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Dienstag, 30. April 2019

In Tossens hat sich's ausgehext

Leser, die meinen Blog schon länger verfolgen, werden sich vielleicht erinnern, dass im Sommer 2017 mal "Minervas Hexenhof" in Butjadingen-Tossens hier Thema war. Mein damaliger Artikel zog ziemliche Kreise, brachte mir aber auch eine Menge Ärger ein, da offenbar nicht wenige Leser ihn als persönlichen Angriff auf Hofbetreiberin Patricia Winter alias "Hexe Minerva" und ihre berufliche Existenz auffassten. Dabei zielte meine Kritik eigentlich vielmehr auf die örtliche katholische Pfarrei und insbesondere die ökumenische Urlauberseelsorge, der es offenbar erheblich weniger gut gelingt, die spirituellen Bedürfnisse von Urlaubern und Einheimischen anzusprechen, als die Hexe von Tossens es tut. Wobei ich natürlich weder verhehlen will noch kann, dass mir die ganze Hexerei- und Schamanismus-Szene mehr als suspekt ist. Ich glaube, selbst als Agnostiker hätte ich diesen kruden Neopaganismus, zumindest in seiner kommerziellen Erscheinungsform (wobei: Gibt es eigentlich auch eine andere?) zumindest doof gefunden. Aus christlicher Sicht gibt es dagegen natürlich noch weit schwerer wiegende Einwände als bloßes Dooffinden. Aber lassen wir das ruhig vorerst mal beiseite. 

Dass ich das Thema nun noch einmal aufgreife, ist dadurch veranlasst, dass "Minervas Hexenhof" - wie die Betreiberin in der Karwoche auf ihrem Blog bekanntgab - am 23. Juni geschlossen wird. Vorausgegangen ist dieser Entscheidung offenbar einiger massiver Ärger: Von "[r]echtliche[n] Schreiben, Verfügungen, Abmahnungen" ist in dem Blogartikel die Rede, von "viel Geld", das "an Anwälte und Gericht verloren" worden ist, von Anzeigen und Denunziationen. Kurz, Hexe Minerva sieht sich als Opfer einer Kampagne, allerdings nicht von kulturkämpferischen Dunkelkatholen wie mir, sondern von "Mitbewebern" aus der "Hexen und Schamanen Szene", die sie "aus dem Weg haben", ja sogar "auslöschen" wollen. Genaueres zu den Hintergründen erfährt man in dem Artikel nicht, auch Namen will die Hexe von Tossens ausdrücklich nicht nennen. 

Symbolbild, Quelle: Pixabay 
Aufmerksam geworden bin ich auf diesen Blogartikel übrigens zunächst dadurch, dass er auf einer kurz und schlicht "Butjadingen" genannten Facebook-Seite geteilt worden war. Bei genauerem Hinsehen zeigte sich, dass es sich nicht um eine offizielle Facebook-Präsenz der Gemeinde Butjadingen oder der Butjadingen Kur und Touristik GmbH handelte - direkt gewundert hätte es mich nicht, immerhin ist "Minervas Hexenhof" als Touristenattraktion wichtig genug, um auf der von der Kur und Touristik GmbH betriebenen Website butjadingen.de mit einer eigenen Unterseite beworben zu werden -, sondern um eine rein private, ehrenamtlich betriebene FB-Seite. Jedenfalls bewerteten die Seitenbetreiber die angekündigte Schließung des Hexenhofes als "[s]ehr schade": "wir waren dort immer gerne zu Gast und haben Minervas tollen Geschichten gelauscht". Ähnlich äußerten sich mehrere FB-Nutzer im Kommentarfeld des Beitrags: "eine Bereicherung für Butjadingen" sei der Hexenhof gewesen, ein "Stück alternative Kultur, die fehlen wird". Auf dem Blog selbst liest man in einem Kommentar:
"Naja, ist ja schon irgendwie Tradition, dass Hexen, Hebammen, weise Menschen Zielscheibe der dunklen Kräfte werden."
Ach echt? Hexen bekommen es häufig mit "dunklen Kräften" zu tun? Wie kommt das bloß? (Sarkasmus off.) 

Als ich mich informieren wollte, ob auch die Lokalpresse die angekündigte Aufgabe des Hexenhofs würdigt, stieß ich in der Online-Ausgabe der Nordwest-Zeitung auf ein Osterei der besonderen Art: "So unterschiedlich feiern Heiden und Christen Ostern" ist ein am Gründonnerstag erschienener Beitrag der Volontärin Freya Adameck überschrieben, der auf Interviews mit Hexe Minerva einerseits und dem evangelischen Pfarrer von Nordenham-Blexen, Dietmar Reumann-Claßen, andererseits basiert. 

Wie nicht anders zu erwarten, tischt "Minerva" Winter den Lesern hier das ganze Repertoire handelsüblicher Behauptungen über die angeblichen heidnischen Ursprünge von Ostern auf: Es handle sich um "das erste Sonnenfest des Jahres", das "der Göttin Ostara gewidmet" sei -- einer "altgermanische[n] Frühlingsgöttin", die bei Frühlingsanfang die "Äcker und Felder" mit ihrem Menstruationsblut befruchte ("Deshalb heißt es auch Mutterboden"). Der Name "Ostara" sei möglicherweise mit dem der "angelsächsischen Göttin Eostre" verwandt -- der "Göttin der Morgenröte", die bei den Griechen Eos und bei den Römern Aurora heiße. Weiter heißt es u.a.: 
"Osterwasser ist an Ostara geweihten Quellen zur Osternacht geschöpftes Wasser. Später wurden viele dieser Quellen Maria oder anderen christlichen Heiligen gewidmet. Ein altes Ritual sieht vor, in völliger Stille Wasser zu schöpfen und die Felder oder gar Menschen selbst damit zu segnen. Später machte das Christentum die Taufe daraus."
Das ist natürlich alles ausgedachter Quatsch -- womit ich wohlgemerkt nicht behaupten möchte, Frau Winter hätte sich das selber ausgedacht. Im Wesentlichen ist der Neopaganismus - wie so viele Übel, die uns bis in die Gegenwart und Zukunft hinein plagen - eine Erfindung des 19. Jahrhunderts; wobei speziell die Deutung christlicher Bräuche als angebliche Relikte heidnischer Riten sich ironischerweise vielfach auf antikatholische Verschwörungstheorien aus dem evangelikalen Lager beruft (beispielhaft sei hier nur das Buch "The Two Babylons" von Alexander Hislop genannt). In Wirklichkeit ist es natürlich genau umgekehrt, die Neuheiden sind es, die christliche Bräuche und Riten in ihrem Sinne umdeuten -- dabei aber behaupten, ihre Deutung wäre die ursprüngliche

Es liegt wohl einigermaßen auf der Hand, dass eine so krude Mischung aus Esoterik, Pantheismus, Animismus, Pseudoetymologie und Geschichtsklitterung, wie der Neopaganismus sie darstellt, in einer ehemals christlichen Gesellschaft nur dank der Schwäche der christlichen Kirchen Fuß fassen konnte und kann; und man könnte auf die Idee kommen, es sei ein nicht unwesentlicher Aspekt dieser Schwäche, dass das Christentum seine eigenen Traditionen vernachlässigt hat. In dem Streben nach "gesellschaftlicher Relevanz", dem Bemühen, "modern", "zeitgemäß" und "weltoffen" zu wirken, haben die Kirchen den archaischen und rituellen Aspekt des Christentums aus der Hand gegeben, und der ist daraufhin, sprichwörtlich ausgedrückt, unter die Räuber gefallen. In diesem Zusammenhang wirkt es recht bezeichnend, dass Pfarrer Reumann-Claßen der neuheidnischen Interpretation des Osterfests, wie Hexe Minerva sie anbietet, nicht viel entgegenzusetzen hat und es vor allem nicht schafft, aus der Defensive herauszukommen: "Wir haben sicher einiges vom Heidentum gekapert [sic!]", räumt er ein. 

Insgesamt macht das Phänomen des Neopaganismus (und anderer esoterischer Heilsversprechen) deutlich, dass es zwar einen großen Hunger nach Spiritualität und Transzendenzerfahrungen gibt, dass aber eine nicht geringe Zahl von Menschen glaubt, im Christentum nicht die Erfüllung ihrer diesbezüglichen Bedürfnisse finden zu können; ja mehr noch: Dass auf "Minervas Hexenhof" sogar "Enttaufungs"-Rituale angeboten wurden, ist ein starkes Bild dafür, dass es Menschen gibt, die die christliche Religion effektiv sogar als Hindernis für ihr spirituelles Wachstum betrachten. 

Natürlich kann man in dem NWZ-Artikel - genauer gesagt, in dem Umstand, dass ein auf diese Art konzipierter Artikel überhaupt denkbar ist - auch etwas Positives entdecken, nämlich ein Indiz dafür, dass die christlichen Traditionen rund um das Osterfest für viele Menschen schon genauso fremd und exotisch geworden sind wie irgendein ausgedachter naturmagischer Kult. Inwiefern das etwas Positives sein soll? Nun, es macht das missionarische Potential dieser Fremdheit deutlich, wenn die christlichen Kirchen sich nur mal trauen würden, sich gegenüber der säkularen (Post-)Moderne zu ihrem Anderssein zu bekennen und es zu pflegen. 

