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Donnerstag, 27. April 2017

Das "gott-förmige Loch" in uns... und in der Kirche

In den letzten Monaten war ich zusammen mit meiner Liebsten ein paarmal in einem von einer freikirchlichen Gemeinde betriebenen Café im Wedding. Es war sehr nett da, wir haben eine extrem sympathische Familie mit vier kleinen Kindern kennengelernt und uns auch sonst sehr gut unterhalten. Die einmal monatlich stattfindende Veranstaltung, die wir da besucht haben (und sicher auch in Zukunft wieder besuchen werden), hat nach den Worten des Initiators drei Schwerpunkte: "Gemeinschaft, Lobpreis, Zeugnis". Zum Stichwort "Zeugnis" gleich mehr; aber bleiben wir erst mal noch bei der Gemeinschaft. Dieser "Programmpunkt" bestand im Wesentlichen aus gemütlichem Zusammensitzen bei Kaffee und Kuchen (auf Spendenbasis), aber dennoch stand greifbar die Überzeugung im Raum, dass auch dies zum christlichen Charakter der Veranstaltung wesentlich dazugehört. Das fiel mir vor allem deshalb so auf, weil ich bei hauptsächlich auf "Geselligkeit" ausgerichteten Veranstaltungen in katholischen Gemeinden häufig nicht so deutlich diesen Eindruck habe. Darauf komme ich noch ausführlich zurück. 




Aber wie war das nun mit dem "Zeugnis"? - Da ich schon in meiner Jugend - vor allem im Alter von 14-16 Jahren, in meiner "ersten Fundi-Phase", wie ich sie gern augenzwinkernd nenne - öfter mal bei freikirchlichen Veranstaltungen war - und auch später noch gelegentlich, zum Teil aus familiären Gründen -, ist mir das Konzept "Zeugnis geben" recht vertraut, und ich habe schon so einige Zeugnisse gehört. Es geht dabei, nicht-Insider-sprachlich ausgedrückt, schlichtweg darum, dass jemand über seinen persönlichen Glaubensweg erzählt. Nicht selten weisen die Lebensgeschichten, die man da zu hören bekommt, ziemlich dramatische Wendungen auf; so habe ich zum Beispiel schon einige Zeugnisse von Menschen gehört, die vor ihrer Bekehrung drogen- oder spielsüchtig oder in Prostitution verstrickt gewesen waren. Es ist aber durchaus nicht so, dass eine solche Vergangenheit etwa eine zwingende Voraussetzung dafür wäre, in freikirchlichen Versammlungen Zeugnis zu geben. Tatsächlich sind Zeugnisse, die von den äußeren Fakten her eher unspektakulär daherkommen - die zum Beispiel auch nicht unbedingt mit einem filmreifen Bekehrungserlebnis aufwarten können -, oft nicht weniger beeindruckend. Das eigentlich Entscheidende ist, dass da ein Mensch steht, der davon erzählt, wie Gott in seinem Leben gewirkt hat und weiterhin wirkt. Und man staunt, wie oft Gott im Leben von Menschen wirkt, die scheinbar eher ungünstige Voraussetzungen dafür mitbringen, und auf was für Wegen Er es tut. Man könnte sagen, jedes Zeugnis ist deshalb wertvoll, weil jedes Zeugnis einzigartig ist - und man weiß nie, ob nicht jemand im Publikum sitzt, dem das jeweilige Zeugnis genau den Impuls gibt, den er braucht.

Nun muss ich allerdings auch gestehen, dass es auf mich als Katholiken manchmal einen recht zwiespältigen Eindruck macht, wenn freikirchliche Christen über ihren Glauben sprechen - und das meine ich nicht nur in Bezug auf die spezielle Form des Zeugnisses. Oft - nicht immer! - nehme ich bei freikirchlichen Christen eine spezifische Form von Religiosität wahr, die mich zwar in Hinblick auf Glaubensstärke, Begeisterung, Entschiedenheit, Hingabe beeindruckt, die mir gleichzeitig aber in Hinblick auf - sagen wir mal - Glaubenswissen und Reife einigermaßen defizitär erscheint. Ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll, ohne dass es anderen Konfessionen gegenüber herabsetzend klingt, aber im Innersten bin ich überzeugt davon, dass die wirkliche Fülle des christlichen Glaubens - "die volle Einheit in Christus", wie es etwa in Lumen Gentium heißt - nur in der Katholischen Kirche zu finden ist. Weil die Kirche, um abermals Lumen Gentium zu zitieren, "in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott" ist. "Das schließt nicht aus, dass außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind" - wofür die Glaubenszeugnisse, die man in freikirchlichen Kreisen hören und erleben kann, ja gerade eindringlich, nun ja, Zeugnis ablegen -;  aber dennoch sind diese "Elemente der Heiligung und der Wahrheit" unvollständig. Ich frage mich zum Beispiel, wie jemand in einer christlichen Gemeinschaft Erfüllung zu finden glauben kann, der die Sakramente fehlen. Gut, wem die Bedeutung der Sakramente nie wirklich nahe gebracht worden ist, der wird vielleicht nicht wissen und auch nicht meinen, dass ihm etwas fehlt. Ein Mangel ist es trotzdem. Und wenn ich ein wirklich beeindruckendes Glaubenszeugnis höre, dann kommt mir manchmal mehr oder weniger unwillkürlich die Frage in den Sinn: Warum landen diese Leute bei ihrer Suche nach Gott eigentlich in irgendwelchen Freikirchen und nicht bei "uns"?

Da liegt es nun nahe, sich zu fragen, zu welchem Grad oder Anteil "wir", also die katholischen Christen, daran womöglich selbst schuld sind.

Okay, wir hatten in der diesjährigen Osternacht wieder einige Erwachsenentaufen. In der Kirche, in der meine Liebste und ich Osternacht gefeiert haben, waren es drei oder vier. Irgendwo habe ich kurz vor Ostern gehört, wie viele es insgesamt im Erzbistum Berlin seien; ich habe mir die Zahl nicht gemerkt, aber es waren deutlich mehr als ich erwartet hätte. Es gibt sie also, die Leute die erst im Erwachsenenalter den Glauben für sich entdecken und dann "bei uns landen". Diese Leute kommen auch nicht irgendwie aus dem Nichts, sondern es gibt Angebote und Anlaufstellen für sie, wie zum Beispiel den Alpha-Kurs. Die Motivation, dort hinzugehen, müssen sie allerdings schon selbst mitbringen.

Von was für Faktoren ist es nun also abhängig, wohin sich jemand wendet, der Antworten auf Glaubensfragen sucht - beziehungsweise jemand, der, wie Blaise Pascal es ausdrückte, das "gott-förmige Loch" in seiner Seele entdeckt hat und es zu füllen sucht - kurz gesagt also: jemand, der Gott sucht? Meine Liebste, die sich im fortgeschrittenen Teenageralter auf diese Suche begeben hat, ist da ein gutes Beispiel. Ich will nicht ins Detail gehen, das kann sie besser selbst tun; aber Eines kann ich aus ihren Erfahrungen doch mitteilen: Wenn jemand gerade erst anfängt, sich für den christlichen Glauben (oder für Religion überhaupt) zu interessieren, wird derjenige mit den theologischen Unterschieden zwischen den verschiedenen Konfessionen zunächst mal nicht besonders viel anfangen können, ja sie nicht einmal verstehen. Sondern er wird da hingehen, wo er das Gefühl hat, etwas zu finden, das seine Sehnsucht erfüllt. Was also tun "wir" als katholische Christen dafür, Menschen, die auf der Suche sind, dieses Gefühl zu geben? Die Dringlichkeit dieser Frage hängt natürlich damit zusammen, wie überzeugt wir davon sind, dass es, um das "gott-förmige Loch" wirklich und gänzlich zu füllen, die Sakramente der Kirche braucht. Wenn wir davon überzeugt sind, dann haben wir auch eine Verantwortung, uns darum zu bemühen, dass die Suchenden den Weg zu uns finden und nicht irgendwo anders hin.

