Zu den alltäglichen Ärgernissen des modernen Lebens gehört es, wenn man zwar einen "Keine Werbung!"-Aufkleber am Briefkasten hat, aber trotzdem regelmäßig mehr Werbung als alles andere darin vorfindet. Bei allem verständlichen Ärger über diese Flut unerwünschter Reklame mag es allerdings ein tröstlicher Gedanke sein, dass Werbung nun einmal leider notwendig ist. Für die Volkswirtschaft. Nicht nur, weil sich wohl kaum ein Unternehmen ohne Werbung auf dem Markt behaupten könnte - Experten empfehlen, mindestens 7% des angestrebten Jahresumsatzes in Werbung zu investieren -, sondern auch, weil die Werbebranche selbst ein großer und umsatzstarker Wirtschaftszweig ist. Der allzeit rege Bedarf an Reklame schafft Arbeitsplätze und Steuereinnahmen und nützt somit - wie zumindest die liberale Wirtschaftsideologie, ehrfürchtig des alten Adam Smith Lehre von der "Unsichtbaren Hand" nachbetend, nicht müde wird uns einzutrichtern - letzten Endes uns allen.
Dass aber jedes Unternehmen mindestens 7% seines Umsatzes in Werbung investieren soll, gilt natürlich auch für die Werbebranche selbst; folgerichtig gibt es auch Werbung für Werbung, und nicht zu knapp. Das ist noch einigermaßen unschwer einzusehen; aber damit endet es noch nicht. Es ist noch mindestens eine weitere Potenzierung dieses Prinzips möglich: Werbung für Werbung für Werbung. Wer's nicht glaubt, dem sei eine Broschüre ans Herz gelegt, die ich unlängst durch Zufall in die Hände bekam.
Die Rede ist von der Werbebroschüre eines Messeveranstalters; die Veranstaltung bzw. Veranstaltungsreihe, die in dem Faltblatt beworben wird und die im Jahre 2012 viermal in verschiedenen deutschen Städten stattfinden soll, heißt "MICE Marketplace" und wird beschrieben als "Die Trendmesse für den deutschen MICE-Markt". MICE? Klingt komisch, ist aber, wie Darth Vader sagen würde, "ei absolut machtvolles Werbeinschtrument, von dem Sie koi Ahnung hann". Die Abkürzung MICE steht für Meetings, Incentives (zu diesem Wort des Grauens möge weiter unten ein eigener Abchnitt folgen), Conventions und Events, und obendrein ist sie ein Akronym - also eine Abkürzung, derern einzelne Buchstaben zusammen wiederum ein sinnvolles Wort bilden. "Mice" heißt schließlich "Mäuse", und auch wenn dieses Wort im Englischen nicht dieselbe Doppelbedeutung hat wie im Deutschen, kann man "aus deutscher Sicht" (um mal eine gängige Sportreporter-Formulierung zu verwenden) doch sein klammheimliches Vergnügen daran haben, dass die Branche so freiwillig-unfreiwillig ausplaudert, worum es ihr im Grunde geht: um Mäuse, Mücken, Moos, Kies, Knete, Kohle. - Den Einwand "Aber gilt das nicht für jedes Business?" vorausahnend, erwidere ich: Na ja. Von irgendwas leben müssen wir alle, und "'s ist einem Menschen nicht zu verargen, dass er in seinem Beruf arbeitet" (Shakespeare, Heinrich IV., Erster Teil, I/2). Aber einen gewissen Unterschied macht es ja wohl doch, ob ein Wirtschaftszweig auch noch anderen - wenn man so will: "höheren" - Zwecken dient als nur dem des reinen Profits, oder eben nicht. Selbst wenndie ob'erwähnte Lehre von der "Unsichtbaren Hand" stimmen sollte, derzufolge das an sich egoistische Gewinnstreben des Einzelnen letztlich doch dem Allgemeinwohl dient, so geschähe das ja letztlich doch nur aus Versehen; und auch mit dem Verslein von der "Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft", lasse ich mich nicht einwickeln - das sind zwar schöne Worte, aber dahinter verbirgt sich ein moralischer Relativismus, mit dem man zur Not auch ein KZ leiten könnte.
Aber wohin reißt's mich fort? Ich wollte doch über die in Wort und Bild bestechende "MICE Marketplace"-Werbebroschüre schreiben. Also zurück zum Thema!
