„Torben P. geht wieder zur Schule“: Mit dieser vermutlich harmlosen Überschrift beginnt der Berlin-Teil der Berliner Zeitung vom Mittwoch, dem 28. September 2011. Die anderen Tageszeitungen der Hauptstadt bringen diese Nachricht ebenfalls, aber dort wird der junge Mann, um den es hier geht, in den Überschriften meist nicht bei seinem Namen genannt, sondern mit Epitheta wie „U-Bahn-Schläger“, in den unfeineren Gazetten gern auch „Hasstreter“, betitelt.
Da ich nicht davon ausgehen kann, dass der Fall des Torben P. auch außerhalb Berlins allgemein bekannt ist, hier eine kleine Zusammenfassung nach dem Motto „Was bisher geschah“:
In der Nacht von Karfreitag auf Karsamstag (ausgerechnet!) attackierte der 18-jährige Schüler Torben P. am Bahnsteig der U6 am Bahnhof Friedrichstraße einen 29-Jährigen, der am selben Bahnsteig wartete. Er trat dem Mann viermal gegen den Kopf und verletzte ihn damit lebensgefährlich; anschließend stellte er sich – offenbar selbst schockiert über diesen extremen Gewaltausbruch – der Polizei.
Besonders großes Aufsehen erregte dieser Fall dadurch, dass die Bilder der Überwachungskamera, die die Tat aufgezeichnet hatte, von der Polizei veröffentlicht wurden, sodass die ganze Brutalität des Verbrechens für jedermann sichtbar wurde. In einem von den örtlichen Medien intensiv beobachteten Gerichtsverfahren wurde Torben P. wegen versuchten Totschlags zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt; da die Verteidigung jedoch Revision beantragt hat, ist das Urteil noch nicht rechtskräftig, und Torben P. erhielt bis auf weiteres Haftverschonung – lediglich mit der Auflage, sich einmal wöchentlich bei der Polizei zu melden. Von einem Teil der Medien – allen voran der stramm konservativen Boulevardzeitung B.Z. – wurde diese Haftverschonung scharf kritisiert.
Als problematisch für den 18-Jährigen erwies sich nun aber die Frage des Schulbesuchs. Bis zur Tat hatte er die Bettina-von-Arnim-Schule in Reinickendorf besucht; böse Zungen könnten nun anmerken: „Das erklärt einiges.“ Zwar weiß ich nicht, ob die Bettina-von-Arnim-Schule „offiziell“ (was immer das heißen möchte) als „Problem“- oder „Brennpunktschule“ oder dergleichen geführt wird, und auch dass HipHop-Star Sido ein Absolvent dieser Schule ist, spricht ja nicht unbedingt gegen sie; aber ich komme beruflich viel mit Schulklassen verschiedenster Berliner Schulen in Kontakt, und die Arnim-Schüler gehören aus meiner Sicht entschieden zu den, na ja, sagen wir mal „verhaltensauffälligsten“. Einen zwar noch nicht rechtskräftig verurteilten, aber geständigen und zudem dank des großen Medienechos weithin bekannten Gewaltverbrecher wollte man aber, vielleicht gerade deswegen, an dieser Schule nicht dulden: Torben P. wurde vom Unterricht ausgeschlossen und erhielt Einzelunterricht außerhalb des Schulgebäudes.
Um diesem auf längere Sicht untragbaren Zustand abzuhelfen, hat die Berliner Justizverwaltung – wie jetzt bekannt wurde – schon seit Mitte Juli sondiert, ob man Torben P. an einer Schule in freier Trägerschaft unterbringen könnte. Die Schulstiftung der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, die insofern eigentlich „zuständig“ gewesen wäre, als Torben P. evangelischer Konfession ist, reagierte allerdings zurückhaltend: Erst einmal wolle man ein rechtskräftiges Urteil abwarten. Die Anfrage beim katholischen Erzbistum Berlin hatte mehr Erfolg, und so besucht der berüchtigte „U-Bahn-Schläger“ seit vergangenem Dienstag das katholische Liebfrauen-Gymnasium im Stadtteil Westend.
Dass diese Entscheidung des Erzbistums nicht nur auf Gegenliebe stößt, kann nicht überraschen. Ein Lehrer des Liebfrauen-Gymnasiums weigerte sich, Torben P. zu unterrichten; auch bei einigen Schülern und deren Eltern löst der neue Mitschüler Ängste aus.
