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Dienstag, 24. Januar 2017

Gideon und Bernadette gehen nicht zur Kinderkatechese

Regelmäßige Leser meines Blogs werden wissen, dass ich erst seit relativ kurzer Zeit verheiratet bin. Insofern ist es wohl nicht sonderlich überraschend, dass ich bislang noch keine Kinder habe. Gleichzeitig und andererseits gewinnt aber jetzt, da ich verheiratet bin, der Gedanke daran, in absehbarer Zeit eben doch Kinder haben zu werden, durchaus an Relevanz. Folgerichtig hatten meine Liebste und ich schon so manch eine nächtliche Diskussion über Kindernamen. Relativ leicht konnten wir uns auf Bernadette (Rufname "Benny") einigen; für ein eventuelles zweites Mädchen steht Cecilia hoch im Kurs. Schwieriger war's bei Jungennamen. Vorschläge meiner Liebsten wie David und Johannes fand ich zwar nicht direkt schlecht, aber ein bisschen zu... wie sag ich's... normal. Für Roderich oder Abälard wiederum konnte meine Frau sich nicht so recht erwärmen, und wie meine weiteren Vorschläge aussahen, kann man wohl am ehesten daran ermessen, dass meine Liebste, als ich schließlich mit Gideon kam, geradezu erleichtert aufseufzte. 

Schön und nicht unwichtig ist natürlich, dass man Bernadette und Gideon von klein auf sehr schön mit spannenden Geschichten über ihre jeweiligen Namenspatrone füttern kann. Das allein wird zwar wohl nicht unbedingt ausreichen, um die Kinder an den christlichen Glauben heranzuführen, ist aber immerhin schon mal ein Ansatz. Irgendwann werden die Kinder dann allerdings so groß, dass von ihnen - beziehungsweise von uns als Eltern - geradezu erwartet wird, dass sie an den in so ziemlich jeder handelsüblichen Pfarrei fest etablierten Angeboten zur Kinderkatechese teilnehmen. Und da fangen dann die Probleme an. 

Symbolbild. 

-- Inwiefern Probleme? Man könnte denken, solange ich selbst keine Kinder im kinderkatechetisch relevanten Alter habe, könnte ich gar nicht beurteilen, wie gut oder wie schlecht die entsprechenden Angebote der Pfarreien sind. Aber, nun ja: Einerseits kenne ich Eltern, die ihre Kinder zur Kirche mitnehmen und dort mehr oder weniger genötigt werden, diese bei der Kinderkatechese "abzugeben" (oder auch, horribile dictu, selbst dorthin mitzugehen); und andererseits, man höre und staune, war ich selbst mal ein Kind. Und auch wenn es oft den Anschein hat, dass viele Erwachsene - und zwar besonders solche, die beruflich oder ehrenamtlich "irgendwas mit Kindern" machen - gründlich vergessen haben, wie es war, selbst ein Kind zu sein: Ich erinnere mich noch recht gut daran. Doch dazu später; zunächst einmal möchte ich festhalten: Selbst wenn ich tatsächlich keine Ahnung hätte, was bei der Kinderkatechese so abläuft, hätte ich, unabhängig von der Qualität des jeweiligen Angebots, grundsätzliche Einwände dagegen, Kinder dort hinzuschicken. Jedenfalls sofern die Kinderkatechese parallel zur Sonntagsmesse stattfindet und die Kinder, um daran teilzunehmen, aus dem Gottesdienst 'rausgeholt werden müssen. Kinderkatechese als zusätzliches Angebot außerhalb der Gottesdienstzeiten ist ein anderes Thema und müsste tatsächlich differenziert beurteilt werden; dazu, wie gesagt, später. 



Was also wäre grundsätzlich zu dem Konzept zu sagen, Kinder aus dem Gottesdienst 'rauszuholen, um ihnen ein Alternativprogramm zur Feier der Heiligen Messe angedeihen zu lassen? Ich denke, die Angelegenheit hat zwei Aspekte, die allerdings eng miteinander zusammenhängen. Der erste: Es mag überraschend klingen, aber Kinder werden irgendwann mal erwachsen. Wann genau möchte man damit anfangen, sie an eine erwachsene Glaubenspraxis "heranzuführen", wie es so schön heißt? In der Firmvorbereitung? -- Tolle Idee. Ist ja nicht so, als hätten Teenager mit den hormonellen Wirrungen der Pubertät nicht schon genug zu tun [*], als dass sie sich plötzlich für etwas interessieren oder gar begeistern sollten, wovon man ihnen zuvor jahrelang vermittelt hat, es sei ihnen nicht zuzumuten, weil zu schwierig und/oder langweilig. Vielleicht sollte es mal jemandem zu denken geben, dass so viele Jugendliche nach der Firmung auf Nimmerwiedersehen aus der Kirche verschwinden. Gut, einige Jahre vor der Firmvorbereitung gibt es schon die Erstkommunionvorbereitung; aber ich möchte mal behaupten: Auch die funktioniert besser, wenn die Kinder schon vorher Gelegenheit hatten, Erfahrungen damit zu sammeln, wie Kirche geht. Kinder, besonders kleine Kinder, lernen bekanntlich besonders viel und besonders leicht durch die Nachahmung Erwachsener, vor allem ihrer Eltern. Inwiefern sollte es also der religiösen Erziehung von Kindern förderlich sein, wenn man sie effektiv daran hindert, mitzuerleben, wie ihre Eltern ihren Glauben praktizieren? 

Der zweite Aspekt betrifft die erwachsenen Gottesdienstbesucher. Wenn man sich anschaut, wie manche Pfarreien für ihre Kinderbetreuungs-Angebote während der Messe werben, hat man den Eindruck, es gehe nicht zuletzt darum, dass die Erwachsenen ungestört die Messe feiern können. Ungestört. Das heißt, die Anwesenheit von Kindern wird als störend aufgefasst. Aber wie eine Facebook-Freundin und Mutter von vier Kindern unlängst in diesem Zusammenhang schrieb: 
"Wir sind katholisch. Wir verheiraten Leute und erwarten, dass sie Sex mit der Möglichkeit auf Kinder haben. Wir sollten also mit Kindern rechnen." 
Nebenbei bemerkt ist es auch nicht unbedingt die primäre Aufgabe der Kirche, für die Bequemlichkeit der Gottesdienstbesucher zu sorgen. Wer meint, man müsse die Kirchgänger vor Störungen durch eventuell unruhige Kinder bewahren, der kommt als nächstes vielleicht auf die Idee, man müsse auch Störungen durch möglicherweise unbequeme Lehren vermeiden. 

Oh. 

