesellschaft zurückzudrängen. Unter den zahlreichen Menschen, die dieser Auffassung anhängen, dürfte den Wenigsten bewusst sein, dass sie praktisch eins zu eins von den Nazis (insbesondere von Heinrich Himmler, der in den mittelalterlichen Hexen Vertreterinnen einer "altgermanischen Urreligion" sah bzw. sehen wollte) übernommen wurde, in neuerer Zeit lediglich ergänzt um einen ausgeprägt feministischen Zug.
Wenn Angehörige dieser verschrobenen Mittelalter-Szene heiraten wollen, dann könnte man denken, sie gehen in den Wald und lassen sich dort von einem Druiden trauen. Ich nehme an, einige tun das auch tatsächlich. Es gibt aber auch andere Fälle. Anno 2003 war ich mal zu einer Mittelalterhochzeit eingeladen; das Brautpaar hatte sich im Internet kennengelernt, und zwar nicht über eins der handelsüblichen Dating-Portale, sondern, man ahnt es schon fast, durch ein Online-Rollenspiel. Diese beiden heirateten nun aber tatsächlich kirchlich, sogar katholisch (aber nicht etwa, was vielleicht ein hübsches Detail gewesen wäre, nach mittelalterlichem Ritus); sie trugen dabei aber Ritter- und Burgfräuleingewänder, auch die Gäste waren angehalten, entsprechend kostümiert zu erscheinen, und die anschließende Feier fand auf einer echten Burg statt. Meine Einladung zu diesem illustren Ereignis verdankte ich meiner damaligen Freundin, die die Braut von der Schule her kannte. Ich kam dann aber nicht mit. Die Fahrt - nach Eltville am Rhein - war mir zu teuer, ich hätte dort kaum jemanden gekannt, und mangels Übernachtungsmöglichkeit hätte ich noch in derselben Nacht wieder zurück fahren müssen. Das war es mir dann doch nicht wert, obwohl ich - als unverbesserlicher Liebhaber alles Bizarren, selbst da, wo es schon weh tut - eigentlich ganz gern dabei gewesen wäre. Diese Veranstaltung hätte sicherlich reiches Anschauungsmaterial für ganze Bände voll essayistischer oder auch belletristischer Betrachtungen über eine bei aller Bescheuertheit doch malerische Spielart psychischer Deformation geliefert. Auf dieses Anschauungsmaterial musste ich nun also verzichten, beschloss aber, darüber schreiben könne ich ja vielleicht trotzdem. Herausgekommen sind dabei einige Gedichte, die ich nun erstmals der Öffentlichkeit präsentiere...:
Mittelalterhochzeit, Nr. 1
Zu Eltville am deutschen Rheine
Da steht eine Burg so alt
Da brät man gestopfte Schweine
Und singet, dass alles schallt
Von tapferer Helden Taten
Und Jungfern von hohem Sinn
Und während die Schweine braten
Fließt träge der Rhein dahin.
Ohne eitel klingen zu wollen, muss ich sagen, das gefällt mir heute noch ganz gut. Nr. 2 ist hingegen Fragment geblieben:
Mittelalterhochzeit, Nr. 2
Bis hier hat mich die Bahn gebracht
Ich muss ein gutes Stück noch laufen
Ich muss zurück noch in der Nacht
Doch vorher will ich kräftig saufen.
Was mir an diesem Orte blüht
Weiß ich nicht nüchtern zu ertragen
Doch hab ich mich hierher bemüht
So hab ich auch kein Recht zu klagen.
Ich hab's ja selber so gewollt!
Nur weil ich das Bizarre liebe
Hab ich mich nun hierher getrollt -
Ins Reich der tumben Tagediebe.
Gebt mir ein Stierhorn voll mit Met
Und lasst mich weidlich schmausen --
Tja, an der Stelle wusste ich erst mal nicht weiter und habe das Gedicht dann liegen gelassen. Vielleicht schreibe ich es irgendwann noch fertig. Zwei weitere Verse würden vermutlich genügen, und ich denke mal, der letzte wird auf "Grausen" enden.
Mittelalterhochzeit, Nr. 3
Blaugewirkte
Strümpfe waten
Durch einen Teppich aus
Mist.
Hätte ich damals schon gewusst, was ein Haiku ist, wäre das hier womöglich eins geworden. So stimmt die Silbenzahl nicht ganz, aber ich hatte keine Lust, es noch einmal umzuarbeiten. Einen gewissen Haiku-Touch hat das Gedicht ja auch so, und das reicht mir. Ursprünglich war das mal als ein einzelner Vers gedacht, es sollten weitere folgen, aber als ich den Satz niedergeschrieben hatte, fand ich: Da gibt es eigentlich gar nichts mehr hinzuzufügen.