Während die schon erwähnte B.Z. es offenbar als ihre Aufgabe ansieht, solche Ängste noch zu schüren – zum Beispiel, indem sie ihren Bericht über den Schulwechsel des jungen Delinquenten mit einem der berüchtigten Überwachungskamera-Bilder garniert –, bezieht die eher linksgerichtete Berliner Zeitung eine entschieden andere Position. Nicht nur ist der von Martin Klesmann gezeichnete Artikel „Torben P. geht wieder zur Schule“ von erkennbarem Wohlwollen gegenüber der Entscheidung des Erzbistums geprägt, den Straftäter am Liebfrauen-Gymnasium aufzunehmen und ihm so „einen Schritt zurück in ein normales Leben“ zu ermöglichen; links neben dem Artikel, in der Kolumne Stadtleben, erscheint unter der Überschrift „Mutige Entscheidung“ zudem ein Kommentar zum selben Thema, verfasst vom selben Autor. Und wie um den unglaublich scheinenden Umstand, dass die mit kirchen- und allgemein religionskritischen Äußerungen sonst nicht sparende Berliner Zeitung die katholische Kirche lobt, gezielt und unmissverständlich zu betonen, wird dem Kommentar der fettgedruckte Hinweis vorangestellt: „MARTIN KLESMANN lobt die katholische Kirche, die für den U-Bahn-Schläger einen Schulplatz hat.“ „Barmherziger, so muss man es sagen“, findet Klesmann die Haltung des Erzbistums im Vergleich zu derjenigen der evangelischen Schulstiftung, und der Kommentar schließt mit dem Fazit:
„Von der katholischen Kirche mag man halten, was man will.“ (Immerhin!) „Sie hat diesen Fall aber öffentlichkeitswirksam genutzt, um ihren Markenkern herauszustellen: Wer Reue zeigt, kann Vergebung erfahren.“
Man sieht: Ein vorbehaltloses Lob für die katholische Kirche wäre der Berliner Zeitung dann doch etwas zu viel des Guten gewesen. Aber auch wenn man bemängeln mag, dass der Begriff „Markenkern“ – aus dem die Vorstellung eines religiösen „Marktes“ mit konkurrierenden „Anbietern“ spricht – dem Selbstverständnis der katholischen Kirche kaum gerecht wird; auch wenn man Anstoß daran nehmen mag, dass in der Formulierung die Unterstellung mitschwingt, dem Erzbistum gehe es in dieser Sache hauptsächlich um PR; die Kernaussage von Klesmanns Fazit bleibt bemerkenswert genug: Mit der Aufnahme des „U-Bahn-Schlägers“ am Liebfrauen-Gymnasium praktiziert das Erzbistum Berlin in vorbildlicher Weise christliche Nächstenliebe.
Der zuständige Dezernatsleiter des Erzbistums, Hans-Peter Richter, stellt derweil klar: „Die Schwere der Tat soll durch die Aufnahme in die Liebfrauenschule nicht verharmlost werden“. Auch das ist zweifellos eine wichtige Feststellung. Torben P. hat sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht, für das der Rechtsstaat ihn bestrafen muss (und wird). Dass er sich freiwillig gestellt und vor Gericht glaubwürdig Reue gezeigt hat, mag sich strafmildernd auswirken, hebt aber seine Schuld nicht auf, weder juristisch noch moralisch. Dennoch bedeutet Reue aus christlicher, speziell katholischer Sicht weit mehr als im juristischen Kontext: Reue ist der erste Schritt zur Umkehr, einer zentralen Kategorie der Sünden- und Vergebungstheologie. „Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben, umzukehren“, heißt es im Lukasevangelium im Anschluss an das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,7). – Torben P. auf seinem Weg zur Umkehr ein Stück entgegenzukommen, ihn zu unterstützen und zu begleiten, das ist die Aufgabe, die die Leitung des Liebfrauen-Gymnasiums auf sich genommen hat. An seiner neuen Schule wird der junge Mann von einer Psychologin und einem Seelsorger betreut. Der letztere hat, wie die Berliner Zeitung berichtet, aus aktuellem Anlass eine Unterrichtsreihe zum Thema „Schuld, Reue und Vergebung“ erarbeitet.