Beginnen wir mal ganz simpel: Was ist und tut ein Messeveranstalter? - Er bietet anderen Unternehme(r)n ein Forum, um ihr Geschäft zu präsentieren. Die Kunden des Messeveranstalters - und somit die Adressaten der besagten Werbebroschüre - sind somit weniger die potentiellen Messebesucher als vielmehr die potentiellen Aussteller. Da es sich hier nun um eine Fachmesse für die MICE-Branche handelt, sind diese Aussteller nun aber selbst Veranstalter von Kongressen, Tagungen und sonstigen Marketing- bzw. Promotion-Events; und deren Zielgruppe, das angepeilte Publikum der Messe, gehört im Wesentlichen derselben Branche an. Ob das nun noch Werbung für Werbung für Werbung ist oder doch schon die vierte oder fünfte Potenz, darüber ließe sich trefflich philosophieren.
Manch einer mag nun meinen: Ist doch schön, wenn die Werbebranche so sehr mit sch selbst beschäftigt ist - dann muss sie mir wenigstens nicht den Briefkasten zumüllen. Ich fürchte jedoch, das ist zu kurz gedacht. Die Windungen der Schlange sind kompliziert, und so mag es am Ende so aussehen, als beiße sie sich in den eigenen Schwanz; aber letztlich kann kein Tier des Dschungels sich von sich selbst ernähren. Mit anderen Worten: Das Geld, das die Werbebranche innerhalb ihrer eigenen Reihen ausgibt - und wir reden hier, wie sich noch zeigen wird, von nicht gerade wenig Geld - muss halt irgendwie auch wieder 'reinkommen. Und wo soll es herkommen? In letzter Instanz: von dir, von mir und von meinem Nachbarn, der zwar auch über Werbe-Postwurfsendungen schimpft, sich aber freut, wenn mal Gutscheine von Burger King dabei sind. Und Burger King freut sich auch bzw. erst recht, denn die Gutscheine sind nur vier Wochen gültig, und um sie voll auszureizen, muss mein Nachbar an mindestens fünf Tagen in der Woche bei der Bulettenschmiede essen gehen. Am Ende hat er ca. 80 Euro ausgegeben und glaubt ernsthaft, er hätte was gespart.
Es sieht vielleicht so aus, als würde ich mich hier schon wieder in Abschweifungen ergehen, aber keine Sorge, ich bin noch ganz beim Thema. Dem Kunden durch Sonderangebote bzw. Ermäßigungsgutscheine zu suggerieren, er könne, indem er Geld ausgibt, Geld sparen, ist ja nun keine neue Erfindung; früher gab es dafür die Redewendung "mit der Wurst nach der Speckseite werfen". Heute drückt man sich vornehmer aus und spricht davon, "Kaufanreize zu schaffen". Man könnte diese Anreize auch - und nun komme ich auf einen weiter oben schon angekündigten Punkt - als Incentives bezeichnen, wäre dieser Begriff nicht bereits anderweitig besetzt. Incentive heißt zwar im Grunde nichts anderes als Anreiz, aber gemeint sind damit im Marketing-Sprech nicht Kaufanreize für die Kunden, sondern Leistungsanreize für ndie Mitarbeiter. Der Sachverhalt war mir durchaus bekannt, lange bevor ich den Begriff kannte oder auch nur ahnte, dass es einen speziellen Begriff dafür gibt. Die Grundidee des Incentive ist schließlich ganz simpel: Wenn ein Unternehmer seinen Mitarbeitern im Sommer ein Grillfest und im Winter eine Weihnachtsfeier mit Gänsebraten und anschließendem Tanz spendiert, dann könnte man denken, er will seinen Mitarbeitern einfach eine Freude machen; und es ist ja auch nicht auszuschließen, dass ein Unternehmer ein netter Mensch ist und seine Mitarbeiter mag - aber das wäre seine Privatsache. Die Kosten für Betriebsfeste hingegen sind Betriebsausgaben und unterliegen folglich einem betriebswirtschaftlichen Zweck - nämlich dem, die Mitarbeiter emotional an das Unternehmen zu binden und zu noch besseren Leistungen anzuspornen. Der Witz daran ist, dass, wenn die Rechnung aufgeht, der Mitarbeiter die vermeintlichen Geschenke, die ihm gemacht werden, am Ende doch selbst bezahlt - durch seine Arbeitsleistung, von der, wie wir jederzeit bei Marx nachlesen können, der Unternehmer bzw. das Unternehmen allemal mehr profitiert als der Mitarbeiter selbst.
