Nachdem ich mich in der
11. Folge dieser Serie der Darstellung des Polnischen Aufstands von
1830/31 in Dr. A. Rodes „Barbara Ubryk“-Roman gewidmet
habe, habe ich nun noch zweierlei nachzutragen: zum einen die Analyse
des in die Schilderung des Aufstands eingeschobenen und daher
zunächst übergangenen Kapitels XLVII, „Der Apfel des
Tantalus“; und zum anderen eine anekdotische Passage in der
zweiten Hälfte des Kapitels „Das bittere Brod der Verbannung“,
die ihrerseits an eine frühere, in meiner bisherigen Analyse des
Romans ebenfalls übergangene Episode anknüpft.
Im „Apfel des
Tantalus“ geht es um einen langwierigen Rechtsstreit zwischen
der Familie Ubryk und dem Jesuitenorden um das Erbe von Elkas als
Zögling des Jesuitenkollegs in Rom verstorbenen jüngeren
Halbbruders Wratislaw, dessen Tod im XLII. Kapitel (und mithin mehr
als 70 Seiten früher) geschildert worden war. Angesichts diverser
chronologischer Inkonsistenzen in der Romanhandlung lässt sich
dieser Todesfall nicht klar datieren, müsste aber ungefähr um 1820
herum anzusiedeln sein. Die Kapitelüberschrift wird wie folgt
erläutert:
"Kennen Sie die Geschichte des Tantalus? Dieser Bursche hat, obwohl er schon in grauer Vorzeit lebte, wo die Kühe noch am Himmel weideten und die Götter mit ihren Maitressen einsam in den Wäldern spazieren gingen, bereits etwas von einem Jesuiten in sich gehabt. Er liebte das Geld und sammelte es zu großen Haufen. [...] Nicht genug dieses Geizes, spielte er auch noch gegen den allmächtigen Zeus im Olymp den Flegel, erlaubte sich Impertinenzen gegen schöne Göttinnen, und wurde daher von dem zornigen Zeus in den Tartarus geworfen. Die Griechen haben [...] ihren Bösen nach diesem irdischen Leben mancherlei Strafen in der Unterwelt aufbewahrt. Während die unersättlichen Danaiden fort während ein bodenloses Faß mit Wasser auffüllen, Sysiphus einen Marmorstein auf den Gipfel eines Berges rollen sollte, der ihm immer wieder auf halbem Wege entrollte, wurde die Habgier des ungezogenen Tantalus dadurch bestraft, daß er mitten in einem Teiche stehend, den gräßlichsten Durst leiden mußte; so oft er trinken wollte, wich das Wasser zurück. Ueberdies ließ der erzürnte Zeus die Zweige eines mit lockenden Aepfeln beschwerten Baumes über ihn hereinhängen; so oft aber Tantalus, von Hunger gemartert, nach einen Apfel langte, wichen die Aeste zurück, und er mußte mit langen Zähnen und sauerm Gesichte den reizenden Aepfeln nachsehen. So werde ich die Jesuiten nach dem Apfel des Tantalus, Ihrem Vermögen, haschen lassen; wenn sie aber, getrieben von Habgier, ihn erreicht zu haben wähnen, werde ich ihren Zähnen denselben wieder weit entrückt haben." (S. 630f.)
Der so spricht, ist "Doktor
Laszy, der erste Advokat Warschaus" (S. 628) und "langjähriger
Anwalt der Familie Zolkiewicz und Ubryk" (S. 629f.): "Ein
Mann ohne Umschweife, machte er Niemand Complimente und sprach in
allen Dingen so treffend [...]. Seine größte Unart war, daß er die
Processe auf Jahre hinaus verschleppte, und seine kleinste, daß er
jede Rede mit dem Wörtchen 'so' anfing" (ebd.) Anscheinend hat Dr. Rode mit dieser Figur
die Absicht verfolgt, einen Charakter von Dickensschem Format zu
schaffen; vielleicht stellt der Leser sich den exzentrischen Anwalt
aber auch einfach nur so vor, wenn er zuvor bereits einiges
von Dickens (oder auch Wilkie Collins) gelesen hat. So oder so: Eine Figur geschaffen zu haben, die zu solchen Vergleichen einlädt, ist schon eine beachtliche Leistung des Autors -- eine, die ich ihm ehrlich gesagt gar nicht zugetraut hätte.