Dafür, dass Kinder zuweilen als störend empfunden werden, gibt es übrigens eine bemerkenswerte biblische Referenz: eine Evangelienstelle, in der einige Leute ihre Kinder zu Jesus bringen wollen, damit Er ihnen die Hände auflegt und sie segnet. "Die Jünger aber wiesen die Leute schroff ab." Ich denke, wir erinnern uns, wie Jesus darauf reagiert. Die Perikope ist eigentlich recht bekannt, man findet sie bei Matthäus in Kapitel 19. Und bei Markus in Kapitel 10. Und bei Lukas in Kapitel 18

Mir ist bewusst, dass Befürworter einer separaten Kinderbeutreuung während des Gottesdienstes der Meinung sein werden, diese Praxis stehe nicht im Widerspruch zu der Forderung Jesu "Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht", sondern sei im Gegenteil gerade eine besonders empfehlenswerte, weil altersgerechte Art, diese Forderung zu erfüllen. Folglich wird es an dieser Stelle nun doch wichtig, sich einmal anzusehen, wie diese Form der Kinderkatechese in der Praxis gestaltet wird. Erteilen wir nochmals der schon erwähnten vierfachen Mutter das Wort, die auf nahezu ein Jahrzehnt praktischer Erfahrung in diesem Bereich zurückblicken kann: 
"Solange ihr nicht auf dem Fußboden sitzt und mit drei stumpfen Bleistiften ein Bild zur Geschichte von den Weihnachtsmäusen malen sollt, während euer Kleinkind wegen 'zu warm' und 'zu laut' Alarm schlägt... ihr habt noch Glück gehabt. [...] Vom pastoralen Standpunkt her ist es eine Katastrophe: Man scheucht die Eltern immer mit raus, mit etwas Pech hört der erwachsene und gefirmte Gläubige, solange auch nur ein Kind noch nicht zur Erstkommunion war, dauerhaft keine Predigt, sondern hört anderen Eltern zu, wie sie Märchen vorlesen, in denen jemand erzählt, wie er mal Jesus zugehört hat, und bastelt allerlei Zeugs, das danach die Wohnung zukrempelt." 
Da die Ergebnisse der Kinderkatechese ja nicht selten gegen Ende der Messe stolz der Gemeinde präsentiert werden, habe ich von derartigen Bastelarbeiten auch schon so Einiges zu sehen bekommen; und abgesehen davon war ich, wie schon erwähnt, ja auch selbst mal ein Kind, und damals lief es schon genauso. Und wenn meine zukünftigen Kinder - was wohl nicht ganz unwahrscheinlich ist - mir in Charakter und Temperament ein bisschen ähneln werden, werden sie sehr viel lieber in einer Messe "für Erwachsene" sitzen, wo die Predigt und die liturgischen Texte "zu hoch für sie" sind, als sich einer so banalen Beschäftigungstherapie zu unterwerfen. Man kann auch das Auffassungsvermögen und die Konzentrationsspanne von Kindern nicht schulen, wenn man die Kinder nicht gelegentlich mal überfordert. Und was sie nicht verstehen, kann man ihnen hinterher erklären. Was mich wieder auf das Thema "Kinderkatechese als zusätzliches Angebot außerhalb der Gottesdienstzeiten" bringt: Die kann eine sehr gute Sache sein, besonders dann, wenn sie sich inhaltlich darauf bezieht, was in der Messe geschieht und was die Kinder ohne Anleitung nicht verstehen können. Das kann von mir aus gern auch schon früher beginnen als ein halbes Jahr vor der Erstkommunion. Ich denke, Eltern, denen die religiöse Erziehung ihrer Kinder am Herzen liegt, ist es durchaus zuzutrauen, so etwas in Eigenregie auf die Beine zu stellen; wenn die Pfarrei dafür einen Raum zur Verfügung stellt und die Termine in den Gemeindebrief setzt: umso besser. 

Der Vollständigkeit halber seien nun aber auch noch ein paar Sätze zu den Kinder- bzw. "Familiengottesdiensten" gesagt, die es in vielen Pfarrgemeinden ungefähr einmal im Monat gibt: Gottesdienste, bei denen die Kinder nicht während des Wortgottesdienstes 'rausgeschickt werden, sondern umgekehrt der Wortgottesdienst für die ganze Gemeinde, ungeachtet ihrer Altersstruktur, "kindgerecht gestaltet" wird. Das beginnt in der Regel mit der Liedauswahl und gipfelt nicht selten darin, dass die Predigt teilweise oder ganz durch einen Sketch, ein Quiz oder ein Spiel ersetzt wird. Nach allem bisher Gesagten kann ich kaum umhin, anzuerkennen, dass solche Kindergottesdienste im direkten Vergleich zur Verbannung der Kinder aus dem Kirchenraum mehrere Vorzüge haben; man würde sich allerdings zuweilen wünschen, dass "kindgerechte Gestaltung" nicht gar so selbstverständlich mit "maximaler Banalisierung" gleichgesetzt würde, aber meine Güte, ich bin vielleicht auch ein bisschen arg anspruchsvoll. 

(Dass ich bei so manchem Ringelpiez, der in Pfarrgemeinden veranstaltet wird, mittlerweile der Meinung bin, dieser könne und dürfe im Gemeindeleben durchaus seinen Platz haben, nur nicht gerade in der Sonntagsmesse, wäre noch mal ein Thema für sich. Dazu bei Gelegenheit.) 

Aber es geht, wie ich jüngst dem Pfarrbrief meiner Heimatpfarrei St. Willehad in Nordenham entnehmen konnte, auch noch bekloppter. -- Es tut mir ja schon beinahe leid, dass ich ständig St. Willehad als Paradebeispiel dafür heranziehe, was in der dahinsiechenden "Volkskirche" so alles falsch läuft. Ich meine das auch gar nicht persönlich. Aber es ist einfach so illustrativ. -- Im besagten Pfarrbrief heißt es: 
"Wie bekannt, feiern wir jeden 1. Sonntag im Monat Familiengottesdienst. Der Seelsorgerat hat sich überlegt, parallel eine Kinderbetreuung anzubieten. Der erste Teil des Gottesdienstes ist kindgerecht gestaltet, nach dem Wortgottesdienst gehen die Kinder mit zwei Betreuern/innen in die Bücherei. Zum Segen kehren die Kinder zurück in den Gottesdienst." 
Worst of both Worlds, kann man da im Grunde nur sagen. Dort, wo eine separate Kinderbetreuung während des Wortgottesdienstes angeboten wird, sind die Kinder üblicherweise zur Gabenbereitung wieder zurück in der Kirche. Das klappt nicht immer, ist aber eigentlich so vorgesehen. Im neuen Nordenhamer Modell hingegen wird erst der Wortgottesdienst für die ganze Gemeinde verhunzt, und dann, wenn der wichtigste Teil der Messe beginnt - der Teil, für den ein gläubiger Katholik in erster Linie überhaupt sonntags in die Kirche kommt: das heilige Opfer der Eucharistie, in dem sich, wie es in Sacrosanctum Concilium, der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils, heißt, "das Werk unserer Erlösung" vollzieht --, schickt man die Kinder raus. -- Ich kann mir schon vorstellen, wie die Begründung für ein solches Vorgehen lautet: "Solange die Kinder keine Erstkommunionvorbereitung hatten, können sie damit doch sowieso nichts anfangen." Mal im Ernst, liebe Freunde: Wer so argumentiert, setzt sich massiv dem Verdacht aus, selbst nicht begriffen zu haben, worum es bei der Eucharistie geht. 