Abschließend: Nummer 4!
Mittelalterhochzeit, Nr. 4
Kennst du das Land, wo die Idioten blüh'n?
Wo lächerlich Gewandete in hellen Scharen zieh'n?
Wo Leiern traulich klimpern
Und Stierhörner schäumen voll Met?
Wo knöcherne Würfel und hölzerne Schwerter
Erschallen von früh bis spät?
Am Rhein, am Rhein, am deutschen Rhein
Da schlachten die Heiden ein Schwein.
Kennst du das Land, wo man das Gestern liebt?
Wo es noch tapf're Ritter und holde Jungfern gibt?
Wo linnene Gewänder
Und härene Wämser man webt?
Wo man nach alter Vorväter Sitte
Heute noch lebt und strebt?
Am Rhein, am Rhein, am deutschen Rhein
Da könnte ich heute auch sein.
Kennst du das Land, wo der Verstand versagt?
Wo mit dem grauen Heute man sich nicht gerne plagt?
Wo man noch kämpft mit Drachen
Und betet zum Donnerer Thor?
Oder kommt dir das alles
Ein wenig behämmert vor?
Am Rhein, am Rhein, am deutschen Rhein --
Ich bleibe doch lieber daheim.
Ganz beachtliche Ausbeute, wenn man bedenkt, dass ich das Ereignis selbst gar nicht miterlebt habe. So gesehen fast schade, dass ich mir diese Expedition ins Pseudo-Mittelalter nicht doch zugemutet habe, wer weiß, was dabei noch so alles herausgekommen wäre. Oder vielleicht - bedenkt man die oben angesprochenen Probleme, die ich damit habe, an einem Ereignis teilzunehmen und darüber zu berichten - auch gerade nicht...
Es gibt zwar hie und da Leute, die mit der Mittelalterbegeisterung echten Sachverstand paaren. Insgesamt aber ist die Mittelalterwelle - eigentlich schon ein Mittelaltermeer, so lange wie das jetzt anhält - tatsächlich im besten Falle ein netter Klamauk, im schlimmsten Geschichtsverfälschung.
AntwortenLöschenIm vergangenen Jahr habe ich als Rezitatorin in einem Mittelalterladen öfter wirklich schöne Veranstaltungen gehabt (kleines, aber interessiertes Publikum zu Lesungen über den Archipoeta, über mittellateinische Dichtung, über Jeanne d'Arc...). Auch Hildegard von Bingen stellte ich dort vor. Zu dieser Veranstaltung (Titel: Hildegard von Bingen - Dichterin und Philosophin) kamen einmal drei Frauen aus der Heilpraktiker-Szene. Sie waren enttäuscht - wörtlich: "Man mußte ja wirklich seeehr viel mitdenken."
Ja, die Hildegard-von-Bingen-Rezeption in der Heilpraktiker- und Reformkost-Szene, das ist so ein Thema für sich... und z.Z. ja hochaktuell. Anlässlich Hildegards Ernennung zur Kirchenlehrerin betitelte irgendeine Tageszeitung sie als "Ikone des Feminismus"; einen schönen Kommentar dazu - von einer evangelischen Pastorin - las ich auf Twitter: "Hamse bestimmt verwechselt mit Hildegard Knef."
Löschen...und wie findest Du meine Gedichte? :)
Die Gedichte finde ich witzig, Nr. 1 mit Abstand am besten (dieser wunderbar parodierte Pseudo-Mittelalter-Tonfall des 19. Jhs.) - Nr. 2 solltest Du unbedingt mal fertigstellen.
Löschen3 ist gut, aber ich mag in diesem Zusammenhang Deine Ausschweifigkeit sehr - paßt einfach besser zum Thema.
Nr. 4: Gute Idee, aber holpert und könnte eine metrische Überarbeitung brauchen.
Auf jeden Fall: Gern gelesen!
Komischerweise kennt übrigens keiner dieser hildegardbegeisterten Physika-Rezipienten Hildegards Briefe an Barbarossa. Wo eine Frau im Mittelalter dem mächtigsten Mann ihrer Zeit mal so richtig die Meinung gegeigt hat!
Vielleicht singe ich mal eins der Gedichte zur Drehleier.
AntwortenLöschenVielleicht in passender Kleidung:
http://thomassein.blogspot.de/2010/05/papst-und-leier-ja-ich-wei-es-ist-hier.html
Wäre mir natürlich ein Fest... ;)
LöschenDanke für den Link zum thematisch passenden Artikel!