Was also könnte man tun, gerade in Butjadingen und gerade jetzt, wo sich durch die Schließung des Hexenhofs eine Lücke im spirituellen "Angebot" auftut? Schon im vorigen Sommer tagträumte ich auf meinem Blog von einer Wiederansiedlung von Mönchen in der Wesermarsch, die ähnliche Auswirkungen haben könnte wie die Neuansiedlung von Wölfen im Yellowstone-Nationalpark. Dazu muss man allerdings einräumen, dass, wie mir verschiedentlich berichtet wurde, die meisten (oder jedenfalls viele) Ordensgemeinschaften im deutschsprachigen Raum geistlich-geistig-moralisch (und in der Folge auch personell) in einem derart beklagenswerten Zustand sind, dass sie eher selbst eine geistliche Erweckung nötig hätten, als dass man ihnen zutrauen könnte, irgendwen oder irgendwas zu erwecken. Nahezu die einzige Ordensgemeinschaft in unseren Breiten, die gesund ist und wächst, scheinen die Zisterzienser von Heiligenkreuz zu sein -' die, während andere Klöster an Nachwuchsmangel eingehen, sogar Tochterpriorate gründen,  zuletzt in Neuzelle in der brandenburgischen Lausitz, wo sie ein 200 Jahre zuvor säkularisierte Kloster neu belebt haben. Ich will damit nicht sagen, dass eine Ansiedlung von Mönchen in der Wesermarsch, wie ich sie mir erträume, unbedingt von Heiligenkreuz ausgehen müsste; meinetwegen könnten die Mönche auch aus Indien oder Äquatorialguinea kommen. Ich will lediglich sagen: Das Beispiel Neuzelle (ich war, wie regelmäßige und aufmerksame Leser meines Blogs wissen werden, in diesem Frühjahr zweimal dort) zeigt, dass eine solche Neugründung funktionieren kann. Ich stelle mir vor, dass eine Gruppe von vier bis acht Mönchen auf einem Resthof in Butjadingen Selbstversorger-Landwirtschaft betreibt, dabei vielleicht auch ausreichend Überschuss produziert, um einen kleinen Hofladen zu betreiben. Obendrein könnte man auf so einem Hof - wie Hexe Minerva es ja auch getan hat, nur eben anders - Seminare, Einkehrtage, Exerzitien anbieten; und für Chorgebet und Heilige Messe würde ihnen bestimmt eine der örtlichen Kirchengemeinden eine der schönen mittelalterlichen Dorfkirchen zur Verfügung stellen, die die evangelisch-lutherische Kirche angesichts grassierenden Personal- und Mitgliederschwunds ohnehin nicht mehr in vollem Umfang nutzen kann. Und so würden die Mönche nach und nach das spirituelle Ökosystem dieses Landstrichs ins Gleichgewicht bringen. 

Träumen kann man ja wohl mal.



Montag, 29. April 2019

Kaffee & Laudes - Die Wochenvorschau (2. Woche der Osterzeit)

Was bisher geschah: Am Ostermontag gab's bei herrlichem Wetter einen sehr schönen Familienausflug in den Tierpark, und danach fuhren wir für drei Tage nach Neuzelle. Motto: "Familieneinkehrtage prima selbermachen". (Letztes Jahr um diese Zeit waren wir für vier Tage im Gebetshaus Augsburg.)  Die Anreise mit der Bahn dauerte infolge eines Stellwerkschadens in Berlin-Rummelsburg stolze drei Stunden länger als geplant, und auch der Aufenthalt selbst verlief deutlich anders, als wir uns das eigentlich vorgestellt hatten, aber so ist das wohl oft im Leben. Die Mönche des Zisterzienserpriorats Neuzelle stellten uns eine ziemlich komfortable Gästewohnung im Dachgeschoss des Florianstifts, einige hundert Meter außerhalb des Klostergeländes gelegen, zur Verfügung, aber davon abgesehen bekamen wir sie kaum zu sehen -- auch zu den Gebetszeiten nicht, denn zum Chorgebet versammeln sich die Mönche auf der Empore der Klosterkirche, während das gemeine Volk im Kirchenschiff lediglich zuhören darf. Dass man durch große Hinweistafeln über die empfindliche Akustik des Gebäudes belehrt und folgerichtig ermahnt wird, während des Chorgebets möglichst jedes Geräusch zu vermeiden, sorgt zusätzlich für eine gewisse Anspannung, wenn man ein putzmunteres eineinhalbjähriges Kind bei sich hat. Aber ich will gar nicht meckern: Alles in allem hatten wir eine ausgesprochen schöne Zeit in Neuzelle, nicht zuletzt auch dank der Tatsache, dass es unweit des Klosters einen tollen Kinderspielplatz gibt. Dort holte ich mir übrigens den ersten Sonnenbrand des Jahres -- auf dem Kopf, was mich veranlasst hat, nach unserer Rückkehr meinen im Sommer 2016 in Castrojeriz am Jakobsweg gekauften Strohhut mal wieder hervorzukramen. -- Und am gestrigen Sonntag stand dann die zweite Ausgabe des "Offenen Büchertreffs" auf dem Programm; schon spürbar besser besucht als beim ersten Mal, ausgezeichnete Stimmung, und unser Pfarrer stellte seine (durchaus umfangreichen) Publikationen zur lokalen bzw. regionalen Kirchengeschichte vor. Schade war nur, dass unsere Tochter diesmal das einzige Kind unter den Gästen war. Aber hey, in knapp drei Wochen startet der "Krabbel-Brunch"... 


Was ansteht: Ich muss eine Maiandacht vorbereiten -- und habe das noch nie gemacht! Okay, die Andacht ist erst am Mittwoch, aber sinnvoll wär's schon, wenn der Ablaufplan heute noch fertig würde. Die Chancen, das zu schaffen, stehen und fallen vermutlich mit der Mittagsschlaf-Dauer meiner Tochter... Ebenfalls am Mittwoch ist "Dinner mit Gott", und originellerweise hat der Lokalausschuss unserer Kirchengemeinde beschlossen, bei diesem Dinner seine nächste Sitzung abzuhalten. Also, falls das jetzt nicht unmissverständlich genug ausgedrückt war: Das Dinner ist zugleich die Sitzung. Um für eine produktive Atmosphäre zu sorgen, hat meine Liebste ein besonders vorbereitungsintensives Essen - bunte Gemüsepfanne und Hähnchengeschnetzeltes - auf den Menüplan gesetzt, damit alle Teilnehmer ordentlich was zu schnippeln haben. -- Davon abgesehen hoffe ich in dieser Woche endlich mal wieder etwas mehr zum Schreiben zu kommen und habe mir daher sonst nicht viel vorgenommen, außer dass ich, wenn das Wetter gut wird, mit meiner Tochter mal einen kleinen Ausflug zur Wasserbüffelherde am Tegeler Fließ unternehmen will. Und am Freitag ist großer Dublettenverkauf in der Bibliothek des Konservatismus... na, mal sehen. 


aktuelle Lektüre: Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, während des Aufenthalts in Neuzelle fleißig "Kraft der Stille" von Kardinal Sarah weiterzulesen, aber bezeichnenderweise bin ich dann doch relativ bald zum "Herrn der Ringe" abgeschweift, wo ich jetzt die Heerschau von Rohan hinter mich gebracht habe. Nichts für ungut, Eminenz, aber "Kraft der Stille" ist schwere Kost. Immerhin kann ich erneut mit einem beeindruckenden Zitat aufwarten: 
"Ohne Lärm fällt der postmoderne Mensch in eine dumpfe, quälende Unsicherheit. Er ist den ständigen Lärm gewohnt, der ihn einlullt und zugleich krank macht. Ohne Lärm ist der Mensch angespannt, gereizt und verloren. Der Lärm verschafft ihm Sicherheit, gleich einer Droge, von der er abhängig geworden ist. Nach außen scheint dieses Getöse wie ein Fest, aber es ist ein Wirbel, der den Menschen davon abhält, sich selbst anzuschauen, wie er wirklich ist. Die Unruhe wird zum Anästhetikum, zum Beruhigungsmittel, zur Morphiumspritze, zu einem fadenscheinigen Traumbild. Aber dieser Lärm ist ein gefährliches und illusorisches Medikament, eine teuflische Lüge, die den Menschen nur davon fernhält, seinem leeren Inneren zu begegnen." 
Davon abgesehen ist am Wochenende mein Rezensionsexemplar von "Wie ich als Cowgirl die Welt bereiste und ohne Land und Geld zur Bio-Bäuerin wurde" von Anja Hradetzky eingetroffen -- ich erwähnte dieses Buch bereits. Habe die ersten rd. 70 Seiten in einem Rutsch durchgelesen und bin soweit ziemlich angetan. Genaueres hierzu zu gegebener Zeit und an anderer Stelle. "Für danach" steht auch schon was auf der Leseliste: Eine Cousine meiner Liebsten hat uns das Buch "Laufen. Essen. Schlafen." von Christine Thürmer ausgeliehen (und nachdrücklich empfohlen). Was ich nicht zuletzt deshalb bemerkenswert finde, weil dieses Buch schon einmal auf meinem Blog erwähnt worden ist -- in einem Artikel von 2016.  Damals hatten meine Liebste und ich in einem Laden für Outdoor-Bedarf Werbung für das Buch (genauer gesagt, die Ankündigung einer Autorenlesung) gesehen, und meine Liebste hatte die Einschätzung geäußert, das sei "wahrscheinlich ein wesentlich besseres Buch als alle handelsüblichen Bestseller über den Jakobsweg"; und zwar weil es darin "um existenzielle Erfahrungen beim Wandern geht und nicht um spirituelle Erfahrungen beim Pilgern - beschrieben von Leuten, die den Unterschied dazwischen nicht kennen beziehungsweise nicht verstehen." Nun hat sie es innerhalb eines Tages durchgelesen und fand es tatsächlich sehr gut. Dann werde ich es wohl auch lesen müssen. Sobald ich Zeit dazu habe. 


Linktipps:
Viele meiner Leser werden die Situation aus eigener Erfahrung kennen -- ich selbst jedenfalls zur Genüge: Da geht man, nichts Böses ahnend oder vielleicht doch, zur Heiligen Messe und muss erleben, wie der Priester in der Predigt fundamentale Glaubenswahrheiten in Zweifel zieht oder gar geradeheraus leugnet. Tatsächlich, so meint Brantly Millegan, ist diese Erfahrung so verbreitet, dass viele gläubige Katholiken sich gar nicht mehr groß darüber aufregen. Das sollten sie aber! -- Ein Artikel, der Wut... äh, Mut macht.

Ostern, so scheint es, ist eine besonders beliebte Zeit für Schmähungen und Spott über den christlichen Glauben; das gilt für den SPIEGEL ebenso wie für vulgäratheistische Social-Media-Trolle. Dabei, so legt Rudolf Gehrig sehr eindringlich dar, verkennen diese Spötter und Verächter des Christentums etwas ganz Wesentliches: dass der christliche Glaube nicht einfach eine Theorie oder ein abstraktes System von Überzeugungen ist, sondern in allererster Linie eine Liebesbeziehung.  Lesebefehl! 



Heilige der Woche: 

Heute, Montag, 29. April: Hl. Katharina von Siena (1347-1380), Ordensfrau (Dominikanerin), Mystikerin und Kirchenlehrerin. Wohl weil sie eine der profiliertesten, einflussreichsten Frauen der Kirchengeschichte ist und in ihren Briefen selbst Päpste zurechtwies, wird ihr Festtag von interessierten Kreisen als "Tag der Diakonin" kirchenpolitisch instrumentalisiert; aber glücklicherweise ist Katharina auch Schutzheilige gegen Kopfschmerzen und Patronin der Waschfrauen. Mehr will ich nicht gesagt haben. 

