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Freitag, 30. September 2011

Dass ich das noch erleben darf!: "Berliner Zeitung" lobt katholische Kirche

„Torben P. geht wieder zur Schule“: Mit dieser vermutlich harmlosen Überschrift beginnt der Berlin-Teil der Berliner Zeitung vom Mittwoch, dem 28. September 2011. Die anderen Tageszeitungen der Hauptstadt bringen diese Nachricht ebenfalls, aber dort wird der junge Mann, um den es hier geht, in den Überschriften meist nicht bei seinem Namen genannt, sondern mit Epitheta wie „U-Bahn-Schläger“, in den unfeineren Gazetten gern auch „Hasstreter“, betitelt.

Da ich nicht davon ausgehen kann, dass der Fall des Torben P. auch außerhalb Berlins allgemein bekannt ist, hier eine kleine Zusammenfassung nach dem Motto „Was bisher geschah“:

In der Nacht von Karfreitag auf Karsamstag (ausgerechnet!) attackierte der 18-jährige Schüler Torben P. am Bahnsteig der U6 am Bahnhof Friedrichstraße einen 29-Jährigen, der am selben Bahnsteig wartete. Er trat dem Mann viermal gegen den Kopf und verletzte ihn damit lebensgefährlich; anschließend stellte er sich – offenbar selbst schockiert über diesen extremen Gewaltausbruch – der Polizei.

Besonders großes Aufsehen erregte dieser Fall dadurch, dass die Bilder der Überwachungskamera, die die Tat aufgezeichnet hatte, von der Polizei veröffentlicht wurden, sodass die ganze Brutalität des Verbrechens für jedermann sichtbar wurde. In einem von den örtlichen Medien intensiv beobachteten Gerichtsverfahren wurde Torben P. wegen versuchten Totschlags zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt; da die Verteidigung jedoch Revision beantragt hat, ist das Urteil noch nicht rechtskräftig, und Torben P. erhielt bis auf weiteres Haftverschonung – lediglich mit der Auflage, sich einmal wöchentlich bei der Polizei zu melden. Von einem Teil der Medien – allen voran der stramm konservativen Boulevardzeitung B.Z. – wurde diese Haftverschonung scharf kritisiert.

Als problematisch für den 18-Jährigen erwies sich nun aber die Frage des Schulbesuchs. Bis zur Tat hatte er die Bettina-von-Arnim-Schule in Reinickendorf besucht; böse Zungen könnten nun anmerken: „Das erklärt einiges.“ Zwar weiß ich nicht, ob die Bettina-von-Arnim-Schule „offiziell“ (was immer das heißen möchte) als „Problem“- oder „Brennpunktschule“ oder dergleichen geführt wird, und auch dass HipHop-Star Sido ein Absolvent dieser Schule ist, spricht ja nicht unbedingt gegen sie; aber ich komme beruflich viel mit Schulklassen verschiedenster Berliner Schulen in Kontakt, und die Arnim-Schüler gehören aus meiner Sicht entschieden zu den, na ja, sagen wir mal „verhaltensauffälligsten“. Einen zwar noch nicht rechtskräftig verurteilten, aber geständigen und zudem dank des großen Medienechos weithin bekannten Gewaltverbrecher wollte man aber, vielleicht gerade deswegen, an dieser Schule nicht dulden: Torben P. wurde vom Unterricht ausgeschlossen und erhielt Einzelunterricht außerhalb des Schulgebäudes.

Um diesem auf längere Sicht untragbaren Zustand abzuhelfen, hat die Berliner Justizverwaltung – wie jetzt bekannt wurde – schon seit Mitte Juli sondiert, ob man Torben P. an einer Schule in freier Trägerschaft unterbringen könnte. Die Schulstiftung der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, die insofern eigentlich „zuständig“ gewesen wäre, als Torben P. evangelischer Konfession ist, reagierte allerdings zurückhaltend: Erst einmal wolle man ein rechtskräftiges Urteil abwarten. Die Anfrage beim katholischen Erzbistum Berlin hatte mehr Erfolg, und so besucht der berüchtigte „U-Bahn-Schläger“ seit vergangenem Dienstag das katholische Liebfrauen-Gymnasium im Stadtteil Westend.