Wenn ich - ich deutete es bereits an - meine Erlebnisse aus dem freikichlichen Café im Wedding mit manchen Erlebnissen in katholischen Lokalitäten vergleiche, dann stelle ich mir die Frage, ob es womöglich ein typisches Volkskirchenproblem ist, dass wir mit Menschen, die auf der Suche sind, gar nicht wirklich rechnen und ihnen deshalb auch relativ wenig anzubieten haben. Die Pfarrgemeinde als Struktur ist nicht missionarisch. Gemeindekreise und -gruppen haben eine Tendenz dazu, geschlossene Zirkel derer zu bilden, die schon immer da waren; man kann zwar, wenn man beispielsweise neu ins Gemeindegebiet gezogen ist, in diese Zirkel aufgenommen werden, aber das muss man dann wirklich wollen - leicht gemacht wird es einem nicht. Und dann stellt sich die Frage, warum jemand, der auf der Suche nach Gott ist, in diese Gruppen hineinkommen wollen sollte, wenn es darin um alles Mögliche geht, aber nicht um Gott. (Ehe sich jemand beschwert: Ich spreche hier lediglich aus eigener Erfahrung und Beobachtung der Erfahrungen Anderer. Es kann natürlich sein, dass es Gemeinden gibt, wo das ganz anders ist. Die würde ich dann gern mal kennenlernen.)

Wenn es in kirchlichen Räumen "offene Veranstaltungen" gibt, die - dem Anspruch nach - darauf ausgerichtet sind, dass da jeder hinkommen kann, dann handelt es sich zumeist um sogenannte "niederschwellige Angebote". Ich fürchte, dass dieser Begriff vielfach falsch verstanden bzw. verwendet wird. Eigentlich sollte "niederschwellig" doch bedeuten, dass man es den Leuten möglichst leicht macht, den Schritt über die Schwelle zu wagen. Nightfever, würde ich sagen, ist ein Paradebeispiel für ein niederschwelliges Angebot im guten Sinne. Vielfach wird unter diesem Begriff aber ein Angebot verstanden, dass inhaltlich möglichst anspruchslos ist, um nur ja niemanden zu "überfordern"; sprich: es soll möglichst wenig mit dem Glauben zu tun haben. Für mich ein weiteres Indiz dafür, dass mit Leuten, die dezidiert auf der Suche nach Gott sind, gar nicht gerechnet wird. Denn diese Leute würden sich bei einem so verstandenen "niederschwelligen Angebot" zwangsläufig fragen "Was soll ich hier?" und lieber woanders hingehen.

Zum Beispiel: Warum sollte ich in eine kirchliche Einrichtung gehen, um Fußball zu schauen? Das kann ich auch in soundsovielen normalen Kneipen. Der einzige nachvollziehbare Grund, zum Fußballschauen in ein Lokal in kirchlicher Trägerschaft zu gehen, wäre, dass man Freunde hat, die auch da hingehen - weil es mehr Spaß macht, sich das Spiel zusammen mit Freunden anzuschauen als mit Fremden in einer Kneipe. Die logische Folge ist, dass solche Angebote eine Tendenz zur Cliquenbildung entwickeln und somit gerade kein Kontaktangebot für Außenstehende sind.

Zugegeben: Veranstaltungsangebote, in denen erst einmal nicht um den Glauben geht und die gerade dadurch einen Erstkontakt mit Außenstehenden ermöglichen sollen, gibt es im freikirchlichen Bereich auch. Im frommen Jargon werden diese Angebote als "Fischteich" bezeichnet. Ich war auch mal Fisch in einem baptistischen Fischteich, zu einer Zeit, als ich meine "erste Fundi-Phase" schon hinter mir hatte. Es handelte sich um eine Volleyballgruppe. Mit ein paar Leuten aus dieser Gruppe habe ich mit 18 Jahren Wanderurlaub in Schweden gemacht. Es war eine der spannendsten Urlaubsreisen meines Lebens, aber in religiöser Hinsicht hat sie mich nicht viel weitergebracht. Eher im Gegenteil, könnte man sagen - aber auch hier will ich nicht ins Detail gehen.

Ich will dennoch keineswegs behaupten, dass "niederschwellige Kontaktangebote" der inhaltlich eher anspruchslosen Art grundsätzlich schlecht oder unnütz wären. Beim "Mittwochsklub" machen wir sowas ja durchaus auch. Man muss sich jedoch darüber im Klaren sein, wozu man das macht - wo man damit hinwill. Damit solche Veranstaltungen eine sinnvolle Funktion im Interesse von Mission bzw. Neuevangelisierung erfüllen, sind zwei Dinge notwendig. Der erste Schritt muss sein, die Leute, die sich womöglich "zufällig" da "hinverirren", wirklich willkommen zu heißen und einzubinden; der zweite, sie dann auch zu Veranstaltungen einzuladen, in denen es mehr um Inhaltliches geht. Oder, allgemeiner ausgedrückt: Man muss solche eher unverbindlichen Erstkontakte als Gelegenheiten nutzen, Zeugnis zu geben. (Womit ich nicht zwingend einen Vortrag meine.)

Übrigens verweist das oben angesprochene - in meinen Augen falsche - Verständnis des Begriffs "niederschwellig" im Sinne von "Man darf die Leute nicht überfordern" auf ein meiner Meinung nach gravierendes Problem: Wer so denkt, kommt offenbar gar nicht auf die Idee, dass ein starkes und entschiedenes Bekenntnis zum Glauben für Außenstehende attraktiv sein könnte. Zugegeben: Es gibt Ausdrucksformen von Frömmigkeit, von denen auch ich mir vorstellen kann, dass sie auf Menschen, die zwar irgendwie auf der Suche nach Sinn und Orientierung sind, dem Gesamtbereich "Religion" und speziell dem christlichen Glauben aber noch unentschieden gegenüberstehen, eher abschreckend wirken können. Da gilt es Augenmaß zu wahren und eine gewisse Sensibilität dafür aufzubringen, was der konkrete Mensch, mit dem man es gerade zu tun hat, sucht und braucht und auf was für einem Streckenabschnitt seiner persönlichen spirituellen Suche er sich gerade befindet. Der durch Abnutzung recht grässlich tönende pastorale Grundsatz "Man muss die Leute da abholen, wo sie stehen" hat da, richtig verstanden, durchaus seinen Sinn. Problematisch wird es, wenn man selbst gar keine Vision davon hat, wo man die Leute von diesem Punkt aus hinführen will. Mit einer lauen "Ich bin okay, du bist okay"-Pastoral spricht man jedenfalls ganz logischerweise nur die Lauen an - und, was noch gravierender ist: Man belässt sie in ihrer Lauheit.

Und was wird aus den Leuten, die alles Andere als lau sind? Die das "gott-förmige Loch" in sich als ein inneres Brennen empfinden? Die werden nach einer Glaubenserfahrung suchen, die groß genug ist, um dieses Loch zu füllen. Wenn sie die bei uns nicht finden, werden sie eher zu den Freikirchen gehen.

Ich jedenfalls mag mich damit nicht zufrieden geben.



Montag, 24. April 2017

Das Ich steht im Vordergrund

Eine aktuelle Studie über das Sozial- und Konsumverhalten junger Erwachsener legt einen Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Narzissmus nahe – verführt dabei aber auch zu Fehlschlüssen. 

Erstmals erschienen in: Die Tagespost 25.03.107, S. 9 

„Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten soll. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ Bei diesem häufig dem Philosophen Sokrates zugeschriebenen Zitat handelt es sich zwar tatsächlich lediglich um eine paraphrasierende Zusammenfassung antiker Klagen über die Sittenlosigkeit der Jugend, die in dieser Form erstmals in einer Dissertation aus dem Jahr 1907 auftaucht; dennoch erfüllt das Zitat seinen Zweck: jene, die sich über die „heutige Jugend“ beklagen, daran zu erinnern, dass es solche Klagen „schon immer“ gegeben hat. Praktisch jede Generation der Menschheit neigt dazu, die jeweils jüngere für nichtsnutzig und moralisch verderbt zu halten.

