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Samstag, 31. Dezember 2016

Weihnachten mit Owie und Harm - Teil 2

Die Christmette in St. Willehad war auf 22 Uhr angesetzt; zuvor hatte es bereits um 15 Uhr eine "Krippenfeier" und um 18 Uhr eine Abendmesse in der kleinen Filialkirche Herz Mariae in Burhave gegeben. "Da müsste für jeden was dabei sein", hatte Pfarrer Jasbinschek beim Kaffeetrinken im Seniorenheim angemerkt. "Mit der Uhrzeit für die Christmette sind natürlich nie alle zufrieden - den einen ist das zu spät, den anderen noch zu früh: Die wären da noch nicht mit dem Essen fertig. Aber wenn man um Sieben anfängt, muss das doch wohl zu schaffen sein..." 

Da es bei uns schon um 18:30 Uhr Abendessen gab, hatten meine Liebste und ich jedenfalls ausreichend Zeit für Festessen und Bescherung und trotz des verlockenden "bunten Tellers" auf dem Gabentisch auch keine ernsthaften Schwierigkeiten, die eucharistische Nüchternheit einzuhalten, und erreichten die Kirche (zu Fuß) gut zehn Minuten vor Beginn der Messe. Vor dem Kirchenportal standen zwei jugendliche Ministranten und verteilten Kerzen an die Eintretenden; diese Kerzen konnte man drinnen am "Friedenslicht von Betlehem" entzünden. 

Als wir die Kirche betraten, wurden wir sehr herzlich von einer Frau aus der Gemeinde begrüßt, die ich im Zuge meiner Berichterstattung über die "Turbulenzen" rund um den Rücktritt von Pfarrer Jortzick kennengelernt hatte. Sie hatte sogar ein kleines Geschenk für meine Liebste und mich -- zu Weihnachten und zugleich wohl auch nachträglich zu unserer Hochzeit. Ich war sprachlos. 

Die oben erwähnten Kerzen hatten übrigens den Nachteil, dass sie sehr leicht von den Kirchenbänken herunterfielen - besonders, wenn der kleine Junge in der Reihe vor uns mit dem Rücken gegen die Bank stieß. Der Vater entschuldigte sich jedesmal dafür. Sehr nette, ziemlich orientalisch aussehende Familie -- der Vater sprach allerdings tadelloses Deutsch, sogar mit ausgeprägtem norddeutschen Akzent. Der kleine Junge war beim Mitvollzug der Liturgie anfangs eifrig bei der Sache, wurde dann aber so müde, dass der Vater ihn schließlich dauerhaft im Arm halten musste. 

Krippe in der Kirche St. Willehad, mit Panorama von Nordenham im Hintergrund. Rechts ist der berüchtigte Rathausturm zu sehen. 

Die Messe begann schön und feierlich mit dem Martyrologium, gesungen von Diakon Christoph Richter. Zum Bußakt gab es die weihnachtliche Kyrie-Litanei "Licht, das uns erschien" (Gotteslob Nr. 159), zum Gloria das Weihnachtslied "Menschen, die ihr wart verloren" (GL Nr. 245). Das kann man ja dank des Kehrverses "Ehre sei Gott in der Höhe" mit etwas gutem Willen durchaus als Gloria-Lied durchgehen lassen. Hätte man - wie es, das sei vorausgeschickt, in der Vormittagsmesse am 1. Weihnachtstag gemacht wurde - stattdessen GL 250, "Engel auf den Feldern singen", genommen, hätte man den Gloria-tauglichen Kehrvers sogar auf Latein gehabt. So jedoch kam im Nachmittagsprogramm von NDR 1 Niedersachsen an diesem 24. Dezember mehr Latein vor als in der Christmette. Aber das nur am Rande. Positiv zu vermerken (und vor dem Hintergrund meiner bisherigen Erfahrungen mit dem "Nordenhamer Ritus" durchaus unerwartet) war es, dass keine Lesung weggelassen wurde. Allerdings machte sich hier bereits eine der Eigenarten des "Nordenhamer Ritus" bemerkbar, nämlich die, an Weihnachten möglichst viele Weihnachtslieder in eine Messe zu quetschen. Nicht nur wurde der Antwortpsalm nach der 1. Lesung durch ein Weihnachtslied ersetzt, sondern zwischen der 2. Lesung und dem Evangelium folgte noch eins. Wirklich ärgerlich wurde es aber erst, als im Anschluss an die Predigt "Es ist ein Ros entsprungen" angestimmt wurde. Dass die Gemeinde dazu aufstand, ließ darauf schließen, dass dieses Lied offenbar allen Ernstes das Credo ersetzen sollte. Ich muss doch sehr bitten! So sehr ich "Es ist ein Ros entsprungen" mag, ja liebe: Ein Credo-Lied ist es nun wirklich beim allerbesten Willen nicht! (Mal ganz abgesehen davon, dass ich ohnehin ganz generell kein Fan davon bin, das Credo durch ein Lied zu ersetzen.) Nun bin ich ja von früheren Weihnachtsmessen in Nordenham Kummer gewöhnt, aber über dem Haupt meiner Liebsten ballten sich bereits bedrohliche Wolken zusammen. Dass im weiteren Verlauf auch Sanctus und Agnus Dei durch Weihnachtslieder ersetzt wurden, machte die Sache natürlich nicht besser. 

Das Eucharistische Hochgebet war übrigens - bis auf ein kleines Detail, auf das ich später noch zurückkomme - in Ordnung, und das heißt schon viel, wenn man die Gepflogenheiten von Pfarrer Jasbinscheks Vor-Vorgänger Bögershausen kennt. Und sogar das Robbenbaby überlebte. Als dann jedoch Pfarrer, Diakon, Kommunionhelferin und Ministrantenschar erst nach dem "Volk" kommunizierten (und zwar, soweit es die Hostie betraf, alle gleichzeitig), knurrte meine Liebste: "So langsam bin ich richtig sauer." Und womit? Mit Recht! Auch auf diesen Punkt komme ich später noch zurück; vorerst sei nur angemerkt, dass dieser sicherlich nicht nur in Nordenham praktizierte Brauch laut der Instruktion Redemptionis Sacramentum, Nr. 97, ausdrücklich VERBOTEN ist. 

In seiner Schlussansprache vor dem Entlassungssegen würdigte Pfarrer Jasbinschek besonders die Organistin: eine alte, gebrechliche Protestantin aus der Nachbar- und Kreisstadt Brake, die trotz ihres Alters und trotz ihrer Gebrechlichkeit kurzfristig eingesprungen war, da es sonst gar keine Orgelbegleitung gegeben hätte - denn alle anderen theoretisch in Frage kommenden Organisten waren teils krank, teils in Urlaub. Als Auszugslied wurde "Stille Nacht, heilige Nacht" gesungen, was an genau dieser einen Stelle im ganzen Kirchenjahr ja auch absolut passend war. Anschließend wünschten die Gottesdienstteilnehmer einander (also auch uns) mit einer wirklich bewegenden Herzlichkeit "Frohe Weihnachten". -- Beim Verlassen der Kirche stellte meine Liebste fest: "Oh, ich hab vergessen, Weihwasser zu nehmen, und jetzt hab ich mir schon die Handschuhe angezogen." Daraufhin tauchte ich meinen Zeigefinger ins Weihwasserbecken und zeichnete ihr ein kleines Kreuz auf die Stirn. "Das ist ja eine liebe Geste", freute sich eine mir unbekannte Frau aus der Gemeinde, die das sah. Sie wünschte uns "Frohe Weihnachten", fragte uns, woher wir kämen, ob wir "neu hier" seien oder nur zu Besuch. Ich fand das alles ausgesprochen nett. 

Länger auf dem Kirchvorplatz verweilen mochte meine Liebste dennoch nicht - sie war einfach zu genervt von den diversen liturgischen Fehlleistungen dieses Gottesdienstes. Auf dem Heimweg fand ich mich daher in der ungewohnten Rolle des Beschwichtigers wieder. Besonders war mir daran gelegen, den Pfarrer in Schutz zu nehmen - von dem wir beide ja am Tag zuvor einen weit überwiegend positiven Eindruck gewonnen hatten. "Ich glaube nicht, dass es am Pfarrer liegt", sagte ich daher. "Das ist einfach der 'Nordenhamer Ritus', den hat selbst Pfarrer Jortzick nicht besiegen können. Das steckt bei den Leuten so drin. Und im direkten Vergleich zu Bögershausen ist der Neue geradezu ein Ausbund an Orthopraxie." 

Meine Liebste war allerdings nicht ganz überzeugt. Sie war auch mit der Predigt unzufrieden. Sie fand, das Festmysterium von Weihnachten - die Menschwerdung Gottes - sei darin allzu verkürzt dargestellt worden: zu menschelnd, zu innerweltlich-diesseitig, kurz, da habe die eschatologische Dimension gefehlt. Ich selbst fand die Predigt eigentlich gar nicht so schlecht, jedenfalls gemessen an dem Standard, den der frühere Pfarrer Bögershausen in dieser Gemeinde etabliert hatte. Immerhin war eine eindeutig christliche Botschaft zu erkennen gewesen. 

Eine konstruktive Idee, wie man wenigstens einem Teil der liturgischen Übelstände abhelfen könnte, ohne den Leuten ihre liebgewonnenen Gewohnheiten zu rauben, hatte meine Liebste übrigens auch: "Wenn die Leute so scharf aufs Weihnachtsliedersingen sind, warum macht man das dann nicht VOR der Messe? So etwa eine halbe Stunde Weihnachtsliedersingen, und direkt im Anschluss daran dann die Messe?" Würde ich eigentlich für einen sehr guten Vorschlag halten. Aber natürlich müssten die sangesfreudigen Willehadianer dann Abendessen und Bescherung bei sich zu Hause entsprechend vorverlegen.

"Müssen wir da morgen nochmal hin?", fragte ich abschließend. Meine Liebste zuckte mit den Achseln. "Es ist ein Hochfest", stellte sie fest, "und wir haben keine Ausrede, nicht hinzugehen." - "Also ja." Im Grunde war meine Frage ohnehin nicht ganz ernst gemeint gewesen. Rückblickend fällt mir allerdings ein bzw. auf, dass es zur 10:30-Uhr-Messe am 1. Weihnachtstag durchaus eine Alternative gegeben hätte: Um 15 Uhr war Messe in polnischer Sprache. Womöglich hätten wir davon mehr gehabt, obwohl wir kein Polnisch verstehen. 

Die Messe am Vormittag des 25.12. war deutlich schwächer besucht als die Christmette (und auch da war die Kirche nicht wirklich voll gewesen). Wegen des bereits erwähnten Organistenmangels musste Diakon Richter die Orgel spielen und stand daher für die üblichen Aufgaben eines Diakons in der Messe nicht zur Verfügung. Im Großen und Ganzen lief die Messe sehr ähnlich ab wie in der Nacht zuvor - im Guten wie im Bösen (Ersetzung liturgischer Texte bzw. Gesänge durch Weihnachtslieder, richtiges Hochgebet, Vaterunser MIT Embolismus, falsche Kommunionreihenfolge). Es wurden sogar überwiegend dieselben Lieder gesungen, wenn auch in anderer Reihenfolge (was umso deutlicher unterstreicht, dass auf ihre sinnvolle Einbindung in die Liturgie kein besonderer Wert gelegt wurde). Selbst "Stille Nacht, heilige Nacht" wurde wiederholt, was am helllichten Vormittag denn doch recht sonderbar wirkte. Die Predigt war allerdings tendenziell stärker, fordernder als in der Christmette: Der Pfarrer hob das Verhalten der Hirten in der Heiligen Nacht - dass sie auf die Botschaft des Engels hin alles stehen und liegen lassen und zum Stall eilen, ohne Fragen zu stellen oder lange zu diskutieren - als vorbildlich hervor und sprach eindringlich darüber, was es bedeute, dem Ruf Gottes zu folgen

Als im Anschluss an diese Predigt erneut irgendein Weihnachtslied gesungen wurde, ergriffen meine Liebste und ich die Gelegenheit zum zivilen Ungehorsam: Wir standen auf und sprachen, anstatt das Lied mitzusingen, vernehmlich das Apostolische Glaubensbekenntnis. Das schien niemanden sonderlich zu verunsichern, aber das wiederum verunsicherte auch uns nicht: Beim Sanctus und beim Agnus Dei verfuhren wir genauso. 