Dass diese Entscheidung des Erzbistums nicht nur auf Gegenliebe stößt, kann nicht überraschen. Ein Lehrer des Liebfrauen-Gymnasiums weigerte sich, Torben P. zu unterrichten; auch bei einigen Schülern und deren Eltern löst der neue Mitschüler Ängste aus.

Während die schon erwähnte B.Z. es offenbar als ihre Aufgabe ansieht, solche Ängste noch zu schüren – zum Beispiel, indem sie ihren Bericht über den Schulwechsel des jungen Delinquenten mit einem der berüchtigten Überwachungskamera-Bilder garniert –, bezieht die eher linksgerichtete Berliner Zeitung eine entschieden andere Position. Nicht nur ist der von Martin Klesmann gezeichnete Artikel „Torben P. geht wieder zur Schule“ von erkennbarem Wohlwollen gegenüber der Entscheidung des Erzbistums geprägt, den Straftäter am Liebfrauen-Gymnasium aufzunehmen und ihm so „einen Schritt zurück in ein normales Leben“ zu ermöglichen; links neben dem Artikel, in der Kolumne Stadtleben, erscheint unter der Überschrift „Mutige Entscheidung“ zudem ein Kommentar zum selben Thema, verfasst vom selben Autor. Und wie um den unglaublich scheinenden Umstand, dass die mit kirchen- und allgemein religionskritischen Äußerungen sonst nicht sparende Berliner Zeitung die katholische Kirche lobt, gezielt und unmissverständlich zu betonen, wird dem Kommentar der fettgedruckte Hinweis vorangestellt: „MARTIN KLESMANN lobt die katholische Kirche, die für den U-Bahn-Schläger einen Schulplatz hat.“ „Barmherziger, so muss man es sagen“, findet Klesmann die Haltung des Erzbistums im Vergleich zu derjenigen der evangelischen Schulstiftung, und der Kommentar schließt mit dem Fazit:
„Von der katholischen Kirche mag man halten, was man will.“ (Immerhin!) „Sie hat diesen Fall aber öffentlichkeitswirksam genutzt, um ihren Markenkern herauszustellen: Wer Reue zeigt, kann Vergebung erfahren.“

Man sieht: Ein vorbehaltloses Lob für die katholische Kirche wäre der Berliner Zeitung dann doch etwas zu viel des Guten gewesen. Aber auch wenn man bemängeln mag, dass der Begriff „Markenkern“ – aus dem die Vorstellung eines religiösen „Marktes“ mit konkurrierenden „Anbietern“ spricht – dem Selbstverständnis der katholischen Kirche kaum gerecht wird; auch wenn man Anstoß daran nehmen mag, dass in der Formulierung die Unterstellung mitschwingt, dem Erzbistum gehe es in dieser Sache hauptsächlich um PR; die Kernaussage von Klesmanns Fazit bleibt bemerkenswert genug: Mit der Aufnahme des „U-Bahn-Schlägers“ am Liebfrauen-Gymnasium praktiziert das Erzbistum Berlin in vorbildlicher Weise christliche Nächstenliebe.

Der zuständige Dezernatsleiter des Erzbistums, Hans-Peter Richter, stellt derweil klar: „Die Schwere der Tat soll durch die Aufnahme in die Liebfrauenschule nicht verharmlost werden“. Auch das ist zweifellos eine wichtige Feststellung. Torben P. hat sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht, für das der Rechtsstaat ihn bestrafen muss (und wird). Dass er sich freiwillig gestellt und vor Gericht glaubwürdig Reue gezeigt hat, mag sich strafmildernd auswirken, hebt aber seine Schuld nicht auf, weder juristisch noch moralisch. Dennoch bedeutet Reue aus christlicher, speziell katholischer Sicht weit mehr als im juristischen Kontext: Reue ist der erste Schritt zur Umkehr, einer zentralen Kategorie der Sünden- und Vergebungstheologie. „Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben, umzukehren“, heißt es im Lukasevangelium im Anschluss an das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,7). – Torben P. auf seinem Weg zur Umkehr ein Stück entgegenzukommen, ihn zu unterstützen und zu begleiten, das ist die Aufgabe, die die Leitung des Liebfrauen-Gymnasiums auf sich genommen hat. An seiner neuen Schule wird der junge Mann von einer Psychologin und einem Seelsorger betreut. Der letztere hat, wie die Berliner Zeitung berichtet, aus aktuellem Anlass eine Unterrichtsreihe zum Thema „Schuld, Reue und Vergebung“ erarbeitet.