Seit 1953 erscheint ungefähr alle vier Jahre die „Shell-Jugendstudie“, die die Einstellungen, Werte, Gewohnheiten und das Sozialverhalten von Jugendlichen untersucht; und mit großer Regelmäßigkeit präsentieren die Medien ihrem Publikum als Quintessenz dieser Studien die Feststellung, die Jugend sei „besser als ihr Ruf“. In dieser Hinsicht fällt eine im Januar 2017 durchgeführte und jetzt veröffentlichte Studie der Digitalagenturgruppe SYZYGY einigermaßen aus dem Rahmen – auch insofern, als sie sich nicht im eigentlichen Sinne mit Jugendlichen befasst, sondern mit jungen Erwachsenen: mit den Geburtsjahrgängen von 1981 bis 1998, den sogenannten „Millennials“. Und diese Generation, so scheint es, ist nun wirklich völlig verkorkst.

Das hervorstechende Generationsmerkmal der heute 18- bis 35jährigen ist demnach ein ausgeprägter Hang zum Narzissmus, zur Selbstverliebtheit. Bereits 2014 ging der Journalist Jens Lubbadeh im SPIEGEL der Frage nach, ob Narzissmus „das Phänomen einer neuen Generation“ sei, und kam zu dem Schluss, dass die heutige Gesellschaft Narzissten „quasi heranbrütet“: „Niemand hat es untersucht, aber möglicherweise werden es immer mehr.“ Der Satz „Niemand hat es untersucht“ gilt nun nicht mehr: SYZYGY hat 1.024 „Millennials“ und zum Vergleich 1.004 Angehörige der „Baby Boomer“-Generation (Geburtsjahrgänge 1945-1964) und der „Generation X“ (Geburtsjahrgänge 1965-1980) befragt – und kommt zu dem Ergebnis: Die heutigen jungen Erwachsenen neigen signifikant stärker zu Selbstverliebtheit als frühere Generationen.

In der Veröffentlichung der Studienergebnisse weist SYZYGY darauf hin, dass die Millennials „die erste Generation der sogenannten Digital Natives“ seien – die erste Generation also, die mit Internet und Smartphone als etwas Selbstverständlichem aufgewachsen sei. Folgerichtig weist die Studie einen Zusammenhang zwischen den narzisstischen Neigungen der jungen Erwachsenen und ihrer Nutzung Sozialer Medien und „On-Demand“-Dienstleistungen wie etwa Lieferservices, Video-Streaming-Diensten oder dem Fahrdienst-Vermittler „Uber“ aus. Diese Konzentration auf das Konsumverhalten der Befragten birgt allerdings die Gefahr allzu kurzschlüssiger Deutungen: Einer der gängigsten methodischen Fehler bei der Auswertung von Statistiken ist die Verwechslung von Korrelation und Kausalität. So betitelt etwa Giuseppe Rondinella seinen Bericht über die Ergebnisse der SYZYGY-Studie im Marketing-Magazin „Horizonte“ mit der Feststellung: „Selfie-Stick und Social Media machen Millennials zu Narzissten“. Die Denkweise, die sich in dieser Formulierung offenbart, erinnert fatal daran, wie die Schuld an problematischen psychosozialen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei der Eisenbahn und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beim Rock’n’Roll gesucht wurde.

Zweifellos leuchtet es ein, dass etwa die genannten „On-Demand“-Dienste, die ihren Nutzern quasi auf Knopfdruck überall, jederzeit und sofort genau das zur Verfügung stellen, wonach es sie im Augenblick verlangt, die Anspruchshaltung fördern und die Frustrationstoleranz senken können. Dennoch dürfte es eine allzu kurzsichtige Annahme sein, dass jemand durch die Nutzung bestimmter Produkte oder Dienstleistungen zum Narzissten „wird“; plausibler erscheint es, dass bereits vorhandene narzisstische Tendenzen überhaupt erst die Nachfrage nach diesen Produkten und Dienstleistungen schaffen.

Gerade in Hinblick auf den viel gescholtenen „Selfie-Stick“, auch bekannt als „Deppenzepter“, ist der Befund durchaus ambivalent. Ohne Frage kann man in dem Trend, Erinnerungsfotos bevorzugt im „Selfie“-Format aufzunehmen – also mit am ausgestreckten Arm auf sich selbst gerichteter Kamera – ein Indiz für einen Hang zur Selbstverliebtheit erkennen: Im Vordergrund des so entstandenen Bildes steht stets das eigene Gesicht, den eigentlichen Anlass für die Aufnahme des Fotos muss man im Hintergrund suchen. Besonders auffällig ist diese Verschiebung der Prioritäten bei Urlaubsfotos: Das eigentliche Bildmotiv ist nicht mehr der Eiffelturm, das Brandenburger Tor oder der Grand Canyon, sondern „Ich vor dem Eiffelturm, Ich vor dem Brandenburger Tor, Ich am Grand Canyon“. Man könnte die These wagen, dass der „Selfie-Stick“ – eine Periskopstange, an der das Smartphone befestigt wird – geradezu ein Korrektiv zu dieser Verengung des Blickwinkels auf das eigene Ich darstellt: Indem er den Abstand zwischen Kamera und Gesicht und damit den Bildausschnitt vergrößert, erhöht der „Selfie-Stick“ die Chance, dass auf dem Bild überhaupt noch etwas anderes zu erkennen ist als die fotografierende Person selbst.

(Bildquelle hier)
Der Trend zum „Selfie“ weist jedoch noch auf ein anderes Wesensmerkmal des narzisstischen Millenials hin: seine Beziehungslosigkeit. Urlaubsfotos nach dem Muster „Ich vor Sehenswürdigkeit XY“ gab es schließlich früher auch schon; aber früher war dafür in der Regel noch eine weitere Person notwendig, die das Bild aufnimmt. Das „Selfie“-Format macht den Kontakt zu anderen Menschen überflüssig.

Dieser Hang der Millennials zur Vereinzelung, zum Zurückscheuen vor zwischenmenschlichen Kontakten, zeigt sich auch auf anderen Ebenen. In der Auswertung der SYZYGY-Studie wird darauf hingewiesen, dass 28% der befragten Millennials „eher einen Monat auf Sex verzichten“ würden als auf ihr Handy. Dieses Ergebnis korrespondiert auffallend mit einer Studie aus den USA, diezeigt, dass Millennials signifikant weniger sexuell aktiv sind als frühere Generationen – und dass sie obendrein ihre Sexualkontakte als weniger befriedigend empfinden. Die Ursachen für dieses Phänomen sind vermutlich vielschichtig, aber auch hier lässt sich eine Korrelation mit dem Mediennutzungsverhalten aufzeigen: Vieles spricht dafür, dass das schwindende Interesse der Millennials an sexuellen Beziehungen mit einem gesteigerten Konsum von Pornographie zusammenhängt, ebenso wie immer mehr junge Erwachsene soziale Interaktion in den Bereich von Online-Netzwerken verlagern, wo sie geringeren Aufwand erfordert und vermeintlich risikofreier und kontrollierbarer ist. Gleichwohl ist an dieser Stelle erneut zu betonen, dass es zu kurz gedacht wäre, einseitig die Angebote der neuen Medien für diesen Hang zur passiven Konsumhaltung verantwortlich zu machen. Vielmehr steht zu vermuten, dass ebendieses Mediennutzungsverhalten lediglich ein Symptom für ein tiefer liegendes Problem ist: Die Scheu, sich auf reale zwischenmenschliche Beziehungen – sexuelle ebenso wie rein soziale – einzulassen, wurzelt letztlich in der Angst vor Zurückweisung.

