Ich muss gestehen: Bei jeder meiner bisherigen Teilnahmen am
Marsch für das Leben habe ich auf Schritt und Tritt damit gerechnet, unter den Gegendemonstranten jemanden zu sehen, den ich kenne. Tatsächlich war das bisher nie der Fall; aber es
hätte sein
können. Seit meiner Studentenzeit habe ich so einige Freunde und Bekannte in linksautonomen Kreisen und verkehre zuweilen auch in einschlägigen Kneipen (
sofern ich dort nicht Hausverbot habe). Und auch wenn ich von denen, die lautstark gegen den
Marsch für das Leben protestieren, wie gesagt niemanden persönlich kenne, so bin ich doch überzeugt, dass viele von ihnen - vielleicht die meisten - durchaus keine schlechten oder bösen Menschen sind. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie sich für
Flüchtlinge oder für den Tierschutz oder für andere lobenswerte Zwecke engagieren; ich kann mir auch vorstellen, dass man mit ihnen prima kickern oder Domino spielen oder einfach bei ein paar Bieren nett über Fußball oder Filme oder Musik plaudern könnte. Umso mehr frage ich mich: Woher kommt bei diesen Leuten der blanke Hass gegen Menschen, die friedlich für die Würde des Menschen und das Recht auf Leben demonstrieren?
Die einfachste Antwort auf diese Frage wäre, dass viele der Protestierer gar nicht wissen, auf was für einer Veranstaltung sie sich befinden. Das ist umso wahrscheinlicher, als die Organisatoren des Protests gegen den
Marsch für das Leben massive Desinformation betreiben. Vor etwas über einer Woche war ich in einer der oben angesprochenen Kneipen, und dort lagen Flyer der Initiative
'Marsch für das Leben'? What the Fuck! aus. Also sah ich mir einen dieser Flyer mal etwas genauer an. Auf der Vorderseite wurde die Parole ausgegeben:
"Wir werden gemeinsam:
Anti-Feminismus sabotieren!
Für körperliche Selbstbestimmung demonstrieren!
Und christliche Fundamentalist_innen blockieren!"
Der Text auf der Rückseite des Flyers ist so lang, dass man schon einen langen Atem braucht, um ihn ganz zu lesen; ich habe es dennoch getan und werde noch verschiedentlich darauf zurückkommen. Aber gehen wir einstweilen mal beruhigt davon aus, dass den meisten Adressat_innen des Flyers die "Informationen" auf der Vorderseite vollauf genügen. Schließlich ist damit klargestellt, dass es sich bei den Teilnehmern des Marschs für das Leben um "christliche Fundamentalist_innen" handelt, die "Anti-Feminismus" propagieren und das Recht auf "körperliche Selbstbestimmung" beschneiden wollen. Der Aufruf "Kommt zur feministischen und antifaschistischen Demo!" legt obendrein nahe, dass diejenigen, gegen die der Protest sich richtet, gleichzeitig auch irgendwie Faschisten (pardon: Faschist_innen) sind. Und mehr braucht man ja eigentlich nicht zu wissen.
Schön wäre es natürlich, wenn man es trotzdem täte; deshalb war ich so frei, das Flyerregal der Kneipe mit ein paar Flyern für den Marsch für das Leben zu bestücken, die ich in unmittelbarer Nähe der Gegen-Flyer platzierte. Vive la difference!
Ich war nicht sonderlich überrascht, dass die von mir ausgelegten Flyer, als ich die Kneipe ein paar Tage später erneut besuchte, samt und sonders verschwunden waren; und ich gehe mal nicht davon aus, dass sie alle von interessierten Kneipengästen mitgenommen wurden. Aber immerhin habe ich für diese Aktion kein Hausverbot bekommen...