Dienstag, 30. April: Hl. Pius V. (1504-1572), ab 1566 Papst, zuvor Großinquisitor. Geschätzt für seine persönliche Integrität und tiefe Frömmigkeit, gefürchtet für seine Strenge v.a. gegenüber Häretikern. Reformierte die Kurie, ließ in der Folge des Reformkonzils von Trient Neufassungen von Katechismus, Brevier und Messbuch erstellen. Gründete mit Spanien und Venedig die Heilige Liga zum Kampf gegen die Türken, stiftete nach der siegreichen Seeschlacht von Lepanto (1571) das Rosenkranzfest (7. Oktober). 

Mittwoch, 1. Mai: Hl. Josef der Arbeiter. Diesen Festtag stiftete Papst Pius XII. im Jahr 1955, um den bereits 1890 von der Zweiten Sozialistischen Internationale ausgerufenen Internationalen Tag der Arbeiterbewegung gewissermaßen "ins Katholische zu übersetzen". Bereits Papst Leo XIII. hatte in seiner Enzyklika "Quamquam pluries" (1889) die Rolle des irdischen Ziehvaters Jesu als Schutzpatron der Arbeiter betont. 

Donnerstag, 2. Mai: Hl. Athanasius der Große (ca. 300-373), Kirchenlehrer. Dunkelhäutig und von kleiner Statur, wurde er von seinen Gegnern als "schwarzer Zwerg" geschmäht. Nahm am Konzil von Nizäa (325) teil, wurde 328 Patriarch von Alexandria. Bekämpfte vehement die Irrlehre des Arianismus und wurde mehrfach verbannt.  Einen informativen Vortrag über Leben und Wirken dieses Kirchenvaters gibt es hier

Freitag, 3. Mai: Hll. Philippus und Jakobus, Apostel. Während der Apostel Philippus bei Matthäus, Markus und Lukas lediglich in den Apostellisten erwähnt wird, spielt er im Johannesevangelium an mehreren Stellen eine etwas profiliertere Rolle. Jakobus, Sohn des Alphäus - nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Sohn des Zebedäus und Bruder des Apostels Johannes - wird in der kirchlichen Tradition mit dem Herrenbruder Jakobus und Verfasser des Jakobusbriefs gleichgesetzt, was allerdings umstritten ist. 

Samstag, 4. Mai: Hl. Florian, Märtyrer der Christenverfolgungen unter Kaiser Diokletian im heutigen Österreich, bekannt v.a. als Schutzpatron der Feuerwehr. 


Aus dem Stundenbuch: 

Auch mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen; auch Ströme schwemmen sie nicht weg. Böte einer für die Liebe den ganzen Reichtum seines Hauses, nur verachten würde man ihn. (Hohelied 8,7)



Samstag, 27. April 2019

Postchristliche Wellness-Spiritualität für Besserverdienende

Hatte ich nicht schon zu Beginn der diesjährigen Fastenzeit in Aussicht gestellt, etwas über die "Klimafasten"-Aktion "So viel du brauchst..." - eine gemeinsame Initiative von elf evangelischen Landeskirchen sowie den Diözesanräten der katholischen Bistümer Hildesheim, Berlin und Passau - zu schreiben? In der Tat, das hatte ich -- allerdings mit der Einschränkung, ich würde es vielleicht doch bleiben lassen. Und genau dieses "Vielleicht" hat mich über die letzten Wochen konstant begleitet, mit beständigem Pendeln zwischen "vielleicht doch" und "vielleicht doch nicht". Zunächst tendierte ich eher dazu, es zu lassen. Schließlich habe ich bereits 2015 über den "Ökumenischen Pilgerweg für Klimagerechtigkeit" vom Leder gezogen, und wie viel mehr als das kann man sinnvollerweise dazu sagen? Dann allerdings teilte mir eine katholische Freundin auf digitalem Wege ihre Eindrücke vom Flyer der "Soviel du brauchst"-Aktion mit, und das brachte dann doch einige interessante Denkanstöße. Andererseits begegnet mir in den Weiten des Internets, insbesondere auf Facebook, immer wieder ein Typus konservativer Katholiken, die aus lauter Grimm über die "Klimareligion" ihre Plastikverpackungen absichtlich in den Restmüll werfen und hinter jedem Aufruf zur Bewahrung der Schöpfung gleich Häresie, Apostasie und Schisma wittern, und mit diesen Leuten möchte ich ja nun nicht verwechselt werden. Zwischenzeitlich hatte ich sogar mit dem Gedanken gespielt, diese Zielgruppe so richtig zu ärgern, indem ich etwas Positives über diese Klimafastenaktion schreibe. Aber das gibt sie beim besten Willen nicht her. Hinzu kam, dass ich mich angesichts mancher allzu anbiederischer Äußerungen aus Kirchenkreisen - auch und nicht zuletzt von Bischöfen - eines gewissen Maßes an Verständnis für die Fraktion der "Klimareligions"-Verächter denn doch nicht erwehren konnte und kann. 

Kurz und gut, nach allerlei Abwägen war ich schon drauf und dran, das Thema schließlich doch fallen zu lassen, da stellte ich fest, dass die "So viel du brauchst..."-Broschüre auch im Vorraum "meiner" Pfarrkirche auslag. Das ist ein Zeichen!,  sagte ich mir und nahm ein Exemplar mit nach Hause. 


Und was sollen wir nun dazu sagen? -- Darüber, ob und inwieweit diese "Klimafasten"-Aktion in einem Zusammenhang mit dem christlichen Glauben steht, braucht man glücklicherweise nicht lange zu sinnieren, denn das steht explizit im Einleitungstext der Broschüre: 
"Mit dieser Fastenaktion stellen wir uns in die christliche Tradition, die in der Zeit vor Ostern des Leidens gedenkt und bewusst Verzicht übt, um frei zu werden für neue Gedanken und andere Verhaltensweisen." 
Äh. Das soll "die christliche Tradition" sein? Wohl eher nicht, aber man muss mit der Möglichkeit rechnen, dass die Verantwortlichen für diese Broschüre den Unterschied tatsächlich nicht (er)kennen. Besonders bezeichnend finde ich die Formulierung, zur christlichen Tradition gehöre es, "in der Zeit vor Ostern des Leidens [zu] gedenk[en]". Ja schon, aber welches Leidens? Die richtige Antwort müsste natürlich lauten: des Leidens Christi. Aber offenbar ist die Klimafasten-Aktion derart beflissen, als weltoffen und undogmatisch 'rüberzukommen, dass man sich sogar scheut, Jesus Christus beim Namen zu nennen. Und so verwandelt sich das Gedächtnis Seines heilbringenden Leidens und Sterbens schwuppdiwupp in ein irgendwie schwammiges Gedenken des Leidens schlechthin, oder im Kontext des Klimaschutzes wohl am ehesten des Leidens von Mutter Erde. "Wenn wir nicht spüren, die Erde, sie weint wie kein and'rer Planet, dann haben wir umsonst gelebt", dichtete Drafi Deutscher schon während einer früheren Hochphase der Ökologiebewegung, in den frühen 1980-ern. 

Aber im Grunde ist die zitierte Passage aus der Broschüren-Einleitung ja entwaffnend ehrlich, indem sie zu verstehen gibt: Um christlichen Glauben geht es hier nicht, sondern die Traditionen des Christentums werden lediglich als Material aufgefasst, dessen man sich bedient. Man greift sich nach Bedarf einzelne Versatzstücke heraus und füllt sie mit neuen Inhalten. Wobei, und das ist der Witz, der Inhalt letztlich genauso beliebig ist wie die Form. Okay, das bedarf nun aber wohl doch einer genaueren Erklärung. 

Die Kerngedanken des Konzepts "Klimafasten" werden gleich am Anfang der Broschüre in farbigem Fettdruck hervorgehoben: Die Aktion soll "Leib und Seele gut [tun]", es geht um "Spüren und erleben" mit "Herz, Hand und Verstand", zusammenfassend gesagt also um Selbstoptimierung durch spirituelle Wellness. Das erklärte Ziel aller spirituellen Wellness-Angebote ist es, im Einklang mit dem Kosmos zu sein, was in unserer egozentrischen Kultur allerdings vorrangig heißt: im Einklang mit sich selbst

Im Grußwort von EKD-Synoden-Präses Dr. Irmgard Schwaetzer und "ZdK"-Vizepräsidentin Karin Kortmann wird zwar auf die Enzyklika "Laudato si'" von Papst Franziskus Bezug genommen, allerdings lediglich zur Untermauerung der Wohlfühl-Message, ein "achtsame[r] und genügsame[r] Lebensstil" müsse "kein schmerzlicher Verzicht sein", sondern könne sogar "eine Intensivierung von Leben" bedeuten. Inhaltlich bin ich da übrigens durchaus d'accord. Unter den in der Broschüre versammelten Anregungen dazu, was man im Rahmen der Aktion "So viel du brauchst..." so alles Tolles machen könnte, findet sich so Manches, was ähnlich auch in der "Benedikt-Option" oder, for that matter, in "Crunchy Cons" stehen könnte. So zum Beispiel die Anregung, "mal wieder Kniffel, Scrabble oder Memory" zu spielen, "statt am Fernseher oder PC zu sitzen". Oder auch selbst zu kochen, regional und saisonal einzukaufen, sich zu informieren, "ob es in meiner Nähe direktvermarktende Bauernhöfe gibt". Auch zu erwägen, ob Lebensmittel, die man im Kühlschrank oder in der Speisekammer hat, "trotz vielleicht abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatums noch genießbar" sein könnten, findet meine Zustimmung; sich die Hände mit kaltem Wasser zu waschen, ebenso. Dass es manchem Leser der Broschüre indes gehen dürfte wie dem reichen Jüngling, der zu Jesus sagt "Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir noch?" (Matthäus 19,20), steht auf einem anderen Blatt, aber die gehören dann wohl einfach nicht zur angepeilten Zielgruppe; darauf komme ich noch. Was an dieser Broschüre jedenfalls schon auf den ersten Blick gar förchterlich nervt, ist der Umstand, dass durchaus vernünftige Vorschläge darin partout mit salbungsvollem Esoterik-Geschwalle schmackhaft gemacht werden sollen; die Empfehlung, Kuchenteig "von Hand" zu rühren und Treppen zu steigen "statt Lift zu fahren", wird beispielsweise damit begründet, dass man so "der eigenen Kraft nach[spüren]" könne. 

