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Sonntag, 11. Dezember 2016

Zur rechten Zeit geboren - (K)ein Weihnachtslied

Mein Musikgeschmack ist älter als ich. Das klingt komisch, ist aber so. Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hat, obwohl ich da erst Anfang 20 war, mein Interesse an der jeweils gerade aktuellen Popmusik rapide abgenommen, während ich mich gleichzeitig umso mehr mit Rock und Pop beschäftigt habe, der aus einer Zeit stammt, in der ich noch gar nicht geboren war. Was ich dabei selbst ein bisschen komisch finde, ist, dass dieses Desinteresse an neueren Entwicklungen in der Popmusik so weit geht, dass ich sogar Neuerscheinungen von solchen Künstlern, deren früheres Schaffen ich sehr schätze, weitgehend ignoriert habe. Paul Simon zum Beispiel. Seine letzten fünf Studioalben sind so gut wie spurlos an mir vorübergegangen. Die letzte Platte von Paul Simon, die ich praktisch mitsingen kann, ist "The Rhythm Of The Saints" -- von 1990. 

Das musikalisch vielleicht nicht unbedingt brillanteste, für mein Empfinden aber das schönste Stück dieses Albums heißt "Born At The Right Time" -- "zur rechten Zeit geboren". Im Text dieses Liedes geht es - zunächst jedenfalls - um ein Findelkind: ein gesegnetes Kind, mit "Augen, so klar wie Jahrhunderte"; "geboren in dem Augenblick, in dem die Kirchenglocken läuten - die ganze Welt flüstert: Du bist zur rechten Zeit geboren".

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Besonders wenn man dieses Lied zur Weihnachtszeit hört, kann man leicht auf den Gedanken kommen, hier werde auf das Jesuskind angespielt. Auch wenn Jesus - anders als etwa Moses - bekanntermaßen kein Findelkind war. Es ist Paul Simon auch durchaus zuzutrauen, dass er solche Assoziationen vorausgesehen und sogar beabsichtigt hat. Aber gerade als man sich in eine schön weihnachtliche Stimmung "eingegroovt" hat, kommt die zweite Strophe und reißt einen da völlig raus:

"Meine Kumples und ich, wir sind viel unterwegs 
Wir geh'n gern bummeln durch die Restaurants 
Hauen Kohle raus 
Auf dem weg von Washington nach Tokio..." 

Nanu!? Was hat denn das nun mit der ersten Strophe und dem Refrain zu tun? - Keine Bange, die Strophe geht noch weiter:

"Doch ich seh' sie in der Flughafenlounge 
An ihrer Mütter Brust 
Sie folgen mir mit off'nen Augen 
Wie uneingeladene Gäste." 

Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, wie genial ich diese Wendung finde. Was hier nicht explizit ausgesprochen, aber doch angedeutet wird, ist, dass die kleinen Kinder an der Mutterbrust, die das lyrische Ich mit ihren Augen verfolgen, eine Herausforderung, eine kritische Anfrage an den in der ersten Hälfte der Strophe beschriebenen Lifestyle darstellen. - In der dritten und letzten Strophe fällt der Kontrast zwischen den ersten und den letzten vier Versen noch krasser aus, denn hier geht es zunächst um Überbevölkerung:

"Zu viele Leute im Bus vom Flughafen 
Zu viele Löcher in der Erdkruste 
Der Planet stöhnt 
Jedesmal, wenn er eine neue Geburt registriert." 

Auch das ist fein beobachtet: Die Wahrnehmung, es gebe einfach zu viele Menschen auf der Erde, wird zunächst durch das Erlebnis angestoßen, zwischen all diese Menschen selbst nicht genug Platz zu haben - Platz im Bus nämlich. Was hier zum Ausgangspunkt zu einer Reflexion über das globale Problem der Überbevölkerung wird, ist zunächst unverkennbar ein egoistischer Impuls: Zuviel sind immer die Anderen. Aber im direkten Anschluss daran werden die Verse der ersten Strophe wiederholt - über das Findelkind mit den strahlenden Augen, und im Refrain flüstert wieder die ganze Welt: "Du bist zur rechten Zeit geboren."

Das Kind, das in der ersten Strophe noch ein Junge war, ist in dieser Wiederholung nun ein Mädchen. Mit Gender Mainstreaming hat das nichts zu tun - das war damals, 1990, noch kein so präsentes Thema. Vielmehr, so jedenfalls verstehe ich es, soll damit deutlich gemacht werden, dass es sich nicht um ein bestimmtes Kind handelt, sondern dass jedes Kind dieses wundersam gesegnete Kind mit den strahlenden Augen sein könnte, das zur rechten Zeit geboren ist. Erst aus diesem Verständnis gewinnt die Message der letzten Strophe ihre Kraft und ihre Brisanz: Mag es abstrakt gesehen so scheinen, als gäbe es ohnehin schon zu viele Menschen, als dass die Erde noch weitere verkraften könnte, ist das konkrete Ereignis der Geburt eines Kindes doch, jedesmal aufs Neue, ein absolutes Wunder.

Zu diesem Wunder JA zu sagen - auch wenn es eigentlich gar nicht passt, wenn die Vernunft dagegen zu sprechen scheint, wenn es Lebenspläne umstößt und Weltbilder ins Wanken bringt -, das hat dann doch auch etwas mit Weihnachten zu tun.



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