„Die Ursachen für Narzissmus“ – so schreibt Jens Lubbadeh in seinem SPIEGEL-Artikel von 2014 unter Berufung auf die Psychologin Bärbel Wardetzki – liegen „häufig im Elternhaus. Wenn Eltern ihr Kind nicht so sehen und annehmen, wie es ist, sondern sich ein Wunschbild von ihm basteln, wird sich das Kind damit identifizieren, um überhaupt gesehen zu werden. Dieses Bild wird dann zum vermeintlichen Ich.“ Diese Feststellung macht die den Narzissten kennzeichnende Beziehungsangst begreiflich: Jede Art von zwischenmenschlicher Interaktion birgt die Gefahr, das mühevoll aufgebaute und aufrecht erhaltene Ich-Ideal in Frage zu stellen. Darum sucht der Narzisst ausschließlich nach solchen Formen von Interaktion, die sein Ich-Ideal bestätigen – und dies ist durch die Selbstrepräsentation in Sozialen Netzwerken zweifellos leichter steuerbar als in „Real-Life“-Interaktionen.

Die sexuelle Frustration der Millennials kann somit als die bloße Spitze des Eisbergs der für diese Altersgruppe kennzeichnenden Beziehungsangst betrachtet werden. Im Gegensatz dazu, was die Propagandisten der „Sexuellen Revolution“ behaupten, zeigen zahlreiche Untersuchungen, dass Sexualität in festen und dauerhaften Beziehungen größere Befriedigung bietet als außerhalb dieser – weil diese Beziehungen ein höheres Maß an Intimität oder, um ein altmodisches Wort zu benutzen, Hingabe ermöglichen. Gerade diese Intimität und diese Hingabe stellt jedoch ein Risiko dar, das der Narzisst scheut.

Es bleibt die Frage, woher die statistisch messbare Zunahme narzisstischer Tendenzen bei jungen Erwachsenen denn kommt, wenn diese Tendenzen von den neuen Medien zwar wohl bestärkt, aber nicht verursacht werden. Wenn die Psychologie Recht damit hat, dass Narzissmus bereits im Kindesalter entsteht, liegt es nahe, die Ursachen in der Erziehung zu suchen. Dabei ist zu beachten, dass die heute 18-35jährigen nicht mehr die Kinder, sondern bereits die Enkel der sogenannten ‘68er-Generation sind und somit in potenzierter Form von deren Erziehungsmaximen geprägt wurden – weil bereits ihre Eltern mit diesen Maximen aufgewachsen sind. Es wäre zu fragen, ob eine Pädagogik, die Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung zum höchsten Gut erhebt, nicht gerade zur Herausbildung eines trügerischen Ich-Ideals beiträgt, das an der Realität notwendig scheitern muss. „Wir haben es immer mehr mit jungen Leuten zu tun, denen man etwas Schreckliches angetan hat“, meint etwa der katholische Theologe und Gebetshaus-Leiter Johannes Hartl, „indem man ihnen gesagt hat: Du bist etwas so Besonderes, du musst eigentlich überhaupt nichts tun. Egal was du machst, es ist immer besonders.“  Bereits 2008 beschrieb der Journalist Ron Alsop in seinem Buch „The Trophy Kids GrowUp: How The Millennial Generation Is Shaking Up The Workplace“ die oft unrealistisch hohen Ansprüche, die junge Erwachsene an potentielle Arbeitsplätze stellen: höhere Löhne, flexiblere Arbeitszeiten, schnelle Beförderung, viel Freizeit. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, bedeutet dies eine gravierende Erschütterung des Selbstwertgefühls – eine Kränkung, die dann beispielsweise im Rückzug von sozialen Kontakten und der Flucht in virtuelle Realitäten resultieren kann.

Solche Fragen berühren die Auftraggeber der SYZYGY-Studie allerdings kaum; der Intention nach handelt es sich dabei nämlich in erster Linie um eine Marketing-Analyse. Ziel der Untersuchung ist es weniger, den grassierenden Narzissmus als soziales Phänomen zu problematisieren, als vielmehr, ihn als „Herausforderung für Unternehmen“ zu betrachten, „die sie als Konsumenten gewinnen wollen. Es sind besondere Services und Technologien gefragt, die ihrem Ego schmeicheln und den Trend zur Selbstinszenierung unterstützen.“ 


Mittwoch, 12. April 2017

Aller Anfang ist schwer

Rund zwei Monate sind seit der Gründung des "subversiven Pastotalprojekts" Der Mittwochsklub ins Land gegangen - jedenfalls wenn man die Einrichtung der Mittwochsklub-Facebook-Seite als Startpunkt definiert. Was hat sich seither getan? 



Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass wir in diesen zwei Monaten immerhin vier Veranstaltungen auf die Beine gestellt haben - wenn man den von Suse gestalteten Abend beim Kreis junger Erwachsener der Pfarrei St. Antonius Friedrichshain mitzählt, der schon vor der eigentlichen Gründung des Mittwochsklubs geplant gewesen war; aber dazu später. Ein beachtlicher Anfangserfolg war es, dass es uns gleich gelungen ist, in der Gemeinde Herz Jesu in Alt-Tegel eine feste monatliche Veranstaltungsreihe zu installieren: das "Dinner mit Gott". Dieses Veranstaltungsformat hat bislang zweimal stattgefunden, und darüber hinaus stehen noch ein Vortrag von mir im Café J und wie gesagt einer von Suse beim KJE St. Antonius auf der Habenseite. Man muss zwar einräumen, dass wir uns bei allen diesen Veranstaltungen - mit Ausnahme des ersten "Dinner mit Gott", das ziemlich gut besucht war - durchaus ein etwas größeres Publikum gewünscht hätten; aber wir fangen ja gerade erst an, da darf man wohl nicht erwarten, dass die Leute einem gleich die Türen einrennen. Zudem wage ich zu behaupten, dass jede der bisherigen Veranstaltungen insofern "etwas gebracht" hat, als die Teilnehmer - auch wenn es nur wenige waren - etwas daraus "mitgenommen" haben. Motivation und Zuversicht sind also ungebrochen. 

Natürlich ist der Mittwochsklub noch lange nicht da, wo er hinwill. Aber das war ja nach gerade mal zwei Monaten wohl auch kaum zu erwarten. 

Worüber sollen wir nun also zuerst reden: über die Vision oder über das bisher Erreichte? -- Ich würde sagen: Reden wir zuerst über die Vision. Dann kann man das bisher Erreichte an ihr messen. 

Über die Ideen und Überlegungen, die die Gründung dieser Initiative veranlasst haben, habe ich mich hier schon verschiedentlich geäußert, allerdings recht unsystematisch verteilt auf verschiedene Artikel. Also fasse ich es der Einfachheit halber noch mal übersichtlich zusammen: Alles begann damit, dass meine Liebste und ich letztes Jahr zum Katholikentag gingen und ein Wochenende später zur Fiesta Kreutziga in Friedrichshain. Und da haben wir uns gefragt, warum der Katholikentag eigentlich so viel uncooler ist als dieses Straßenfest. Im Ernst: Die aus der Punk- und Hausbesetzerszene hervorgegangene Subkultur in Berlin hat es geschafft, eine beeindruckende und sehr lebendige Infrastruktur auf die Beine zu stellen - wieso sollte so etwas nicht auch "auf christlich" möglich sein? Wenn man mal in den links-subkulturellen Terminkalender "Stressfaktor" schaut, kann man wahrlich vor Neid erblassen, was da so alles geboten wird. In Sachen Vernetzung und Selbstorganisation kann man von der "linken Szene" offenbar eine ganze Menge lernen - und schließlich sind genau das Fähigkeiten, die auf dem Gebiet des Laienapostolats bzw. der Neuevangelisation immer wichtiger dürften, angesichts der kaum zu leugnenden Tatsache, dass die alten volkskirchlichen Strukturen vor dem Kollaps stehen oder vielleicht sogar schon kollabiert sind.