Dieser Advokat Laszy ist "selbst ein Jesuitenzögling" und kennt daher "die Jesuiten wie [s]eine Rocktasche" (S. 629); er wendet alle ihm zu Gebote stehenden verfahrenstechnischen Tricks an, um den Rechtsstreit in die Länge zu ziehen, und wird dabei von Elkas unehelichem Sohn Ladislaus, der "eben bei Gericht als Beamter thätig" ist, unterstützt: "der Sohn des Jesuiten machte dem Orden jetzt die größten Schwierigkeiten" (S. 634). Nur am Rande sei angemerkt, dass Ladislaus, der zu Beginn der Romanhandlung noch nicht geboren, ja nicht einmal gezeugt war, jünger sein müsste als Wratislaw, der zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht 21 Jahre alt war. Demnach könnte er selbst am Ende des jahrelangen Rechtsstreits um Wratislaws Erbe noch nicht älter als Mitte 20 sein. Ein tüchtiger Beamter, offenbar.
Derweil sind die Jesuiten, allen voran der "Rektor des Collegiums in Warschau, Pater Optatus", verständlicherweise bestrebt, ihren Widersacher Laszy loszuwerden:
Dieser Advokat Laszy ist "selbst ein Jesuitenzögling" und kennt daher "die Jesuiten wie [s]eine Rocktasche" (S. 629); er wendet alle ihm zu Gebote stehenden verfahrenstechnischen Tricks an, um den Rechtsstreit in die Länge zu ziehen, und wird dabei von Elkas unehelichem Sohn Ladislaus, der "eben bei Gericht als Beamter thätig" ist, unterstützt: "der Sohn des Jesuiten machte dem Orden jetzt die größten Schwierigkeiten" (S. 634). Nur am Rande sei angemerkt, dass Ladislaus, der zu Beginn der Romanhandlung noch nicht geboren, ja nicht einmal gezeugt war, jünger sein müsste als Wratislaw, der zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht 21 Jahre alt war. Demnach könnte er selbst am Ende des jahrelangen Rechtsstreits um Wratislaws Erbe noch nicht älter als Mitte 20 sein. Ein tüchtiger Beamter, offenbar.
Derweil sind die Jesuiten, allen voran der "Rektor des Collegiums in Warschau, Pater Optatus", verständlicherweise bestrebt, ihren Widersacher Laszy loszuwerden:
"Elka wurde mit anonymen Briefen überschwemmt, welche ihr Laszy auf die gemeinste Weise verdächtigen sollten; der gleichen erhielt dieser mehrere Drohbriefe zugestellt. Als aber diese Ränke zu keinem Erfolge führten, griff Pater Optatus zu einem andern Mittel. Er bestellte sich ein Paar handfeste Gauner und verhieß ihnen reichliche Belohnung, wenn sie dem Advokaten Laszy [...] tüchtig durchprügelten [...]. Die christliche Nächstenliebe des Paters wäre zwar noch weiter gegangen und hätte am liebsten den Advokaten todtgeschlagen, allein er hoffte, wenn die Burschen ihm fest zu Leibe gingen, würde er vorläufig mit dieser Lektion genug haben.
Die zwei Kerle [...] überfielen ihn an einer einsamen Straßenecke, warfen ihn zu Boden, schlugen und traten ihn mit den Füssen. Laszy [...] kam aber doch mit einigen großen Beulen und blutigem Gesichte davon. Zum großen Aerger des Rektors ging Laszy bereits am andern Tage, wie wenn nichts vorgefallen wäre, wieder in seine tägliche Gesellschaft. Nur nahm er von jenem denkwürdigen Abend an einen Bedienten zur Begleitung mit sich, und beide waren mit großen Knitteln bewaffnet. [...] Seine Zuneigung für die Jesuiten wurde dadurch nicht gerade gehoben." (S. 634f.)