Zur musikalischen Untermalung der Kommunion griff der Diakon zur Klampfe. Was ich nicht grundsätzlich verwerflich gefunden hätte, wäre das Lied, das er spielte und sang, nicht eine so schröckliche Schnulze gewesen. Es handelte sich um "Mitten in der Nacht" von none other than Rolf Zuckowski. Ja, dem Rolf Zuckowski

"Da wurde mitten in der Nacht ein Kind geboren 
Da war mit einem Mal der Himmel nicht mehr fern 
Und wer dies Liedchen hört, dem bluten bald die Ohren..." 

Nein, so geht der Text natürlich nicht. Wer den tatsächlichen Text in voller Länge nachlesen möchte, kann das hier tun. Aber ich warne davor. 

Zwischen Kommunion und Entlassungssegen schlug dann die Stunde der Erzlaiinnen. Die Kommunionhelferin und eine Frau ähnlichen Alters und ähnlicher Frisur, die ich in früheren Gottesdiensten in dieser Gemeinde auch schon als Kommunionhelferin und/oder Lektorin erlebt hatte, traten an den oder das Ambo und trugen im Wechsel einen Text von Werner Schaube vor, den man evtl. als modernes Gedicht bezeichnen könnte - als Gebet jedenfalls nicht, da der Text nicht an Gott gerichtet war. Man könnte sagen, in diesem Text wurde die von meiner Liebsten schon anlässlich der Predigt in der Christmette bemängelte Verkürzung des Weihnachtsmysteriums auf eine reine, ahem, Gutmenschen-Message auf die Spitze getrieben. "Es geht nicht an, dass Gott Mensch wird und alles bleibt, wie es ist", lautete der erste Vers, und in den sechs weiteren wurde diese bescheidene Aussage lediglich variiert. Gnarf. Noch peinlicher als den Text selbst fand ich allerdings die Wichtigtuerei der Erzlaiinnen - für mein Empfinden eins der größten, vielleicht das größte Übel, an dem das geistliche Leben dieser Gemeinde (und sicherlich auch vieler anderer) krankt.


Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder - jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen. 

-- Okay, "Wichtigtuerei" ist vielleicht zu hart gesagt. Man sollte immer von guten Absichten ausgehen. Es geht mir auch - das möchte ich ausdrücklich betonen -  nicht um konkrete Einzelpersonen. Ich bin überzeugt, dass es dieselben (oder strukturell ähnliche) Phänomene auch in vielen anderen Pfarreien gibt; gerade deshalb erscheint mir das Thema als so wichtig. Also, noch einmal: Man sollte davon ausgehen, dass "engagierte Laien" in Kirchengemeinden prinzipiell gute Absichten haben. Und grundsätzlich ist das Engagement von Laien in der Kirchengemeinde ja wirklich eine gute, ja notwendige Sache. Besonders das II. Vatikanische Konzil hat die Bedeutung des Laienapostolats nachdrücklich betont. WENN und sofern dieses Engagement denn wirklich ein Apostolat IST. An dieser Stelle muss ich auf die Beobachtung zurückkommen, dass Pfarrer Jasbinschek im Eucharistischen Hochgebet - soweit ich es bemerkt habe - in einem einzigen Detail vom vorgeschriebenen Text abgewichen ist: In den Interzessionen ersetzte er die Formulierung "alle, die zum Dienst in der Kirche bestellt sind" durch "alle, die sich in Kirche und Welt engagieren". Vielleicht meinte er lediglich, das klinge moderner und sei daher verständlicher; aber mir erscheint es signifikant, dass von "zum Dienst bestellt sein" zu "sich engagieren" eine erhebliche Verschiebung des Schwerpunktes stattfindet. Was dabei unter den Tisch fällt, ist der Aspekt der Berufung - und damit auch, dass der Dienst des Christen "in Kirche und Welt" nicht darin besteht, sich selbst zu verwirklichen, sondern sich Gott zur Verfügung zu stellen und Ihn wirken zu lassen. Will man vermeiden, dass Leute ihren eigenen Vogel mit dem Heiligen Geist verwechseln, dann braucht es, damit Laienapostolat funktionieren kann, erst einmal eine solide Katechese. Hingegen ist das, was in St. Willehad und vergleichbaren Pfarreien über einen langen Zeitraum stattgefunden hat, im Grunde negative Katechese. Die Gemeindemitglieder - sicher nicht alle, aber doch ein beträchtlicher Teil gerade jener, die "den Ton angeben" - haben effektiv verlernt, "wie katholisch geht". Sie wissen nicht mehr, was eine Messe ist, sie wissen nicht mehr, was ein Priester ist, sie wissen nicht, was die Kommunion ist - und gemäß dem Grundsatz lex orandi - lex credendi muss man davon ausgehen, dass sie dann auch nicht mehr wissen, wer Jesus Christus ist.
"Ich glaube, Bögershausen war wirklich ein Schamane", meinte meine Liebste. "Der hat die Gemeinde verhext."
"Ja", pflichtete ich ihr bei. "Mit seinem Zauberkaktus."

Aber Spaß beiseite: Dass es nicht so einfach ist, liturgisch falsch eingebürgerte Praktiken zu korrigieren, hat ja schon Pfarrer Jortzick schmerzhaft erfahren müssen. Und da kommt dann eben doch auch persönliche Eitelkeit ins Spiel. Besonders deutlich wird das anhand der Überbetonung der Rolle von Kommunionhelferinnen. Es ist in St. Willehad offenbar üblich, dass die Kommunionhelferin das Ziborium aus dem Tabernakel holt und nach der Kommunion auch wieder dorthin zurückbringt. Das ist zwar ein klarer Verstoß gegen die Rubriken des Messbuchs (vgl. Institutio Generalis zum Missale Romanum, Nr. 162); aber wollte man das abschaffen, hätten die Kommunionhelferinnen sicherlich das Gefühl, ihnen würde etwas "weggenommen", das ihnen gewohnheitsrechtlich "zusteht".

Was mich nun wiederum auf die Praxis bringt, erst dem "Volk" die Kommunion zu spenden, ehe dann der Zelebrant und die anderen liturgischen Dienste (das heißt so - da kann ich nichts für) gemeinsam kommunizieren. Mal abgesehen davon, dass das wie gesagt verboten ist, kann ich gedanklich durchaus nachvollziehen, "was das soll": Die Laien sollen gegenüber dem Priester "aufgewertet" werden, es soll deutlich gemacht werden, dass der Priester nicht etwa "etwas Besseres" ist als das "gemeine Volk", sondern vielmehr "der Diener Aller" (vgl. Mt 23,11) - wie jener Knecht im Gleichnis, zu dem gesagt wird: "Mach mir etwas zu essen, gürte dich und bediene mich; wenn ich gegessen und getrunken habe, kannst auch du essen und trinken" (Lk 17,8). Netter Gedanke, nur leider - wenn man ihn auf die Liturgie bezieht - totaler Quatsch. Die herausgehobene Stellung des Priesters in der Messliturgie gilt schließlich nicht seiner Person, sondern seinem Amt - beziehungsweise der Tatsache, dass er, kraft der Weihe, die er empfangen hat, beim Spenden eines Sakraments in persona Christi agiert. Ein Sakrament zeichnet sich schließlich gerade dadurch aus, dass darin Christus selbst handelt; Er bedient sich dazu so zu sagen lediglich der Person des Priesters. Wenn ein Priester also meint, er könne Demut und Bescheidenheit zeigen, indem er sich der Gemeinde gegenüber "zurücknimmt", dann zeigt das in erster Linie, dass er es nicht in hinreichendem Maße versteht, sich Christus gegenüber zurückzunehmen. Diejenige Demut und Bescheidenheit, die einem Priester anstünde, würde sich u.a. darin zeigen, sich an die Rubriken des Messbuchs zu halten.

Auf den Unterschied zwischen der Person des Priesters und seinem Weiheamt kam Pfarrer Jasbinschek bemerkenswerterweise in seiner Predigt in der Christmette zu sprechen. Er erinnerte an das Konzert von Patricia Kelly, das eine Woche zuvor in der St.-Willehad-Kirche stattgefunden hatte, und erwähnte, vor ihrem Auftritt habe die Sängerin ihn gefragt, ob er Priester sei, und auf seine bejahende Antwort hin habe sie ihn um einen Segen gebeten. Das sei ihm "etwas peinlich" gewesen, gestand er; aber es gelte zu verstehen, dass Patricia Kelly, als sie niederkniete, um den erbetenen Segen zu empfangen, eigentlich nicht vor Karl Jasbinschek kniete, sondern vor Christus. Das ist ohne Frage richtig; aber wieso war es ihm dann peinlich? So sehr ich - das sei noch einmal betont - Pfarrer Jasbinscheks menschliche und pastorale Qualitäten und die im Vergleich mit seinem Vor-Vorgänger erheblich größere Klarheit seiner Verkündigung schätze, scheint mir diese Anekdote - gerade in Verbindung mit der oben erwähnten Textänderung in den Interzessionen und dem fehlerhaften Kommunionritus - Fragen hinsichtlich seines Amtsverständnisses aufzuwerfen. Da passt es auch ins Bild, dass er im Alltag keine priesterliche Kleidung trägt. (Ich weiß, und meine Leser wissen es auch, dass das ein "pet peeve" von mir ist - aber "aus Gründen". Nur mal ein Beispiel: Würde er Priesterkleidung tragen, hätte Patricia Kelly ihn nicht erst fragen müssen, ob er Priester sei.)

Fragen wir also abschließend: Wohin steuert die St.-Willehad-Gemeinde unter ihrem neuen Pfarrer? "[M]an lässt das zu, was verschieden ist", beschreibt Pfarrer Jasbinschek in der Nordwest-Zeitung die Stimmung in der Gemeinde, und das gilt sicher auch und nicht zuletzt für ihn selbst. Bei dieser Einstellung steht es kaum zu befürchten, dass er ähnlich spektakulär scheitern könnte wie sein Vorgänger Jortzick. Ob das der richtige Ansatz ist, um die Gemeinde nicht nur im "sozialen" Sinne zu "befrieden", sondern auch geistliches Wachstum zu wecken, bleibt fraglich. Das Schlusswort sei meiner Liebsten überlassen:

"Um in dieser Gemeinde als Pfarrer Dienst zu tun, bräuchte es einen Heiligen." 




Donnerstag, 29. Dezember 2016

Weihnachten mit Owie und Harm - Teil 1

Es ist eine beliebte, gleichermaßen heitere wie auch irgendwie rührende Weihnachtsanekdote (von der ich mir übrigens gut vorstellen kann, dass sie sich tatsächlich mehr als einmal zugetragen hat, ja möglicherweise immer wieder zuträgt): Kinder im Vor- oder Grundschulalter sollen ein Bild von der Geburt Jesu malen, und auf einem der Bilder ist neben Maria, Josef und dem Jesuskind noch eine weitere Gestalt im Stall von Betlehem zu sehen, eine Gestalt mit lachendem Gesicht. Darauf angesprochen, wer das sein solle, erklärt das Kind, das das Bild gemalt hat, mit größter Selbstverständlichkeit: das sei "Owie". -- Dieser geheimnisvolle Owie kommt zwar nicht in der Bibel vor, aber - na und? Ochs und Esel werden im Weihnachtsevangelium auch nicht ausdrücklich erwähnt und dürfen trotzdem in keiner Krippendarstellung fehlen. Und schließlich heißt es im populärsten aller Weihnachtslieder, "Stille Nacht, heilige Nacht", klar und unmissverständlich: "Owie lacht". 