Was uns also auf längere Sicht vorschwebt, ist ein, sagen wir mal, "Netzwerk für das Christsein im Alltag" - ein Netzwerk, das einerseits den Gläubigen dabei hilft, ihre speziellen Charismen zu entdecken und für das Reich Gottes einzusetzen, und das andererseits Anlaufpunkte für Leute schafft, die auf der Suche nach Sinn und Orientierung sind, aber von sich aus nicht unbedingt auf die Idee kämen, diese ausgerechnet im christlichen Glauben oder gar in der Katholischen Kirche zu suchen. Und da insbesondere die MEHR-Konferenz uns dazu motiviert hat, einfach mal irgendwie anzufangen, anstatt ewig 'rumzutheoretisieren, haben wir eben den Mittwochsklub ins Leben gerufen.
"So, wie wir drauf sind", sagte ich neulich erst zu meiner Liebsten, "decken wir eigentlich eine ganz interessante Nische ab: ein bisschen charismatisch angehaucht, gleichzeitig aber auch einigermaßen traditionell, und obendrein im Herzen Punk. Das ist eine Mischung, die Potential hat - unter anderem natürlich auch das Potential, sich zwischen alle Stühle zu setzen, aber Johannes Hartl und Ben Fitzgerald haben mich gelehrt, das nicht als Problem zu sehen, sondern als Chance." 
Tatsächlich funktioniert das "Zwischen-alle-Stühle-Setzen" schon mal ganz gut. Auf der Basis der bisherigen Erfahrungen könnte man den Eindruck haben, Leute, die bereits in irgendeiner Form "kirchlich engagiert" sind, seien schwerer für unser Vorhaben zu begeistern als Außenstehende. Dem mehr oder minder liberalen Mainstream sind wir zu "radikal", den traditionell Gesonnenen zu unkonventionell und für überkonfessionelle Zusammenarbeit vielleicht einfach zu katholisch. Die Vernetzung mit anderen Kreisen, Gruppen und Initiativen lässt somit bislang noch zu wünschen übrig. Aber wahrscheinlich muss man, damit das besser wird, einfach mehr auf persönlichen Kontakt setzen als auf eMails. "Persönlicher Kontakt" setzt zwar Rausgehen voraus, aber es wird ja gerade Sommer. Das wird schon.

Werfen wir also nun einen Blick auf die bisherigen Veranstaltungen - und zwar in erster Linie auf die Reihe "Dinner mit Gott". Dieses Veranstaltungsformat war in erster Linie Suses Idee - ein Konzept, das sie vom Jakobsweg mitgebracht hat. Der Grundgedanke: ein offenes Abendessen für alle Interessierten, mit gemeinsamem Kochen und gemeinsamem Aufräumen. Dieses "Dinner" soll erst einmal ein Forum zum zwanglosen Kennenlernen und Ideenaustausch bieten und sieht daher kein festes inhaltliches "Programm" vor; die Gesprächsthemen ergeben sich mehr oder weniger von selbst. -- Über das erste "Dinner mit Gott" habe ich bereits berichtet; einen weiteren Bericht zu dr Veranstaltung gibt es hier. Insgesamt war es ein sehr schöner und gelungener Auftakt, aber leider war das zweite "Dinner" dann erheblich weniger gut besucht als das erste. Okay, hier kann man sich wohl auf die alte Theaterweisheit "Die zweite Veranstaltung ist immer die schwerste" berufen. Warum das so ist, ist unschwer einzusehen: Einerseits ist die Premierenspannung weg, andererseits noch keine Routine da. Ein bisschen Glückssache ist es wohl obendrein auch, wie viele von den potentiell interessierten Leuten an einem bestimmten Abend tatsächlich kommen (können). Möglicherweise - nein, ziemlich sicher sogar - ist auch unsere Werbestrategie noch optimierungsbedürftig. Aber wir stecken ja wie gesagt noch in den Kinderschuhen. Da ist noch viel Luft nach oben. Auf jeden Fall bin ich optimistisch, dass beim nächsten Mal - am 3. Mai, also in drei Wochen - wieder mehr los sein wird.

Was wir neben dem monatlichen "Dinner" sonst noch so an Veranstaltungen in petto haben, könnte man unter der Kategorie "Vorträge" zusammenfassen - oder vielleicht lieber "Lectures", das klingt nicht so verstaubt und anstrengend. Am 24. März habe ich im Café J über meine Erlebnisse auf der MEHR-Konferenz gesprochen, und natürlich vor allem über die Impulse, die ich von dort mitgebracht habe. Dazu gab's ein paar Video-Ausschnitte. Man muss sagen, dass die rein quantitative Publikumsresonanz bei dieser Veranstaltung nun wirklich enttäuschend war, gemessen daran, wie kräftig wir die Werbetrommel gerührt hatten. Trotzdem schloss sich an den Vortrag eine sehr intensive und vielschichtige Diskussion an. Menge ist eben nicht alles. Erfreulich ist auch, dass das Café J-Team grundsätzlich sehr aufgeschlossen dafür ist, die Location für Veranstaltungen dieser Art zur Verfügung zu stellen. Auch da gilt also: Dranbleiben, es ist noch viel Luft nach oben! Ideen für weitere Veranstaltungen an diesem Ort (oder ähnlichen) habe ich jedenfalls genug.

Bleibt also noch der von Suse gestaltete KJE-Abend zum Thema "Hiob und ich - eine Innensicht" zu erwähnen, der am 6. April stattfand. Wie weiter oben schon erwähnt, hatte Suse dieses Programm schon länger geplant; es handelt sich um eine Annäherung an die Gestalt des Hiob (Ijob) aus dem Alten Testament, jedoch nicht in Form einer theologischen oder gar bibelkritischen Abhandlung, sondern als Mischung aus persönlichem Zeugnis, lyrischer Reflexion und Musik. Seit wir den Mittwochsklub ins Leben gerufen haben, steht natürlich der Plan im Raum, dieses Programm - zumal das Thema ja nicht "aktualitätsabhängig" ist - zukünftig noch öfter und an anderen Orten zu präsentieren; zum Beispiel abermals im Café J. Insofern war die Aufführung im Kreis junger Erwachsener gewissermaßen eine "Vorpremiere" im mehr oder weniger geschlossenen Kreis, und deshalb haben wir auch nicht allzu offensiv Werbung dafür gemacht - normalerweise hat der Kreis junger Erwachsener ja ohnehin sein eigenes Stammpublikum. Dass dieses an dem betreffenden Abend deutlich weniger zahlreich erschien als an manchen anderen, war wohl einfach Pech; aber das Programm war überaus gelungen, trotz einer technischen Panne bei der ersten Musikeinspielung, die sich jedoch beheben ließ. Und ich glaube sagen zu können, die Anwesenden waren durchweg beeindruckt. Alle, die es verpasst haben, können sich damit trösten, dass wir schon in recht absehbarer Zeit eine erneute Vorstellung ins Auge fassen.

So also ist der Stand der Dinge, und so ungefähr in diesem Stil machen wir auch erst mal weiter - mindestens so lange, bis uns noch Mehr und Anderes einfällt, was wir tun können. Ein nicht unwichtiger Aspekt unserer Veranstaltungen ist natürlich auch, dass wir darauf hoffen, auf diesem Wege tatkräftige und ideenreiche Mitstreiter "rekrutieren" zu können, mit deren Hilfe wir unseren Aktionsradius vergrößern und unser Veranstaltungsangebot erweitern können. Dann, und erst dann, wird es auch an der Zeit für genauere strategische Überlegungen sein: Was für Veranstaltungen bieten wir für welche Zielgruppen an, und wie werben wir gezielt um genau diese Zielgruppen? -- Bis dahin tun wir einfach weiter das, was wir können.

Was wir übrigens auch und nicht zuletzt brauchen können, sind Menschen, die - wo sie auch sind - für unsere Initiative beten. Dann wird sie groß und fruchtbringend werden!


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Sonntag, 9. April 2017

Mehr Anbetung wagen!


Vom 29. März bis zum 1. April fand in Herzogenrath bei Aachen eine Liturgische Tagung unter dem Motto „Die Quelle der Zukunft“ statt, zu der der Präfekt der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Robert Kardinal Sarah, seine Teilnahme angekündigt, dann aber doch wieder abgesagt hatte. Diese Absage hatte im Vorfeld für einige Irritation gesorgt und zu allerlei Spekulationen Anlass gegeben. Noch größere Diskussionen dürfte allerdings Kardinal Sarahs für diese Veranstaltung verfasster Vortrag auslösen, der, da er ihn nicht selbst halten konnte, zur Eröffnung der Tagung verlesen wurde.