Dabei sind Grillpartys im Kollegenkreis noch die harmloseste und netteste Art von "Incentive". In Unternehmen, die mehr auf die beflügelnde Wirkung interner Konkurrenz als auf ein harmonisches Betriebsklima setzen, geht es noch ganz anders zu. So genannte "Strukturvertriebe", wie sie vor allem in der Finanzdienstleistungsbranche verbreitet sind, bilden oft ein ausgeklügeltes Belohnungssystem für besonders fleißige und erfolgreiche Mitarbeiter aus. Wer in einem Monate oder einem Quartal eine besonders üppige Abschlussbilanz vorweisen kann, der darf schon mal auf Firmenkosten ein Wochenende lang einen Ferrari fahren oder wird zu einem Segeltörn auf der Yacht von Flavio Briatore eingeladen (beides übrigens keine ausgedachten Beispiele). Damit zieht er nicht nur den Neid seiner Kollegen auf sich, sondern, noch raffinierter, auch sein eigener Neid wird angestachelt: Nachdem er einmal kurz in die Welt der Reichen und Schönen 'reinschnuppern durfte, wird es ihn umso mehr nach einem eigenen Ferrari und einer eigenen Luxusyacht verlangen, und um diese Ziele zu erreichen, wird er noch härter arbeiten.
Menschen, deren Beruf es ist, sich derart perfide Ausbeutungsstrategien auszudenken, repräsentieren also das I in MICE, und nun dürfte wohl auch deutlich geworden sein, warum ich "Incentives" weiter oben als ein "Wort des Grauens" bezeichnet habe. Es sei mir erlassen, mich den anderen drei Buchstaben in gleicher Ausführlichkeit zu widmen. - Wer sich nun allerdings den "MICE Marketplace", diese Messe der Messen, als eine Art innersten Kreis von Dantes Hölle vorstellt, dem vermittelt die Werbebroschüre ein gänzlich anderes Bild. Von zahlreichen Fotos strahlen dem Betrachter attraktive jung-dynamische Menschen beiderlei Geschlechts in adretten Anzügen und Kostümchen an; das mit Abstand fröhlichste Foto - ein veritables Knäuel ausgelassne in die Kamera grinsender und winkender Twentysomethings unterschiedlicher Ethnien, fast wie in den einschlägigen Broschüren der Zeugen Jehovas, nur erheblich aufgekratzter - ziert einen Textblock, der für die "MICE ansprechBAR" wirbt:
"Networken Sie in lockerer Atmosphäre mit Ihren Kunden an der ansprechBAR - und dies bei kostenfreiem Food & Beverage."
Eine bemerkenswerte Prosaminiatur, die vom ersten bis zum letzten Wort schlagend beweist, dass die MICE-Branche mit unserer Sprache nichts Gutes im Schilde führt. Zum Schmunzeln bringt mich der Text trotzdem, denn beim Stichwort "Networken in lockerer Atmosphäre" erscheint vor meinem geistigen Auge unwillkürlich eine Gruppe ost- oder meinetwegen auch nordfriesischer Fischersfrauen, die in der Guten Stube zusammensitzen, zu den Klängen des "Wunschkonzerts" Netze knüpfen und dabei den unvermeidlichen Dorfklatsch auf den neuesten Stand bringen. Und "Food & Beverage" gibt's dabei auch, wenngleich die Fischersfrauen es eher "Speis' und Trank" nennen - oder, op Platt, "Freten un' Supen".
Ans Eingemachte geht's dann in der Beilage "Standvarianten und Preise Einzelaussteller": Hier kann der potentielle Messe-Aussteller wählen zwischen zwei verschiedenen "Eckständen", einem "Kopfstand" (!) und einem "Inselstand", und alle gibt es in drei Ausstattungsvarianten: "premium", "plus" und "basic". In dieser Reihenfolge sind die Standvarianten von links nach rechts auf einer Doppelseite angeordnet, mit dem psychologisch interessanten Effekt, dass, wenn man den Prospekt in gewohnter "westlicher" Leserichtung durchstudiert, die Ausstattung immer spartanischer statt opulenter wird. So richtig "basic" geht's demnach in der rechten unteren Ecke zu, denn die basic-Variante des "Inselstands" besteht aus nichts anderem als einem rechteckigen Stück Teppichboden (20 m² groß) - kostet aber knapp 8000 € Miete für einen Tag. Inklusive Strom, immerhin. Aber sollte man nicht denken, wenn jemand schon fast 8000 € für die Standmiete berappt, müsste er sich die zusätzlichen knapp 1200 € für das Premium-Paket auch noch leisten können? Das Premium-Paket umfasst nämlich zusätzlich zu Teppichboden und Strom eine beleuchtete Logosäule, ein abschließbares Counter-Modul, einen Hocker, einen Prospekthalter, einen Tisch-Cube mit vier Sitz-Cubes und sogar einen Mülleimer!
Meine Kollegin Conny warf in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob man denn, wenn man sich für die basic-Variante entscheide, wenigstens einen eigenen Mülleimer mitbringen dürfe. Tja, vermutlich kann man das tun. Alternativ könnte man sich aber auch die Standmiete sparen und nur den Mülleimer nehmen. Und da kann man dann auch gleich diese lachhafte Werbebroschüre enstorgen.