Neben Owie gibt allerdings noch einen weiteren apokryphen Neben-Helden der Weihnachtsfolklore, nämlich Harm. Den finde ich besonders toll, da Harm tatsächlich ein friesischer Männervorname ist. Dieser Harm kommt im Text von "Leise rieselt der Schnee" vor. Und was tut er? Er schweigt still. Wenn Sie's nicht glauben, lesen Sie's nach. 

Gemeinsam decken der lachende Owie und der schweigende Harm ein beachtliches Stimmungsspektrum ab, und schon allein deshalb dürfen sie an keinem Weihnachtsfest fehlen. Schon gar nicht an einem Weihnachtsfest in Nordenham, das zugleich eine willkommene Gelegenheit bietet, der Frage "Was geht eigentlich so in der Pfarrei St. Willehad?" mal wieder persönlich und vor Ort nachzugehen. 

Diese Weihnachtskrippe ist, wie ich glaube, schon länger in der Familie als ich.
-- Ein bisschen Kontext: Rund 30 Jahre lang war Erhard Bögershausen Pfarrer von St. Willehad, und wie ich hier und hier geschildert habe, habe ich diesen Geistlichen als postchristlich-esoterisch orientierten Althippie und ausgeprägten Liturgieverächter erlebt. Vor zwei Jahren feierte dann sein Nachfolger Torsten Jortzick sein erstes und, was damals noch nicht absehbar war, einziges Weihnachtsfest in Nordenham, worüber ich hier berichtet habe. Im Jahr darauf war die Pfarrerstelle von St. Willehad vakant; die Leitungsaufgaben hatte ein Pfarrverwalter aus Varel inne, die Seelsorge vor Ort sowie die Zelebration der Gottesdienste übernahm der aus Indien stammende Kaplan Alex Mathew, unterstützt von Diakon Christoph Richter - der, wie man aus der Presse und den Sozialen Medien erfahren konnte (ich selbst war nicht vor Ort), zu Weihnachten 2015 eine fulminante Predigt hielt (siehe hier). Und nun stand also das erste Weihnachtsfest mit dem neuen Pfarrer Karl Jasbinschek an, der die Pfarrei Ende Mai übernommen hatte

Kaum wiederzuerkennen: So sah die St.-Willehad-Kirche anno 1912 aus. Rechts im Bild das kürzlich abgerissene Pfarrhaus. 

In einem am 24.12. in der Nordwest-Zeitung erschienenen Artikel mit der Überschrift "Erste Weihnacht in der neuen Heimat" heißt es über Pfarrer Jasbinschek, er habe "in Nordenham keine leichte Aufgabe übernommen"; etwas verschämt wird diese Aussage mit dem Hinweis begründet, "[e]inige Turbulenzen" hätten zuvor "die katholische Gemeinde erschüttert". Diese seien jedoch nun "Geschichte", versichert der Artikel schon in der Unterzeile der Überschrift; der neue Pfarrer habe "inzwischen den Eindruck gewonnen, dass Streit und Gegeneinander in der Gemeinde nicht mehr zu spüren sind". "Es wird nicht mehr gegeneinander und übereinander geredet, sondern miteinander - und man lässt das zu, was verschieden ist", wird Pfarrer Jasbinschek zitiert. Ich muss gestehen, mich erfüllte diese Beschwörung von Harmonie eher mit Skepsis. Nicht zuletzt auch deshalb, weil der Verfasser des Artikels, Horst Lohe, nicht unbedingt unparteiisch ist (was ich freilich, zugegebenermaßen, auch nicht bin): NWZ-Redakteur Lohe ist nicht nur selbst Gemeindemitglied von St. Willehad, sondern gehört (oder gehörte zumindest mal) sogar dem Kirchenvorstand an, und mir ist noch recht gut erinnerlich, wie er im Oktober 2015 dem zurückgetretenen Pfarrer Jortzick öffentlich vorgeworfen hat, die Gemeinde zu "spalten". Man mag finden, da sei was dran - aber sagt nicht auch Jesus Christus selbst in Matthäus 10,34, er sei "nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert"? Die "Turbulenzen", die Pfarrer Jortzick gebracht hat, kann man unter diesem Aspekt (und ich weiß von nicht wenigen Gemeindemitgliedern, dass sie das so empfunden haben) durchaus auch als Zeichen einer Aufbruchstimmung, eines nach der geistlichen Ödnis der Bögershausen-Jahre dringend nötigen "frischen Windes" betrachten - und wenn dies nun "Geschichte" ist, dann heißt das schlimmstenfalls womöglich nichts Anderes, als dass die Gemeinde wieder in ihren alten Trott zurückgefallen ist. 

Aber ich will mir nicht vorgreifen. Erst mal der Reihe nach: Am 22.12. - Donnerstag - kamen meine Liebste und ich ziemlich spät abends in Nordenham an, und eigentlich war unser Plan, am Freitag in St. Willehad zur 17-Uhr-Messe zu gehen (und anschließend zur Beichte). Allerdings fiel mir dann noch am Donnerstagabend die Kreiszeitung in die Hände, und aus dieser ging hervor, dass ausgerechnet diese Messe ausfiel. Als Grund wurde genannt, dass um 10 Uhr ein Trauergottesdienst mit Beisetzung stattfinde, und zudem um 15 Uhr eine Messe im Seniorenheim in Blexen. "Das haben die doch mit Absicht gemacht", murrte ich. "Die wussten, dass die Liturgiepolizei kommt." Aber Scherz beiseite: Kirchenrechtlich war es schon korrekt, wegen des Trauergottesdienstes eine andere Messe ausfallen zu lassen. Can. 905, § 1 des CIC sieht vor, dass ein Priester im Normalfall (d.h. außer zum Beispiel an bestimmten Feiertagen, an denen mehrere Messen vorgesehen sind) nicht öfter als einmal am Tag die Eucharistie zelebrieren darf. Freilich lässt sich das im Zeichen von Großpfarreien oder "pastoralen Räumen" vielfach nicht so ganz einhalten; darum heißt es in § 2: "Wenn Priestermangel besteht, kann der Ortsordinarius zugestehen, dass Priester aus gerechtem Grund zweimal am Tag [...] zelebrieren" - dreimal jedoch nur "an Sonntagen und gebotenen Feiertagen", "wenn eine seelsorgliche Notlage dies erfordert". 

Dass unter diesen Umständen nicht die Messe im Seniorenzentrum "To huus achtern Diek" im gut 8 Kilometer weit entfernten Nordenhamer Ortsteil Blexen gestrichen wurde - die ohnehin nur zweimal im Monat stattfindet und deren Zielgruppe aus Alters- und Gesundheitsgründen an keiner anderen Messe teilnehmen kann -, sondern die "normale", war ja nun mehr als verständlich; aber zufrieden geben mochten wir uns doch nicht damit, am Freitag zu keiner Messe zu kommen. "Wir könnten beim Pfarrbüro anrufen und fragen, ob der Pfarrer uns nach Blexen mitnimmt", schlug meine Liebste am nächsten Morgen vor. "Dann könnten wir uns auf der Fahrt gleich ein bisschen mit ihm unterhalten." - "Nach Blexen müsste aber auch ein Bus fahren", wandte ich ein. "Dann können wir den Pfarrer immer noch fragen, ob er uns mit zurück nimmt. Das wäre vielleicht nicht ganz so dreist." 

Ich konsultierte den Fahrplan der öffentlichen Verkehrsbetriebe, und tatsächlich, da fuhr ein Bus zu passender Zeit. Also nahmen wir den. Theoretisch hätte der Bus direkt am Seniorenzentrum halten sollen, aber aus ungeklärten Gründen fuhr der Busfahrer gar nicht nach Blexen hinein, sondern direkt zum Anleger der Weserfähre - weshalb wir an die Fahrt noch einen gut zehnminütigen Fußweg anschließen mussten. Aber wir hatten Glück im Unglück: Obwohl wir erst einige Minuten nach 15 Uhr in der Kapelle des Seniorenzentrums ankamen, hatte die Messe noch nicht begonnen. 

Die Kapelle, die im wöchentlichen Wechsel zu evangelischen und katholischen Gottesdiensten genutzt wird, befindet sich unter dem Dach des übrigens insgesamt recht hübsch eingerichteten Seniorenzentrums und enthält außer einem als Altar genutzten Tisch, einem Ambo, einem Harmonium (das in dieser Messe nicht zum Einsatz kam) und Stühlen für knapp 20 Teilnehmer auch ein ziemlich großes - ich würde mal schätzen: über zwei Meter langes - Modell der romanischen, im 12. Jh. erbauten Blexer St.-Hippolyt-Kirche, die seit 1530 evangelisch ist. Als wir eintraten, gab es nur noch wenige freie Plätze, darunter keine zwei in derselben Reihe. Also setzten wir uns hintereinander

Pfarrer Jasbinschek trug nur eine Stola über seiner Zivilkleidung und zelebrierte allein - ohne Messdiener, ohne Lektor (wären wir etwas früher dort gewesen, hätte ich mich dafür angeboten) und ohne jede musikalische Begleitung. In seinen Begrüßungsworten erklärte der Pfarrer, da es in den nächsten Tagen ja keine weitere Messe in diesem Seniorenheim geben werde, werde er hier schon heute Heiligabend feiern. Das hieß, es wurde das Weihnachtsevangelium aus Lukas 2 verlesen - und es wurden Weihnachtslieder gesungen. -- Links neben mir saß eine Frau, die verglichen mit den meisten anderen Anwesenden noch gar nicht sooo alt, aber ziemlich schwer behindert zu sein schien. Unter anderem zitterten ihre Hände so stark (Parkinson?), dass sie die Seiten im Gesangbuch nicht umblättern konnte. Zwar sang sie ohnehin jeweils nicht erkennbar das Lied, das gerade dran war, sondern irgendwas, aber anscheinend war es ihr trotzdem wichtig, dass das Buch an der richtigen Stelle aufgeschlagen war. Beim ersten Lied tauschte die im Rollstuhl sitzende Frau rechts von mir das (von ihr bereits auf der richtigen Seite aufgeschlagene) Buch mit ihr, danach übernahm ich es, die richtige Liednummer für sie herauszusuchen. Ab dem dritten oder vierten Lied hatte sie sich daran gewöhnt und gab mir ihr Gesangbuch direkt, sobald der Pfarrer ein Lied ansagte. 

Überhaupt war es ungemein anrührend, mit was für einer kindlichen Freude die gebrechlichen und zum Teil wohl in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße dementen Senioren die Messe mitfeierten. Besonders eindrucksvoll wirkte das beim Friedensgruß und bei der Kommunion - die, angesichts der eingeschränkten Mobilität der meisten Teilnehmer, direkt am Platz gespendet wurde. -- Und was sagt nun die Liturgiepolizei? - Zunächst einmal sagt sie, dass es den besonderen Bedingungen einer solchen Seniorenheim-Messe schlicht unangemessen wäre, allzu strenge Maßstäbe anzulegen. Dies berücksichtigt, gab es eigentlich nicht viel zu meckern. Zwar war beim Vaterunser der tragische Tod eines knopfäugigen Robbenbabys zu beklagen, aber davon abgesehen kann man sagen: Stellt man sich die Liturgie als ein Fahrrad vor, dann waren eigentlich alle wesentlichen Teile dran. Also jedenfalls ausreichend zur Verkehrssicherheit. 