Eins kann ich euch jedenfalls flüstern: Gideon und Bernadette machen bei sowas nicht mit. Forget about it



[*] Meine Liebste, ihres Zeichens Biologielehrerin, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass ironischerweise gerade die Fähigkeit, sich für Dinge zu interessieren oder zu begeistern, durch die hormonellen Veränderungen in der Pubertät stark beeinträchtigt wird.


Montag, 23. Januar 2017

Zeit für einen geistlichen Klimawandel! (Teil 1)

Zum Abschluss des ersten Abends der MEHR-Konferenz ging der Reißverschluss an meiner Winterjacke kaputt. Das war natürlich ärgerlich: In Augsburg war es bitterkalt - nachts bis zu minus 20 Grad -, und überhaupt, der Winter fing ja gerade erst an, und ich bin nicht der Typ, der sich sowieso jedes Jahr eine neue Jacke kauft. Am nächsten Morgen, als ich mir auf dem Weg vom Parkplatz zum Eingang der Messehallen angestrengt mit beiden Händen die Jacke vor der Brust zusammenhielt, fiel mir jedoch plötzlich etwas auf: 

Ich war so fokussiert auf meinen Ärger über den kaputten Reißverschluss gewesen, dass ich völlig VERGESSEN hatte, dass meine Jacke auch KNÖPFE hat. Und dass ich den Reißverschluss folglich gar nicht unbedingt brauchte. 

Ich hatte, auch wenn das vielleicht albern klingt, gleich das Gefühl, diese Erkenntnis habe auch eine geistliche Dimension; genau auf den Punkt bringen konnte ich zunächst nicht, worin diese bestand, hatte aber die undeutliche Ahnung, es gebe da einen gewissen Zusammenhang zu Johannes Hartls Eröffnungsvortrag ("Heilige Faszination") am Abend zuvor. Darum habe ich mir diesen Vortrag inzwischen auf YouTube noch einmal angehört

Der gut 40 Minuten lange Vortrag enthält eine Menge interessanter Aspekte; wollte ich auf alle eingehen, könnte ich gleich den ganzen Vortrag nacherzählen, und ich denke, das kann ich mir getrost sparen. Hier und jetzt möchte ich einen Aspekt herausgreifen, der ziemlich gegen Ende zur Sprache kam. "Du entscheidest, worauf du dich fokussierst", betonte Johannes Hartl da und paraphrasierte die Verhaltensforscherin Winifred Gallagher mit der Aussage: "Wer du bist, was du denkst, fühlst, tust und was du liebst, ist das Ergebnis davon, worauf du dich fokussierst." 

Ich denke, diese Feststellung lässt sich auch auf die Wahrnehmung der MEHR-Konferenz selbst anwenden.

Ich bin in den letzten Tagen mit allerlei kritischen Anmerkungen zu dieser Veranstaltung konfrontiert worden, auf die im Einzelnen einzugehen jedoch nicht der Schwerpunkt dieses Beitrags sein soll; stattdessen verweise ich lieber auf einige kurze und präzise Stellungnahmen bei Cathman sowie auf ein Interview mit dem Bischof von Gnadensuhl, Dr. Bernhard Oesterhagen, auf kath.net. Das Schöne an der Blogoezese ist ja gerade, dass man nicht alles selber machen muss. Aus meiner persönlichen Sicht nur soviel: Zum Teil würde ich sagen, die Kritik an der MEHR wäre berechtigt, wenn das, was da behauptet wird, tatsächlich zuträfe. Diese Aussage mag trivial klingen, scheint aber dennoch notwendig zu sein. Zu einem anderen Teil würde ich sagen: Selbst da, wo die Kritik zutrifft, krankt sie daran, sich so sehr auf bestimmte Einzelaspekte zu fokussieren, dass dabei das Wesentliche und Wertvolle an dieser viertägigen Konferenz gar nicht in den Blick kommt. -- Nämlich was? Nicht mehr und nicht weniger, als dass es sich um einen starken und hoffnungsvollen geistlichen Aufbruch handelt. Wenn Kritiker, denen die Euphorie derer, die die MEHR miterlebt haben, fragwürdig oder zumindest übertrieben erscheint, darauf verweisen, geistliche Aufbrüche gebe es auch woanders, kann man im Grunde nur erwidern: Gut so! Wäre ja auch traurig, wenn es nicht so wäre. Aber deswegen muss man diesen hier ja nicht klein- oder schlechtreden. Wir in der so genannten "westlichen Welt" haben geistliche Aufbrüche derart dringend nötig, dass wir es uns schlicht nicht leisten können, über einen davon - noch dazu einen, der zehntausend Leute erreicht, ja ergriffen hat - die Nase zu rümpfen, weil er uns zu "charismatisch" ausgerichtet ist oder weil uns die Musik und die Lightshows nicht gefallen oder weil da die falschen Leute in den falschen Hosen das Wort führen. 

Ich will überhaupt nicht leugnen, dass man bei so Manchem, was man am Rande der MEHR-Konferenz beobachten konnte, den Eindruck gewinnen konnte, es mit einigermaßen unausgegorenen Phänomenen zu tun zu haben. Nun wohl: Was unausgegoren ist, das muss noch reifen. Keine Bange: Das wird es. Das Potential dazu ist reichlich vorhanden. 