Als die Jesuiten schließlich jedoch nicht
nur ein Testament Wratislaws vorlegen, in dem der Orden zum
Universalerben bestimmt ist, sondern auch zehn Zeugenaussagen
beibringen, die die Echtheit dieses Testaments bestätigen sollen,
scheint die Lage aussichtslos; daraufhin reist jedoch Laszy
persönlich nach Rom, um vor Ort Ermittlungen anzustellen. In Rom
gibt er sich als schrulliger „reisender Engländer“ aus – ein
in der seinerzeitigen Unterhaltungsliteratur sehr verbreiteter
Figurentypus, wie nicht nur Karl-May-Leser wissen dürften. Als
schwächstes Glied in der Beweiskette der Gegenseite macht er die
Zeugenaussage zweier Köhler aus; und wie er diese Köhler in
Trastevere ausfindig macht und ihnen so lange Wein spendiert, bis sie
redselig werden, ist tatsächlich eine der erzählerisch gelungeneren
Passagen des Romans. Freilich spart der Autor dabei weder an boshaften Klischees über Italiener - "um
Geld verrathe in Italien das Hemd seinen Herrn", erfährt man da etwa (S. 638); "Beim
Anblicke von gehörig eingeölten Makkaroni wird das Herz des
Italieners butterweich, und sein Dank kennt keine Grenzen gegen den
Gönner, der ihm solche kauft" (S. 642); überhaupt weiß ein "Kenner des
italienischen Charakters, dessen Hauptzug der vollendetste Egoismus
bildet, [...] sehr wohl, daß bei einem Italiener und zumal Römer
in letzter Instanz immer die Geldsucht entscheidet" (S. 648) - noch, wie sollte es anders sein, an antiklerikalen Verschwörungstheorien. Nicht nur wissen die beiden Köhler zu berichten, dass im Jesuitenkolleg geradezu regelmäßig die Leichen von zur Unzeit - nämlich vor dem Erreichen der Volljährigkeit - verstorbenen Zöglingen beiseite geschafft werden, damit man später mittels gefälschter Testamente ihr Erbe beanspruchen kann; Laszys Informanten wagen es auch nie, den Namen des Santo officio, d.h. der Inquisitionsbehörde, auszusprechen, ohne dabei ein Kreuzzeichen zu machen, "denn
die Inquisition hat überall ihre Spione. Sie würde uns die Ohren
abschneiden, wenn wir beim Gebrauche ihres Namens kein Kreuz
schlügen. Jeder Römer hat seine Ohren lieb und läßt sich nicht
gerne davon trennen" (S. 643). Die Aufforderung des vermeintlichen Engländers, ihre Aussagen bei Gericht zu Protokoll zu geben, lehnen sie zunächst erschrocken ab:
Übrigens begnügt sich der Verfasser nicht damit, die weltliche Herrschaft des Papsttums in das denkbar schlechteste Licht zu rücken und die Korruption und Skrupellosigkeit des Jesuitenordens anzuprangern, nein, er muss partout auch katholische Glaubenslehren angreifen. Nachdem Laszy bereits in seine oben zitierte Tantalus-Erzählung die Bemerkung eingeflochten hatte, die alten Griechen hätten sich "bei manchen Ausschweifungen ihrer Phantasie doch nicht zu dem Blödsinne verstiegen, daß es einen Teufel mit schwarzen Zotten, Hörnern und anderm Firlefanz gäbe; das blieb nur römischen Geistern vorbehalten" (S. 631), erklärt er später den beiden Köhlern, der Umstand, dass sie Wratislaws Leichnam verbrannt und die Asche im Meer verstreut hätten, führe die Lehre von der leiblichen Auferstehung ad absurdum.
Jedenfalls bringt Laszy die beiden Köhler schließlich doch dazu, ihre Aussage amtlich zu Protokoll zu geben (und zwar vor einem Gericht in Mailand, das damals zu Österreich gehörte), und gewinnt mit Hilfe dieser Aussage den Prozess um Wratislaws Erbe, womit dieser Handlungsstrang des Romans zumindest vorläufig an sein Ende gekommen zu sein scheint.
Nun aber zum "bitteren Brod der Verbannung"! Wie bereits geschildert, dreht sich die erste Hälfte dieses Kapitels um die Schicksale der Familie Ubryk nach der Niederschlagung des Polnischen Aufstands von 1830/31; die zweite Hälfte des Kapitels hingegen wird größtenteils von einer nur äußerst notdürftig mit der sonstigen Romanhandlung verknüpften Episode eingenommen, die so sonderbar ist, dass ich Lust habe, mich hier ein wenig mit ihr aufzuhalten.