An den Gottesdienst schloss sich eine Kaffeetafel an, zu der eine Mitarbeiterin des Seniorenzentrums ausdrücklich auch meine Liebste und mich einlud. Der Pfarrer zeigte sich sehr interessiert, wer wir denn seien und woher wir kämen; vor der Invasion der dunkelkatholischen Blogger hatte ihn offenbar niemand gewarnt. -- Beim Kaffee sprach Pfarrer Jasbinschek auch darüber, was er an diesem Tag noch so alles zu tun habe, und dazu gehörte auch, dass er direkt von der Kaffeetafel aus noch einen Krankenbesuch in Blexen wahrnehmen wolle, einschließlich der Spendung der Krankenkommunion. An dieser Stelle hakte ich ein: "Wir hatten ein bisschen darauf spekuliert, dass Sie uns vielleicht zurück nach Nordenham mitnehmen könnten - aber wenn Sie noch einen Termin in Blexen haben..." Das mache nichts, meinte der Pfarrer: Er sei gern bereit, uns nach Hause zu fahren, und zur Spendung der Krankenkommunion könnten wir ruhig mitkommen. "Da kriegen Sie gleich mal ein bisschen was von meinem Alltag mit", fügte er jovial hinzu, und ich merkte, an meine Liebste gewandt, an: "Kannste drüber bloggen. Unter dem Titel Suse und der Priester." 

Also kamen wir mit; bevor wir das Haus betraten, vergewisserten wir uns aber bei der sehr netten Schwiegertochter der Frau, der der Besuch des Pfarrers galt, ob ihr das recht sei. Andernfalls hätten wir im Auto gewartet. -- Die Schwiegermutter war, wenn ich das richtig mitbekommen habe, schon über 90 und für ihr Alter anscheinend noch bei relativ guter Gesundheit, allerdings zu gebrechlich, um für längere Zeit das Haus zu verlassen, und deshalb schon lange in keiner Messe mehr gewesen. Der Pfarrer schlug daher vor, er könne in Zukunft, wenn er im Blexer Seniorenheim die Messe zelebriere, regelmäßig anschließend zur Spendung der Krankenkommunion bei ihr vorbeikommen.  

Zum Abschluss der kleinen Kommunionfeier (bei der der Pfarrer auch das Weihnachtsevangelium verlesen und einige Kerngedanken aus seiner zuvor im Seniorenheim gehaltenen Predigt wiederholte) schlug meine Liebste vor, das Salve Regina zu singen. War zwar eigentlich nicht die richtige Zeit im Kirchenjahr dafür, aber das Alma Redemptoris Mater kann sie nicht auswendig, und ich auch nicht. Und irgendwie war der vorangegangene Seniorengottesdienst auch eine gute Übung darin gewesen, es mit der liturgischen Korrektheit nicht übertrieben genau zu nehmen. Also sangen wir - meine Liebste, der Pfarrer und ich - gemeinsam das Salve Regina, und ich glaube, die alte Dame hatte viel Freude daran. 

Wieder im Auto, merkte Pfarrer Jasbinschek an, gerade im Bereich der Seniorenseelsorge gäbe es in dieser Gemeinde unheimlich viel zu tun, wenn man nur genug Zeit dafür hätte. -- Auf der Rückfahrt nach Nordenham kamen wir auch auf den Jakobsweg zu sprechen: Pfarrer Jasbinschek hatte - teils allein, teils zusammen mit anderen Priestern - schon dreimal den Camino Francés zurückgelegt und darüber hinaus auch schon einige Male Pilgergruppen auf anderen Jakobswegen begleitet. Als er darüber sprach, dass es auch zur Spiritualität des Pilgerns gehöre, Widrigkeiten, Schwierigkeiten, Dinge, die nicht so laufen wie geplant, in Demut und Gottvertrauen anzunehmen, stellte ich fest, dass sich das ganz mit meinen eigenen (erheblich weniger umfangreichen) Erfahrungen deckte. 

Alles in allem war Pfarrer Jasbinschek meiner Liebsten und mir ausgesprochen sympathisch, und ich hatte den Eindruck, er sei ein Landpfarrer, wie er im Buche steht: jovial, herzlich, etwas "hemdsärmelig", sehr engagiert, fest im Glauben verwurzelt und den Menschen zugewandt. Wir waren uns einig, dass es sich als ausgezeichnete Idee erwiesen hatte, zu der Messe im Seniorenzentrum zu fahren. Rückblickend gilt das umso mehr, als unser Eindruck von Pfarrer Jasbinschek, wenn wir "nur" zu den an den folgenden Tagen anstehenden Festmessen in St. Willehad gegangen wären, wohl etwas weniger positiv ausgefallen wäre... 

(Fortsetzung folgt!) 



Dienstag, 27. Dezember 2016

Dies ist nicht Stars Hollow

(...schalalala.) 

Mein Heimatstädtchen Nordenham ist flächenmäßig ungefähr so groß wie der Berliner Bezirk Reinickendorf. Allerdings nur dank der diversen eingemeindeten Dörfer und Weiler. Zugegeben, das ist in Reinickendorf nicht so völlig anders - da gibt es ebenfalls abgelegene, eher kleinstädtisch-dörflich anmutende Ortsteile mit malerischen Namen wie Frohnau, Hermsdorf, Waidmannslust und Lübars. Trotzdem hat Reinickendorf auf ungefähr derselben Fläche wie Nordenham fast zehnmal so viele Einwohner. Allein der nur knapp 6 km² große Reinickendorfer Ortsteil Wittenau hat fast so viele Einwohner wie Nordenham. 

Würde man einen durchschnittlichen Nordenhamer fragen, wie viele Ortsteile seine Heimatstadt hat, würde der - wenn er nicht gerade ein Experte für Heimatkunde ist - wohl erst mal ein langes Gesicht machen. Laut Tante Wiki sind es 35 - und die heißen beispielsweise Abbehauserwisch, Butterburg, Enjebuhr, Grebswarden, Heering und Treuenfeld. Der eigentliche Stadtkern ist sehr überschaubar. Da meine Liebste und ich kein Auto haben und es in Nordenham kaum einen nennenswerten öffentlichen Nahverkehr gibt - und an Feiertagen schon gar nicht -, habe ich mal Google Maps konsultiert, um mir einen Überblick zu verschaffen, wie weit unsere temporäre Unterkunft denn zu Fuß von den wichtigen Anlaufpunkte des Städtchens - Kirche, Bücherei, Marktplatz, Fußgängerzone, Bahnhof, Eldorado Bar - entfernt ist. Ergebnis: Die Entfernung zu allen genannten Punkten beträgt zwischen einem und zwei Kilometern. Kein Scheiß. 

Als ich vor gut zwei Wochen im dunkelkatholischen Blogger-Netzwerk ankündigte, ich würde über die Weihnachtstage mit meiner Liebsten nach Nordenham fahren und selbstverständlich darüber bloggen, merkte Anna von Blog "Katholisch ohne Furcht und Tadel" an, ihr komme dieses Nordenham vor "wie Stars Hollow". Dieser Vergleich zwischen meinem Heimatstädtchen und dem Schauplatz der Serie "Gilmore Girls" erheiterte mich ohne Ende - wenngleich mir bei einigem Nachdenken über diesen Vergleich hauptsächlich die Unterschiede auffielen. Zum Beispiel: Im Unterschied zu Stars Hollow hat Nordenham nicht nur eine, sondern sogar zwei lokale Tageszeitungen - aber keine von diesen hat ein Gedicht auf der Titelseite! Auch was schrullig-nostalgische jahreszeitliche Feste angeht, kann Nordenham nicht mit Stars Hollow mithalten. Picknickkorbversteigerung? Heuballenlabyrinth? Nix da! -- Im Ernst: Ich sehe da durchaus Luft nach oben. Zum Beispiel gibt es in Nordenham - was jetzt im Winter nicht so auffällt, im späten Frühjahr bzw. Frühsommer aber umso mehr - bemerkenswert viele Magnolienbäume. Man könnte denken, das Klima wäre hier zu rau für diese Pflanzen, aber nö, die gedeihen prächtig. Wieso wird das nicht touristisch vermarktet? Wieso gibt es kein "Nordenhamer Magnolienblütenfest"? - "Das klingt nach einer Taylor-Idee", meinte meine Liebste, als ich ihr davon erzählte. Na schön. Ich versuche mal, das als Kompliment zu nehmen. 

Einen Weihnachtsmarkt gibt es in Nordenham natürlich, aber der hatte, als meine Liebste und ich in der Stadt eintrafen, bereits geschlossen. Was schade ist, denn der Nordenhamer Weihnachtsmarkt ist berühmt: Sogar Horst Evers hat schon mal darüber geschrieben. Ich hätte meiner Liebsten gern gezeigt, dass dieser Weihnachtsmarkt tatsächlich so ist, wie Horst Evers ihn schildert. Na ja: Hat nicht sollen sein. Noch ärgerlicher ist, dass sich dies womöglich auch in künftigen Jahren nicht wird nachholen lassen - da die Zukunft der Eisbahn, die in der Evers-Geschichte eine zentrale Rolle spielt, einem Bericht der Nordwest-Zeitung zufolge "auf der Kippe" steht. Dieses Jahr allerdings wäre meine Liebste wohl ohnehin nicht aufs Eis gegangen - "El Fußo" hätte da sicherlich Einwände gehabt. 

Pablo, unser kleiner Esel aus dem Zoo Eberswalde, war auch mit in Nordenham. Wie man sieht, hat's ihm gefallen. 

Immerhin war das Wetter ortstypisch: wolkig-trüb, nieselig, Temperaturen zwischen fünf und zehn Grad. Und es kamen regionale kulinarische Spezialitäten auf den Tisch - am 23.12. zum Beispiel Grünkohl mit Pinkel, auf ortsübliche Weise zubereitet von meiner Mutter. Sehr lecker. Eigentlich ein traditionelles Neujahrsessen, aber so lange hatten wir gar nicht vor zu bleiben. -- Eine weitere regionale Spezialität für die Jahresendfeierlichkeiten ist Heringssalat. Dieser traditionellen Speise widmete die NWZ eine Woche vor Weihnachten einen umfangreichen Artikel, aus dem man erfahren konnte, "der Fischsalat" biete "gleich mehrere Vorteile": "er ist regional, schmeckt und macht satt, vor allem aber lässt e[r] sich gut vorbereiten, auch in größeren Mengen - und das unter Einbeziehung der ganzen Familie". Stimmt, das wurde bei uns zu Hause auch so gemacht, als ich ein Kind war. Das Rezept, das die NWZ abdruckte, wich allerdings in einem bemerkenswerten Detail von dem mir bekannten ab: Auf je 500g Rote Bete und Matjeshering wurden hier 150-200g Mettwurst veranschlagt. -- Heringssalat mit Mettwurst? Wer macht denn sowas? "Na ja, so sind die Butjenter: Die tun überall Mett dran", sagte ich zu meiner Liebsten - das stimmt zwar nicht, ist aber eine schöne Behauptung und ergab einen feinen Running Gag für die Weihnachtstage. Zum  Beispiel beim Verzehr von Christstollen zum Kaffee. 
"Hier in der Gegend isst man Christstollen manchmal auch mit Butter." 
"Und Mett."
"NEIN!!" 

(Auch eine schöne, wenngleich fiktive, lokale Spezialität: Tante Christels Christ-Mett. Mit Lebkuchengewürz und Glitzerpuder. Oder so.) 