Was will ich damit sagen? - Zum Beispiel: Oberflächliche Beobachter konnten den Eindruck bekommen, die Ästhetik der ganzen Veranstaltung sei einseitig auf Emotionalisierung und Ausschaltung des kritischen Verstandes berechnet gewesen. Das wäre jedoch - auch wenn die Atmosphäre im Auditorium tatsächlich oft sehr emotionsgeladen war - ein unvollständiger Eindruck. MEHR-Hauptredner Johannes Hartl warnte in einem seiner Vorträge sogar ausdrücklich: "Es geht im geistlichen Leben nicht immer nur ums Spüren. Das Spüren ist manchmal auch nur Selbstbespiegelung." Als jemand, dessen "Weg zurück zum Glauben", pathetisch ausgedrückt, mit Büchern von Joseph Ratzinger bzw. Benedikt XVI. gepflastert war und dem ein rationaler Zugang zum Glauben somit durchaus wichtig ist, kann ich sagen: Futter für den Verstand gab es während dieser vier Tage nicht zu knapp. Gerade bei Hartl, der in seine Vorträge auch schon mal Sätze einflocht wie "Ihr seid ja hier, um was zu lernen" oder "Ich hab's schon angekündigt, ihr müsst ein bisschen denken jetzt". - Ein mir bekannter freievangelischer Pastor, den ich früher schon einmal erwähnt habe, sagte mir, er schätze den katholischen Theologen Hartl besonders für die Klarheit seiner Verkündigung, und das sei etwas, was er bei vielen anderen christlichen Konferenzrednern (auch seiner eigenen Konfession) oftmals vermisse. Dass man diese Klarheit auch und erst recht in Predigten im Gottesdienst allzu selten antrifft, brauche ich wohl kaum zu betonen. Johannes Hartl selbst formulierte es so: "Wir haben zu wenige Menschen, die sich trauen, die Wahrheit Gottes auszusprechen, aus Angst, anzuecken. Und das Evangelium verliert seine Kraft dadurch." Zu dieser Wahrheit, so Hartl, gehöre es auch, dass der (gerade im von Papst Franziskus ausgerufenen Heiligen Jahr zuweilen etwas überstrapazierte) Begriff der Barmherzigkeit nicht etwa in Konkurrenz oder in Widerspruch zu einer klaren Verkündigung stehe: "Es gibt keinen Unterschied zwischen Barmherzigkeit und Wahrheit, denn die Wahrheit ist das einzige, was Menschen frei macht. Es macht Menschen nicht frei, wenn du sie anlügst aus lauter Nettigkeit." 

Hartl machte es seinen Zuhörern also nicht unbedingt immer leicht; auch dadurch, dass er, wenn er über Missstände in der Gesellschaft sprach, diese stets darauf zurückführte, was im Leben des Einzelnen nicht stimmt, un-heil ist: "Wir sind berufen, die Werke unseres Vaters im Himmel zu tun. Aber das wird tief drin nur funktionieren, wenn wir erst einmal erkennen, wo das nicht so ist." - "Der direkteste Weg ins Herz eines Menschen führt durch eine Wunde." Wie zum Beispiel die Wunde, ein Waisenkind zu sein. "Wir leben in einem Land und wir leben auf einem Kontinent, wo in den letzten 100 Jahren fast zwei komplette Generationen von Vätern entweder getötet wurden oder emotional traumatisiert aus dem Krieg zurückkamen. Das ist unsere Story." Die Mentalität von Waisenkindern, so Hartl, produziere immer weitere emotionale Waisen; überwinden lasse sich diese Waisenkindmentalität nur dadurch, zu erkennen und für sich zu akzeptieren, dass man ein geliebtes Kind Gottes ist - ein Sünder zwar, aber ein Sünder, den Gott liebt.

Die fünf Vorträge, die Johannes Hartl während der viertägigen MEHR-Konferenz hielt, waren inhaltlich überaus vielschichtig, weshalb ich - erneut - nur empfehlen kann, sie selbst anzuhören. Bei allem Verständnis dafür, dass der Klang seiner Stimme und sein Vortragsstil auch nerven können; aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Man gewöhnt sich dran, und es lohnt sich. Erwähnenswert erscheint mir übrigens, dass Hartl - der über "metaphorische Theologie" promoviert hat - eine ausgesprochene Vorliebe für biblisch inspirierte Sprachbilder hat ("Jesus sagt: Ihr seid das Salz der Erde. Glaubst du, dass das Salz in der Suppe schwimmt und sagt: 'Alles um mich herum ist so fad'? Ihr seid das Licht der Welt! Das Licht, sagt das: 'Das ist aber blöd, dass es so dunkel ist überall'? - Dafür bist du da!"); insofern stellen seine Vorträge einen radikalen Gegenentwurf etwa zu den Thesen des in kirchlichen Kreisen derzeit hoch gehandelten Kommunikationsberaters Erik Flügge dar, der meint, der moderne Mensch könne mit metaphorischer Redeweise nichts anfangen. 

Ich hatte mich schon lange gefragt, warum es so etwas eigentlich nicht gibt. Und nun die Erkenntnis: Doch doch, sowas gibt's

Übrigens untermauerte Hartl die Ausführungen aller seiner Vorträge präzise mit Bibelzitaten; daneben zitierte er - was bei einer überkonfessionellen Veranstaltung wohl nicht gerade selbstverständlich ist - wiederholt große Heilige der Katholischen Kirche wie etwa Gregor den Großen, Bernhard von Clairvaux, Johannes vom Kreuz oder Alfons Maria von Liguori. Tatsächlich wird es Hartl von streng evangelikaler Seite zuweilen zum Vorwurf gemacht, dass er sich ohne Wenn und Aber zur Lehre der Katholischen Kirche bekennt; ein Blogartikel, der vor Johannes Hartl warnte, weil dieser ein "verlängerter Arm der katholischen Kirche" sei, verweist auf eine Interview-Aussage Hartls, in der er ausführt:
"Als Christ bin ich Teil der Kirche und damit Teil eines Glaubens, der eine viel längere Geschichte hat als mein persönlicher Glaube oder meine persönliche Jesus-Beziehung. Dieser Glaube der Kirche ist geprüft und verlässlich. Im persönlichen Bibelstudium kann es auch einmal passieren, dass eine Stelle missverstanden oder falsch interpretiert wird. Der Glaube der Kirche gibt hier Richtung und Sicherheit."
Sicherlich könnte man zur - sagen wir mal - Heilsrelevanz der Kirche noch mehr und Anderes sagen, aber der angesprochene Aspekt erscheint mir dennoch nicht unbedeutend. Wie ich gern sage: Die lehramtliche Tradition der Kirche bewahrt uns davor, in jeder Generation das Rad neu erfinden zu müssen...

Gleichwohl bezieht sich Hartl durchaus auch auf christliche Denker aus jüngerer Zeit und aus anderen Konfessionen - mit besonderer Vorliebe etwa auf den Anglikaner C.S. Lewis (ein Beispiel hierzu folgt in Kürze). -- Der oben angesprochene Aspektenreichtum der Vorträge führt freilich naturgemäß auch dazu, dass Vieles nur kurz angerissen wird, und Kritiker mögen dies als oberflächlich empfinden (etwa, wenn er in "Willkommen in der Realität" mit wenigen Sätzen die Gender-Theorie zerlegt und lakonisch die Aussage in den Raum stellt, "dass Sexualität von Gott gemacht wurde für Fruchtbarkeit"); man kann aber auch sagen: Hey, ist doch schön, dass er den Zuhörern etwas zum Selberdenken übrig lässt. Und was wohl noch wichtiger ist: Die Vielzahl der angesprochenen Aspekte trägt auch dazu bei, all diese Dinge in einen großen Zusammenhang einzuordnen - nämlich den der Realität Gottes. Wer die Realität Gottes nicht anerkennt, für den gibt es, so Hartl, in letzter Konsequenz überhaupt keine objektive Realität, sondern nur Konstrukte: "Dahinter steht die Vorstellung, dass es eigentlich nichts GIBT, weil dahinter kein Vater ist, der uns etwas GIBT." Oder, wie der just erwähnte C.S. Lewis sinngemäß schrieb: "Etwas zu durchschauen hat nur dann einen Sinn, wenn man dahinter etwas sieht. Das Fenster zum Garten ist durchsichtig, und das ist auch gut und sinnvoll - aber nur, weil der Garten dahinter nicht durchsichtig ist. Wer alles 'durchschaut', der sieht am Ende gar nichts mehr." 