"Kennt Ihr die Kerker des Santo Officio hier in Rom, genannt Carceri Nuovi? Enge, niedrig sind die unterirdischen Keuchen; kein Licht- oder Sonnenstrahl stiehlt sich hinab zu dem feuchten Modergerüche, zu dem Fiebergestanke. Die Wellen des Tiber stießen durch die Zellen, so daß der Gefangene bis zur Hälfte des Leibes im Wasser stehen muß und ertrinken müßte, wenn er sich zum Schlafe niederlegen wollte. Schwere Ketten an Händen und Füßen, welche den Gefangenen an die von Ungeziefer strotzende Wand fesseln, verhindern ihn, sich gegen die Wasserratten und Tiberaale zu erwehren, die an feinem Leibe nagen. In diese Keuchen würden wir unfehlbar geworfen, wenn wir gegen die Jesuiten eine Aussage machten. Kein Verbrechen wird in Rom strenger bestraft, als das: die Wahrheit zu sagen." (S. 646f.)Der Autor versieht diese Passage mit einer Fußnote:
"Dieselben Keuchen existiren heute, noch im Jahre 1870 in Rom und sind mit Garibaldianern, Deserteuren und Staatsverbrechern überfüllt. Wer sie gesehen hat, dem ist aller Glaube an die Diener der Kirche, die sie da nennt die Apostel des Friedens und der Liebe, im menschlichen Herzen erstorben."Interessant ist daran auch und nicht zuletzt, dass diese Fußnote Rückschlüsse auf die Chronologie des Erscheinens dieses Fortsetzungsromans zulässt. Wie aus dem Vorwort hervorgeht, erschien die erste Folge des Romans im August 1869, "[k]aum [...] vierzehn Tage" nachdem die Presse erstmals von der Entdeckung der eingekerkerten Nonne im Karmelitinnenkloster in Krakau berichtet hatte. Das obige Zitat stammt aus der 14. Lieferung des Romans, und die Fußnote gibt die aktuelle Jahreszahl mit 1870 an. Das heißt, seit dem Beginn des Erscheinens des Romans sind bereits mindestens fünf Monate vergangen. Wären die Fortsetzungen des Romans wöchentlich erschienen, müsste man jedoch davon ausgehen, dass es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Folge 14 erst Ende November 1869 gewesen wäre. Somit spricht diese Fußnote dafür, dass die Fortsetzungen des Romans entweder nur alle 14 Tage oder aber unregelmäßig erschienen. Darauf wird zu einem späteren Zeitpunkt der Analyse noch zurückzukommen sein.
Übrigens begnügt sich der Verfasser nicht damit, die weltliche Herrschaft des Papsttums in das denkbar schlechteste Licht zu rücken und die Korruption und Skrupellosigkeit des Jesuitenordens anzuprangern, nein, er muss partout auch katholische Glaubenslehren angreifen. Nachdem Laszy bereits in seine oben zitierte Tantalus-Erzählung die Bemerkung eingeflochten hatte, die alten Griechen hätten sich "bei manchen Ausschweifungen ihrer Phantasie doch nicht zu dem Blödsinne verstiegen, daß es einen Teufel mit schwarzen Zotten, Hörnern und anderm Firlefanz gäbe; das blieb nur römischen Geistern vorbehalten" (S. 631), erklärt er später den beiden Köhlern, der Umstand, dass sie Wratislaws Leichnam verbrannt und die Asche im Meer verstreut hätten, führe die Lehre von der leiblichen Auferstehung ad absurdum.
Jedenfalls bringt Laszy die beiden Köhler schließlich doch dazu, ihre Aussage amtlich zu Protokoll zu geben (und zwar vor einem Gericht in Mailand, das damals zu Österreich gehörte), und gewinnt mit Hilfe dieser Aussage den Prozess um Wratislaws Erbe, womit dieser Handlungsstrang des Romans zumindest vorläufig an sein Ende gekommen zu sein scheint.