Anlass der Liturgischen Tagung in Herzogenrath war der zehnte Jahrestag der Veröffentlichung des Motu Proprio SummorumPontificum von Papst Benedikt XVI. – jenes Apostolischen Schreibens also, mit dem die Erlaubnis zur Zelebration der Heiligen Messe nach dem Messbuch von 1962 als „außerordentliche Form des Römischen Ritus“ neu geregelt wurde. In seinem Vortrag würdigt Kardinal Sarah das Schreiben Summorum Pontificum als bedeutenden Schritt zu einer liturgischen Erneuerung und betont, es gehe nicht darum, die beiden Formen des Römischen Ritus gegeneinander auszuspielen, sondern vielmehr darum, dass beide Formen einander befruchten und voneinander lernen sollen.

Gleichwohl übt der Kardinal scharfe Kritik an der rund 50 Jahre nach den vom II. Vatikanischen Konzil angestoßenen Reformen vorherrschenden liturgischen Praxis. Das Konzil, so Kardinal Sarah, habe keinesfalls einen „Bruch mit der Tradition“ angestrebt, „sondern ganz im Gegenteil […], die Tradition in ihrer tiefsten Bedeutung wiederzufinden und zu bestätigen“. In der praktischen Umsetzung der Liturgiereform habe sich jedoch vielfach eine Tendenz zur „Entsakralisierung und Banalisierung der Heiligen Liturgie“ durchgesetzt, eine Auffassung von Gottesdienst, deren Zentrum „nicht mehr Gott und Seine Anbetung“ sei, „sondern die Menschen und ihre angebliche Fähigkeit […], etwas zu ‚tun‘, um sich während der Eucharistiefeier mit etwas zu beschäftigen“. Der Präfekt der Gottesdienstkongregation erinnert daran, dass der jetzige emeritierte Papst Benedikt XVI. bereits 1992, noch als Kardinal Ratzinger, „eine zur Show degenerierte Liturgie“ beklagte, „in der man die Religion mit modischen Mätzchen […] interessant zu machen versucht, mit Augenblickserfolgen in der Gruppe der Macher und mit einer nur um so breiteren Abwendung von Seiten all derer, die in der Liturgie nicht den geistlichen Showmaster suchen, sondern die Begegnung mit dem lebendigen Gott, vor dem unser Machen belanglos wird“. Kardinal Sarah urteilt, „die modernen Förderer einer lebendigen Liturgie“,  die „die Liturgie der Kirche nach ihren Vorstellungen umgestalteten“, hätten ein „Desaster“, eine „Verwüstung“, ja ein „Schisma“ verursacht. Mit Benedikt XVI. teilt Kardinal Sarah die Überzeugung, „dass die Kirchenkrise, die wir heute erleben, weitgehend auf dem Zerfall der Liturgie beruht“; als folgen nennt er den „Relativismus bei der Vermittlung der Glaubens- und Morallehre, schwere Missbräuche […] sowie die rein soziale und horizontale Sicht der Mission der Kirche“.

Diese Zustandsanalyse mag düster erscheinen, hat aber zweifellos ihre Berechtigung – gerade auch da, wo sie einen Zusammenhang zwischen Krise der Liturgie und Krise des Glaubens herstellt. Dass gerade dort, wo allzu frei und „experimentell“ mit der Liturgie umgesprungen wird, oft auch Glaubenswahrheiten relativiert oder verzerrt werden, ist nicht bloß eine Erfahrungstatsache, sondern weist auch eine innere Folgerichtigkeit auf, die gewissermaßen ex negativo den auch vom II. Vaticanum betonten Stellenwert der Liturgie als „Höhepunkt und Quelle des Lebens und der Mission der Kirche“ unterstreicht. Man könnte sagen: Wo nicht mehr Gott der zentrale Bezugspunkt der Liturgie ist, sondern der angenommene bzw. unterstellte „Geschmack“ und die vermeintlichen Bedürfnisse des Publikums, da liegt es umso näher, mit der Glaubens- und Sittenlehre der Kirche ebenso geschmäcklerisch und bedürfnisorientiert zu verfahren. Dass die tatsächlichen Bedürfnisse der Gläubigen mit einer solchen oberflächlichen Anbiederung gerade nicht erfüllt werden, davon künden nicht allein die immer leereren Kirchen. Nach Jahrzehnten liturgischer und katechetischer Fehlentwicklungen muss man davon ausgehen, dass ganze Generationen von Katholiken das, worauf sie nach den Worten Kardinal Sarahs „ein Recht haben: die Schönheit der Liturgie, ihre Heiligkeit, die Stille, die Andacht, die mystische Dimension und die Anbetung“ – und ebenso auch eine klare und authentische Verkündigung des Wortes Gottes – kaum noch kennen.

Bildquelle: Pixabay 

Wie ist hier Abhilfe zu schaffen? In seinem Vortrag nennt Kardinal Sarah drei Aspekte, die er als wesentlich für eine liturgische Erneuerung betrachtet: „Zunächst […] die heilige Stille, ohne die man Gott nicht begegnen kann“. Sodann die Anbetung: „Wie es Benedikt XVI. schon oft betont hat, findet sich an der Wurzel der Liturgie die Anbetung, und somit Gott.“ Und „[s]chließlich die liturgische Ausbildung, von einer Glaubensverkündigung oder –katechese ausgehend, deren Maßstab der Katechismus derKatholischen Kirche ist, was uns vor möglichen mehr oder weniger gelehrten Hirngespinsten bestimmter Theologen bewahrt.“


Ob die besagten mehr oder weniger gelehrten Theologen sich von diesen Anmerkungen des Kurienkardinals beeindrucken lassen, steht freilich zu bezweifeln. Als ermutigend kann man es hingegen ansehen, dass sich gerade bei jüngeren Gläubigen tatsächlich eine gesteigerte Sehnsucht nach der Heiligkeit und dem Mysterium der Liturgie bemerkbar macht. „Eine der großartigsten Gaben, die der Heilige Geist heute der Kirche schenkt, ist ein neues Bewusstsein für Anbetung und ein neuer Hunger nach Anbetung“, stellte etwa der Päpstliche Hausprediger Pater Raniero Cantalamessa während der vom Gebetshaus Augsburg ausgerichtetenMEHR-Konferenz im vergangenen Januar fest. Initiativen wie das aus dem Geist der Weltjugendtage hervorgegangene „Nightfever“ verbinden die Praxis der Eucharistischen Anbetung mit einer Gestaltung, die gerade Jugendliche und junge Erwachsene anspricht. Während eher traditionell eingestellte Katholiken solche Formate wegen ihres „Eventcharakters“ mit einer gewissen Skepsis betrachten mögen, ist andererseits festzustellen, dass die Möglichkeiten zur stillen Eucharistischen Anbetung in einfachen Pfarrkirchen – sei es mit Aussetzung des Allerheiligsten oder vor dem geschlossenen Tabernakel – vielerorts zu wünschen übrig lassen. Papst Franziskus rief in seinerBotschaft an den 26. Eucharistischen Nationalkongress Italiens im Sommer 2016 die Gläubigen dazu auf, „oft – möglichst täglich – das Allerheiligste Altarsakrament zu besuchen, das in unseren Kirchen aufbewahrt, aber oft allein gelassen wird“. Vielerorts ist das aber gar nicht möglich, da zahlreiche Kirchen – obwohl das katholische Kirchenrecht vorsieht, dass „eine Kirche, in der die heiligste Eucharistie aufbewahrt wird, täglich wenigstens einige Stunden für die Gläubigen offenzuhalten“ ist (Can. 937 CIC) – außerhalb der Gottesdienstzeiten geschlossen bleiben, etwa aus Angst vor Diebstahl oder Vandalismus. Es wäre zu fragen, ob eine Kirche nicht Gefahr läuft, ihren Daseinszweck zu verfehlen, wenn sie der Unversehrtheit ihrer Kunstgegenstände einen höheren Stellenwert beimisst als ihrer Aufgabe, eine Stätte der Anbetung zu sein – oder auch, ob es nicht möglich sein sollte, die Öffnungszeiten einer Kirche so zu gestalten, dass Mitglieder der Gemeinde wenigstens für einige Stunden am Tag vor dem Tabernakel „Gebetswache“ halten. Wäre dies nicht auch ein fruchtbares Feld für das oft vehement eingeforderte Engagement der Laien in den Pfarrgemeinden? 