Mittwoch, 28. September 2011

Papstbesuch in Deutschland - Eine Nachlese

Donnerstag, der 22. September 2011. Das heute-journal im ZDF zeigt einen Beitrag von der Protestdemonstration gegen den Papstbesuch in Berlin. Eine junge Frau, vielleicht zwanzig Jahre alt, wird interviewt; in Tonfall und Mimik irgendwo zwischen Lachen und Weinen, zuweilen leicht stockend, nach den richtigen Worten suchend, erklärt sie: „Ich denke, dass der Papst ein Vorbild für sehr viele Menschen ist. Und wenn so jemand solche Hasspredigten verbreitet, diskriminierende Worte spricht – das finde ich ganz schlimm.“

Die emotionale Betroffenheit, die aus diesen Worten spricht, ist ohne Zweifel echt; aber ich frage mich: Wann hätte Papst Benedikt XVI. jemals Hass gepredigt oder sich mit diskriminierenden Äußerungen hervorgetan? Wie kommt diese sympathische junge Frau auf so etwas? – Fast zeitgleich zu dieser Demonstration hält der Papst eine Rede vor dem Deutschen Bundestag. Manch einer wird diese Rede als allzu akademisch und professoral empfinden, aber ohne Zweifel enthält sie eine Reihe sehr beachtenswerter Gedanken zum Verhältnis zwischen Macht und Recht sowie zum Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Schade, dass rund 100 Parlamentarier diese Rede nicht miterleben, da sie es vorgezogen haben, dem Auftritt des Papstes im Bundestag aus Protest fern zu bleiben. Einige von ihnen gehen stattdessen zu der Demonstration, zusammen mit idealistischen jungen Menschen, die buchstäblich nichts über diesen Papst wissen, außer dass er Papst ist – was ihnen aber offenbar schon genügt, um ihn abzulehnen – und die sich im Namen von Aufgeklärtheit und Toleranz vor den Karren wirklicher Hassprediger spannen lassen. Solchen wie Michael Schmidt-Salomon, der zu den Initiatoren der Demonstration und zu den Hauptrednern bei der Kundgebung gehört. Schmidt-Salomon, Vorstandssprecher der atheistischen Giordano Bruno Stiftung, bezeichnet sich als Philosoph, was insoweit korrekt ist, als er dieses Fach studiert hat; aber bei einem originellen oder tiefsinnigen Gedanken habe ich ihn noch nie ertappt. Stattdessen sieht man ihn zuweilen in Talkshows, wo er jeden, der es wagt, anderer Meinung zu sein als er, entweder beschimpft oder sich über ihn lustig macht. Interessant, dass jemand wie er anderen Intoleranz vorwirft und damit ernst genommen wird.

Wie das demonstrative Fernbleiben rund 100 Abgeordneter von der Papstrede im Bundestag zeigt, fällt es auch manch einem gestandenen Politiker offenbar leichter, den Papst zu schmähen, wenn sie das, was er zu sagen hat, gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Aber auch von denen, die die Rede gehört oder hinterher nachgelesen haben, haben viele etwas zu kritisieren. Nicht an dem, was Benedikt XVI. vor dem Parlament gesagt hat – dafür findet selbst der SPIEGEL anerkennende Worte. Die Kritik entzündet sich vielmehr an dem, was er nicht gesagt hat – also daran, dass er nicht das gesagt hat, was er nach Meinung seiner Kritiker hätte sagen sollen. Er hätte zum Missbrauchsskandal Stellung nehmen sollen, zum Reformbedarf innerhalb der katholischen Kirche, zur Ökumene… Liest man diesen Forderungskatalog in voller Länge, dann entsteht der Eindruck, manch ein Papstkritiker hätte erwartet, dass Benedikt seinen Auftritt vor dem Bundestag für eine Art Regierungserklärung nutzt – was allerdings schon deshalb keine realistische Erwartung ist, weil ein Papst, selbst ein deutscher, dem Deutschen Bundestag keine Rechenschaft über seine Amtsführung schuldig ist. Zur Rechenschaft ziehen wollen ihn aber viele, allen voran der erwähnte Schmidt-Salomon, der auf der Kundgebung der Anti-Papst-Demonstration verkündet, der Papst gehöre „nicht in den Bundestag, sondern vor Gericht“.