"Unter den Verwünschungen des Volkes verließ Pater Optatus Czrenk den Gerichtssaal. Aus Gram über die ungeheuere öffentliche Beschämung seiner schwarzen Brüder und die Vereitelung seiner jahrelangen rastlosen Bestrebungen verfiel er bald darauf in eine Krankheit und starb. Vielleicht haben ihn seine Brüder vergiftet, um nachher alle Schuld auf ihn hinüberwälzen zu können, was sie auch wirklich thaten." (S. 650)Abgesehen von einigen wenigen Details, die unschwer in einer späteren Bearbeitungsstufe eingefügt worden sein können, spricht kaum etwas gegen die Annahme, dass das Kapitel "Der Apfel des Tantalus" im Wesentlichen bereits der frühesten Schicht der Entstehungsgeschichte dieses Romans angehört -- dass er also bereits in einer Fassung des Romans enthalten war, die schon mehr oder weniger fertig vorlag, bevor die Affäre Ubryk durch die Presse ging, und folglich mit dem realen Fall der "unglücklichen Nonne von Krakau" gar nichts zu tun hatte. Das würde auch einige chronologische Inkonsistenzen erklären, und ebenso den Umstand, dass das Kapitel wie ein Fremdkörper in einer Romanhandlung herumsteht, die inzwischen einen ganz anderen Weg eingeschlagen hat. Merken wir uns das mal für den im weiteren Verlauf dieser Serie irgendwann fällig werdenden Versuch einer Rekonstruktion der Urfassung des Romans vor.
Martin Disteli: Zelotenpredigt. Entwurf für ein Taschentuch, 1834. (gemeinfrei) |
"Eines Abends, die Sonne nahte sich bereits ihrem Untergange, schritten drei lustige Gesellen auf der Straße von Bautzen Dresden zu. Nach ihrem schofflen zerlumpten Aussehen hätte man sie entweder für fechtende Handwerksburschen oder für schiffbrüchige Schauspieler oder für vagabundirende Seiltänzer halten können. Allein bei näherer Betrachtung zeigte es sich, daß drei unserer alten guten Bekannten im Begriffe standen, Dresden mit ihrer Anwesenheit zu beglücken" (S. 677) --
Ach ja? Alte Bekannte? Echt?
"Die drei Wanderer waren Siglowsky und Zandrowitsch père et fils." (ebd.)
Wer?
Ich gebe zu, geschätzte Leser, ich hatte im ersten Moment nicht die geringste Ahnung, von wem der Verfasser redet. Was aber insofern vielleicht kein Wunder ist, als die letzte (und bis dahin einzige) Erwähnung der genannten dramatis personae an dieser Stelle bereits etwa 250 Seiten zurücklag. Was in der Chronologie der Handlung reichlich über 20 Jahre ausmacht. Und meine Leser werden sich erst recht nicht an Siglowsky und die beiden Zandrowitsche erinnern, da ich sie in meiner Romananalyse bisher überhaupt nicht berücksichtigt hatte. Das gilt es jetzt nachzuholen. Erinnern wir uns also an die gute alte Zeit, als der Jesuit Rebinsky als Hauptbösewicht des Romans die Fäden der Handlung in der Hand hielt, Kasimir Ubryk in Russland verschollen war und Elka mit ihrem Part-Time Lover Hugo durch die Weltgeschichte gondelte. In dieser Phase lässt der Autor den Leser en passant wissen, dass Rebinsky neben seinen Bemühungen, das gewaltige Vermögen der Familie Zolkiewicz in die Finger zu bekommen, noch weitere Intrigen im Interesse seines Ordens spinnt; und dazu gehört es, die öffentliche Meinung zugunsten der Jesuiten zu beeinflussen, "[d]a man zu dieser Zeit
gerade in Rom eifriger als je daran arbeitete, den Papst zur
öffentlichen Wiederherstellung des Jesuitenordens zu bestimmen" (S.425). Zu diesem Zweck sollen "auch in der Hauptstadt
Polens [...] einige Journale, die bisher immer gegen den
Jesuitenorden kämpften, durch Geld zu freundlicheren Gesinnungen
umgewandelt und vom Orden gänzlich angekauft werden" (ebd.):
"Es erschienen nun zur damaligen Zeit zwei Zeitungen in Warschau, die zwar nur vom ungebildeten rohesten Theile der Bevölkerung gelesen, aber gerade deßhalb ihrer freisinnigen Tendenzen halber um so gefährlicher für den Orden waren. Zwei obscure Subjekte nannten sich die Redakteure dieser Blätter, und […] [d]iese wollte Rebinsky für den Orden und dann insbesondere für seine engeren Pläne gewinnen. [...] Beide waren gute Deutsche und hatten nicht nur ein paar Barrikaden und Religionen, sondern überhaupt ein sehr bewegtes abenteuerliches Leben hinter sich. Ihre ursprünglich deutschen Namen hatten sie in Siglowski und Zandrowitsch umgeändert." (S. 425f.)