Am Heiligabend übernahm jedoch meine Liebste die Zubereitung des Essens. Es gab: 

"Weihnachtslachs auf Spinatbett im Blätterteig-Körbchen"! 

Klingt gut? Schmeckt noch besser! Ein Stück Fisch kam allerdings ohne Blätterteighülle in den Backofen. "Daran kann man dann am einfachsten erkennen, wann der Fisch gar ist", erklärte meine Liebste. 
"Ach so", warf ich ein, "das ist also so ähnlich wie mit dem Kanarienvogel im Kohlebergwerk." 
"Ja", bestätigte meine Liebste, "mit dem Unterschied, dass der Lachs schon tot ist." 





(Meine Mitwirkung an der Zubereitung dieses Festmahls beschränkte sich übrigens darauf, den Salat zu waschen und zu zupfen. Letzteres eine sehr langwierige Tätigkeit, aber meine Liebste beruhigte mich: "Das ist bei Feldsalat immer so. Das wird im Märchen Rapunzel durch die jahrelange Gefangenschaft im Turm symbolisiert.")

Inzwischen waren auch meine beiden Schwiegermütter (ja, ich habe zwei, obwohl ich nur eine Frau habe) angereist, um mit uns Weihnachten zu feiern. Zur Kirche gingen meine Liebste und ich allerdings allein, sowohl in der Heiligen Nacht als auch am darauffolgenden Vormittag. Dazu folgt in Kürze noch ein eigener Artikel. Hier erwähne ich das nur deshalb, weil wir auf dem Weg zur Kirche einen unerwarteten Umweg in Kauf nehmen mussten - denn ein Teilstück der Walther-Rathenau-Straße war gesperrt, und zwar einschließlich des Gehwegs. Grund dafür waren Sicherungsbauarbeiten am baufälligen Rathausturm. Über dieses ungeliebte Wahrzeichen der Stadt habe ich ja schon vor über einem Jahr etwas geschrieben. Damals, im Wahlkampf zur Bürgermeisterwahl, hatten sich alle zur Wahl stehenden Kandidaten dafür ausgesprochen, den Turm abzureißen. Nur ich war dagegen gewesen, aber ich habe ja nicht kandidiert. (Was irgendwie immer noch schade ist, schon allein wegen des Magnolienblütenfests.) Nun, 14 Monate später, steht der Turm immer noch - allerdings abzüglich einiger unbotmäßiger Fassadenteile, die sich eigenmächtig verabschiedet haben. Ende Juli beschloss die Stadt Nordenham, als Sofortmaßnahme zum Schutz von Passanten gegen diese herabfallenden Betonbrocken Sperrgitter aufzustellen; zwischenzeitlich war geplant, die Walther-Rathenau-Straße mit einem 37,5 m langen Tunnel zu sichern - was Ende September aber wieder verworfen wurde, und zwar aus Kostengründen. Stattdessen wurde eine provisorische Fassadensanierung beschlossen, für schlappe 300.000 Euro. Merken wir uns diese Zahlen für künftige Diskussionen darüber, dass die Stadt Nordenham notorisch knapp bei Kasse sei. Abgerissen werden soll der Turm nämlich letzten Endes wohl doch - nur nicht jetzt, sondern erst in vier Jahren oder so. Die komplette Rathausturm-Saga kann man nachlesen, wenn man in die Archivsuche von NWZ online den Suchbegriff "Rathausturm" eingibt. Ich kann nur sagen: Die Schildbürgerstreiche sind nichts dagegen.

Meine Schwiegermütter waren übrigens, anders als meine Liebste und ich, mit dem Auto gekommen, und das nutzten wir, um am Nachmittag des 25. Dezembers alle zusammen eine Rundfahrt durch Butjadingen zu machen. Für mich lauerten da Kindheitserinnerungen an jeder Ecke. Leider war das Wetter garstig - so garstig, dass die Bauern sogar die Kühe reingeholt hatten. Am "Preußeneck" in Eckwarderhörne stiegen wir trotzdem aus und spazierten ein wenig am Wasser entlang. Und nebenbei konnte ich mit meinen heimatkundlichen Kenntnissen Eindruck schinden - nicht umsonst bin ich schon mehr als mein halbes Leben lang Mitglied im Rüstringer Heimatbund... (Wozu mir einfällt: Müsste es nicht nach 25jähriger Mitgliedschaft eine Ehrennadel oder sowas geben? Da muss ich wohl mal nachhaken, denn die wäre bei mir allmählich überfällig.)





Und am Abend stand dann für meine Liebste und mich eine Kneipentour auf dem Programm - nachdem wir den Freitagabend gepflegt im Bistro am Markt und den Heiligabend teils im Kreise der Familie und teils in der Kirche verbracht hatten. Schon als ich das erste Mal zusammen mit meiner Liebsten in Nordenham gewesen war, hatte ich ihr die Kultkneipe Eldorado zeigen wollen, aber da hatte die zu gehabt. Dieses (sub-)kulturelle Highlight galt es nun also nachzuholen; aber zuvor wollte ich mir mit ihr noch zwei andere Kneipen ansehen, die es bei unserem vorigen Nordenham-Aufenthalt entweder noch nicht gegeben hatte oder deren Existenz uns seinerzeit irgendwie entgangen war. Das betraf an erster Stelle das "Jenseits". Im Vorfeld meines diesjährigen Weihnachts-Trips nach Nordenham hatte mit ein früherer Mitschüler via Facebook mitgeteilt:
"Ich war gerade vor ein paar Tagen dort. Theologisch am interessantesten fand ich allerdings die Tatsache, dass es dort (länger schon? erst jetzt?) eine Kneipe gibt, die den schönen Namen 'Jenseits' trägt. Man kann sich also in Nordenham jetzt im Jenseits verabreden oder sich dadurch entschuldigen, dass man gerade im Jenseits war..."
Angeregt durch diese Mitteilung hatte ich ein bisschen im Netz recherchiert und war auf ein Foto gestoßen, das ich später bemerkenswerterweise nicht mehr wiederfand, das aber den (wie sich zeigte, irrigen) Eindruck erweckte, das "Jenseits" befinde sich in einem ganz normalen Wohnhaus. "Als hätte da jemand kurzerhand sein Wohnzimmer zu einer Kneipe deklariert", sagte ich zu meiner Liebsten und meiner Mutter.
"Wer weiß, vielleicht ist ja genau das wirklich der Fall."
"Wäre aber wohl gar nicht so leicht, dafür eine Konzession zu kriegen", gab ich zu bedenken.
"Na ja, vielleicht ist es ja auch umgekehrt, und der Wirt hat seine Kneipe mit großem Aufwand so gestaltet, dass sie wie ein Wohnzimmer aussieht."

Hm... An sich gar kein doofes Konzept.

"There's a world outside your Wohnzimmer 
Und da willst du gar nicht hin 
Bleib doch mal zu Hause und trink hier!" 

(Alternative Textvariante: "und trink Bier"...) 

In Wirklichkeit sah das "Jenseits" aber ganz anders aus als erwartet:


Das Whisky-Sortiment in diesem Lokal erwies sich als sehr überschaubar - der einzige Scotch, den man hier kriegen konnte, war Johnny Walker -, aber dafür wurde das güldene Nass nach Augenmaß eingeschenkt, und zwar sehr reichlich. Dazu gab es König Pilsener aus Weizenbier-Gläsern. Die Portionsgrößen der Getränke in Verbindung mit den wirklich äußerst günstigen Preisen veranlassten uns, länger im "Jenseits" zu bleiben, als wir ursprünglich vorgehabt hatten. Schließlich zogen wir aber doch weiter ins "Millenium", denn da gab es Live-Musik. Wenn mich jetzt jemand darüber belehren will, dass "Millennium" mit ZWEI N geschrieben wird, kann ich nur erwidern: Sagt das nicht MIR.


Eine ehemalige Mitschülerin, die wir schon am Freitagvormittag in der Stadt getroffen hatte, hatte uns ausdrücklich vor der Band, die im "Millenium" auftrat, gewarnt, aber natürlich mussten wir trotzdem hin, oder gerade deswegen. Allerdings wurden wir von den Schallwellen, die aus den Boxen drangen, praktisch direkt wieder aus dem Laden 'rausgespült. Nee, im Ernst: Es war viel zu laut für einen so kleinen Raum. Also auf dem Absatz kehrtgemacht und ab ins Eldo.

Das Bild steht NICHT auf dem Kopf. 
Besagtes Kult-Lokal hatte gerade erst aufgemacht, aber der einzige Gast, der sich schon vor uns dort eingefunden hatte, war tatsächlich ein alter Bekannter von mir, zudem einer, den ich seit mindestens zehn Jahren (können auch schon 15 gewesen sein) nicht gesehen hatte. Wir hatten uns also viel zu erzählen, auch meine Liebste beteiligte sich lebhaft an dem Gespräch, und bald füllte sich das Eldo dann auch beträchtlich. Unter den Gästen waren weitere alte Bekannte, das Bier war billig, die Bedienung prompt, und die Musik -- kam, was zu den interessantesten Besonderheiten des Eldo gehört, aus einer Jukebox. Das ist vor allem deshalb so klasse, weil sich auf diese Weise die Zusammensetzung des Publikums ziemlich gut in der Musikauswahl abbildet. So kam an diesem Abend ein buntes Potpourri aus Punk, R'n'B, Beatles, Guns 'N Roses, Nirvana und Schlagern zu Gehör, und ich war endlich mal nicht der einzige Kneipengast, der den einen oder anderen Song lauthals mitsang.

Zwischendurch erfuhr ich über Facebook, dass George Michael verstorben war - und fast unmittelbar darauf ertönte aus der Jukebox -- nein, NICHT "Last Christmas", sondern sein 1987er Solo-Hit "Faith". Allerdings nicht im Original, sondern in einer krass krachigen Punk-Coverversion. Zufall oder Absicht? Beides wäre dem Eldo, beziehungsweise seinem Publikum, durchaus zuzutrauen.


Mittwoch, 21. Dezember 2016

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 10

In meiner Besprechung von Dr. A. Rodes zeitgeschichtlichen Sensationsroman Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau (München 1869) war ich zuletzt bis zur Geburt der Titelheldin gekommen. Ich weiß, das klingt komisch, aber ich kann ja nun auch nichts dafür, dass der Autor über 500 Seiten, 11 Lieferungshefte und 40 Kapitel füllt, ehe er mal seine nominelle Hauptfigur das Licht der Welt erblicken lässt. Bis sie aktiv in die Handlung eingreifen kann, werden aber naturgemäß noch einige Jahre Handlungszeit vergehen. Schauen wir uns also indessen mal an, was sonst noch so los ist in Dr. Rodes Romanungetüm.  

Wir schreiben das Jahr 1817. Jaromir Ubryk ist inzwischen verstorben, ebenso auch Elkas Tante, deren in ihren letzten Lebensjahren zum Ausbruch gekommene starke Frömmigkeit auf den Seiten 497-500 noch einmal ausgiebig polemisch ausgemalt wird. Nachdem Elka ihr ausreden konnte, ihr Vermögen der Kirche zu vermachen, hat sie es schließlich dem Jesuitenzögling Wratislaw vererbt - was auf den ersten Blick mehr oder weniger auf dasselbe hinauszulaufen scheint, aber warten wir's mal ab... Einer von Kasimir Ubryks jüngeren Brüdern ist "als Offizier im Kampfe gegen die Russen geblieben" (S. 496), ein anderer ist Kapuzinermönch geworden - was dem Autor einmal mehr Gelegenheit zu polemischen Ausfällen gegen das Ordenswesen gibt (S. 497: "Gott ist größer als Ihr ihn Euch denkt; er verlangt ein reines Herz und gute Werke, nicht aber braune oder schwarze Kutten und geschorne Köpfe, worin Eure ganze Heiligkeit und Frömmigkeit besteht!"), darüber hinaus aber auch zukünftig noch handlungsrelevant werden könnte. 