Samstag, 8. April 2017

Die Stille neben dem pulsierenden Leben des Kreta-Grills

I. 

Unlängst war ich in einer Berliner Kirche, die hier ungenannt bleiben möge, zur Kreuzwegandacht, und die war ziemlich schlimm. Wobei, "schlimm" ist natürlich eine Frage der Einstellung. Man könnte auch sagen, sie war ziemlich illustrativ. Kurz zuvor hatte ich mich nämlich - für einen Wochenkommentar auf Radio Horeb - recht eingehend mit Kardinal Sarahs Eröffnungsreferat zur Liturgischen Tagung in Herzogenrath befasst, und nun fand ich, diese Kreuzwegandacht war geradezu ein Lehrbuchbeispiel für die Missstände, die Kardinal Sarah beklagt. In Stichworten: die Neigung, liturgische Formen lediglich als Material oder als Rahmen für "kreative" Eigenleistungen zu betrachten und zu benutzen; "Entsakralisierung und Banalisierung"; "rein soziale und horizontale Sicht der Mission der Kirche"; letztlich, als Wurzel allen Übels, der Befund, dass Gott nicht mehr im Mittelpunkt steht

Es ging damit los, dass der Pfarrer munter verkündete, er habe aus den 14 Stationen des Kreuzwegs fünf ausgewählt, "die alle etwas mit dem Thema 'Fallen' zu tun haben". Es sei doch mal eine "Abwechslung", meinte er, nicht den ganzen Kreuzweg zu beten, sondern nur ausgewählte Stationen, auf die man sich dafür dann umso intensiver einlassen könne. -- Na ja. Ich sag mal so: Unter Umständen mag es legitim sein, bei einer Kreuzwegandacht einzelne Stationen wegzulassen. Zum Beispiel, wenn man meint, sie würde sonst zu lange dauern oder 14 Kniebeugen seien zu anstrengend für die oft ja schon ziemlich bejahrten Teilnehmer(innen). Aber so zu tun, als hätte diese "Konzentration" auf einige ausgewählte Stationen eine positive Qualität? - Okay: Wenn die Meditationen zu diesen ausgewählten Stationen dann eine außergewöhnliche Tiefe und Intensität hätten, ja, dann vielleicht. 

Nun, glücklicherweise war nicht alles schlecht an diesem Kreuzweg. Die Schriftlesungen zu den einzelnen Stationen wurden aus dem Gotteslob (Nr. 683-684) übernommen und waren damit wirklich gut ausgewählt. Auch zwei oder drei der Lieder waren recht schön, nur dass sie zum falschen Zeitpunkt gesungen wurden: nämlich just an jenen Stellen, an denen in der Kreuzwegandacht im Gotteslob STILLE vorgesehen war. Für die "heilige Stille, ohne die man" - so Kardinal Sarah - "Gott nicht begegnen kann", war kein Platz bzw. keine Zeit. -- Die Meditationstexte wurden nicht aus dem Gotteslob übernommen; man muss ja auch zugeben, dass die ziemlich fußpilzauslösend sind. Aber schlimmer geht's eben immer. In den offenbar vom Pfarrer selbstgestrickten Texten zu den Stationen 2,3,7,9 und 14 wurde jeweils im ersten Satz einmal Jesus erwähnt, und im weiteren Verlauf ging es dann nur noch um "uns" - also um so ein unpersönliches pastorales "Uns", mit dem irgendwie die Menschheit als Ganze gemeint ist, oder besser gesagt: die conditio humana, das "wie-der-Mesch-nun-mal-so-ist". Zum Abschluss wurde dann auch noch die Hoffnung auf die Auferstehung zum Ewigen Leben in ein zaghaftes "vielleicht" eingekleidet. 

(Disclaimer: Die Kirche, in der dieses Foto aufgenommen wurde, ist nicht die Kirche, in der die hier geschilderte Anacht stattfand.) 

Fragen wir uns an dieser Stelle: Worum geht's eigentlich bei einer Kreuzwegandacht, oder genauer, worum sollte es dabei gehen? Warum wird der Kreuzweg in der Passionszeit gebetet? Die Antwort ist im Grunde simpel: um sich das heilbringende Leiden Jesu Christi zu vergegenwärtigen. Punkt. Und nun frage ich mich, was jemanden dazu veranlasst, zu einer Kreuzwegandacht Texte zu verfassen und vorzutragen, in denen es darum gerade nicht geht

Man mag vermuten, der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liege in dem eingangs erwähnten Stichwort "Abwechslung". Die Auffassung, gottesdienstliche Feiern (im weitesten Sinne) bräuchten heutzutage mehr "Abwechslung", um "attraktiv zu sein", ist ja tatsächlich weit verbreitet. Aber mal ganz davon abgesehen, dass diese Sichtweise die große Stärke und Schönheit verkennt, die gerade in der Konstanz liturgischer Formen liegt, bietet eine Kreuzwegandacht mit ihrem Wechsel aus Gebet, Schriftlesung, Meditation und Gesang eigentlich genug Raum für "Abwechslung". Gute Meditationstexte zum Kreuzweg, die man in einschlägigen Büchern oder im Internet finden kann, gibt es wahrhaftig genug, als dass man obendrein noch schlechte bräuchte. Vollends wird die Auffassung, man müsse "den Leuten" - wer auch immer damit konkret gemeint sein mag - "mal was Neues" bieten, fragwürdig, wenn dieses "Neue" lediglich aus banalen Wald-und-Wiesen-Moralismen besteht. -- Bei einer Kreuzwegandacht an einem Werktag in einer ganz normalen Pfarrkirche dürfte es zwar insgesamt eher unwahrscheinlich sein, dass da jemand hineingerät, der "nur mal gucken" will und nicht so genau weiß, was ihn erwartet; wäre dies bei der besagten Andacht aber doch der Fall gewesen, glaube ich nicht, dass der in diesen schalen und verwässerten Meditationstexten irgend etwas gefunden hätte, was ihn motiviert hätte, sich näher darauf einzulassen, was es mit dem Glauben der Kirche auf sich hat. 

II. 

In den Letzten Gesprächen Benedikts XVI. Goethes mit Peter Seewald Eckermann findet sich die folgende schöne Passage
"Shakespeare [...] gibt uns in silbernen Schalen goldene Äpfel. Wir bekommen nun wohl durch das Studium seiner Stücke die silberne Schale, allein wir haben nur Kartoffeln hineinzutun, das ist das Schlimme!" 

III. 

Nach diesem Kreuzweg-Desaster reagierte ich umso aufmerksamer und interessierter auf einen Zeitungsartikel mit dem Titel "Erst schweigen, dann beten", auf den ich wenig später beim Stöbern in der Online-Ausgabe der Nordwest-Zeitung stieß. "Im evangelischen Gemeindehaus begann die 'Reise' mit 14 Stationen", heißt es im Teaser-Absatz. "Die Teilnehmer genossen die ganz besondere Atmosphäre." Aufgemerkt: 14 Stationen? Sollte es etwa...? Und richtig: 
"Schirme oder Fackeln waren völlig überflüssig: Auf einen derart traumhaften lauen Abend hatte bei den Planungen des ersten ökumenischen Lemwerderaner Kreuzwegs niemand zu hoffen gewagt. Mehr als 20 Männer und Frauen fanden sich im evangelischen Gemeindehaus ein. Von dort begann die aus 14 Stationen bestehende 'Pilgerreise'."
Ort des Geschehens: Lemwerder, eine ländliche 7.000-Einwohner-Gemeinde nördlich von Bremen. Tiefste Diaspora also, aber immerhin gibt es dort zwei Werften sowie eine Firma, die Flügel für Windkraftanlagen herstellt, und früher obendrein ein Flugzeugwerk - und mithin Arbeitsmigration. Was wohl der Hauptgrund dafür sein dürfte, dass Lemwerder eine katholische Kirche (mit dem recht Ökumene-tauglichen Patrozinium Heilig Geist) hat. Bereits vor rund zwei Wochen erschien in der NWZ ein Vorbericht zum Ökumenischen Kreuzweg - unter dem bezeichnenden Titel "Ein alter Brauch wird wiederbelebt". Also alles Folklore?  