Ich hatte es schon einmal geschrieben: Allzu oft wird im kirchlichen Bereich entweder gar nicht über Gott geredet, oder wenn doch, dann in einer Weise, als wäre Er nicht DA. Bei der MEHR war man sich der Gegenwart Gottes zu jeder Zeit bewusst - bei den Vorträgen, im gemeinsamen Gebet und im Lobpreis (nicht umsonst gingen diese "Programm"-Elemente in der Regel nahtlos ineinander über, denn sie bildeten tatsächlich eine Einheit), aber natürlich auch abseits des Bühnengeschehens in der Stille der Eucharistischen Anbetung und im Sakrament der Versöhnung. Wie bei einer von einem Gebetshaus ausgerichteten Veranstaltung kaum überraschen dürfte, stand das Thema Gebet insgesamt stark im Mittelpunkt, gerade auch in den Vorträgen sowie in den Predigten der beiden Eucharistiefeiern; aber da dieser Text schon wieder so lang geworden ist und so lange gebraucht hat, mache ich an dieser Stelle erst mal einen Punkt und verschiebe alle weiteren Ausführungen auf später... 


Mittwoch, 11. Januar 2017

Viel Spaß und viel Segen (Teil 2)

So: Wo war ich? -- Auf der MEHR natürlich! Genauer gesagt war ich im ersten Teil meines Berichts bis zum Freitagabend gekommen, bis zu dem Moment, als ich mit meinen Bloggerkollegen vom Abendessen zurückkam und wieder die Tribüne des Auditoriums erstieg, um mir den letzten Vortrag des zweiten Konferenztags anzuhören. Bis zum Beginn des Vortrags gab es einmal mehr Lobpreis mit Veronika Lohmer und Band; dann kam der Referent auf die Bühne: Ben Fitzgerald, Pastor der evangelikalen Bethel Church, Initiator der Kampagne "Awakening Europe", gebürtiger Australier und ein Typ wie ein Bär. Ich mag Australier, und ich mag bärige Typen - insofern hatte Ben Fitzgerald bei mir schon von vornherein gewonnen. Davon abgesehen war er ein begnadeter Komiker, und der Dolmetscher, der zusammen mit ihm auf die Bühne kam, war ebenfalls mit einem beachtlichen komödiantischen Talent gesegnet. So gab's bei diesem Vortrag viel zu lachen - aber das Thema selbst war eigentlich ausgesprochen ernst: Die Kirche in Deutschland, so meinte Ben Fitzgerald, wirke vielfach müde und kraftlos. Wer wollte ihm da widersprechen? Der Grund für diese Schwäche - oder zumindest ein schwerwiegender Grund - liege in der Menschenfurcht. Fitzgerald zitierte aus dem 2. Brief des Paulus an Timotheus: "Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit" (2 Tim 1,7). Diesen Geist der Kraft gelte es in Deutschland und ganz Europa neu zu erwecken - und zwar in jedem Einzelnen. Um dies zu verdeutlichen, sprach Fitzgerald viel von sich selbst, von seinen eigenen Ängsten, seiner Sorge, nicht gemocht zu werden, seinem Buhlen um die Anerkennung durch Autoritäten. Und ich saß da und dachte: Er spricht über MICH. Diesen Typen, der sich ein Bein ausreißt, um von allen gemocht zu werden, und sich dadurch aufführt wie ein Volltrottel, den kenne ich - der steckt ganz tief in mir drin.

Aber ich war nicht allein. Im Gegenteil: Auf Ben Fitzgeralds Frage, wem von seinen Zuhörern es auch schon mal so gegangen sei, reckten sich im Auditorium zahllose Arme in die Höhe. "Seht ihr?!", rief Fitzgerald aus. "Das ist eine Epidemie!"

Dieser Geist der Verzagtheit und der Menschenfurcht, so führte er weiter aus, mache die Kirche in Deutschland zahm und langweilig. Dabei könne jeder Einzelne in seinem alltäglichen Umfeld Großes für die Neuevangelisation Deutschlands leisten, wenn er mit Gebet und Gottvertrauen die leidige Menschenfurcht überwinde. -- Mich hielt's nicht mehr auf meinem Sitz. Ich reckte die Arme in die Höhe und schrie aus Leibeskräften in Richtung Bühne: "Ja, Mann!"

Wie bei einem freikirchlichen Redner kaum anders zu erwarten, gab es aus katholischer Sicht durchaus das eine oder andere Haar in der Suppe; etwa, dass Fitzgeralds Kampagne "Awakening Europe" unter dem Motto "Europe needs a new Reformation" steht. Zwar stellte er klar, diesmal solle es eine Reformation sein, die "vereint, statt zu spalten", aber das ändert kaum etwas daran, dass der Begriff "Reformation" aus katholischer Sicht einfach negativ besetzt ist. Man kann ihm allerdings wohl zu Gute halten, dass diese Wortwahl in erster Linie dazu dient, das 500-jährige Reformationsjubiläum als Aufhänger für diese Kampagne zu nutzen. - Und dann war da noch der Moment, als Fitzgerald über gemeinsame Anliegen von "Christians and Catholics" sprach. Angesichts der Tatsache, dass er zuvor sehr wertschätzend über katholische Christen gesprochen hatte, konnte das eigentlich nur ein Versprecher sein; sein Dolmetscher machte sich auch prompt darüber lustig, indem er mit übertriebener Betonung übersetzte: "Sowohl Christen als auch Katholiken..." Eine Mischung aus Raunen und Gelächter ging durchs Publikum, und das verunsicherte Fitzgerald sichtlich. "What did you tell them?", fragte er seinen Dolmetscher, und dieser wiederholte: "Sowohl Christen als auch Katholiken..." Aber Ben Fitzgerald begriff immer noch nicht, was er gerade gesagt hatte. Ist ja manchmal so, besonders wenn man auf einer Bühne steht.

Esel spielen eine wichtige Rolle in der Heilsgeschichte, daher musste auch Pablo mit zur MEHR. 