Elkas Part-Time-Lover Hugo von Rassow wird übrigens erst auf S. 500 in einer Randbemerkung wieder erwähnt, etwas ausführlicher dann auf S. 503ff., als Elka Kasimir von ihren Geschicken seit seiner Gefangennahme berichtet. Es scheint, dass Elkas Affäre mit Hugo recht bald nach ihrem gemeinsamen Paris-Aufenthalt sang- und klanglos zu Ende gegangen ist - was den Verdacht nährt, die ganze Hugo-Handlung sei ein nachträglicher Einschub gewesen (also schon so ungefähr die vierte oder fünfte "Schicht" der Romanstruktur). 

Durch eine unbedachte Äußerung Elkas erfährt Kasimir, dass Rebinsky sie in jungen Jahren verführt hat, und auf sein beharrliches Nachfragen gesteht ihm Elka, dass aus dieser Liaison ein Sohn namens Ladislaus hervorgegangen ist, der ohne Wissen um seine wahre Herkunft bei einer Pflegefamilie lebt. Kasimir besteht darauf, dass er und Elka den Knaben adoptieren und zu sich nehmen, und Elka gibt seinem Drängen nach. Kurz darauf taucht ein Schreiben des verstorbenen Jaromir Ubryk an seinen Sohn Kasimir auf, in dem der Vater die Vertauschung seines jüngsten Sohnes mit der Tochter der Gräfin Satorin gesteht, die Ergebnisse seiner Nachforschungen nach dem Verbleib des verschwundenen Mädchens schildert und Kasimir beauftragt, die Suche fortzusetzen. Daraufhin besucht Kasimir mit Elka die Gräfin Satorin, hauptsächlich in der Absicht, seinen jüngsten Bruder kennenzulernen; als er Yelva, die Zofe der Gräfin, sieht und ihren Namen erfährt, schließt er anhand der Angaben im Brief seines Vaters sofort, dass Yelva niemand anders ist als die verschwundene leibliche Tochter der Gräfin. 

Es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Tragikomik - und strapaziert die Glaubwürdigkeit ziemlich arg -, dass Kasimir somit auf Anhieb etwas entdeckt, was sein Vater in jahrelangen Nachforschungen nicht herausgefunden hat, obwohl es direkt vor seiner Nase lag; aber derlei Inkonsistenzen finden sich beispielsweise auch in Karl Mays erstem (und enorm erfolgreichen) Kolportageroman Waldröschen zuhauf. Yelvas Identität durfte einfach nicht früher entdeckt werden, da hat die Wahrscheinlichkeit zurückzustehen. Doch auch in diversen Details häufen sich an dieser Stelle die Anschlussfehler: 
  • Laut S. 269-272 hieß Jaromirs jüngster Sohn Josef; jetzt heißt er Alexander. Natürlich kann die Gräfin dem Kind einen neuen Namen gegeben haben, aber das würde nicht erklären, warum Jaromir ihn in einem Brief an Kasimir "Alexander, Dein[en] Bruder" nenne sollte, wenn der Adressat des Briefes ihn als Josef gekannt hat (S. 512).  
  • Von Elkas unehelichem Sohn Ladislaus heißt es auf S. 510, er habe "jetzt das 18. Jahr erreicht", d.h. er ist 17. Einige Zeit später heißt es auf S. 517 auch von Alexander "Er zählte jetzt 17 Jahre", dem Handlungsverlauf der ersten Kapitel zufolge müsste Ladislaus jedoch ungefähr ein Jahr jünger sein als Josef/Alexander und Judith/Yelva. 
  • Und schließlich der dickste Anschlussfehler: Auf S. 418 erzählt Yelva der Gräfin, dass sie eigentlich Judith heißt und von den Zigeunern aus dem Haus ihrer (vermeintlichen) Eltern geraubt wurde; Jahre später, auf S. 519, weiß die Gräfin nichts davon. 
Jedenfalls ist die Gräfin Satorin über die Erkenntnis, dass ihre vermisste Tochter tatsächlich schon längst bei ihr im Hause lebt, eher bestürzt als erfreut - was der Autor auf S. 520 ausführlich "psychologisch" begründet. Sie ist der Meinung, Yelva bzw. Judith dürfe ihre wahre Herkunft nicht erfahren, solange ihr Vater - hinter dessen Rücken die Kindsvertauschung seinerzeit eingefädelt wurde - noch lebt; folglich bleibt Judiths Stellung als Zofe vorerst unverändert. Dass sie und Alexander sich, wie ich schon vermutet hatte, ineinander verlieben, sieht die Gräfin nicht ungern: Sie hofft, wenn die beiden heiraten, würde Judith/Yelva die ihr zustehende Stellung einnehmen können, ohne dass die Kindsvertauschung (und damit auch Alexanders niedere Herkunft) enthüllt werden müsste, und somit wäre dann alles gut. Allerdings beginnt auch der Graf - also Judith/Yelvas leiblicher Vater - ein Auge auf das Mädchen zu werfen, sobald dieses zu einer ausnehmend schönen jungen Frau mit "schwellende[m] Busen" (S. 524) herangewachsen ist. Als die Gräfin ihren alternden Gatten bei Zudringlichkeiten gegenüber dem Mädchen ertappt, sieht sie die Notwendigkeit ein, Judith/Yelva aus dem Haus zu schaffen, um einem inzestuösen Verhältnis vorzubeugen. Elka erklärt sich bereit, das Mädchen als Gesellschafterin zu sich zu nehmen. Doch dort setzt sich ihre Rolle als verfolgte Unschuld fort: Sowohl der junge Ladislaus als auch Kasimir stellen der schönen Zofe nach. Zum Eklat kommt es, als beide Männer sich eines Nachts unabhängig voneinander in Yelvas Zimmer zu schleichen versuchen und das Mädchen um Hilfe schreit. Als Konsequenz aus diesem Zwischenfall schickt Elka die Zofe zur Gräfin Satorin zurück; glücklicherweise ist inzwischen der Graf gestorben, sodass Alexander und Yelva sich mit Einverständnis der Mutter verloben und ein Jahr später, nach Ablauf der Trauerzeit um den Vater, heiraten können. "Wenige Jahre darauf schied auch die alte Gräfin Satorin aus dem Leben. [...] Das Geheimnis des Kindestauschs aber hatte sie mit sich in das Grab genommen." (S. 563) 

Damit ist die im IX. Kapitel begonnene Kindsvertauschungshandlung also in der 12. Lieferung abgeschlossen - wenngleich nicht auszuschließen ist, dass Graf Alexander Satorin, der ja in Wirklichkeit ein Ubryk ist, in Zukunft noch eine Rolle spielen wird - bisher hat er ja keinen besonders aktiven Anteil an der Handlung gehabt. -- Die Schicksale Judiths bzw. Yelvas, die nach ihrer Vertauschung gegen das Kind einer armen Familie in einer Schenke vergessen, von einem jüdischen Händler mitgenommen, an eine andere jüdische Familie verkauft, von Zigeunern geraubt und zum Tanzen und Wahrsagen ausgebildet wurde, ehe sie als Kammermädchen ins Schloss ihrer Eltern kommt, ohne dass sie oder diese um ihre wahre Identität wissen, und die schließlich den jungen Mann heiratet, gegen den die einst ausgetauscht wurde, wären, wie schon mindestens einmal angemerkt, durchaus Stoff für ein eigenständiges Werk. Die Verbindungen zur sonstigen Handlung sind spärlich und lassen sich in wenigen Stichpunkten zusammenfassen: 
  • Der Vater des gegen die Grafentochter ausgetauschten Knaben heißt Ubryk. 
  • Dieser wird später Polizeichef und kommt im Zuge der Ermittlungen gegen eine Zigeunerbande auf die Spur des verschwundenen Mädchens, verliert diese Spur aber wieder. 
  • Sein Sohn und seine Schwiegertochter kommen hinter Yelvas Identität und klären ihre Mutter darüber auf. 
  • Später nehmen sie das Mädchen als Gesellschafterin zu sich, als sie vorübergehend das Schloss ihrer Eltern verlassen muss. 
Wie wir bereits gesehen haben, sind diese Verzahnungen mit anderen Handlungssträngen nicht durchweg plausibel geraten, und man könnte sich unschwer eine eigenständige Fassung der Kindsvertauschungsgeschichte vorstellen, in der die betreffenden Handlungsanteile entweder gänzlich fehlen oder aber von anderen Personen übernommen werden. Eine solche eigenständige Fassung würde allerdings verlangen, dass einige Teile der Handlung ausführlicher gestaltet wären, und beispielsweise käme es mir wesentlich stimmiger vor, wenn Judith alias Yelva mehrere Jahre bei den Zigeunern zubrächte. 

Alles in allem halte ich es, wie schon mehrfach angemerkt, für wahrscheinlich, dass der Verfasser zu dem Zeitpunkt, als er den Auftrag bekam, seinen Jesuiten- und Klosterroman zu einem Enthüllungsroman über Barbara Ubryk umzuarbeiten, bereits einen Entwurf zu einer Kindsvertauschungsgeschichte in der Schublade hatte, der eventuell erst teilweise ausgearbeitet war und den er nun durch Namensänderungen, durch das Hinzufügen neuer Passagen und womöglich auch durch Kürzungen so bearbeitete, dass er sich mehr schlecht als recht in den Roman einfügen ließ. Dass er damit weder dieser Geschichte noch dem Gesamtroman einen besonders guten Dienst erwiesen hat, steht auf einem anderen Blatt; aber man muss bedenken, dass er unter erheblichem Zeitdruck arbeitete. 

Eingeschoben in die Auflösung der Kindsvertauschungsgeschichte ist das Kapitel XLII, "Eine Nacht im Kabinete des Jesuiten-Generals" (S. 533-553), in dem "Pater Fortis, de[r] General des Ordens" (S. 534) Nachrichten von Ordensangehörigen aus allen Teilen der Welt erhält - darunter auch die "Beichte der Königin von Spanien" (S. 536), über die der Ordensgeneral sagt: "[D]a kann man sich doch erheitern, wenn man ihre Klagen über ihren Hofdamen liebenden Herrn Gemahl und ihre eigenen neunundneunzig Liebschaften liest, die sie des Tages über mit Generälen und Hofschranzen anknüpft" (S. 536f.). Der Autor denkt hier vermutlich an Maria Christina von Bourbon-Sizilien (1806-1878), die in der Tat für ihre Liebschaften berüchtigt war; aber das ist ein Anachronismus, denn Maria Christina wurde erst 1829 Königin von Spanien, und ihre Vorgängerin, Maria Josepha von Sachsen (1803-1829), war kränklich und tugendhaft und starb kinderlos im Alter von 25 Jahren. Sehr wahrscheinlich ist allerdings, dass Dr. Rode sich überhaupt keine großen Gedanken darüber gemacht hat, wer zur Handlungszeit dieses Kapitels Königin von Spanien war. 