Die Speerspitze der Papstgegner ist also, wie diese Äußerung zeigt, weit darüber hinaus, irgendwelche positiven Erwartungen an den Besuch des Kirchenoberhaupts zu knüpfen. Das ist immerhin eine konsequentere Haltung als die derjenigen Papst- und Kirchenkritiker aus Politik und Gesellschaft, die sich „enttäuscht“ darüber äußern, dass der Papst sich nicht ihren Vorstellungen gemäß verhält. Dass diese Enttäuschung zu einem großen Teil aus einer von vornherein unrealistischen und einer Apostolischen Reise des Papstes nicht angemessenen Erwartungshaltung resultiert, betont u.a. der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), ein engagierter, dabei durchaus kritischer Katholik. Solche Einsichten – die Kretschmann mehrfach unerschrocken vor Fernsehjournalisten wiederholt, die nur zu gern ein bisschen Papstschelte von ihm hören wollen – hindern die unentwegten Missvergnügten, und mit ihnen einen großen Teil der Medien, jedoch nicht daran, diese Erwartungshaltung während des viertägigen Deutschland-Aufenthalts des Papstes wieder und wieder zu bekräftigen und schließlich den „Erfolg“ des Papstbesuchs daran zu messen. Noch während Benedikt XVI. sich am Abend des 25.09. zum Rückflug nach Rom rüstet, bilanziert im Bericht aus Berlin spezial der SPIEGEL-Autor Peter Wensierski, was die Reise des Papstes in sein Heimatland „gebracht“ habe: Enttäuschungen, verpasste Chancen, Stillstand. Auf der Habenseite allenfalls ein paar „stimmungsvolle Bilder“. Die Krise der katholischen Kirche sei so aber nicht zu überwinden. Kaum auszudenken, was hätte passieren müssen, damit ein Journalist vom SPIEGEL zu einem anderen Fazit käme…

Aber schalten wir noch einmal zwei Tage zurück: In seiner Predigt bei einem ökumenischen Gottesdienst mit Vertretern der evangelischen Kirche in Erfurt nimmt Papst Benedikt XVI. Bezug auf Erwartungen, er würde zu dieser Veranstaltung ein „ökumenisches Gastgeschenk“ mitbringen, und bezeichnet diese Erwartungen als „politisches Missverständnis des Glaubens“. Das ist eine durchaus profunde Aussage. Dass große Teile der deutschen Öffentlichkeit den Papst in erster Linie als einen Politiker wahrnehmen und beurteilen, liegt auf der Hand; und ganz unberechtigt ist das auch nicht, denn selbstverständlich hat das Papstamt auch seine politischen Aspekte. Dennoch kann es nicht deutlich genug betont werden, dass das Selbstverständnis des Papstes, der Maßstab und die Richtschnur seines Handelns letztlich nicht politisch, sondern religiös bestimmt sind; nicht ausgerichtet an Meinungsumfragen, Mehrheitsverhältnissen und Machbarkeitserwägungen, sondern an GOTT. Bei rechtem Hinsehen bzw. –hören kann man Klarstellungen zu diesem Punkt geradezu als roten Faden der diversen Ansprachen und Predigten Benedikts XVI.  in diesen Tagen ausmachen. Als Oberhaupt der katholischen Kirche sieht der Papst sich der katholischen Glaubenslehre mit ihrer fast zwei volle Jahrtausende umfassenden Tradition verpflichtet; ohne diesen Hintergrund müsste es in der Tat unverständlich bleiben, ja geradezu verbohrt wirken, wie wenig er seinen Kritikern entgegenzukommen bereit ist.