Ehe ich mit der Auswertung des neueren Berichts fortfahre, muss ich fairnesshalber einräumen, dass ich nicht einschätzen kann, zu welchem Grad oder Anteil der bizarre Eindruck, den diese Veranstaltung macht, auf das Konto der Berichterstatterin geht. Anders ausgedrückt, ich bin mir selbst nicht ganz sicher, ob die folgenden Zitate und meine Anmerkungen dazu eher in das Genre Liturgiekritik oder in das Genre "Perlen des Lokaljournalismus" fallen. 
"Von Macht, die auf Einschüchterung und Unterdrückung zielt, um die Angst vor dem Kaiser, Hass auf die jüdische Bevölkerung und von manipulierten Massen handelten die kurzen Texte, die die Lektoren unter dem schweren, aus rohem Holz gezimmerten Kreuz verlasen. [...] Neben den biblischen Texten von der Verurteilung Jesu bis zur Grablegung wurde an jeder Station ein Bezug zur aktuellen Lage hergestellt." 
Halten wir uns, liebe Leser, nicht unnötig bei dem holprigen Satzbau auf, sondern konzentrieren uns lieber darauf, wie gründlich die Passionsgeschichte hier durchpolitisiert wird. Der "Erfolg" dieser Lesart zeigt sich weiter unten: 
"Erschreckend fand eine andere Teilnehmerin, dass nichts aus den 2000 Jahre alten Fehlern gelernt wird. Alles wiederhole sich, man müsse sich nur umschauen, bedauerte sie." 
Na das habt ihr ja prima hingekriegt, liebe Lemwerderaner Kreuzweg-Gestalter: Schwuppdiwupp schrumpft der singuläre, Alles entscheidende Höhe- und Mittelpunkt der Heilsgeschichte zu einem Fallbeispiel für die Ewige Wiederkehr des immer Gleichen, für die Unbelehrbarkeit des Menschengeschlechts - ja gar zu einem "2000 Jahre alten Fehler", ungefähr auf einem Schreckenslevel mit Brexit und Trump. 

Aber erst mal weiter der Reihe nach. 
"Vom Eine-Welt-Laden über die Terrasse und durch den Jugendraum führten die 14 Stationen zur Heilig-Geist-Kirche, in der der Kreuzweg vor dem Altar und mit Worten von Pastor Norbert Steffen endete.
Im katholischen Gemeindehaus hatten die Mitglieder der evangelischen und katholischen Kirchenkreise für einen Imbiss gesorgt, bei dem der Kreuzweg bei angeregten Gesprächen ausklang." 
Ich kann's mir nur zu gut vorstellen, denn in so einem Milieu bin ich aufgewachsen. Mich schaudert's. [*]
"Für Gerda M[.], Mitglied der Heilig-Geist-Gemeinde, gehört der Kreuzweg zur österlichen Vorbereitung. Ihr Sohn Till, der mit 20 Jahren der jüngste Teilnehmer war, genoss besonders die Stille." 
Punkt für Kardinal Sarah! 
"Auch für Marion M[.] ist die katholische Tradition ein Bestandteil der Fastenzeit. Sie genoss die Ökumene und könnte sich vorstellen, den Kreuzweg vielleicht eines Tages über öffentliche Plätze in der Gemeinde auszudehnen."
Revolutionäre Idee: Kreuzweg in der Öffentlichkeit! "Eines Tages" jedenfalls "vielleicht". Why not? Mich allerdings treibt ein anderes Detail dieser Passage um: Kann man "Ökumene genießen"? Für mein Empfinden ist Ökumene eher etwas, was man ertragen muss, aber okay, das kann an mir liegen. Und ja, ich weiß schon: "Siehe, wie fein und wie lieblich ist's, wenn Brüder" undsoweiter. Also gut, sich an Ökumene erfreuen, das kann ich mir unter Umständen noch vorstellen. Aber "Genuss" ist vielleicht doch noch etwas Anderes. Na ja, geschenkt. 
"Weitgehend neu war die Teilnahme dagegen für die meisten Mitglieder der evangelischen Kirche. Warum wird Ostern gefeiert? Welches Opfer hat Jesus damals gebracht?" 
Klar: Woher soll man das auch wissen, wenn man evangelisch ist. (Sarkasmus off: Ich unterstelle mal gutwillig, dass die NWZ-Mitarbeiterin gar nicht gemerkt hat, was sie da geschrieben hat. Obwohl man andererseits auch Verständnis dafür haben kann, dass dieser Kreuzweg solche Fragen aufwirft. Huch, da ist der Sarkasmus wieder angegangen. Sorry-not-sorry.) 
"Viel geht im Alltag verloren, machte sich Christel K[.]-H[.] so ihre Gedanken. Sie würdigte den Mut, aus der Masse herauszutreten und nicht einfach Mitläufer zu sein. Für die vielfältig ehrenamtlich engagierte Lemwerderanerin war es der erste Kreuzweg, an dem sie teilnahm. Das Schweigen während des Marsches hat ihr gut gefallen."
Und noch ein Punkt für Kardinal Sarah! 
"Beim nächsten Kreuzweg wieder mitgehen wollte auch eine andere Dame, die ihre Gedanken während des Schweigemarsches überallhin schweifen ließ." 
Überallhin? Echt überallhin? Beeindruckend. Aber vielleicht hätte ein bisschen mehr Fokussierung auch gut tun können. 
"Mit wenig Aufwand wurde eine wunderschöne Atmosphäre geschaffen, so das Fazit von Pastor Jochen Dallas. Besonders beeindruckte ihn, dass das Schweigen direkt neben dem pulsierenden Leben des Kreta-Grills so gut klappte." 
Hm. Vielleicht sollte ich bei meinem nächsten Heimaturlaub doch mal in Lemwerder Station machen. Um das pulsierende Leben des Kreta-Grills zu bewundern. 

Der weiter oben erwähnte Vorbericht gibt aber immerhin einen Fingerzeig, auf was für Ideen man bezüglich der Frage kommen kann, welchen Sinn eigentlich eine Kreuzwegandacht habe, wenn nicht den, sich das heilbringende Leiden Christi zu vergegenwärtigen
"Den Teilnehmern wird bei diesem Brauch, der bis ins 14. Jahrhundert zurückreicht, Gelegenheit gegeben, die Leidenserfahrungen der eigenen Zeit bei Gebet und Meditation mit hineinzunehmen. Der Brauch, den Kreuzweg zu gehen, kann helfen, die Haltung des Mitleidens wiederzugewinnen, heißt es." 
Ach so. Na dann. Herzlichen Dank auch. Aber man kann sagen, was man will: Das klingt echt ökumenisch.

Wie dem auch sei: Ich schätze, im nächsten Jahr werden meine Liebste und ich wohl selbst mal eine Kreuzwegandacht gestalten müssen. Ob in der Kirche oder bei gutem Wetter am Ufer des Tegeler Sees entlang (oder so), wird sich zeigen. Oder vielleicht in Lemwerder...? (Unwahrscheinlich.) 

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[* Wer dieses Schaudern nicht intuitiv nachvollziehen kann, dem sei gesagt, dass Veranstaltungen wie diese eine erhebliche Mitschuld daran tragen, dass ich in meinen späten Teenagerjahren auf Distanz zur Kirche gegangen bin. Ich habe über ein Jahrzehnt gebraucht, um wieder zu ihr zurückzufinden.]