Ebenso charakteristisch für das ganze Konzept ist es, dass die ganzen in der Broschüre aufgeführten Möglichkeiten, die persönliche Ökobilanz zu verbessern, als lifestyle choices präsentiert werden, die man jeweils mal für eine Woche ausprobieren und dann entscheiden kann, ob sie zur eigenen Wunsch-Personality passen. Der Adressat der Broschüre wird im Grunde zu einer Shopping-Tour in der Klimaschutz-Boutique eingeladen -- mit Rückgaberecht. Besonders aufgemerkt habe ich beim Wochenmotto "plastikfreies Leben", und zwar deshalb, weil eine Schulfreundin von mir, die jetzt in unserer gemeinsamen Heimatstadt als Buchhändlerin tätig ist und in derselben Reihenhaussiedlung wohnt wie meine Mutter, seit einigen Monaten das Projekt verfolgt, in ihrem Privathaushalt so weitgehend wie möglich auf Plastikverpackungen zu verzichten, worüber die Lokalpresse und andere Medien berichtet haben. Daher weiß ich, wie anspruchsvoll es ist, das wirklich konsequent durchzuziehen. Es erfordert eine wirklich durchgreifende Veränderung des Konsumverhaltens, bis hin dazu, Produkte, die es ohne Plastikverpackung nicht zu kaufen gibt, durch solche zu ersetzen, die man selbst herstellen kann. Das ist nichts, was man mal eben so für eine Woche ausprobiert.

Das Beispiel macht, denke ich, den mangelnden Ernst der ganzen Angelegenheit hinreichend deutlich. Es geht letztendlich gar nicht ums Klima, es geht lediglich darum, dass Klimaschutz bzw. "Klimagerechtigkeit" (überhaupt ein bescheuertes Schlagwort, nebenbei bemerkt) gerade im Trend liegt, und indem man diesen Trend aufgreift, hofft man "gesellschaftliche Relevanz" - oder das, was gemeinhin unter dieser Bezeichnung verstanden wird - simulieren zu können. Weil man ja irgendwie mitspielen muss auf dem großen Markt der Spiritualitäts- und Lebenshilfeangebote. Wenn das öffentliche Interesse am Thema Klimaschutz irgendwann wieder nachlässt, dann macht man halt was anderes. Der Opportunismus, der hinter dieser Marketingstrategie steckt - das völlige Fehlen jedweder echter Überzeugung, sei es nun eine christliche oder was auch immer sonst für eine -, ist mit Händen zu greifen. Es geht nur noch darum, die Zielgruppe irgendwie bei der Stange zu halten. Wie ich an anderer Stelle schon mal schrieb: 
"Wenn die Marktforschung herausfindet, dass immer weniger Brot und immer mehr Nudeln gegessen werden, dann muss die Bäckerei halt Nudeln verkaufen, um sich auf dem Markt zu halten. Why not? Opel hat auch zuerst Nähmaschinen hergestellt." 
Dass es sich bei der angepeilten Zielgruppe der Aktion vorrangig um Besserverdienende handelt, wird nicht nur, aber besonders beim Thema Mobilität (Wochenmotto "anders unterwegs sein") deutlich. Da wird man beispielsweise aufgefordert, sich "endgültig gegen eine Flugreise im Sommer" zu entscheiden. Na hallo. Ich habe, wenn ich mich recht erinnere, in meinem ganzen Leben erst viereinhalb Flugreisen unternommen (bei der "halben" bin ich nur auf dem Hinweg geflogen und habe für den Rückweg die Bahn genommen). Aber wenn man von vornherein nicht in Erwägung zieht, im Sommer per Flugzeug zu verreisen, kann man sich halt auch nicht bewusst dagegen entscheiden und bekommt somit auch kein goldenes Sternchen. Ebenso kann jemand, der - wie ich - kein Auto hat, sich nicht bewusst dafür entscheiden, es mal nicht zu benutzen. -- Bei dem Vorschlag, mal ein "E-Bike" oder gar ein "E-Lastenrad" auszuprobieren, habe ich das "E" zunächst schlicht überlesen. Weil, mal ehrlich, was soll der Scheiß? Wieso nicht lieber der eigenen Kraft nachspüren und selber in die Pedale treten? Meine Liebste zum Beispiel hat in dieser Fastenzeit tatsächlich mal ein Lastenfahrrad probegefahren, und wenn ich mich nicht irre, war das sogar (wenn auch unabsichtlich) in genau der Woche, in der "anders unterwegs sein" auf dem Klimafasten-Programm stand. Für das Lastenfahrrad interessierte sie sich hauptsächlich in Hinblick auf ihre Foodsaving-Aktivitäten. Oh, noch mehr goldene Sternchen für unsere persönliche Ökobilanz. Schließlich meinte sie aber doch, der Kinderwagen reiche als Transportmittel aus. Aber à propos Kinderwagen...: Ich habe insgesamt den zugegeben etwas vagen Eindruck, dass die ideale Zielgruppe dieser "Klimafasten"-Aktion sowieso keine Kinder haben. Und das gar nicht mal unbedingt deshalb, weil Fortpflanzung, wie wir in jüngster Zeit wiederholt zu hören bekommen haben, der Klimakiller Nummer 1 ist; sondern ganz einfach deshalb, weil viele der in der Broschüre vorgeschlagenen Handlungsoptionen für Singles oder kinderlose Paare erheblich leichter realisierbar sein dürften als für Familien mit Kindern. Kinder zu haben ist gewissermaßen die eine lifestyle choice, die die Auswahl an ansonsten noch zur Verfügung stehenden lifestyle choices radikal reduziert. Deshalb sind, obwohl (oder gerade weil) Kinder eine Menge Geld kosten, Kinderlose die "besseren" - weil spontaneren, flexibleren und vielseitigeren - Konsumenten; und "Konsum-Fasten" funktioniert nun mal umso besser, je mehr man normalerweise konsumiert. 

In diesem Zusammenhang fällt es übrigens auf, dass der gesamte Wellness-Markt eine Tendenz dazu hat, sich auf Kinderlose als Zielgruppe zu konzentrieren. Es gibt kinderfreie Hotels und Restaurants, kinderfreie Strände, kinderfreie Bäder -- wen wundert es da, wenn sich auch ein Trend zu kinderfreien Kirchen abzeichnet? Kaum etwas stört die Harmonie des spirituellen Egozentrikers mit dem Kosmos, also sich selbst, so sehr wie die ungestüme Lebendigkeit von Kindern. 

Übrigens liegt es wahrscheinlich schlichtweg in der Natur der Sache, dass eine steuerfinanzierte Kirche in Zeiten sinkender Mitgliedszahlen ihre Kundenbindungsstrategien auf solche Zielgruppen konzentriert, von denen ein hohes Steueraufkommen zu erwarten ist -- also die höheren Einkommensklassen, und unter diesen insbesondere Singles und kinderlose Doppelverdiener. Dass übrigens Homosexuelle ein wichtiges Teilsegment dieser hochgradig werberelevanten Zielgruppe darstellen, haben "weltliche" Marketingstrategen schon vor Jahrzehnten erkannt, und auch "bei Kirchens" kommt diese Erkenntnis mehr und mehr an. Aber das mal nur am Rande. 

Jedenfalls tut man gut daran, sich bewusst zu machen, dass Pastoralstrategen, wenn sie davon sprechen, man müsse Angebote für "die Menschen von heute" machen, dabei stets ganz bestimmte "Menschen von heute" im Auge haben, nämlich solche, die sie als eine lohnende Zielgruppe ansehen. Nicht umsonst finden in der Pastoraltheologie des 21. Jahrhundert verstärkt Methoden aus dem Bereich der Marktforschung Anwendung. Wenn die sogenannte "milieusensible Pastoral" eine Dominanz des "bürgerlich-konservativen" Milieus in den Kirchengemeinden beklagt und dieser entgegenwirken will, dann in erster Linie deshalb, weil dieses Milieu im Schwinden begriffen ist und die "Neue Mitte" - wie Gerhard Schröder schon 1998 proklamierte - eher nach links tendiert, im Biosupermarkt einkauft und ihre Kinder gendersensibel erzieht. Aber so oder so, von einem in gewissem Sinne "gutbürgerlichen" - nämlich am gesellschaftlich-kulturellen Mainstream orientierten - Selbstbild kommen die Kirchenfunktionäre nicht weg. 

Das ist mir neulich noch in einem anderen Kontext aufgefallen, nämlich anhand der Veranstaltungsreihe "Kieztouren mit Herz" im Erzbistum Berlin. Demnächst, am 4. Mai, geht es in dieser Reihe um das Thema "Leben im Gefängnis", und ich habe über den Presseverteiler des Erzbistums eine Einladung zu dieser Veranstaltung bekommen: 
"In der ersten Etappe fragen wir uns: Was passiert mit den Menschen dort drin? Wir hören persönliche Erfahrungen [...]. Bei einer so genannten Ausführung, bei der Inhaftierte begleitet von JVA-Personal das Gefängnis verlassen können, begegnen uns ihre Lebensläufe und Gedanken." 
Das ist (vermutlich) alles total gut gemeint, aber mir rollen sich bei dieser "Wir vs. die Anderen"-Diktion die Fußnägel auf. Die Anderen, das sind die Gefängnisinsassen, die von den unbescholtenen Bürgern bestaunt werden wie exotische Tiere im Zoo. Gewiss, man will den Häftlingen nur Gutes, aber als einen Teil von "Uns" betrachtet man sie nicht; "Wir", das sind ausschließlich die Anständigen, für die es vollkommen undenkbar ist, dass sie oder jemand aus ihrer Familie oder ihrem Bekanntenkreis in den Knast kommen könnten. Ich bin mir sicher, den Verantwortlichen sind diese Implikationen des Texts überhaupt nicht bewusst; aber genau das ist der Kern des Problems. Mitte September gibt es übrigens eine Kieztour zum Thema "Leben als Sexarbeiterin". Ich will mich gar nicht lange damit aufhalten, mich über die Verwendung des beschönigenden, die Prostitution als vermeintlich "ganz normalen Beruf" verharmlosenden Begriffs "Sexarbeiterin" aufzuregen; sehr wohl möchte ich aber die Frage in den Raum stellen, ob wir den braven Bürgerlein, die auf Einladung von Erzbistum, Caritas und KDFB an dieser Veranstaltung teilnehmen, wirklich abkaufen wollen, dass sie noch nie in ihrem Leben mit Prostituierten zu tun hatten. 