Nun kann man natürlich nicht verlangen, dass jeder, der am Papst und der Kirche etwas zu kritisieren hat, erst einmal katholische Theologie und Kirchengeschichte studieren soll, ehe er sich zu Wort meldet. In einer Demokratie, die das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert, versteht es sich von selbst, dass jeder, der in der Öffentlichkeit steht, auch öffentlicher Kritik ausgesetzt ist, und das Recht zur Kritik steht jedem zu, unabhängig von seinem Sachverstand. Dennoch wäre es für eine wirklich gedeihliche öffentliche Diskussion sicher wünschenswert, wenn der lautstark vorgetragenen Kritik ein Mindestmaß an ernsthafter Auseinandersetzung mit dem kritisierten Gegenstand vorausginge. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, was Benedikt XVI. im Vorwort zum ersten Band seines Buches Jesus von Nazareth schreibt: „Es steht […] jedermann frei, mir zu widersprechen. Ich bitte […] nur um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt.“

Umso bedauerlicher, dass dieser „Vorschuss an Sympathie“ dem Papst zum Teil sogar innerhalb seiner eigenen Kirche verweigert wird. Wann immer der Papst oder die katholische Kirche zeitweilig im Fokus der Medien stehen, melden sich auch Vertreter einer Art innerkirchlicher „Oppositionsbewegung“ mit dem etwas anmaßend wirkenden Namen Wir sind Kirche zu Wort und mahnen Reformen an. Für die Medien sind solche „Dissidenten“ in den Reihen der katholischen Kirche begreiflicherweise ein gefundenes Fressen, zumal sie mit ihren liberalen Positionen zu Themen wie Zölibat und Frauenpriestertum, Ehescheidung und Homosexualität, Empfängnisverhütung und Abtreibung und mit ihren Forderungen nach mehr Ökumene und nach einer „Demokratisierung“ der Kirche ganz auf der Linie jener externen Kritiker liegen, die meinen, die katholische Kirche müsse „zeitgemäßer“ werden, „im 21. Jahrhundert ankommen“. Kein Wunder also, dass Vertreter von Wir sind Kirche gern und oft interviewt werden; und das Ergebnis sind Schlagzeilen à la „Papst enttäuscht viele Gläubige“.

Wie viele das nun wirklich sind, bleibt allerdings eine unbekannte Größe – gerade im Verhältnis zu den Hunderttausenden, die in Berlin, Erfurt, Etzelsbach und Freiburg mit dem Papst die Heilige Messe gefeiert, mit ihnen gebetet und mit ihm ihren Glauben bekannt haben. Laut Medienberichten waren dies:

  • bei der Messe im Berliner Olympiastadion (23.09.): rd. 60 000 Teilnehmer;
  • bei der Marianischen Vesper in Etzelsbach (24.09.): rd. 90 000 Teilnehmer;
  • bei der Messe auf dem Domplatz in Erfurt (25.09.): rd. 30 000 Teilnehmer;
  • bei der Gebetsvigil in Freiburg (25.09.): rd. 30 000 Teilnehmer;
  • bei der Messe auf dem Flughafengelände in Freiburg (26.09.): rd. 90 000 Teilnehmer.

In der Summe macht das also ca. 300 000 Personen, das beläuft sich auf rund 1,2% aller Katholiken in Deutschland – und das innerhalb von nur vier Tagen und trotz des Umstands, dass der Papst diejenigen Gegenden Deutschlands, in denen die meisten Katholiken leben, gar nicht besucht hat. Möglicherweise haben die Botschaften Benedikts XVI. also doch mehr Gehör gefunden, als das überwiegend von Kritik geprägte mediale Echo glauben machen will.