Die zwanzig Nachrichten, die der Ordensgeneral erhält, sind vom Autor sämtlich darauf berechnet, den schurkischen Charakter des Jesuitenordens zu unterstreichen, aber nur zwei davon stehen in einem erkennbaren Zusammenhang mit der Gesamthandlung des Romans. Eine davon betrifft die Beichte des Galeerensträflings Pierre Latif - abgelegt unmittelbar vor dessen Tod -, aus der hervorgeht, dass dieser vor Jahren den Pater Rebinsky in der Seine ertränkt hat. Der Orden hatte bisher nichts über die Gründe für Rebinskys Verschwinden gewusst und geargwöhnt, er wäre mit einer Frau durchgebrannt - "denn wie aus seinen Akten ersichtlich ist, genoß er schon hier einen üblen Ruf in dieser Hinsicht" (S. 548). -- Wesentlich wichtiger ist jedoch die "Anzeige des Rektors Steinhuber zu Rom über einen dem Orden drohenden großen Verlust durch wahrscheinlichen Todesfall eines Zöglings Zolkiewicz" (S. 535) - also Elkas Bruder Wratislaw. Wie der Rektor des Collegium Romanum dem Ordensgeneral auseinandersetzt, hat der junge Graf Wratislaw seit dem Tod seiner Tante plötzlich einen entschiedenen Widerwillen an den Tag gelegt, in den Orden einzutreten, und hat schließlich sogar versucht, aus dem Kolleg zu fliehen, wurde aber wieder eingefangen und erkrankte in der Folge so schwer, dass mit seinem baldigen Tod gerechnet wird. Da er jedoch noch nicht mündig ist, würde im Fall seines Todes vor seinem 21. Geburtstag sein Vermögen an die Familie zurückfallen - und das gilt es zu verhindern: "Nein, nein, dieses Vermögen darf uns nicht entkommen, wir brauchen ohnehin sehr viel Geld für Bestechungen" (S. 543). Der Rektor besucht daraufhin Wratislaw am Krankenbett, um ihn dazu zu bewegen, sein Testament zu machen; er liest ihm einen Testamentsentwurf vor, in dem Elka und ihre Kinder als Erben eingesetzt werden und das Jesuitenkolleg lediglich 5.000 polnische Gulden erhalten soll, legt ihm dann jedoch ein anderes Testament zur Unterschrift vor, das vorsieht, den Orden zum Universalerben einzusetzen. Wratislaw bemerkt den Schwindel zwar, lässt sich aber durch die Androhung ewiger Höllenqualen dennoch zur Unterschrift nötigen. Als er kurz darauf stirbt, lassen die Jesuiten den Leichnam verschwinden und verheimlichen seinen Tod bis nach seinem 21. Geburtstag; dann richten sie ihm ein feierliches Begräbnis aus, bei dem jedoch nur "ein Strohwisch und ein Holzklotz" im Sarg liegen (S. 553). 

Die Nennung des "Pater Fortis" als Generaloberer des Jesuitenordens bringt allerdings wieder einmal ein chronologisches Problem mit sich: Aloisius (Luigi) Fortis wurde erst am 10. Oktober 1820 in dieses Amt gewählt. Wenn er also bereits zu einem Zeitpunkt Ordensgeneral ist, als Wratislaws 21. Geburtstag noch um zwei Monate in der Zukunft liegt (vgl. S. 542), dann dürfte Wratislaw zu Beginn der Romanhandlung noch gar nicht geboren gewesen sein. -- Relativiert wird dieser Fehler allerdings dadurch, dass Pater Fortis - wie schon einmal angemerkt - seinen Vorgänger Brzozowski bereits zu dessen Lebzeiten in Rom vertreten hat, da dieser Russland nicht verlassen durfte. 

Abgesehen von einigen Erwähnungen Elkas, die mit dem gleichzeitigen Stand der sonstigen Romanhandlung korrespondieren, aber einigermaßen mühelos nachträglich eingefügt worden sein können, spricht wenig dagegen, dass derjenige Teil des Kapitels, der sich um den Tod Wratislaws dreht, im Wesentlichen bereits der "ersten Schicht" der Romanstruktur angehört haben könnte - d.h. einer Bearbeitungsstufe, in der an eine Verknüpfung der Intrigenhandlung um das Erbe der gräflichen Familie Zolkiewicz mit dem realen Fall der Barbara Ubryk überhaupt noch nicht gedacht war. -- Der Beginn des auf den Abschluss der Kindsvertauschungshandlung folgenden XLIV. Kapitels (S. 564) kündigt einen erneuten Zeitsprung an, der in das Jahr 1830 führt; diesen Umstand nehme ich mal zum Anlass, den Roman vorläufig zur Seite zu legen. Im nächsten Jahr geht`s weiter! 



Dienstag, 20. Dezember 2016

War On Christmas

Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust, etwas über den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz zu schreiben. Aber gleichzeitig würde es sich auch irgendwie falsch anfühlen, es nicht zu tun. 

Meine Liebste hatte gestern einen sehr anstrengenden (und langen) Arbeitstag und musste heute wieder sehr früh raus; deshalb wollte sie, als sie gestern Abend nach Hause kam, möglichst sofort schlafen gehen, und ich schloss mich dem an. Dachte mir, das könnte mir auch mal gut tun. 

Heute morgen gegen fünf Uhr stellte ich dann fest, dass 15 Personen sich über Facebook erkundigt hatten, ob ich in Sicherheit sei. Erst dadurch bekam ich mit, was überhaupt passiert war. Jemand hatte einen LKW ungebremst auf das Gelände des Weihnachtsmarkts am Breitscheidplatz gesteuert, hatte mehrere Marktbuden niedergewalzt und zwölf Menschen getötet. Rund 50 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. 

Man erwarte jetzt bitte keine eingehende und wohlabgewogene Analyse von mir. Dafür ist die Informationslage im Moment noch zu schlecht und ich emotional noch zu aufgewühlt. Auch wenn, soweit ich es bis jetzt überblicken kann, von meinen Berliner Freunden und Bekannten niemandem etwas passiert ist. 

Nachdem meine Liebste zur Arbeit gefahren war, ging ich zum Frühstücken in eine Bäckerei. Dort lief Radio. Ein Privatsender. Geschwätzige Betroffenheitsroutine, unterbrochen von Werbeblöcken (klar, der Sender muss ja Geld verdienen) und seichter Popmusik. Unversehens erinnerte ich mich an den 11. September 2001, und wie die Medien da reagiert hatten; verglichen damit erschien mir das Radioprogramm an diesem Morgen erschreckend banal. Obwohl es sich doch diesmal um einen Anschlag vor der eigenen Haustür handelt. Einerseits zeigt das wohl, wie sehr wir uns in den letzten 15 Jahren an Terror gewöhnt haben. Im Grunde wäre es ja mehr als naiv gewesen, anzunehmen, dass es nicht irgendwann auch Berlin treffen würde. Gleichzeitig war in den Wortbeiträgen des Radiosenders der mehr oder weniger verzweifelte Versuch zu spüren, sich an die Vorstellung zu klammern, es handle sich möglicherweise nicht um einen Terroranschlag. Also bitte. Was denn sonst

Und zwischendurch verkündete die Moderatorin, der Sender werde heute keine Weihnachtslieder spielen. Na super. Backstreet Boys, Phil Collins und diese super-grässliche "Sound Of Silence"-Coverversion von Disturbed, alles kein Problem, aber Weihnachtslieder sind ein No-Go an diesem Tag. Das soll mir mal einer erklären. Was für ein Signal man damit senden will. 

Man kann vielleicht der Meinung sein, wenn wenige Tage vor Weihnachten ein Weihnachtsmarkt angegriffen wird, dann habe das nicht mehr und nichts anderes zu bedeuten, als dass der Täter eben möglichst viele Menschen habe treffen wollen. Ich glaube aber, das ist zu kurz gedacht. Ein Terroranschlag richtet sich nie nur gegen die Menschen, die unmittelbar physisch davon getroffen werden. Er hat immer auch Symbolcharakter. Und dafür ist die Auswahl des Ziels alles andere als unerheblich. Ein Angriff auf einen Weihnachtsmarkt ist ein Angriff auf Weihnachten. Ob damit in erster Linie das christliche Hochfest der Geburt des Herrn gemeint ist oder das säkulare Hochfest des Konsums, darüber mag man diskutieren und spekulieren. So oder so wäre es die denkbar falscheste Reaktion auf diesen Anschlag, Weihnachten gewissermaßen abzusagen

Aus christlicher Sicht sollte es auf der Hand liegen, dass die Hoffnung, die das Weihnachtsfest verkörpert - die Hoffnung auf die Ankunft des Herrn - genau das ist, was wir in Zeiten des Terrors mehr denn je brauchen. Dass landauf, landab über politische Konsequenzen aus diesem Anschlag debattiert wird, ist sicher unvermeidlich und innerhalb gewisser Anstandsgrenzen auch legitim, ja notwendig. Noch viel notwendiger - für Christen zumindest - ist es jedoch, auf Gott zu vertrauen und zu beten. Sehr eindringlich auf den Punkt gebracht hat dies Elizabeth Scalia in einem Beitrag für das englischsprachige Online-Portal Aleteia, den ich hier verlinken möchte:  


In der Berliner St.-Hedwigs-Kathedrale wird es heute um 12 Uhr ein Gebet für die Opfer des Anschlags und für deren Angehörige geben. Die Einladung zu diesem Gebet richtet sich ausdrücklich an alle Berliner, unabhängig von Konfession oder Weltanschauung. Ich habe überlegt, hinzugehen, nehme aber an, die Kathedrale wird aus allen Nähten platzen. Daher gehe ich wohl lieber zum Angelusgebet und zur Eucharistischen Anbetung in St. Clemens. Auch andere Kirchen sind zum Gebet geöffnet. 


O Schlüssel Davids
und Zepter des Hauses Israel,
du öffnest und niemand kann schließen,
du schließest und niemand vermag wieder zu öffnen.
Komm, o Herr, und befreie aus dem Kerker die Gefangenen,
die da sitzen in Finsternis
und im Schatten des Todes.


Amen. 



Freitag, 16. Dezember 2016

Eigentlich bin ich gar nicht so

Am vergangenen Samstagabend war mal wieder Nightfever in der Rosenkranz-Basilika in Steglitz. Wenn es sich irgendwie einrichten lässt, gehe ich immer - d.h. einmal im Monat - zum Nightfever. Weil's einfach immer super ist. Ich sag's immer wieder gern: Wenn ich vom Nightfever komme, fühle ich mich jedesmal so, als hätte ich Superkräfte. Aber in der Rosenkranz-Basilika war ich schon lange nicht mehr gewesen: Das letzte Mal, dass Nightfever an diesem Standort stattfand, war am Tag meiner Hochzeit gewesen, und davor war ich auf dem Jakobsweg - obwohl, ich glaube, da hatte Nightfever sowieso Sommerpause gehabt. 



Wenngleich die Gestaltung von Nightfever in den Grundzügen wohl überall auf der Welt gleich ist und die beiden Berliner Standorte obendrein vom selben Team "bespielt" werden, gibt es im Detail doch einige Unterschiede zwischen dem Nightfever in Steglitz und dem in Kreuzberg. Dazu gehört, dass in der Rosenkranz-Basilika das Allerheiligste schon während des Auszugslieds der Vorabendmesse ausgesetzt wird und die Anbetung sich somit unmittelbar an die Messe anschließt. Im Prinzip finde ich das schöner, als wenn - wie in St. Bonifatius in Kreuzberg - eine fast einstündige Unterbrechung dazwischen liegt. Diesmal allerdings - vielleicht, weil ich diese Unterbrechung inzwischen einfach gewöhnt bin - verspürte ich schon kurz nach dem Beginn der Anbetung das Bedürfnis, erst mal ein paar Minuten an die frische Luft zu gehen. Zum Anbeten blieben schließlich noch rund drei Stunden Zeit. 