Der Vortrag ging fast nahtlos in ein "Ministry" genanntes gemeinsames Gebet der MEHR-Redner und anderer Leitungspersonen verschiedener christlicher Initiativen über - ein Gebet, das gleichzeitig ein Appell an jeden Einzelnen war, das Seine zu einer Neuevangelisation Deutschlands und Europas beizutragen. In diesem Moment wurde mir etwas klar, was ich mir im Grunde von vornherein hätte denken können (aber manchmal muss man auf das Offensichtliche eben erst mit der Nase gestoßen werden): Man kann die MEHR als Veranstaltungsformat, nicht zuletzt auch unter ästhetischen Gesichtspunkten, beurteilen wie man will - das eigentlich Entscheidende kommt erst danach. Wenn all die rund 10.000 Besucher der Konferenz - darunter viele Jugendliche und junge Erwachsene - den Schwung, die Begeisterung und nicht zuletzt die geistlichen Impulse aus den Vorträgen und Predigten "mit nach Hause nehmen" und etwas davon in ihre jeweiligen Ortsgemeinden einbringen, dann ist das der Beginn einer Revolution. In einem meiner nächsten Artikel werde ich hoffentlich dazu kommen, diesen Gedanken näher auszuführen.

Zum Abschluss des Abends gab's natürlich wieder Lobpreis, und da möchte ich ein Detail besonders hervorheben: In einem Lied, dessen Titel ich nicht weiß, dessen Refrarin aber mit den Worten "Kommt und singt Ihm zum Dank" beginnt, kommt der Vers "Laut ertönt ein Jubelschrei" vor; und dieser Vers würde vom Publikum nicht etwa mitgesungen, sondern stattdessen mit einem lauten Jubelschrei untermalt. Muss man erlebt haben.

So sieht ein Norddeutscher in Ekstase aus.
(Foto: Peter Esser) 
Derweil war meine Liebste noch mit Fernbussen kreuz und quer durch Deutschland unterwegs; bei Schnee und Frost gestaltete sich die Anreise noch komplizierter als erwartet, da Busse sich verspäteten oder gleich ganz ausfielen. Als ich am nächsten Morgen erwachte, erhielt ich von meiner Liebsten die Nachricht, sie sei gerade erst am Augsburger Hauptbahnhof angekommen, werde dort frühstücken und dann direkt zur Konferenz gehen. Das nenn ich mal Einsatz. Während ich noch auf dem Weg zum Messegelände war, schrieb mir meine Liebste, sie sei angekommen und gehe jetzt erst mal in den Raum der Stille zur Eucharistischen Anbetung. Also holte ich sie dort ab.

Was ich übrigens im ersten Teil meines Berichts vergessen hatte zu erwähnen: In unmittelbarer Nähe des Raums der Stille gab es auch Beichtmöglichkeiten. Ich habe von mehreren Priestern gehört, dass sie dort stundenlang ohne Pause damit beschäftigt waren, Beichte zu hören. Das mal als kleiner Hinweis an diejenigen, die argwöhnen, die MEHR sei womöglich nicht katholisch genug gewesen.

Zusammen schauten wir bei der Lobpreis-Session vorbei, die diesmal von Anton Svoboda geleitet wurde; dort trafen wir nicht nur unsere "Gastfamilie", sondern auch Johannes Hartl, mit dem ich bei der Gelegenheit ein paar persönliche Worte wechselte. Dann spazierten wir durch Halle 7, tranken Tee am Stand der Christlichen Initiative für Indien und fanden uns zum ersten Vortrag des Tages wieder im Auditorium ein: "Die Würde eines Sohnes", abermals von Johannes Hartl. Und was soll ich sagen: Ich war begeistert. (Details später.)

In der Mittagspause gingen wir erneut zur Eucharistischen Anbetung, und da war's rappelvoll. Ansonsten hielten wir uns bis zum nächsten Vortrag  - von Pater Cantalamessa! - hauptsächlich an den Infoständen des MEHRforums auf. Der Vortrag des päpstlichen Hauspredigers stand unter dem Motto "Holiness and Happiness"; allerdings sprach der Kapuzinerpater dann, zumeist in freundlichem Plauderton, so ausführlich über die Berufung zur Heiligkeit, dass kaum mehr Zeit blieb, näher auf den "Happiness"-Aspekt einzugehen. Pater Cantalamessa löste dieses Dilemma äußerst charmant: "When I see you in Heaven", schloss er seinen Vortrag, "you will tell me how holiness has made you happy." Applaus.

Anschließend fand im Auditorium ein evangelischer Abendmahlsgottesdienst statt; derweil trafen meine Liebste und ich uns mit unseren Bloggerkollegen und "den Jungs" zu einem Ausflug in die Altstadt von Augsburg, wo wir die Kirche St. Moritz und den Dom besichtigten und in der Wallfahrtskirche St. Peter am Perlach das Gnadenbild von Maria Knotenlöserin besuchten. Letzteres wäre im Grunde einen eigenständigen Artikel wert, aber vielleicht überlasse ich den meiner Liebsten. Mal sehen. Zum Abendessen gingen wir in ein rustikales Brauhaus mit dem schönen Namen "Bauerntanz" und waren pünktlich zu einem weiteren exzellenten Vortrag von Johannes Hartl - "Der Duft der Hoffnung" - zurück im Auditorium.

Nach dem Vortrag musste ich erst mal aufs Klo, und und als ich zurückkam, fand ich meine Liebste im Gespräch mit einem der Segnungsteams, die in den seitlichen Auslaufzonen des Auditoriums bereit standen: Sie wollte für sich beten lassen, nicht zuletzt auch wegen der immer noch nicht gänzlich überwundenen Folgen ihrer komplizierten Fußverletzung. Ich stellte mich dazu und dachte mir, schaden könne es ja nicht, wenn ich auch für mich beten ließe. Ich musste diesen Wunsch gar nicht äußern, die Leute vom Segnungsteam merkten das schon selber. Was mich dabei nun wirklich stark verblüffte, war, dass eine der Beterinnen - ein etwas punkig aussehendes blondes Mädchen namens Rebekka - Dinge über mich zu wissen schien; ich hatte sogar den Eindruck, sie kenne mich besser als viele Leute, mit denen ich im täglichen Leben zu tun habe. "Das hat ER mir gerade so gesagt", erklärte sie heiter, als ich sie darauf ansprach.