Oder geht es vielleicht gar nicht um Botschaften? Hat am Ende Peter Wensierski vom SPIEGEL Recht, wenn er die Anziehungskraft der genannten Veranstaltungen lediglich auf „stimmungsvolle Bilder“ zurückführt? – Ohne diese Frage eindeutig beantworten zu wollen oder zu können, möchte ich in diesem Zusammenhang doch betonen, dass Kirche nicht nur und nicht in erster Linie eine Organisation, ein „Apparat“ ist und dass ihre Botschaft nicht allein in theologischen Dogmen und ethischen Ge- und Verboten besteht; vor allem ist Kirche die Gemeinschaft der Gläubigen, und wenn der Besuch des Papstes hunderttausende Menschen dazu bewegt, zusammenzukommen, um gemeinsam ihren Glauben zu bekennen, gemeinsam zu Gott zu beten und gemeinsam die Eucharistie – Leib und Blut Jesu Christi – zu empfangen, dann ist das ohne Zweifel ein starkes Signal. Darum greift die nicht nur von Peter Wensierski geäußerte Einschätzung, „so“ sei die Krise der katholischen Kirche nicht zu überwinden, zu kurz. Sie wäre zu ergänzen durch die Feststellung, dass der Weg aus der Krise auch nicht allein durch äußerliche Reformen zu finden ist. Kirche als Organisation, als „Apparat“, ist wie jede andere Institution stets mit Fehlern und Schwächen behaftet und bedarf daher immer wieder der Reform. Noch weit mehr bedarf die Kirche aber des lebendigen Glaubens ihrer Mitglieder, und für diesen haben die Gläubigen, die in Berlin, Erfurt, Etzelsbach und Freiburg mit dem Papst gefeiert haben, ein starkes Zeugnis abgelegt.

Dienstag, 27. September 2011

Piratenbrief

Den unerwartet triumphalen Wahlsieg der Piratenpartei bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus habe ich mit sehr gemischten Gefühlen beobachtet. Einerseits finde ich diese Erweiterung des Parteienspektrums sehr interessant und kann mich einer gewissen Sympathie für die "Piraten" nicht erwehren; andererseits habe ich gegen einige Punkte ihres Programms erhebliche Vorbehalte. Das betrifft vor allem das Thema Religionspolitik. Daher habe ich am 21.09. einem der frisch gewählten Berliner Abgeordneten der Piratenpartei, Pavel Mayer, den folgenden Brief geschrieben:


Lieber Pavel Mayer

(ich bin einfach mal so frei, Dich zu duzen, obwohl ich Dich bisher nur von Wahlplakaten, aus dem Kaperbrief und neuerdings auch aus der Tagespresse kenne),

als Erstes einmal herzliche Glückwünsche zum Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus. Als Zweites nun aber zu dem Grund dafür, dass ich von den 15 in dieses Parlament gewählten Piraten speziell Dich anschreibe: Der Grund dafür ist, dass Dein Bild eben jenes Plakat und den damit korrespondierenden Textblock im Kaperbrief 07/2011 ziert, das bzw. der mich davon abgehalten hat, die Piraten zu wählen. Vielleicht liege ich falsch, wenn ich in Dir den Autor des betreffenden Texts und/oder so etwas wie den „religionspolitischen Sprecher“ Deiner Partei vermute; in diesem Fall kannst Du getrost die in meinem Brief noch folgenden „Du“-Ansprachen in Gedanken durch ein allgemeines „Ihr“ ersetzen, aber ich finde es ganz angenehm, mir beim Schreiben einen konkreten Ansprechpartner vorzustellen.
Damit auch Du eine Vorstellung davon hast, wer Dich hier anspricht, ein paar Worte zu mir: Ich bin 35 Jahre alt, Doktorand im Fach Deutsche Literatur an der Humboldt-Uni und außerdem Katholik. Und damit komme ich dann auch schon zur Sache.