Okay, zugegeben, ich reagiere in dieser Angelegenheit ziemlich unwirsch. Aber das hat Gründe. Dieser Mief der bürgerlichen Wohlanständigkeit, den es, wie man sieht, sowohl in einer "konservativen" als auch in einer "progressiven" Duftnote gibt, hat erheblichen Anteil daran gehabt, mich von meinen späten Teenagerjahren an für rund ein Jahrzehnt effektiv aus der Kirche zu vertreiben. Der Widerspruch zwischen einer Kirche, in der es anscheinend vor allem darauf ankam, gut angezogen zu sein und sich gut zu benehmen, und einem Jesus, der auf Erden als "Freund von Zöllnern und Sündern" (Lukas 7,34) verschrieen war und den Hohepriestern und Ältesten des Volkes auf den Kopf zusagte "Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr" (Matthäus 21,31), sagte mir deutlich, dass mit dieser Kirche etwas faul ist. Ich möchte wetten, so wie mir damals geht es zahlreichen kirchlich sozialisierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis heute. Und nicht alle - längst nicht alle - finden den Weg zurück.



Montag, 22. April 2019

Kaffee & Laudes - Die Wochenvorschau (Osteroktav)

Was bisher geschah: Ein frohes und gnadenreiches Osterfest, liebe Leser! Wie schon angekündigt, hat meine kleine Familie das diesjährige Triduum in der kleinen, in den 1930er-Jahren erbauten Kirche Maternitas Beatae Mariae Virginis in Heiligensee mitgefeiert -- äußerlich Dorfkirche, im Inneren eher späthippieskes Stuhlkreis-Flair (das ist nicht wörtlich zu verstehen, die Kirche hat durchaus Bänke). In so einem Ambiente und mit, wie man leider sagen muss, liturgisch nicht besonders gut geschulten Ministranten eine feierliche Osterliturgie zu zelebrieren, ist wahrlich keine leichte Aufgabe, aber unser Lieblingsvikar tat sein Bestes. Am Gründonnerstag ließ ich mich vom Küster sogar spontan überreden, mich für die Fußwaschung zur Verfügung zu stellen. Am Morgen des Karsamstags war in "unserer" Kirche Speisensegnung, da gingen wir hin und ließen einen selbstgebackenen Kuchen (Hermann-Option!) und einige hartgekochte Eier segnen; außerdem bekamen wir von einer netten Seniorin aus der Gemeinde (solche gibt es hier nämlich auch!) ein Osterkörbchen für unsere Tochter geschenkt. Insgesamt stellte ich fest, dass an der Speisensegnung überdurchschnittlich viele Familien mit Kindern teilnahmen -- mehr als bei den monatlichen Familiengottesdiensten. Ich bin noch nicht ganz fertig damit, darüber zu sinnieren, was für Schlüsse daraus zu ziehen sind.

Den besagten Kuchen nahmen wir übrigens am Abend mit zur Agape-Feier im Anschluss an die Osternacht in Heiligensee, und das war auch ganz gut so, denn offenbar hatte es bei der Vorbereitung der Agape seitens der örtlichen Gemeinde irgendwelche Missverständnisse oder Fehlplanungen gegeben. Jedenfalls gab es außer unserem Kuchen nicht viel zu essen. Dafür aber drei Flaschen Wein...

Am Vormittag des Ostersonntags war Hochamt "bei uns" in der Pfarrkirche, was Gelegenheit bot, einige der Leute wiederzutreffen, mit denen es in jüngster Zeit Ärger gegeben hatte. Umso erfreulicher, dass uns einige ausgesprochen versöhnliche und ermutigende Signale zuteil wurden, wozu auch gehörte, dass die eigentlich für diese Messe eingeteilte Lektorin mir kurzerhand anbot, die erste Lesung zu übernehmen. Machte ich gern. Nach der Messe fuhren wir zu meinen Schwiegereltern, wo meine kleine Tochter zum ersten Mal in ihrem Leben im Garten Ostereier suchte.

Übrigens kann ich sagen, dass auch die sonstigen Ereignisse der zurückliegenden Woche mich für den Ärger der vorherigen voll und ganz entschädigt haben. Ich habe (endlich!) meine schon einmal andeutungsweise erwähnte Mitwirkung an einem Kinderbuchprojekt abgeschlossen, habe dafür von der Hauptautorin ein ausgesprochen positives Feedback erhalten, und seitens des Verlags winken interessante Folgeaufträge; ich habe einen Wochenkommentar für Radio Horeb verfasst und aufgenommen; der Katholische Arbeitskreis der CDU Sachsen hat mich zu einem Vortrag über die Benedikt-Option eingeladen (dazu demnächst mehr); und die Vorbereitungen für weitere Aktivitäten in der Pfarrgemeinde laufen ebenfalls gut. 


Was ansteht: Eigentlich hatte ich die Aufgabe übernommen, am heutigen Ostermontag gegen 9 Uhr die Kirche aufzuschließen, aber das hat sich nun kurzfristig erübrigt, da die Kolping-Ortsgruppe im Anschluss an ihren traditionellen Emmausgang (von C&A bis zur Kirche, stolze 500 Meter) eine im ursprünglichen Zelebrationsplan nicht vorgesehene Messe mit einem Gastpfarrer angesetzt hat. Na, auch was Schönes. Dann werde ich stattdessen eben mit Frau und Kind in den Tierpark fahren. Heute Abend ist noch einmal Messe, zelebriert vom bösen Mr. Spock aus dem Paralleluniversum (okay, das war jetzt ein Insiderwitz), und morgen geht's mit Frau und Kind für drei Tage ins Kloster Neuzelle, für ein bisschen geistliche Einkehr. Hat meine Liebste für uns gebucht, Gott segne sie. Am kommenden Sonntag ist dann schon wieder Büchertreff. Es bleibt spannend...!

aktuelle Lektüre: Erneut bin ich mit der geistlichen Lektüre, die ich mir vorgenommen hatte, nicht so gut vorangekommen, wie ich gehofft hätte; allerdings bin ich in Kardinal Sarahs "Kraft der Stille" auf eine Passage gestoßen, die ich meinen Lesern nicht-nur-aber-auch aus aktuellen Anlässen keinesfalls vorenthalten will: 
"Es kann vorkommen, dass ein guter und frommer Priester, wenn er einmal zur Bischofswürde erhoben wurde, schnell in Mittelmäßigkeit und in Sorgen über die weltlichen Angelegenheiten fällt. Belastet durch das Gewicht seiner ihm anvertrauten Ämter, getrieben von der Sorge zu gefallen, besorgt um seine Macht, seine Autorität und die materiellen Bedürfnisse seines Amtes, gerät er allmählich außer Atem. In seinem Wesen und seinen Handlungen wird der Wunsch nach Aufstieg und Ansehen deutlich und ein geistiger Verfall. Dies schadet ihm und der Herde, zu deren Hirte ihn der Heilige Geist eingesetzt hat, um die Kirche Gottes zu weiden, die Er sich durch das Blut Seines Sohnes erkauft hat." 
Im Zuge einer (noch lange nicht abgeschlossenen) Durchsicht meiner privaten Buchbestände habe ich außerdem das "Tagebuch eines frommen Chaoten" von Adrian Plass wiedergefunden (die deutsche Ausgabe; ein originalsprachliches Exemplar muss auch noch irgendwo in der Wohnung sein) und im Laufe von zwei oder drei Tagen meiner Liebsten vorgelesen. Ein herrliches Buch. Zwischen all der Situationskomik enthält es durchaus profunde Weisheit -- und bietet allerlei hilfreiche Impulse, gerade auch für das Thema Gemeindeaufbau/Gemeindeerneuerung. Ich werde wohl noch verschiedentlich darauf zurückkommen müssen.

Einige andere Bücher aus meinem Bestand habe ich nur angelesen, um mich zu entscheiden, ob ich sie unserem Büchereiprojekt spenden oder doch lieber behalten will; darunter solche Schmuckstücke wie "Nicolai Klims unterirdische Reise" von Ludvig Holberg, "Reisen in Asien, Afrika und Europa" von Mirza Abu Taleb und eine Reclam-Anthologie "Galle und Honig - Humanistenepigramme lateinisch und deutsch".


Linktipps: 

Schöner Artikel über den Feuerwehr-Seelsorger Jean-Marc Fournier, der das Allerheiligste und die Dornenkrone aus der brennenden Kathedrale Notre Dame de Paris gerettet hat. Übrigens war das nicht seine erste Heldentat: Er war als Militärseelsorger in Afghanistan, und beim Terroranschlag auf das Pariser Bataclan-Musiktheater am 13. November 2015 spendete er den Opfern die Sterbesakramente. "WHAT A PRIEST", resümiert Bloggerin Simcha Fisher. Besser kann man's wohl nicht sagen.


Wir bleiben beim Thema: Das eigentliche Drama der partiellen Zerstörung der Kathedrale Notre Dame, meint Theologieprofessor Chad Pecknold, liegt in der Erkenntnis, dass unsere Gesellschaft und Kultur den Glauben verloren hat, der die Erschaffung eines solchen Meisterwerks der Baukunst überhaupt möglich gemacht hat. Und das ist weit mehr als eine ernüchternde Stellungnahme zur Wiederaufbau-Debatte. 


Heilige der Woche: Diese Rubrik muss, wie schon letzte Woche, entfallen, da die Osteroktav sämtliche Fest- und Gedenktage von Heiligen aus dem liturgischen Kalender verdrängt. Es ist quasi die ganze Woche lang Hochfest! Das gilt es zu feiern -- zum Beispiel durch Steak- oder Burger-Essen am Freitag... 


aus dem Stundenbuch: 

Ihr Geister und Seelen der Gerechten, preiset den Herrn; * ihr Demütigen und Frommen, preiset den Herrn! (Daniel 3,86f.