Unter den auf dem What the Fuck?-Flyer formulierten Vorwürfen ist derjenige, der Marsch für das Leben wende sich gegen das Recht auf körperliche Selbstbestimmung, sicher derjenige, der am ehesten geeignet ist, auch außerhalb linksextremistischer Kreise Zustimmung zu finden. Der Flyer deutet das Engagement gegen Abtreibung als unzulässige Bevormundung, ja Entmündigung "alle[r] Menschen, die schwanger werden können, dementsprechend vor allem [!] Frauen_Lesben_Trans*_Inter* (kurz: flti*)". (Man hätte natürlich auch sagen können, es seien vor allem Frauen, die schwanger werden können; aber das wäre wohl zu heteronormativ gewesen und hätte auch irgendwie banal geklungen.) Nun, jedenfalls argumentiert der Flyer, diesen flti* werde "das Recht" abgesprochen, "über ihr Leben und ihren Körper selbst zu bestimmen". -- Ja, wenn die betreffende flti*-Person tatsächlich nur über ihr Leben entscheiden würde! Nun ist es aber einer der wesentlichsten Rechtsgrundsätze, dass jedes Recht dort seine Grenze findet, wo seine Ausübung die Rechte Anderer verletzen würde. Und der oder die Andere ist in diesem Fall das ungeborene Kind. Für dieses geht es aber nicht nur um etwas so Diffuses wie "Selbstbestimmung", sondern um Leben und Tod.
Als exemplarisch für das Verkennen dieser Problematik kann man dieses am Rande des Marschs für das Leben gezeigte Transparent betrachten:
Die Aussage an sich ist natürlich richtig: Der Körper einer flti*-Person gehört weder dem Staat noch der Kirche. Was der Text des Transparents, ebenso wie diverse Sprechchöre - vom altgedienten "Mein Bauch gehört mir" bis hin zum etwas modern-trendigeren "my body, my choice" - jedoch verkennt oder bewusst ausblendet, ist der Umstand, dass bei einer Schwangerschaft noch ein anderer Körper involviert ist, nämlich der des ungeborenen Kindes. Und dieser Körper gehört zwar ebenfalls weder dem Staat noch der Kirche, ebensowenig gehört er aber seiner werdenden (bzw. nicht werden wollenden) Mutter.
Auf dem Flyer heißt es, die Teilnehmer am Marsch für das Leben "betrachten jeden Schwangerschaftsabbruch als 'vorgeburtliche Kindstötung'". Nun tut es mir zwar herzlich leid, so schroff sein zu müssen, aber: Das ist keine Frage der "Betrachtung", sondern eine schlichte Tatsache. Abtreibungsbefürworter versuchen dies gern wegzudiskutieren, indem sie behaupten, ein Embryo sei (noch) kein Mensch. Aber um zu erkennen, dass diese Behauptung schlichtweg falsch ist, muss man gar nicht unbedingt Christ sein - da reicht es schon aus, im Biologieunterricht ein bisschen aufgepasst zu haben.
(Nebenbei bemerkt: Auf
Twitter ging am Samstag ein
Foto vom
Marsch für das Leben herum, auf dem ausschließlich
Männer zu sehen waren - die bis auf wenige Ausnahmen durchweg bereits im vorgerückten Alter standen. An den Spötteleien darüber, dass "alte Männer gegen Abtreibung" zu demonstrieren die Frechheit besitzen,
beteiligte sich u.a. auch der religionspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Volker Beck. Man könnte nun darauf hinweisen, dass die Bildauswahl ausgesprochen manipulativ sei - ebensogut hätte man nämlich auch Fotos vom Marsch posten können, auf denen
ausschließlich oder
überwiegend Frauen im, ahem, "gebärfähigen Alter" zu sehen gewesen wären -; aber im Grunde würde diese Kritik zu kurz greifen, weilo sie implizit der Unterstellung Recht gäbe, Männern, noch dazu alten, stünde gar keine Stellungnahme zum Thema Abtreibung zu. Diese zweifellos verbreitete Auffassung geht aber bereits von ebenjenem falschen Verständnis von "körperlicher Selbstbestimmung" aus, demzufolge die Entscheidung über Leben und Tod eines ungeborenen Kindes allein und ausschließlich Sache der schwangeren Frau sei.)
Ein Lieblingsvorurteil von Abtreibungsbefürwortern ist es übrigens, dass es der Lebensschutzbewegung
ausschließlich um den Schutz des
ungeborenen Lebens gehe, während das bereits
geborene ihr "scheißegal" sei. Wie man beispielsweise in Diskussionen in sozialen Netzwerken immer wieder feststellen kann, gilt diese Unterstellung weithin als erwiesene Tatsache.