Unter der Überschrift „Religion privatisieren jetzt“ schreibst Du gleich im ersten Satz: „Religion ist Privatsache.“ Mal ganz abgesehen davon, dass ich es schon als rhetorisch ungeschickt, wenn nicht unredlich, empfinde, etwas, das in der Überschrift als Forderung aufgestellt wird, gleich darauf als Tatsache zu deklarieren, möchte ich die Gültigkeit dieses Satzes doch sehr bezweifeln. Ich würde im Gegenteil behaupten, dass Religion – im Unterschied etwa zu einem dehnbaren Begriff wie „Spiritualität“ – ihrem Wesen nach eine öffentliche Angelegenheit ist; nicht nur, weil Religionsgemeinschaften (die ja nicht umsonst Gemeinschaften heißen) eine Reihe wichtiger gesellschaftlicher Funktionen wahrnehmen, sondern auch und vor allem, weil die Ausübung von Religion zu einem wesentlichen Teil öffentlich stattfindet. In Deinem nächsten Satz schreibst Du ja sogar selbst: „Zur Religionsfreiheit gehört, dass der Mensch seine Religion frei wählen, verbreiten [!] und ungestört auch öffentlich ausüben kann.“ Soweit völlig einverstanden. Aber dann: „Ebenso gehört dazu, seine religiöse Überzeugung für sich behalten zu dürfen oder religiöse Weltanschauungen abzulehnen.“ Und das, lieber Pavel – entschuldige, wenn ich das so unverblümt sage – ist falsch. Genau das umfasst das Grundrecht auf Religionsfreiheit nicht. Auf die Frage nach dem Recht, „seine religiöse Überzeugung für sich zu behalten“ – einem Ansinnen, das, wie oben angedeutet, dem Charakter von Religion als Bekenntnis ja tendenziell zuwiderläuft, aber okay, das sollte nicht Angelegenheit des Staates sein – komme ich im Zusammenhang mit der staatlichen Erfassung der Religionszugehörigkeit noch zurück; erst einmal zum Punkt der Ablehnung religiöser Weltanschauungen (und da verstehe ich Dich so, dass Du die prinzipielle Ablehnung jeglicher religiösen Weltanschauungen meinst). Eine solche ist nun tatsächlich erst einmal „Privatsache“, und wenn sie sich öffentlich artikuliert, ist sie durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung geschützt - dem aber gerade durch das Grundrecht auf Religionsfreiheit Grenzen gesetzt sind. Dieses Recht dient nämlich, auch wenn „Religionsfreiheit“ doppelsinnig klingen mag, dem Schutz der Religion(en) und nicht dem Schutz vor Religion. Diesen an sich recht einfachen Sachverhalt scheint mir Dein Text, ob gewollt oder nicht, zu verschleiern, und für mich mutet das wie ein rhetorischer Trick an: vorgeblich im Namen der Religionsfreiheit zu argumentieren, sich aber in Wirklichkeit gegen sie zu stellen.