Von Siglowski heißt es, dass er "damals so
herabgekommen" war, "daß er theils um das Holz für Heizung zu sparen,
theils aus Mangel an einem Redaktionslokale in einem Kaffeehause
Warschaus sein Schmutzblatt redigirte" (S. 426) -- ein farbenprächtiges und womöglich gar nicht so unrealistisches Detail. Zandrowitsch führt "gemeinsam mit seinem
Sohne die Redaktion der Gazetta Ludova, d. i. in deutscher
Sprache 'Volksbote'"; der Sohn war früher Soldat, erst "in einem der damaligen
Staaten" Deutschlands, dann im Kirchenstaat (was theoretisch Material für weitere antiklerikale "Enthüllungen" böte, aber diese Gelegenheit lässt der Autor ungenutzt verstreichen), aber seine militärische Karriere endete damit, dass er einem "guten Kameraden und
Freunde [...] Kleider und eine Uhr entwendete und damit
desertirte" (S. 427). Oberschurke Rebinsky betraut den jungen Zandrowitsch "mit einer Mission nach
Petersburg, um dort in Erfahrung zu bringen, ob der junge Ubryk,
Elka's Gemahl, noch lebe und wo er in Sibirien internirt sei" (S. 428); der hat aber nichts besseres zu tun, als seine Spesen zu verprassen und hernach unverrichteter Dinge wieder heimzukehren.
Gerade diese auffällige Ergebnislosigkeit der Episode um die beiden verkommenen Journalisten und den nichtsnutzigen Sohn des einen, und mithin ihre anscheinende Überflüssigkeit für die Gesamthandlung, dürfte der entscheidende Grund dafür gewesen sein, dass ich diese Nebenfiguren bei ihrem ersten Auftreten nicht erwähnt und bis zu ihrem zweiten Auftreten schon wieder völlig vergessen hatte. Dabei hätte mich eigentlich gerade diese offenkundige Überflüssigkeit stutzig machen sollen. Merken wir uns als Faustregel: In einem guten Roman gibt es nichts Überflüssiges, in einem schlechten Roman ist das Überflüssige niemals zufällig. Besonders gibt es zu denken, dass Dr. Rode in seinem Bestreben, an Siglowski und Zandrowitsch nicht das kleinste gute Haar zu lassen, so dick aufträgt, dass er damit die Plausibilität ihrer Handlungsfunktion untergräbt. Wenn die beiden Redakteure in ihrem Handwerk derart erfolglos sind, wenn ihre Blätter also, wie man heute wohl sagen würde, keinerlei "publizistische Relevanz" haben, inwiefern kann ihre Rekrutierung dem Jesuitenorden dann von Nutzen sein? Das ergibt schlechterdings keinen Sinn. Was also treibt den Verfasser hier um?