Sonntag, 21. April 2019

Come In And Find Out: Platz für den Glauben in Dritten Räumen


In einem Blogartikel aus dem Jahr 2015 machte der christliche Autor und Psychologieprofessor Richard Beck sich Gedanken über sogenannte "Dritte Räume" – worunter man Lokalitäten versteht, die dazu dienen, informelle, ungezwungene und zufällige soziale Kontakte zwischen Menschen zu ermöglichen, die ansonsten wenig miteinander zu tun haben. Beck beobachtete, dass Kirchengemeinden, wenn sie sich bemühen, solche "Dritten Räume" zu schaffen – etwa um einen "niederschwelligen" Erstkontakt zu religiös eher wenig interessierten Menschen zu ermöglichen –, zumeist auf die Idee verfallen, ein Café zu eröffnen. Der Haken an der Sache, so Beck, ist, dass ein Café nur eine ganz bestimmte Zielgruppe anlockt und somit zur Milieuverengung beiträgt. Ganz andere Ergebnisse würde man seiner Einschätzung nach erzielen, wenn man statt eines Cafés etwa einen Waschsalon eröffnete. 

Symbolbild, Quelle: Pixabay 
Seit ich das gelesen habe, lässt mich diese Idee nicht mehr los; zum Teil auch deshalb, weil es in der Küche des Gemeindehauses meiner Wohnortpfarrei eine Waschmaschine gibt, von der ich bis heute nicht herausgefunden habe, wann, wozu und von wem die eigentlich jemals benutzt wird. Würde man zusätzlich noch einen Trockner anschaffen, dachte ich, dann könnten Gemeindemitglieder oder auch einfach Leute aus der Nachbarschaft dort ihre Wäsche waschen und sie trocken wieder mit nach Hause nehmen, und während der Wartezeit könnte man ihnen einen Kaffee anbieten und sich mit ihnen unterhalten. Schon hätte man mit minimalem Aufwand einen "Dritten Raum" geschaffen, der sowohl geeignet wäre, das Gemeinschaftsgefühl unter den Pfarreimitgliedern zu stärken, als auch dazu, die Gemeinde für Außenstehende zu öffnen. Ehrlich gesagt ist die Waschmaschine für dieses Konzept mehr oder weniger nebensächlich: Der Aufhänger, mit dem man Leute dazu bringt, überhaupt erst mal reinzukommen, könnte auch ein anderer sein. Nur der Kaffee wird es wohl eher nicht sein, denn den bekommen die Leute woanders besser. 

Ganz allgemein macht das Konzept sogenannter "Dritter Räume" jedenfalls deutlich, dass zwischen dem Anliegen, ein intensives Gemeinschaftsleben zu kultivieren, und demjenigen, Außenstehenden einen niederschwelligen Zugang zu dieser Gemeinschaft zu ermöglichen, nicht notwendigerweise ein Widerspruch besteht, sondern dass beides sich sogar gegenseitig stärken und befruchten kann. Gerade im kirchlichen Bereich wird letzteres ja vielfach bestritten. In der innerkirchlichen Debatte wird gegen Konzepte, die darauf drängen, die Kirche müsse sich wieder stärker auf ihr Wesen als Glaubensgemeinschaft besinnen – mit Betonung auf beiden Wortbestandteilen, Glaube und Gemeinschaft; Gemeinschaft im Glauben, Gemeinschaft durch den Glauben –, geradezu reflexartig der Vorwurf erhoben, dies laufe auf eine "Wagenburgmentalität", einen Rückzug ins "Ghetto", ja auf eine sektenhafte Abschottung von der Welt hinaus. So attestierte etwa die katholische Sozialethikerin Ursula Nothelle-Wildfeuer den Initiatoren des "Mission Manifest" eine Tendenz zur "Versektung der Kirche"

Solche Vorwürfe wiegen umso schwerer, als heutzutage und hierzulande vermutlich die meisten Menschen mit dem Begriff "Sekte" spontan Vorstellungen von Psychoterror und Gehirnwäsche, von finanzieller Ausbeutung und emotionalem Missbrauch assoziieren. Befragt man hingegen beispielsweise die religionssoziologischen Schriften Max Webers oder auch Ernst Troeltschs, stellt man fest, dass der Begriff "Sekte" dort in einem durchaus nicht unbedingt abwertend gemeinten Sinne verwendet wird. Vielmehr beschreibt dieser Begriff dort eine bestimmte Sozialgestalt von Religionsgemeinschaften, die sich durch starke religiöse Überzeugung und starkes persönliches Engagement ihrer Mitglieder auszeichnet. Weber entwickelte seinen Sektenbegriff anhand bestimmter evangelikaler und/oder wiedertäuferischer Denominationen in den USA, für die im heutigen Sprachgebrauch eher die Bezeichnung "Freikirchen" üblich ist, in Abgrenzung zu der Volks- und Landeskirchenstruktur, wie Weber sie aus Deutschland kannte. Für die Volkskirche ist es nach Weber charakteristisch, dass die Mitgliedschaft in ihr gewissermaßen den gesellschaftlichen Normalfall darstellt und somit keine zwingenden Rückschlüsse auf die Glaubensüberzeugungen des einzelnen Mitglieds, geschweige denn auf das Maß seines Engagements in der Kirche und für die Kirche zulässt. Aus heutiger Sicht lässt sich feststellen, dass die gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen, von denen dieses Volkskirchenmodell gelebt hat, schlichtweg nicht mehr vorhanden sind, während die institutionellen Strukturen der Großkirchen aber weiterhin auf dieses Modell ausgerichtet sind. Einerseits sind sowohl die katholische Kirche als auch die in der EKD zusammengeschlossenen evangelischen Landeskirchen für den Erhalt ihrer institutionellen Stabilität auf die große Zahl mehr oder weniger distanzierter Mitglieder angewiesen, andererseits wird das Gemeindeleben vor Ort praktisch ausschließlich von kleinen Gruppen sogenannter "Hoch-Engagierter" getragen. Infolge dieses Missverhältnisses tendiert die ehemalige Volkskirche zu einem Selbstverständnis als Dienstleistungskirche. Im Gegensatz zu den Thesen eines Erik Flügge wird der Großteil der Ressourcen einer durchschnittlichen Ortsgemeinde nicht etwa für die Belange der von Flügge als "heiliger Rest" belächelten Minderheit der "Hoch-Engagierten" verwendet, sondern zur Befriedigung der Anspruchshaltung der distanzierten Mitglieder, die die Sakramente der Kirche lediglich anlassbezogen – seien diese Anlässe saisonal wie Ostern und Weihnachten oder lebensabschnittsbezogen wie Taufe, Erstkommunion, Firmung bzw. Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung – als Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Ermöglicht wird dies nicht zuletzt durch das ehrenamtliche Engagement einiger weniger Gemeindemitglieder: Meiner persönlichen Erfahrung zufolge lassen sich maximal 10% der regelmäßigen Kirchgänger, und mithin weniger als 1% aller Gemeindemitglieder, für ehrenamtliche Dienste in ihrer Pfarrei gewinnen. Solange dies als Normalität akzeptiert wird, betreiben die lokalen Kirchengemeinden einen ruinösen Raubbau an einer für sie lebenswichtigen Ressource. 

Eine Kultur, in der es als Normalität gilt, dass jedes Gemeindemitglied – entsprechend seiner jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten, versteht sich – einen Dienst in der Gemeinde und für die Gemeinde übernimmt, findet sich dagegen eher in den Freikirchen, die ein Max Weber oder ein Ernst Troeltsch als "Sekten" bezeichnet haben würden. Im Grunde ist das auch nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass es – wie wir bereits gehört haben – geradezu ein definitorisches Merkmal dieser Gemeindeform ist, dass sie (zumindest dem theoretischen Anspruch nach) nahezu gänzlich aus hoch-engagierten Mitgliedern besteht. Man könnte auf die Idee kommen, in dieser Hinsicht würde ein gewisses Maß an "Versektung" der Kirche nicht nur gut tun, sondern sei für die Gemeinden vor Ort unter den gewandelten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geradezu überlebensnotwendig. Aber wie erreicht man einen solchen Mentalitätswechsel? 

Klar ist: Eine Kirche, die sich als Anbieterin von Dienstleistungen versteht und verhält, wird es naturgemäß schwer haben, ihre Mitglieder dazu zu motivieren, etwas anderes sein zu wollen als Konsumenten, also Kunden. Seine Freizeit, seine Kraft, Kreativität und womöglich sogar (über den automatischen Kirchensteuereinzug und das Kollektenkörbchen hinaus) sein Geld für die örtliche Kirchengemeinde einzusetzen, erfordert ein hohes Maß an Motivation; und diese Motivation kann letztlich und auf Dauer nicht allein in dem Bewusstsein ruhen, eine altehrwürdige Institution am Leben zu erhalten. Vielmehr muss sie sich aus dem Glauben speisen, den zu leben und zu verkünden der Kirche aufgetragen ist. Weiter oben war schon die Rede davon: Der Auftrag der lokalen Kirchengemeinden ist es, Glauben in Gemeinschaft und Gemeinschaft durch den Glauben zu ermöglichen. Letztlich hat die Kirche überhaupt nur eine Existenzberechtigung, wenn sie sich in diesem Sinne als Glaubensgemeinschaft begreift. 

Was hat all dies nun aber mit den eingangs angesprochenen "Dritten Räumen" zu tun? Nun, es dürfte auf der Hand liegen, dass ein von einer Kirchengemeinde betriebener "Dritter Raum" – sei es nun ein Café, ein Waschsalon, eine Tauschbibliothek, eine Krabbelgruppe oder eine Fahrradwerkstatt – sich ideal als Schnittstelle zwischen Gemeinde und Nachbarschaft eignet. Strittig scheint es hingegen zu sein, in welchem Maße die Gemeinde sich in solchen Räumen auch gegenüber Nichtmitgliedern als Glaubensgemeinschaft präsentieren sollte. Mir persönlich drängt sich da allerdings die Frage auf: Ja, was denn sonst? Wenn man das nicht will, wozu macht man das Ganze dann? Gewiss, eine mögliche Antwort darauf könnte lauten: Wir zeigen den Leuten, dass die Institution Kirche einen Beitrag zum sozialen Leben im Viertel leistet und es deshalb wert ist, unterstützt zu werden. Sicherlich kann das ein erster Schritt sein, um Berührungsängste und Vorurteile gegenüber der Kirche abzubauen. Wenn man es dabei aber bewenden lässt und nicht auch den nächsten Schritt tut, ein Zeugnis für den Glauben abzulegen, der im Zentrum allen kirchlichen Engagements steht oder jedenfalls stehen sollte, dann enthält man den Leuten das Wertvollste vor, was die Kirche zu bieten hat: Jesus Christus selbst. Die erstaunlich verbreitete Annahme, mit einem allzu entschiedenen Glaubensbekenntnis würde man die "Suchenden" bloß verschrecken, wird übrigens durch den Zulauf, den gerade die von Weber und Troeltsch als "Sekten" klassifizierten Glaubensgemeinschaften haben, tagtäglich Lügen gestraft. Wie der Hl. Augustinus es ausgedrückt hat: "In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst."