Also ging ich raus, und das erwies sich als bemerkenswerte Fügung, denn draußen traf ich zu meiner Überraschung Valerie

-- Welche Valerie? Die Valerie von "Valerie und der Priester". Ich musste zweimal hinsehen, um mich zu vergewissern, dass sie es wirklich war; so unverwechselbar sieht sie schließlich nicht aus, und ich hatte sie ja erst einmal "in echt" gesehen - beim Kreis junger Erwachsener in der Pfarrei St. Antonius. Gleichwohl erkannte sie mich auch, also unterhielten wir uns ein bisschen. Sie wolle sich mal ansehen, wie Nightfever in Berlin so ablaufe, verriet sie. 
"Das heißt, du warst schon mal woanders beim Nightfever?", hakte ich nach. 
"Ja", bestätigte sie, "in Münster." 
Etwas später fragte sie mich, ob ich hier und heute auch zur Beichte gehen würde. Ich war überrascht, dass sie danach fragte, aber irgendwie fand ich es gut. -- Kurz darauf gesellte sich ihr Freund zu uns. Julius. Sehr sympathischer Typ. Die beiden waren auch schon in der Messe gewesen, und als ich auf ein paar liturgische Besonderheiten des Advents und insbesondere des dritten Adentssonntags, Gaudete, hinwies, sagte Julius: "Diese ganze Symbolik in der Kirche, besonders in der katholischen, da ist es gar nicht so leicht durchzusteigen." 
"Man wird auch nie wirklich fertig damit", erwiderte ich lächelnd. "Ich bin zwar total katholisch erzogen und aufgewachsen, aber ich entdecke trotzdem immer wieder etwas Neues." 
"Das macht's sicher auch spannend", meinte Julius, und ich stimmte ihm zu. 

Das Gespräch war insgesamt sehr nett, und hinterher - oder eigentlich schon währenddessen - hatte ich ein bisschen ein schlechtes Gewissen, denn ich fand, ich sei in meiner gebloggten Kritik an Valeries Auftritt beim Kreis junger Erwachsener, und insgesamt in meiner hier und da geäußerten Kritik an ihrem Blogprojekt, wohl zu streng gewesen.

Der bislang letzte Beitrag auf Valerie und der Priester, den ich gelesen habe, war "Briefe zur Halbzeit", erschienen am 22. November. Und den Brief, den Valerie da nach sechs Monaten Projektlaufzeit an Kaplan von Boeselager geschrieben hat, fand ich nicht nur enttäuschend, sondern ich war richtig verärgert. Wenn das alles ist, was bei diesem Projekt rauskommt, ist es ein Schuss in den Ofen, fand ich. Ich ärgerte mich, dass Valerie seit einem halben Jahr von der Deutschen Bischofskonferenz dafür bezahlt wird, einen Priester in seinem beruflichen Alltag zu begleiten, und in der ganzen Zeit nichts über das Wesen des christlichen Glaubens und der Kirche begriffen hat. Sich gleichzeitig aber einbildet, schon ganz viel begriffen zu haben - eine Einbildung, die sie zuverlässig von wirklichen Erkenntnissen abschirmt.

Dachte ich.

Und dann stand ich Valerie plötzlich leibhaftig gegenüber und hatte das Gefühl, ihr Unrecht getan zu haben.

Vielleicht ist mein Eindruck, sie habe nichts kapiert, falsch. Sie nähert sich, das sagt sie selbst, dem Phänomen des Glaubens bevorzugt von der emotionalen Seite her, aber das muss ja nicht heißen, dass sie unterstellt, der Glaube sei auch für die Gläubigen selbst eine rein emotionale Angelegenheit. Und vielleicht meint sie mit vielen ihrer Aussagen, die ich so falsch finde, eigentlich etwas Richtiges, das sie nur, mangels Vertrautheit mit dem Gegenstand, nicht besser ausdrücken kann - weil, wie es in Michael Endes Momo heißt, "die Worte in ihr erst wachsen müssen".
Vielleicht sind es auch nicht nur die Worte, die Zeit zum Wachsen brauchen. Vielleicht unterschätze ich einfach, wie fremd die Welt des Glaubens und der Kirche jemandem sein muss, der damit bisher nie "etwas am Hut hatte". Möglicherweise ist ein halbes Jahr, von solchen Voraussetzungen ausgehend, einfach zu kurz, um mehr als ein paar erste tastende Schritte zur Annäherung zu unternehmen (die sich dann subjektiv aber doch anfühlen wie "ein großer Sprung für die Menschheit"). Möglich, dass hier Samenkörner ausgestreut werden, die Jahre, vielleicht Jahrzehnte brauchen, um aufzukeimen. Für das Projekt "Valerie und der Priester" wäre das zu spät, aber den Initiatoren dieses Projekts geht es ja ohnehin um Anderes als um Valeries Seelenheil (was, wenn man es recht bedenkt, ziemlich gut auf den Punkt bringt, was an diesem Projekt grundsätzlich verkehrt läuft).

Und wenn nun gar nichts aufkeimt, auch nach Jahren nicht? - Nun, dann ist Valerie trotzdem eine sympathische Person - zumindest, wenn man von Angesicht zu Angesicht mit ihr zu tun hat und nicht nur ihren Blog liest.

Und das ist bei mir ja auch nicht unbedingt anders.

Jedenfalls nehme ich an, dass es manchen (vielen?) Menschen mit mir so geht. In meinem Freundeskreis gibt es durchaus so einige Menschen, die nicht nur meinen Glauben nicht teilen, sondern darüber hinaus auch in allerlei anderen Fragen von "überpersönlicher" Relevanz ganz anderer Meinung sind als ich; und das tut der Freundschaft nicht notwendigerweise Abbruch. Man ist ja primär nicht deshalb mit jemandem befreundet, weil man dieselben Ansichten hätte, sondern weil man einander persönlich schätzt und mag. Und günstigstenfalls helfen solche Freundschaften sogar dabei, Standpunkte respektieren zu lernen, die man persönlich falsch findet. Was nicht daran hindert, sie weiterhin falsch zu finden.

Wenn man jemanden aber nicht persönlich kennt, sondern ausschließlich als einen Vertreter von Standpunkten wahrnimmt, die man falsch findet, dann wird man vermutlich nicht so leicht Sympathie für diesen Jemand entwickeln.

Doch mir geht es hier noch um etwas Anderes. Die plötzliche Erkenntnis, ich sei in meinem Urteil über Valerie womöglich zu streng gewesen, führte mich binnen Kurzem zu dem Gedanken: Das passiert mir öfter. Dazu eine Anekdote: Während meines Studiums habe ich mal in einer Produktion von "Romeo und Julia" mitgespielt, und während eines Großteils der Probenphase war ich unverkennbar ein Außenseiter innerhalb des Ensembles. Als die Aufführungen näher rückten, besserte sich das allmählich, und irgendwann verriet mir dann einer der anderen Darsteller, warum mich anfangs so gut wie niemand aus der Gruppe hatte leiden können. Zu Beginn der Probenarbeit hatte es nämlich ein allgemeines Brainstorming über diverse Inszenierungsideen gegeben, und an einem Punkt der Diskussion war ich aufgestanden und hatte verkündet: "Wenn ihr so einen Scheiß macht, bin ich raus."

Ja, das meinte ich auch so, und das ist nun mal meine Art, meine Meinung zu sagen. Da, wo ich herkomme - und das meine ich sowohl regional als auch soziologisch -, ist das normaler Umgangston. Aber ich hatte nicht berücksichtigt, wie schroff und arrogant das auf Leute wirken musste, die es gewohnt sind, ihr Missfallen in gedämpfteren Tönen (oder gar nicht) zu artikulieren. Heutzutage, in Zeiten von microaggression und safe spaces, käme ich wahrscheinlich in überhaupt keine Uni mehr rein.

Ich könnte noch weiter in die Vergangenheit zurückgehen und behaupten, letztlich sei meine Grundschul-Klassenlehrerin schuld. - Schuld woran? Daran, dass ich eine heftige Allergie gegen verordnete Harmonie habe. Gegen "flache Hierarchien", Stuhlkreise und Ringelpiez mit Anfassen, gegen Blümchenbilder und Poesiealbenverse, gegen das Zudecken real existierender Konflikte mit einer dicken, klebrigen Wir-haben-uns-doch-alle-lieb-Soße. Und diese allergische Reaktion führt dazu, dass ich nach außen hin oft sehr schroff wirke. Jedenfalls auf Leute, die mich nicht gut kennen. Wer mich näher kennt, weiß, dass ich im Grunde meines Herzens eigentlich ein totaler Softie bin. 

Zum Beispiel: Neulich habe ich mich, endlich mal wieder, mit meiner Freundin Kati (der besten Kati von allen) getroffen, und im Laufe unseres Gesprächs kamen wir irgendwann auf Geschlechterrollenklischees - und darauf, dass man nicht gleich trans* sein muss, wenn man Interessen oder Charakterzüge hat, die allgemein als geschlechtsuntypisch gelten. 
"Zum Beispiel", meinte Kati, "ist es totaler Quatsch, dass Männer angeblich nicht im Kino heulen, beziehungsweise heulen dürfen."
"Ich heule immer im Kino!", warf ich ein. "Ich hab sogar bei Free Willy geheult!"
"Natürlich", entgegnete Kati. "Jeder normale Mensch heult bei Free Willy." 
Das mag nun seinerseits wiederum alles sehr klischeehaft klingen - raue Schale, weicher Kern und so -, aber Klischees zeichnen sich schließlich dadurch aus, dass irgendwo meist doch etwas Wahres an ihnen dran ist. - Doch zurück zum vergangenen Samstag. Wie schon erwähnt, wurde unmittelbar vor dem Nightfever die Vorabendmesse zum 3. Adventssonntag gefeiert, und im Evangelium ging es um Johannes den Täufer. Auch so ein rauer Gesell. In dieser Perikope sitzt der Täufer im Gefängnis und bekommt Zweifel, ob Jesus wirklich der Messias sei. Dabei hatte er Ihn doch schon erkannt - laut Lukas 1,41 schon im Mutterleib, und ganz entschieden dann, als Jesus zum ihm kam, um sich von ihm im Jordan taufen zu lassen (vgl. Johannes 1,29-34). Warum also jetzt diese Zweifel? - Sicherlich kann es mehrere mögliche Erklärungen hierfür geben; der Priester, der an diesem Samstagabend in der Rosenkranz-Basilika predigte, betrachtete die Zweifel des Johannes jedenfalls im Zusammenhang mit der Rigidität dieses radikalen Gottesmannes, der, aus der privilegierten Priesterkaste stammend, im härenen Gewand in die Wüste gezogen war, um Buße zu predigen. Kann es sein - so fragte die Predigt, jedenfalls andeutungsweise -, dass dieser Jesus, der mit den Zöllnern und Sündern aß und den Dirnen ihre Sünden vergab, für den Geschmack des Täufers einfach nicht hart genug war?

Freilich sollte man sich hier vor allzu simpel gestrickten Kontrastierungen - der "harte" Johannes, der "weiche" Jesus - hüten: Oft genug erscheint auch Jesus in den Evangelien ausgesprochen schroff. Dennoch gab die Predigt mir zu denken - ganz besonders ein Aspekt, der mir erst nach längerem Nachdenken richtig bewusst wurde: dass nämlich Johannes, dieser kompromisslose Streiter für Gott, im Gefängnis in die Versuchung gerät, eher an dem Mann zu zweifeln, den er zuvor bereits als den Messias erkannt hatte, als seine eigenen Vorstellungen davon, wie der Messias sein müsse, in Frage zu stellen.

Das, so scheint mir, ist ein Gedanke, über den es sich in der verbleibenden Adventszeit zu reflektieren lohnt. Und vielleicht wäre mir das gar nicht so deutlich geworden, wenn ich nicht vor der Kirchentür Valerie begegnet wäre.