Am Sonntag stand um 9 Uhr die Heilige Messe zum Fest Taufe des Herrn an, in Form eines Pontifikalamts mit dem Augsburger Weihbischof Florian Wörner. Pontifikalamt und Pop: eine abenteuerliche Mischung. Das zeigte sich besonders beim Gloria: Als auf den Bildschirmen neben der Bühne die ersten Verse von "Engel auf den Feldern singen" eingeblendet wurden, dachte ich noch: Na klar, letzter Sonntag der Weihnachtszeit, warum nicht noch mal ein weihnachtliches Gloria-Lied. Aber als die Band einsetzte, stellte ich fest: Es ist die Disco-Version von "Engel auf den Feldern singen"! Von außen betrachtet womöglich etwas bizarr, aber wenn man mittendrin war, war's schon sehr mitreißend. Eher traditionell gesinnte Gemüter kamen durchaus auch auf ihre Kosten: Zur Tauferneuerung gab's eine schön arrangierte Fassung von "Fest soll mein Taufbund immer stehn". -- Grandios war auch in dieser Messe wieder die Predigt. In allgemeinverständlicher Sprache, aber dennoch auf beachtlichem theologischen Niveau erläuterte Weihbischof Wörner den inneren Zusammenhang zwischen Taufe und Passion Jesu, und im weiteren Verlauf gab er seinen Zuhörern  äußerst motivierende Impulse für ein aus Gebet und Sakramenten gespeistes christliches Leben im Alltag mit auf dem Weg. Nach der Messe hatte ich noch kurz Gelegenheit, persönlich mit Weihbischof Wörner zu sprechen. Guter Mann!

Weihbischof Florian Wörner bei der Predigt. 
Zum Abschluss des Programms brachte Johannes Hartl mit einem weiteren Vortrag die Stimmung im Auditorium zum Kochen: "Erwecke die Helden". Ausgangspunkt von Hartls Bemerkungen war der Umstand, dass die Bibel stellenweise in sehr kriegerischen Metaphern vom Auftrag der Christen in der Welt spricht; das gelte heutzutage vielfach als anrüchig und stehe in einem Spannungsverhältnis dazu, dass die christliche Botschaft heute allzu oft einseitig zu Friede, Freude und Eierkuchen verflacht werde. Sprach mir ganz und gar aus der Seele! Aber auch hierzu will ich jetzt nicht zu sehr ins Detail gehen.



Bis 13 Uhr, so wurde uns mitgeteilt, mussten die Messehallen geräumt sein, aber bis dahin gab's nochmal Lobpreis. Wir traten aber bald den Rückzug an - schließlich stand uns ein langer Heimweg bevor.

Wie lautet nun also das Fazit nach vier Tagen MEHR? - Dass ich absolut begeistert bin, brauche ich nach allem bisher Gesagten wohl kaum noch zu betonen. Wenngleich mir Manches, was ich während dieser Tage erlebt und beobachtet habe, fremd und ein bisschen unheimlich geblieben ist, war die Konferenz im Ganzen sehr gut geeignet, Vorurteile und Berührungsängste gegenüber charismatischen Gruppierungen abzubauen; es gab viele schöne Begegnungen, die Vorträge und Predigten waren lehrreich, herausfordernd und motivierend, und die starke Fokussierung der ganzen Veranstaltung auf das Gebet ("Alles Große, Gute und Echte wird im Gebet geboren!") enorm inspirierend. Was ich in diesen Tagen gelernt habe und wozu die MEHR mich motiviert hat - insbesondere in Hinblick auf das schon in mehreren früheren Artikeln angedeutete Projekt "Subversive Pastoral mit Suppe, Punkrock und Fahrradreparatur (oder so)" -, darüber gäbe es noch eine Menge zu sagen, und das werde ich auch tun, aber ich schätze, das braucht noch ein paar Tage, um in mir zu reifen.

Einstweilen möchte ich noch auf ein paar andere schöne Artikel zur MEHR 2017 verweisen:

kephas: "Ökumene Pfui? Charisma Bäh?"
just wondering: "Faszinierend! Die MEHR 2017" 
katholon: "#MEHR2017 - mehr als nur eine Konferenz" 

Kritische Stimmen gab es natürlich auch. Vor allem von Leuten, die nicht da waren. Klar, man konnte die Konferenz auch per Livestream im Internet verfolgen, aber manche Reaktionen lesen sich so, als hätten ihre Urheber sich allenfalls ein sehr oberflächliches Bild von der MEHR gemacht und die Leerstellen mit ihren eigenen Vorstellungen davon aufgefüllt, wie ein überkonfessioneller Charismatiker-Kongress eben sei. Ein bisschen erinnerte mich das an den früheren Bloggerkollegen Geistbraus, der traditionell Verrisse über die jährlichen Katholischen Bloggertreffen verfasste, an denen er nicht teilgenommen hatte. Der Unterschied ist: Ihm war die Ironie dieses Vorgehens bewusst und als solche beabsichtigt. Glaube ich jedenfalls.

Damit will ich übrigens nicht in Abrede stellen, dass man an einzelnen Aspekten der Veranstaltung durchaus fundierte Kritik äußern kann (vgl. z.B. die umfangreichen Kommentare unter dem ersten Teil dieses Berichts). Mir erscheint es jedoch wichtiger, sich auf das zu konzentrieren, was daran gut war.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass nahezu zeitgleich zu der von Weihbischof Wörner zelebrierten Messe im NDR ein Radiogottesdienst aus der St.-Willehad-Kirche in Nordenham ausgestrahlt wurde. Den habe ich mir dann später in der Mediathek angehört. Und in gewissem Sinne verstärkten sich die absolut trostlose Grottigkeit dieses Radiogottesdienstes und meine Begeisterung über die MEHR gegenseitig. Wenn man mehr oder weniger gezwungenermaßen mit einem Auge der Volkskirche beim Abnippeln zusieht, ist es umso tröstlicher und ermutigender, mit dem anderen Auge zu sehen, dass es auch anders geht. -- Ich habe es ja oben bereits angedeutet: Viel wichtiger als dieses viertägige Mega-Event als solches sind ja die Impulse, die daraus hervorgehen. Was für Impulse das im Einzelnen sein könnten, dazu wie gesagt später mehr; aber eins kann ich schon mal vorausschicken: Ich meine damit nicht, dass jede Feld-, Wald- und Wiesenpfarrei ihren Organisten feuern und stattdessen eine Lobpreisband engagieren sollte. Also, nicht unbedingt.

Dass bei der MEHR tatsächlich der Heilige Geist am Werk war, daran zweifelt wohl niemand, der die Konferenz miterlebt hat. Ich zumindest schwebe immer noch ein paar Zentimeter über dem Boden...



Dienstag, 10. Januar 2017

Gastbeitrag: Heiliger Geist oder Antifa-Hinterhalt? :)

Ein Beitrag von Franz, meinem Gastgeber bei der MEHR 2017


Bis unser KingBear mit seinem Fortsetzungsroman fortfährt, kann ich als „der Gastgeber“ vielleicht die Wartezeit etwas verkürzen.


Ich verfolge diesen Blog schon seit Jahren mit wachsender Sympathie für den mir persönlich unbekannten Schreiberling. Auch meiner Frau habe ich immer wieder Texte daraus zu unserer beider Unterhaltung vorgelesen.