Ich fühle mich an diverse Diskussionen zum Thema „Trennung von Staat und Kirche“ erinnert, wie ich sie vor allem im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um den Religionsunterricht an Berliner Schulen durchlitten habe. Unter dem Begriff „Trennung von Staat und Kirche“ kann man sich ja ganz unterschiedliche Dinge vorstellen: Wie mir scheint, verstehen nicht religiös gebundene Menschen darunter in erster Linie einen Ausschluss kirchlicher Einflussnahme auf staatliche Belange, wohingegen sehr kirchlich gesonnene Menschen darunter umgekehrt den Ausschluss staatlicher Einflussnahme auf kirchliche Belange verstehen könnten, was die Kirchen in letzter Konsequenz zu souveränen „Staaten im Staate“ machen würde – meinst Du das, wenn Du schreibst „Die innige Umarmung durch den Staat schadet auch den betroffenen Kirchen“? Irgendwie bezweifle ich das... Beides gibt es in Deutschland nicht, was man je nach Standpunkt begrüßen oder bedauern kann; dass das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen auf der Basis von Verträgen geregelt ist, erscheint aber zumindest mir als ein fairer Kompromiss.
Ob man mit diesen Verträgen in allen Punkten einverstanden ist, ist natürlich eine andere Frage. Nehmen wir ruhig mal den Kirchensteuereinzug. Wieso ziehen die Finanzämter zusammen mit der Einkommenssteuer die Kirchensteuer für die evangelische und die katholische Kirche ein? Inwiefern sollten sie dafür zuständig sein? Die Frage, wie gesagt, ist durchaus berechtigt; aber die Aufregung darüber kann ich dann doch nicht so ganz verstehen. Natürlich könnte man von den Kirchen verlangen, dass sie ihre „Mitgliedsbeiträge“, wenn man so will, selbst einziehen. Aber wer hat durch die bestehende Regelung denn einen wirklichen Nachteil bzw. Schaden? Dass die Höhe der vom Einzelnen zu zahlenden Kirchensteuer sich nach derjenigen der Einkommenssteuer richtet, ist schließlich ohne Zweifel sehr „sozialverträglich“, und ich bezweifle, dass es den Kirchenmitgliedern lieber wäre, wenn sie zur Festsetzung ihres jeweiligen Kirchensteuerbetrags ihre Steuererklärung (oder ihren Steuerbescheid) bei der Kirche einreichen müssten. Wem dagegen die Kirchensteuer grundsätzlich nicht passt, dem steht ja - dank der Religionsfreiheit! - die Mitgliedschaft in einer breiten Auswahl nicht kirchensteuerpflichtigen Religionsgemeinschaften offen.
Was mich nun, wie angekündigt, zum Punkt der staatlichen Erfassung der Religionszugehörigkeit führt. Dieser Punkt ist ja vom Kirchensteuereinzug kaum zu trennen; ich zumindest bin staatlicherseits noch nie dazu aufgefordert worden, meine Religionszugehörigkeit anzugeben, außer eben in Steuerunterlagen. Und das betrifft ja „nur“ die Mitgleidschaft in der evangelischen oder der katholischen Kirche in ihrer Eigenschaft als Körperschaften des öffentlichen Rechts (sic!); ob man Atheist, Agnostiker, Jude, Muslim, Buddhist, Hindu oder naturreligiös ist, muss man meines Wissens nirgends angeben (ich lasse mich aber gern korrigieren, wenn ich mich irren sollte). Zudem garantiert ja gerade die Religionsfreiheit, dass niemandem aus seinem religiösen Bekenntnis Nachteile erwachsen dürfen; warum also sollte man seine Religionszugehörigkeit dem Staat verheimlichen wollen, wo doch, wie schon mehrfach betont, Religion ihrem Wesen nach Bekenntnis ist? - Zugegeben, religiöse Überzeugungen sind durchaus auch eine sehr persönliche Angelegenheit, und niemand sollte gezwungen sein, sie Jedermann auf die Nase zu binden, wenn er das schlicht nicht will. Aber, ich wiederhole mich: Einen solchen Zwang sehe ich in unserer Gesellschaft auch nirgends.
Dein Text im Kaperbrief gipfelt in der Feststellung, dass „60% der Berliner konfessionslos und nur 30% Christen sind“. – „Nur“ 30%? So arg wenig erscheint mir das gar nicht, und selbst wenn man unterstellt, dass darunter viele sein mögen, die über eine nominelle Mitgliedschaft hinaus wenig mit der Kirche „am Hut haben“ (wobei: Wofür zahlen die dann Kirchensteuer?), bleiben doch allemal zu viele Berliner übrig, als dass man sie einfach marginalisieren könnte. Nun frage ich mich: Von wem werden die in Berlin eigentlich politisch vertreten? Von SPD, Linken und Grünen bestimmt nicht, das haben die Kampagnen gegen das „ProReli“-Volksbegehren mehr als deutlich gezeigt. Wenn die Piraten es nun auch nicht tun, bliebe nur noch die CDU, aber wie heißt es doch so schön im Kaperbrief 07/2011: „Wir sind genauso Diebe und Räuber wie die aktuelle CDU christlich und die SPD sozial sind.“ Eben. (Freilich: Wenn man davon ausgeht, dass Religion Privatsache ist oder sein sollte, dann brauchen Christen als Christen natürlich auch keine politische Vertretung. Aber jetzt drehen wir uns im Kreis.)
Kurz und gut (oder eben nicht gut), es hat mich geärgert und ärgert mich weiterhin, dass die Piraten demselben stereotypen und in meinen Augen auch arg populistischen Antiklerikalismus huldigen wie Linke, Grüne und Teile der SPD (Wolfgang Thierse selbstverständlich ausgenommen) - und der, nebenbei bemerkt, in Deutschland eine lange und unselige Tradition hat. Und deswegen habe ich Euch nicht gewählt. Sondern die Grünen. Die sind zwar, wie gesagt, nicht weniger antiklerikal, aber von denen ist man ja nichts anderes gewöhnt.
Trotzdem viel Erfolg in der neuen Legislaturperiode wünscht

kingbear