Der Figurentypus des "verkommenen Journalisten" ist in der Kolportage-Literatur jener Zeit alles andere als selten. So klischeehaft und überzeichnet diese Figuren oft (und hier ganz besonders) erscheinen, tut man doch gut daran, sich vor Augen zu halten, dass die Berufsbilder des Journalisten und des Schundroman-Schriftstellers seinerzeit oft recht fließend ineinander übergingen. Somit mögen durchaus Beobachtungen aus Kollegenkreisen in solche Schilderungen eingeflossen sein, aber natürlich wirft das auch Fragen hinsichtlich des Selbstbildes der Autoren auf. Der Meister des Genres, Sir John Retcliffe, lässt in seinen Romanen wiederholt (v.a. in seinem elfbändigen Romanzyklus "Villafranca", 1860-66) einen Journalisten auftreten, der unschwer als alter ego des Autors zu erkennen ist: weltgewandt und scharfzüngig, hat er von den Salons des Adels bis zu den übelsten Kaschemmen der Vorstädte überall Zutritt und überall Kontaktpersonen, und über jeden, der in der "guten Gesellschaft" Rang und Namen hat, hat er eine kompromittierende Anekdote auf Lager. An anderen Stellen seiner Romane tritt jedoch auch das Negativklischee des korrupten, gewissenlosen "Schmierfinken" in Erscheinung. Bei Retcliffe wie auch bei anderen Autoren sind diese "verkommenen Journalisten" häufig Juden. In dieser Hinsicht verhält sich der "Barbara Ubryk"-Autor Dr. Rode bemerkenswert ausgewogen, oder sagen wir vielleicht lieber zweigleisig: Aus dem einen seiner Journalisten-Zerrbilder, dem alten Zandrowitsch, macht er einen konvertierten Juden, der "aus Speculation das
Christenthum angenommen" hat, "welches sich wahrhaftig auf eine solche
Eroberung nichts zu Gute thun durfte", der jedoch "auch als Christ
an Geist und Nieren beschnitten" bleibt (S. 427); zum Ausgleich ist jedoch der andere, Siglowski, ein extremer Antisemit, der "über die Juden mit
wahrhaft vernichtendem Blödsinne" herzufallen pflegt (S. 426). Wie man später sehen wird, hindert dies die gute Kameradschaft der beiden Redakteure nicht sonderlich.
Wie schon gesagt, vergehen über 20 Jahre Handlungszeit und über 250 Druckseiten, bis der Leser diese illustren Gestalten wiedersieht: "Aber beim Blitz, wie
sahen die Kerle aus! Ausgehungert, abgemagert und so zerrissen, daß
es der hellste Jammer war" (S. 677). Nach der Niederschlagung des Aufstands von 1830/31 sind sie aus Polen geflohen und haben bei dieser Gelegenheit auch ihre früheren deutschen Namen wieder angenommen: Siglowski hat "[a]n der Gränze [...] das ski weggeworfen" und nennt sich nur noch Siglow, "sowie Zandrowitsch sich jetzt wieder Zandrow nannte" (S. 678). Während Siglow um "das arme Vaterland" trauert, beurteilt Zandrow die Lage pragmatisch:
"Na, [...] um das ist kein Schade, an dem Vaterland war doch nichts. Hinten nichts, vornen nichts, und in der Mitte ein Wisch lumpiges Papier. Das eine ging zum Teufel, man gründet sich ein neues. Merke Dir: gescheidte Menschen und Butterbrode fallen immer auf die fette Seite. […] In Dresden scheint es sehr gemüthlich zu sein. Dort gründen wir uns ein neues Vaterland." (S. 678f.)
Sein Plan ist, in der sächsischen Residenzstadt ein neues "Journal" zu gründen - "mit viel
Unverschämtheit und wenig Geld, das ist der Witz":
"Wir finden einen Drucker, der Satz und Druck pumpt, eine Papierfabrik wird sich auch finden, die das Papier pumpt, und gib Acht, es müßte nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn drei Bursche von unserer Suada, ehe drei Wochen herum sind, nicht einen reichen Kerl so angebohrt haben, daß er Geld schwitzt." (S. 679)
Man darf davon ausgehen, dass der Autor hier sehr genau weiß, wovon er spricht, und insofern ist diese Romanpassage auch und nicht zuletzt ein interessantes Dokument zum Thema Mediengeschichte. In einer Zeit der explosionsartigen Vermehrung des potentiellen Lesepublikums und der ebenso rasanten Verbilligung von Druckerzeugnissen waren schnell und billig produzierte Wochenschriften, aber eben auch Kolportageromane eine Art "Web 2.0" des 19. Jahrhunderts -- durchaus auch in inhaltlicher Hinsicht:
"Ueberhaupt, Brüderchen, merke Dir, Schimpfen ist die Hauptsache. Je ärger, desto besser. Unser neues Blatt muß blos auf Skandal gegründet sein. Gesinnung brauchen wir gar keine dabei, die ist etwas ordinäres, die kann jeder Lump haben. Um aber Skandal zu machen, dazu gehört Talent und Witz. Ich sage Dir, unser neues Blatt muß mit Dreschflegel und Mistgabel geschrieben sein. [...] Was es Hohes und Edles gibt, herunter damit in den Koth. Hervorragende Persönlichkeiten heruntergerissen, — Männer von Talent, Frauen von Charakter, angegriffen, — neue Erzeugnisse der Literatur, mit Kanalräumerstiefeln darauf herumgetrampelt! [...] Mit Heißhunger muß alle Welt über jede neue Nummer herfallen, um zu sehen, wem es heute wieder an den Kragen geht." (S. 679f.)