Kurt Tucholsky hat mal eine Glosse darüber geschrieben, und wer wollte es wagen zu behaupten, Tucholsky habe jemals Unrecht gehabt? Natürlich ist das eine reine Schutzbehauptung. Lebensschützer
müssen einfach schlechte Menschen sein, damit man eine Rechtfertigung dafür hat, sie so zu behandeln, wie man es tut. Bei der Gegenkundgebung gegen den
Marsch für das Leben am Brandenburger Tor wurden dementsprechend auch Plakate hochgehalten, die an die erschreckend hohe Zahl von Kindern mahnten, die weltweit tagtäglich an Hunger sterben. Was aber soll das den Lebensschützern sagen? Dass man die betreffenden Kinder lieber hätte abtreiben sollen?
Oder dass es moralisch fragwürdige sei, sich für eine Sache zu engagieren, während es gleichzeitig noch andere schlimme Dinge auf der Welt gibt?
Als ähnlich logikfrei empfand ich ein Schild, auf dem hervorgehoben wurde, dass jährlich 48.000 Frauen an illegal durchgeführten (auf dem Schild stand "illegalisierten") Abtreibungen sterben. Eigentlich eher ein Argument gegen Abtreibung, oder? -- Nicht wenn man von der Voraussetzung ausgeht, abgetrieben werden müsse nun mal, und wenn das legal nicht möglich sei, müsse man es eben illegal tun. Was natürlich gefährlicher für die Gesundheit der Frau ist. Ja, wir haben alle Dirty Dancing gesehen.
Insgesamt waren jene
Gegendemonstrant_innen, die zumindest den Versuch unternahmen, die Forderung nach einem "Recht auf Abtreibung" mit etwas Ähnlichem wie Argumenten zu untermauern, jedoch klar in der Minderheit. Die meisten beschränkten sich auf das Skandieren mehr oder minder hohler Phrasen, auf Pöbeleien und/oder tätliche Angriffe. Die Parolen und Sprechgesänge, die immer wieder zu hören waren, hatten zu einem großen Teil so wenig mit dem Anliegen des
Marschs für das Leben zu tun, dass man fast schon selbst ins Grübeln kam, auf was für einer Demo man eigentlich war. Was wiederum den eingangs angesprochenen Eindruck verfestigt, dass die Gegendemonstranten es auch nicht so genau wussten. Auf dem erwähnten Flyer war hervorgehoben worden, dass im letzten Jahr Beatrix von Storch von der AfD "in der ersten Reihe" mitmarschiert sei. Frau v. Storch war auch diesmal wieder mit von der Partie -
ich habe sie gesehen, und ihre Teilnahme wurde auch auf der einleitenden Kundgebung lobend erwähnt, immerhin ist sie neuerdings Abgeordnete im Europäischen Parlament, ob einem das gefällt oder nicht. Für einen Teil der Gegendemonstranten - darunter Vertreter des Landesverbands der
Linken, die ein entsprechendes Transparent mitgebracht hatten - war Frau v. Storchs Teilnahme Grund genug, den Marsch für das Leben für eine AfD-Veranstaltung zu halten. Am Brandenburger Tor hörte man den irgendwie an Haribo-Werbung erinnernden Slogan "AfD tut Frauen weh"; darauf folgte übrigens der Vers "Lebensschützer in die Spree". das nur mal als Beispiel zum Thema Gewaltbereitschaft.
Daneben hatte man den Gegendemonstranten bekanntlich "christliche Fundamentalist_innen" versprochen, worunter sie sich offenbar fanatisch humorlose und vor allem sexuell schwer verklemmte Griesgrame vorstellten. Hätten sie sich die bunt gemischte und trotz des ernsten Anlasses doch vielfach fröhliche Truppe, die den Marsch für das Leben bildete, ein wenig genauer angesehen, wären ihnen vielleicht Zweifel gekommen, ob das so stimmen kann; dann hätte ihnen auch dämmern können, dass es ein bisschen albern und reichlich sinnlos war, die Demonstranten mit Kondomen und (teilweise mit roter Farbe getränkten) Tampons zu bewerfen, Dildos in die Luft zu recken und mit (bis auf einen Streifen Paketklebeband über den Brustwarzen) nacktem Oberkörper in die Reihen der Demonstranten einzubrechen. Ach ja, "homophob" haben "christliche Fundamentalist_innen" selbstverständlich auch zu sein, weshalb zwei Männer es offenbar für eine besonders gelungene Provokation hielten, sich inmitten des Demonstrationszuges betont leidenschaftlich zu küssen.