Montag, 15. April 2019

Kaffee & Laudes - Die Wochenvorschau (Karwoche)

Was bisher geschah: Sagen wir's gerade heraus, die zurückliegende Woche hat mich, was meine Bereitschaft zur Mitarbeit in der örtlichen Pfarrgemeinde angeht, an meine Grenzen gebracht. In der ersten Wochenhälfte gab es gleich mehrere Vorfälle, die ein recht grelles Licht darauf geworfen haben, welches Maß an Feindseligkeit einige alteingesessene Gemeindemitglieder gegen meine Familie und unsere Aktivitäten in der Gemeinde hegen. Gut, mit so etwas muss man immer rechnen. Was mich im Grunde weit mehr stresst, ist der Eindruck, dass auch von denjenigen Leuten in der Gemeinde, die uns prinzipiell wohlgesonnen sind, im Ernstfall wenig Unterstützung zu erwarten ist. Kaum hatte ich mich von meinem Ärger darüber einigermaßen erholt, gab's am Wochenende den nächsten Tiefschlag -- aber ehe ich darauf zu sprechen komme, erst mal (im Interesse der chronologischen Erzählreihenfolge) was anderes: 

Am Dienstag erfuhr ich aus der Presse, dass der Kreispfarrer des evangelisch-lutherischen Kirchenkreises Wesermarsch, Jens Möllmann, im Alter von nur 57 Jahren "nach kurzer schwerer Krankheit" verstorben ist. Ich kannte ihn persönlich kaum, eigentlich fast gar nicht, aber im letzten Sommer war er bei meinem Vortrag zur "Benedikt-Option" in der OASE Tossens und beteiligte sich engagiert und aufgeschlossen an der Publikumsdiskussion, und dabei habe ich einen ziemlich positiven Eindruck von ihm gewonnen - positiver als ich es von Kirchenfunktionären mittlerweile zu erwarten gewohnt bin. Wie dem auch sei, sein unerwarteter Tod hat mich betroffen gemacht. In diesem Sinne: 

Der Herr schenke ihm die ewige Ruhe 
Und das ewige Licht leuchte ihm. 

Der für den Samstag angedachte "Urban Gardening Crawl" stand insofern unter ungünstigen Vorzeichen, als das Wetter einigermaßen ungemütlich zu werden versprach. Zum "himmelbeet" am Leopoldplatz fuhren wir trotzdem, und da war's auch wirklich schön, wenn auch auf die Dauer etwas kalt. Der Versuch, von dort aus zum "Peace of Land" weiterzufahren, geriet angesichts Berlin-typischer Unregelmäßigkeiten im öffentlichen Nahverkehr zur Odyssee. Schließlich gaben wir auf und verzogen uns stattdessen in ein gemütliches Familiencafé. 

Außerdem - und damit knüpfe ich nun an den ersten Absatz an - ereilte mich am Samstagnachmittag die Mitteilung, die Passionslesung in der Abendmesse am Palmsonntag (für die ich als Lektor eingeplant war) werde von der Gemeindereferentin und ihrem Firmkurs mit szenischen Elementen angereichert werden. Woraufhin ich erklärte, unter diesen Umständen würde ich nicht lesen. Ergebnis: Riesen-Drama. Ich ging dann stattdessen mit Frau und Kind in die Morgenmesse, aber liturgisch kam ich da vom Regen in die Traufe: Zwar wurde nicht an der Passionslesung herumgepfuscht, aber dafür hielt der Pfarrer es für angemessen, das Eucharistische Hochgebet zu einer Kinderkatechese auszugestalten. 
Ganz ehrlich, im Moment hätte ich nicht übel Lust, alles hinzuschmeißen. Aber natürlich wäre das genau die falsche Reaktion. Kapituliert wird nicht! Nur aus dem Lektorenkreis bin ich wohl raus. 




Was ansteht: Einerseits hat meine Liebste Urlaub, was gute Voraussetzungen dafür verspricht, gemeinsam Zeit und Energie in die Planung und Vorbereitung künftiger Aktivitäten in der Pfarrgemeinde (nächster Büchertreff am Sonntag nach Ostern, Krabbel-Brunch ab Mai, Patronatsfest am 30. Juni) zu investieren. Andererseits gilt es, sich seelisch auf die Kar- und Ostertage einzustimmen. Das österliche Triduum werden wir dieses Jahr in Heiligensee feiern (müssen), da unsere Pfarrkirche bei der Verteilung der zur Verfügung stehenden Geistlichen auf die Gottesdienststandorte des Pastoralverbunds heuer leer ausgegangen ist. Das Gute ist, dass in Heiligensee unser nigerianischer Pfarrvikar zelebriert, sodass man einigermaßen sicher sein kann, von liturgischen Grausamkeiten verschont zu werden. -- Einen nicht zu knapp bemessenen Besuch bei meinen Schwiegereltern gilt es übrigens auch noch ins Feiertagsprogramm zu integrieren. 


aktuelle Lektüre: Zum Lesen ist im Moment nicht viel Zeit und Muße vorhanden. An allen in der vorigen Woche aufgeführten Lektüren bin ich noch dran, sehr weit bin ich damit jedoch nicht gekommen. Den "Herrn der Ringe" habe ich in der vergangenen Woche auch endlich mal wieder zur Hand genommen; Aragorn will zum "Pfad der Toten", alle sagen ihm "Das kannst du doch nicht machen!", und er sagt: "Und ob ich das kann, ich bin Isildurs Erbe!" Sehr inspirierend. 


Linktipps:
Der eine oder andere wird's wohl mitbekommen haben: In der evangelisch-landeskirchlichen Netzgemeinde gab's in den letzten Wochen erhebliche Aufregung um die 19jährige Video-Bloggerin Jana Highholder, die mit dem YouTube-Kanal "Jana glaubt" insbesondere jungen Menschen die evangelische Kirche nahe bringen soll, aber ausgerechnet in einer Sendung zum Weltfrauentag mit einem aus Sicht des landeskirchlich-protestantischen Mainstreams "reaktionären" Geschlechterrollenverständnis auffiel.  Eine Einordnung von Josef Bordat ist in der Tagespost erschienen; ebenfalls um eine Einordnung bemüht sich Hanno Terbuyken in seinem auf dem Portal evangelisch.de gehosteten Blog "Confessio Digitalis". Was zunächst, verglichen mit der andernorts herrschenden Aufregung um "Jana glaubt", nach einer moderaten und um Ausgewogenheit bemühten Positionierung aussieht, entpuppt sich auf den zweiten Blick als Versuch einer Rechtfertigung dafür, dass die EKD einer religiösen Fundamentalistin wie Jana Highholder überhaupt ein Forum bietet. Autor Terbuyken ist nämlich "Leiter Digitale Kommunikation" im "Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik" (GEP), das Janas YouTube-Kanal betreibt, und trägt somit eine gewisse Mitverantwortung für die ganze Affäre. So sehr man aus katholischer Perspektive geneigt sein mag, zu sagen "Ihr habt vielleicht Probleme, ey", ist Terbuykens Artikel doch zumindest in Hinblick darauf, wie Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei Kirchens so läuft, ausgesprochen informativ (und so groß werden die Unterschiede zwischen EKD und katholischer Kirche in Deutschland in dieser Hinsicht nicht sein). Gleichzeitig wirft der Artikel natürlich auch ein tragikomisches Licht darauf, wie die in der EKD zusammengeschlossenen evangelischen Landeskirchen in ihrer Eigenschaft als Glaubensgemeinschaften aufgestellt sind. Es wirkt doch sehr bezeichnend, wenn da die Frage aufscheint, ob eine YouTuberin, für die "Jesus, Gott und Glaube" eine "größere Rolle im Alltag" spielt, in der medialen Selbstrepräsentation der EKD einen legitimen Platz haben dürfe. Dass Terbuyken diese Frage vorsichtig abwägend bejaht - schließlich sei Jana keine "evangelikale Hetzerin" -, ändert an diesem Eindruck nicht viel. (Und übrigens: Auch in diesem Punkt neige ich zu der Annahme, dass es in der katholischen Medienarbeit vielleicht graduell, aber nicht prinzipiell anders zugeht als in der evangelischen.)

Als Kontrast mal eine gute Nachricht aus der katholischen Welt: In der Diözese Harrisburg im US-Bundesstaat Pennsylvania hat eine Gruppe von elf Unbeschuhten Karmelitinnen, überwiegend zwischen 20 und 40 Jahren alt, mit dem Bau eines Klosters nach Plänen der großen Ordensreformerin und Kirchenlehrerin Teresa von Àvila begonnen, und zwar mit Unterstützung einer benachbarten Amish-Gemeinschaft. Der Bericht im Catholic World Report enthält ein Interview mit der Subpriorin und Novizenmeisterin Mutter Therese von der Barmherzigen Liebe sowie eine Skizze der geplanten Klosteranlage. Das gesamte Bauvorhaben soll 12 Millionen Dollar kosten, 4 Millionen haben die Nonnen bereits per Crowdfunding zusammengebracht. Wer das Vorhaben finanziell unterstützen will, kann dies hier tun. 


Heilige der Woche: Gibt's nicht, es ist Karwoche. Die Wochentage der Karwoche, und das österliche Triduum natürlich erst recht, haben liturgisch höheren Rang als sämtliche Heiligenfeste, die somit entfallen. Dem Regionalkalender für den deutschen Sprachraum zufolge wären es aber ohnehin nicht besonders viele gewesen. 