Man kann hier wohl mit einigem Recht den Eindruck haben, der Autor beschreibe seine eigene Arbeitsmethode -- was nicht zuletzt auch dafür gilt, dass er Siglow den Vorschlag in den Mund legt, "im gröbsten
Bauerndeutsch" zu schreiben, um so die "zahlreichen Böcke
gegen Grammatik und Orthographie und jeden Stil zu bemänteln" (S. 680).
Tatsächlich leihen sich Siglow und die beiden Zandrows das Startkapital für ihr neues Unternehmen bei keinem anderen als Kasimir Ubryk, womit also wiederum eine notdürftige Verbindung zur Haupthandlung hergestellt wird. Der Erfolg des neuen Journals erweist sich jedoch als von sehr kurzer Dauer, und so kommen die drei Journalisten bald "wieder dorthin, wo sie
schon gewesen waren", nämlich "auf den Hund" (S. 681). Ihr weiteres Schicksal handelt der Autor - ohne sich dabei die Möglichkeit offen zu halten, sie bei Bedarf noch ein drittes Mal auftreten zu lassen - in wenigen Absätzen ab und lässt seiner Bosheit dabei gewaltig die Zügel schießen. Spekuliert man, dass Siglow und die Zandrows real existierende Vorbilder in Kollegen- bzw. Konkurrentenkreisen des Dr. Rode gehabt haben mögen, dann war er auf diese offenkundig äußerst schlecht zu sprechen:
"Siglow verfiel in Tobsucht und mußte ins Narrenhaus gebracht werden. Dort wurde er in die Zwangsjacke gesteckt. [...] Eines Morgens hatte er ausgetobt. Nach der Klinik gebracht, öffneten die Aerzte seinen Schädel und fanden zu ihrem größten Erstaunen statt des Gehirns — einen schrecklichen leeren Raum. Sie erklärten, er sei an chronischer Gehirnverminderung gestorben.Zandrow jun. kam ebenfalls ins Spital. Wie sein College verfiel er auch in eine Geisteskrankheit — er starb an unheilbarem Blödsinn." (S. 681)
Bedeutend besser kommt der alte Zandrow weg, der, nachdem er vom jüdischen zunächst zum protestantischen und dann zum katholischen Glauben konvertiert war, schließlich sein Glück darin sucht, zum Islam überzutreten:
"Nicht allein die Einfachheit der muhamedanischen Religion zog ihn an, nicht blos der geheime Zug seines Stammes wies ihn nach dem Orient, es war auch besonders die türkische Justiz, die ihm wie ein Ideal vorschwebte.
Und so zog er denn hin gegen Aufgang, ließ sich aus dem Deutschen ins Türkische, aus dem Katholischen ins Moslemitische übersetzen, und niemals hat man wieder von ihm gehört.
Die Erde sei ihm leicht, wie er ihr es war." (S. 682)
Schönes Schlusswort, nicht? -- In Folge 13 dieser Serie werde ich mich den Kapiteln L und LI zuwenden, die schildern, wie es dazu kommt, dass die Titelheldin Barbara Ubryk in ein Kloster eintritt -- womit wir uns also endlich, endlich dem Teil der Geschichte nähern, der die zeitgenössischen Leser in erster Linie interessiert haben dürfte und der ihnen schon im Vorwort als Hauptinhalt des ganzen Wälzers versprochen worden war. Das wird also langsam mal Zeit...
Endlich gehts weiter :D Vielen Dank, immer lustig zu lesen!
AntwortenLöschenDas hab ich mir auch gedacht.
AntwortenLöschenBesten Dank für die Fortsetzung!
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