Insgesamt hatte man vielfach den Eindruck, die Störer seien überzeugt, eine Koalition katholischer und evangelikaler Finsterlinge vor sich zu haben, die für die Errichtung eines Gottesstaats kämpft, in dem Sex außerhalb der Ehe durch öffentliches Auspeitschen bestraft wird. Aber auch das haben sie sich natürlich nicht selbst ausgedacht, sondern es steht so auf dem Flyer:
"Die meisten der Abtreibungs-Gegner_innen sind christliche Fundamentalist_innen. Sie kämpfen für eine Gesellschaft, die auf der bürgerlichen Kleinfamilie, Zweigeschlechtlichkeit, Trans*feindlichkeit, einer strengen Sexualmoral, Verbot von Homosexualität und auf 'Schicksals'- und Obrigkeitsergebenheit beruht."
Da ist es kaum mehr verwunderlich, dass ein extremer Christenhass das wohl auffälligste Charakteristikum der Störaktionen gegen den
Marsch für das Leben war - ein Christenhass, der teilweise noch notdürftig mit dem Thema Abtreibung verknüpft wurde (etwa durch den altbekannten "Hätte Maria abgetrieben..."-Sprechchor oder Plakate mit Aufschriften wie "Gott abtreiben!"), teilweise aber auch überhaupt keinen Bezug zum Anliegen des
Marschs für das Leben erkennen ließ. Wie ich von meinem Bloggerkollegen Josef Bordat erfahren habe, ging das so weit, dass sogar versucht wurde, den unter freiem Himmel im Lustgarten abgehaltenen Abschlussgottesdienst zu stören (an dem ich nicht teilnahm, da ich noch eine Verabredung hatte und der Marsch schon deutlich länger gedauert hatte als geplant). -- So betrüblich und bedenklich es ist, in welchem Maße und mit welchen Mitteln das Anliegen des Lebensschutzes in der Öffentlichkeit diffamiert und verächtlich gemacht wird: Dass Christen
wegen ihres Glaubens beschimpft und tätlich angegriffen werden; dass mitten in der deutschen Hauptstadt ein Gottesdienst nur unter massivem Polizeischutz stattfinden kann; das hat dann doch noch eine ganz eigene Qualität.
Josef Bordat hat sich in einem Blogbeitrag bereits gestern Abend einlässlich dazu geäußert. Was mir aber überhaupt nicht in den Kopf will, ist, dass die Störer mit ihren unfassbar dummen Parolen, ihrem hasserfüllten und aggressiven Auftreten sich den Christen, denen ihre Attacken gelten, allen Ernstes geistig und moralisch überlegen wähnen und z.T. ausdrücklich für sich in Anspruch nehmen, die Sache der
Aufklärung zu vertreten. Am Brandenburger Tor sah ich Fahnen mit der Aufschrift "Mehr Vernunft jetzt!".
Darauf hätte ich gern geantwortet: Ja, das wünsche ich mir auch.
P.S.:
Ein paar Tage vor dem Marsch für das Leben teilte mir eine Arbeitskollegin, 25 Jahre jung, freudestrahlend mit, sie sei schwanger. Das Kind war sicherlich nicht "geplant", und nach den üblichen "weltlichen" Kriterien müsste man wohl sogar sagen, dass es ziemlich "ungelegen kommt" - unter anderem deshalb, weil der Kindsvater, mit dem sie erst seit relativ kurzer Zeit liiert ist, noch studiert und eigentlich vollauf damit beschäftigt ist, auf seinen Abschluss hinzuarbeiten. Somit war ich nicht gerade überrascht, als die werdende Mutter mir schmunzelnd erzählte, ihr Freund sei "ein bisschen blass um die Nase" geworden, als er erfahren habe, dass er Vater wird. Den Schreck hat er aber offenbar schnell überwunden und hat sich mit großer Entschlossenheit daran gemacht, sich auf seine Vaterrolle vorzubereiten. Er kümmert sich liebevoll um seine Freundin, begleitet sie zu ihren Arztterminen und schmiedet eifrig Pläne für eine Zukunft mit Frau und Kind. Für beide Eltern scheint es, allen äußeren Umständen zum Trotz, zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Frage gestanden zu haben, ob sie das Kind wollen. Und die werdende Mutter sagt, schon jetzt - in der neunten Schwangerschaftswoche - könne sie eindeutig und unverkennbar spüren, dass da ein kleiner Mensch in ihr heranwachse.
Wenn das jetzt mal kein positiver Abschluss ist.