Aus dem Stundenbuch: 

Harre auf Gott; denn ich werde Ihm noch danken, * meinem Gott und Retter, auf den ich schaue. (Psalm 42,6b)



Donnerstag, 11. April 2019

Der Sound der #BenOp, Platz 5-1

Es ist soweit, Freunde: Die Top Five meiner persönlichen Hitliste von #BenOp-Songs wird enthüllt! Aber machen wir es ruhig noch einmal spannend und rekapitulieren zunächst noch einmal die Plätze 20-6: 


Details zu dieser Songauswahl gibt es hier, hier und hier. Nun aber zu den lange und mit Spannung erwarteten fünf Top-Nummern: 



Platz 5: U2, "I Still Haven't Found What I’m Looking For" (1987) 


Erinnert sich noch jemand an die Zeit, als U2 in dem Ruf stand, eine christliche Band zu sein? Ich schon -- wenngleich es schon damals Diskussionen darüber gab, ob Sänger Bono sich nicht vielleicht eher selbst für den Messias hielt. In jüngerer Zeit hat die Band ja eher dadurch von sich reden gemacht, dass sie für die Einführung der Homo-Ehe und die Legalisierung von Abtreibung in Irland warb; und es ist auch mehr als peinlich, dass Bono bei einem Konzert in Maryland im Jahr 2017 ausgerechnet das hier ausgewählte Lied seinem "alten Freund Kardinal McCarrick” widmete. Wobei ich zugeben muss: Schon allein die Gelegenheit, meinen Lesern diese Information zukommen zu lassen, wäre für mich ein völlig hinreichender Vorwand gewesen, diesen Song in meine Liste aufzunehmen. --- Nee, im Ernst: Ich mag den Song. Der Titel mag ein wenig orientierungslos wirken, aber der übrige Text ist reich an biblischer Motivik, und ganz am Schluss folgt ein Credo, das an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig lässt: "Du zerbrachst die Fesseln und löstest die Ketten / Du trugst das Kreuz meiner Schande / Du weißt, ich glaube daran." Die Bandmitglieder, nicht zuletzt Sänger Bono, zeigen sich hier auf der Höhe ihres Könnens; und das Video - mit Gitarrist "The Edge" als Straßenmusiker in Las Vegas - hat ja auch was von Jona in Ninive. Sollte mich wundern, wenn diese (oder zumindest eine ähnliche) Assoziation nicht beabsichtigt wäre. 



Platz 4: The Animals, "We Gotta Get Out of This Place" (1965) 


Jetzt kann ich es ja zugeben: Dieser Song war es, der mich zuerst auf die Idee mit dieser Liste gebracht hat. Es begann damit, dass ein befreundeter Priester mich via Facebook auf einen Presseartikel aufmerksam machte, dessen Autoren sich aus einer "bürgerlich-konservativen" Haltung heraus scharf gegen die Benedikt-Option positionierten. Zugleich ließ der Text einigermaßen deutlich erkennen, dass seine Verfasser von Rod Drehers Buch wohl höchstens das 4. Kapitel gelesen (und auch das wohl eher nur überflogen) hatten. Okay, mit so etwas muss man rechnen: Die schärfsten Kritiker eines Buches sind immer die, die es nicht gelesen haben. Was mich an dem Artikel aber wirklich ärgerte, war sein geradezu trotziges Festhalten an der Vorstellung, das christliche Abendland könne (und müsse) mit den Mitteln der konventionellen Politik und des Lobbyismus gerettet werden (und sei mehr oder weniger identisch mit der schlipstragenden bürgerlichen Gesellschaft der Kohl-Ära). Wir stehen an einer Zeitenwende, und diese Leute kriegen es nicht mit. Aber während ich mich noch darüber grämte, kam mir plötzlich das markante Bass-Riff von "We Gotta Get Out of This Place" in den Sinn und setzte sich als hartnäckiger Ohrwurm in meinem Kopf fest. Der Rest ist Geschichte. 



Platz 3: John Cougar Mellencamp, "Paper in Fire" (1987) 


Die allmähliche Verwandlung des "teenage rebel" Johnny Cougar (den sein Management zunächst allen Ernstes als androgynen Glam-Rocker à la Ziggy Stardust vermarkten wollte) in den sozial engagierten, wertkonservativen Folkrock-Barden John Mellencamp ist für mich eins der faszinierendsten Phänomene der Popkultur der 1980er Jahre, und "Paper in Fire" ist ein bedeutender Meilenstein dieser Entwicklung. Schon die Instrumentierung mit Geige, Resonatorgitarre, Banjo und Akkordeon schmeckt nach Erde, Schweiß und ehrlichem, robustem, ländlichem Handwerk, und die Atmosphäre des Videos unterstreicht das. Wir können uns übrigens gern darüber streiten, ob auf dem Bild über der Jukebox in Minute 2:33 Jesus zu sehen ist oder irgend jemand anderes mit schulterlangen Haaren. Unstrittig ist dagegen, dass der Songtext vor biblischer Motivik nur so strotzt. Die zentrale rhetorische Frage des Refrains, "Who's to say the way a man should spend his days?", ist vom Buch Kohelet inspiriert; der Titel des Songs soll, wie Mellencamp selbst in einem Interview mit der BBC zu Protokoll gab, ein Bild für Verdammnis darstellen -- und in den Strophen geht es darum, was zur Verdammnis führt, nämlich ungezügelte Begierde, sei es in Form sexueller Gelüste (Strophe 2) oder rücksichtsloser Ausbeutung natürlicher Ressourcen (Strophe 3). Der Satz "We keep no check on our appetites" in der letzten Strophe stammt zwar, der englischsprachigen Wikipedia zufolge, aus dem Film "Hud" (deutscher Titel "Der Wildeste unter Tausend"), einem Lieblingsfilm Mellencamps, aber eine sehr ähnliche Formulierung findet sich auch im Kapitel "Waiting for Benedict" in Rod Drehers Buch "Crunchy Cons"



Platz 2: The Byrds, "My Back Pages" (1967) 


Über dieses Werk von Literaturnobelpreisträger Bob Dylan heißt es in der englischsprachigen Wikipedia-Version, es spiegele die Abwendung des Verfassers von seinen früheren politischen Idealen und seine wachsende Desillusionierung über die Folk-Protestbewegung der 60er-Jahre wider. So gesehen erscheint es bemerkenswert, dass dieser Song schon vor dem mythischen Jahr 1968 entstand: Erstmals veröffentlicht wurde er bereits 1964 auf dem Album "Another Side of Bob Dylan". Ich persönlich lese aus den Dylan-typischen kryptischen Metaphern der Strophen zwar ebenfalls eine Distanzierung von politischem Aktivismus und insbesondere von linker Ideologie heraus, empfinde aber den Refrain-Vers "I was so much older then, I'm younger than that now" als eine ausgesprochen optimistische Wendung. Etwa in diesem Sinne: "Früher, als ich mein Heil in linksradikaler Agitation suchte, dachte ich, ich wäre wer weiß wie jugendlich und rebellisch, aber im Herzen war ich alt und verknöchert. Seit ich mich von dieser falschen Ideologie frei gemacht habe, habe ich erst entdeckt, was es heißt, wirklich idealistisch und voll jugendlichem Enthusiasmus zu sein." Ziemlich genau so geht's mir mit der #BenOp. Man könnte auch an eine Passage aus dem jüngst erschienenen nachsynodalen Schreiben "Christus vivit" von Papst Franziskus denken: 
"35. Bitten wir den Herrn, [...] dass er die Kirche von einer anderen Versuchung befreie: zu glauben, dass sie jung ist, wenn sie auf alles eingeht, was die Welt ihr anbietet; zu glauben, dass sie sich erneuert, wenn sie ihre Botschaft verbirgt und sich den anderen anpasst. Nein. Sie ist jung, wenn sie sie selbst ist und wenn sie die immer neue Kraft des Wortes Gottes, der Eucharistie, der Gegenwart Christi und der Kraft seines Geistes jeden Tag empfängt. Sie ist jung, wenn sie fähig ist, immer wieder zu ihrer Quelle zurückzukehren."  
Die unbestritten beste Version dieses Songs - von Roger McGuinn, Neil Young, George Harrison, Eric Clapton, Tom Petty und Bob Dylan himself, live performt bei des Meisters 30th Anniversary Concert, ist auf YouTube nicht für Deutschland zugelassen, daher habe ich hier die Version der Byrds ausgewählt -- die ist relativ "nah dran". 


Uuuund... Trommelwirbel... 



Platz 1: Thunderclap Newman, "Something in the Air" (1969) 



Ich gebe zu - was mit Blick auf meinen Geburtsjahrgang verzeihlich sein mag -, dass ich diesen Song zuerst in Gestalt einer Coverversion von Tom Petty & The Heartbreakers kennenlernte, die quasi als Zugabe auf ihrem "Greatest Hits"-Album von 1994 mit drauf war. Das Original “entdeckte" ich erst einige Jahre später. Und, so sehr ich Tom Petty & The Heartbreakers ansonsten schätze: Ihre Coverversion dieses Songs hat gegenüber dem Original so wenig musikalischen "Eigenwert", dass man sie eigentlich nur als Resultat von "Hey, wir mögen den Song einfach, es hat uns Spaß gemacht, ihn nachzuspielen, und außerdem war auf dem Album noch Platz" gutheißen kann. Die Originalversion dagegen ist ganz großes Kino. "Something in the Air" hätte ein netter, schlichter, folkiger Hippie-Protestsong mit Akustikklampfe werden können wie tausend andere, die in jenem Jahr erschienen, aber die vom The Who-Gitarristen Pete Townshend gegründete Band Thunderclap Newman machte ein episches Schlachtengemälde daraus, mit Bläser- und Streicherarrangements, die nach dem ersten Refrain einsetzen und zum Schluss hin immer fetter werden, unterbrochen von einem in seiner Art nicht weniger spektakulären, Ragtime-inspirierten Piano-Solo. Der Text ist sehr minimalistisch - die erste und zweite Strophe unterscheiden sich nur durch einen Vers voneinander - und lässt Raum für ein breites Spektrum an Interpretationen: Irgendwas liegt in der Luft, und wir müssen uns zusammentun. Warum? Weil die Revolution da ist. Wir müssen es auf die Reihe kriegen, und zwar jetzt. Nur  am Rande sei angemerkt, dass das Spiel mit den Formulierungen "get together" (in den Strophen) und "get it together" (im Refrain) raffinierter ist, als man auf den ersten Blick denken könnte. Dass in der dritten Strophe (die in der Tom Petty-Version bezeichnenderweise fehlt bzw. durch eine Wiederholung der ersten ersetzt wurde) nach Waffen und Munition gerufen wird, bitte ich nicht allzu wörtlich zu nehmen. 

Dass ich diesen Song auf Platz 1 meiner #BenOp-Hitliste gesetzt habe, ist aber letztlich natürlich eine Entscheidung "aus dem Bauch heraus". Die Nummer hat Power, und sie motiviert mich. Wenn ich sie höre, bekomme ich Lust, Berge zu versetzen. Und dieses Maß an Motivation braucht es, wenn man Basisarbeit in Sachen #BenOp machen will...