Im Herbst wurde ich dann erstmalig von dem Gedanken heimgesucht, mit dem KingBear Kontakt aufzunehmen und ihm und „der Liebsten“ ein Quartier anzubieten, falls die beiden denn an der MEHR-Konferenz teilzunehmen gedächten.

Ausschlaggebend war die Info, dass die beiden planten, in Berlin ein missionarisches Projekt auf die Beine zu stellen. Und irgendwie konnte ich mir vorstellen, dass die MEHR dazu beitragen könnte, ihre Überlegungen konkret werden zu lassen.

Da mir im Laufe eines Tages so allerhand Gedanken durch den Kopf schießen, nahm ich das erstmal nicht besonders ernst. Die Umstände unserer Lebensführung sind dafür auch nicht so optimal: 1. sind wir „Spießer“, 2. lassen meine Frau und ich ungern andere in „unser kleines Reich“ und 3. bedeutete das,  dass auch wir an dieser Konferenz würden teilnehmen müssen, die wir die letzten Jahre über den Livestream verfolgt hatten.
Wir mögen keine Menschenmassen. Diverse Erfahrungen beim WJT in Köln, sowie „Sardinen-Erlebnisse“ bei Papstaudienzen in Rom haben unseren persönlichen Bedarf an solchen „Körper-Aufläufen“ auf Jahre hinaus gedeckt.

So ganz wohl war mir auch nicht. Von mir aus betrachtet, wohnen in Berlin ausschließlich durchgeknallte Freaks – abgesehen von ein paar Bloggern, die da mitunter einiges aushalten müssen. Dann steht da ja auch noch „der Thron des Zeus“, auf dem sich nach meiner Wahrnehmung die wahnsinnigsten unter den Durchgeknallten um die besten Plätze rangeln. Aber der KingBear würde schon nicht so schlimm sein. Hoffentlich.

Die Hartnäckigkeit aber, mit der sich dieser Gedanke immer wieder meldete und sein Blogbeitrag, in dem er ausführte, dass er ja eigentlich ein ganz netter Kerl sei, veranlasste mich schließlich, den KingBear anzutweeten. Gespannt war ich auf seine Reaktion, denn theoretisch hätte er ja eventuell befürchten müssen, von der bayerischen Antifa in einen Hinterhalt gelockt zu werden, um ihm nachhaltig das Bloggen auszutreiben.

Von seinen bisherigen Artikeln her war mir auch klar, dass er eher nicht zur Zielgruppe dieser charismatischen Veranstaltung gehörte. Aber siehe da: er signalisierte von Anfang an Offenheit und war nach kurzer Zeit bereit, unsere Einladung anzunehmen. Er würde also 600km längs durch Deutschland in die bayerische  Provinz fahren und an einem kleinen Bahnhof aussteigen, um von jemandem abgeholt zu werden, dem er nie zuvor begegnet war.

Bei Gelegenheit muss ich ihn fragen, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen, als ich mich beim Abholen ein paar Minuten verspätete...


Montag, 9. Januar 2017

Viel Spaß und viel Segen (Teil 1)

Zurückgekehrt von der MEHR 2017, stehe ich vor einem Dilemma: Meine Leser - zumindest einige von ihnen - erwarten von mir zweifellos einen mit witzigen Anekdoten und sarkastischen Anmerkungen über verrückte Charismatiker gewürzten Bericht. Klar, diese Erwartungshaltung habe ich zu einem gewissen Grad selbst erzeugt. Und es macht ja auch Spaß, sowas zu schreiben. Aber viel wichtiger ist es mir eigentlich, darüber zu schreiben, wie sehr dieses Gebetstreffen (denn ein solches war es in erster Linie) mich begeistert hat und wie wichtig ich diese Veranstaltung und die daraus hervorgehenden Impulse für die Kirche in Deutschland und darüber hinaus finde. 

Natürlich hat mir nicht alles gefallen. Aber ich habe etwas Wichtiges gelernt: nämlich, dass es den Heiligen Geist nicht sonderlich interessiert, ob das, was Er tut, mir gefällt

Wie gehe ich nun also vor? -- Nun, ich denke, die Eindrücke dieser vier Tage in Augsburg bieten ohnehin Stoff für mehrere Artikel. Und um meine Leser nicht zu lange auf einen ersten Bericht warten zu lassen, verschiebe ich detaillierte Betrachtungen zu einzelnen Programmpunkten und weiterreichende Reflexionen erst mal auf später und halte zunächst einige allgemeine Eindrücke fest. Da wird durchaus auch Platz für Komik sein. In diesem ersten Bericht werde ich mich einerseits - der Einfachheit halber - so ungefähr an der chronologischen Reihenfolge des Geschehens entlang hangeln und andererseits dem Leitgedanken folgen: Was unterscheidet die MEHR eigentlich einerseits vom Katholikentag (oder meinetwegen auch dem Evangelischen Kirchentag - das ist ja mehr oder weniger Jacke wie Hose) und andererseits von einem Rockfestival? 

Eins vorweg: Wie im Rahmen der Eröffnungsmoderation geschildert wurde, fand die erste MEHR-Konferenz vor zehn Jahren in einem Pfarrsaal statt, mit rund 120 Teilnehmern. Damals, so erinnerten sich die Veranstalter, hätten sie sich "total gefreut", dass "sooo viele Leute" gekommen seien. Glaube ich sofort. Wenn man eine Veranstaltung in einem Pfarrsaal ausrichtet, und zwar die erste Veranstaltung ihrer Art, und da kommen dann 120 Leute, dann ist das ein beeindruckender Erfolg. Aber nun vergleiche man das mal damit, wie die MEHR heute aussieht: Vier Tage, rund 10.000 Teilnehmer, zwei große Messehallen plus angrenzende Räumlichkeiten, hochkarätige Redner und Musiker aus aller Welt, Laser-Lightshow und Videoinstallationen auf der Bühne. Fett. 

Aber von vorne: Am Donnerstag kam ich schon vor Mittag in Augsburg an, fuhr aber erst mal noch ein Stück weiter mit der Regionalbahn. Ein Leser meines Blogs (!), der ein Stückchen außerhalb von Augsburg wohnt, hatte mich nämlich vor einiger Zeit über Twitter angeschrieben und mir unterbreitet, falls meine Liebste und ich vorhätten, zur MEHR zu kommen, würde er uns eine Übernachtungsmöglichkeit anbieten. Nun reiste ich zwar zunächst allein an, da meine Liebste am Donnerstag und Freitagvormittag noch arbeiten musste, aber sie kam dann nach. Im Hause des besagten Lesers bekam ich nicht nur eine recht komfortable Luftmatratze im Dachgeschoss, sondern auch dreimal Frühstück und am Anreisetag sogar Mittagessen. Vor allem aber wäre ich ohne diese Einladung vermutlich gar nicht zur MEHR gefahren; insofern kann ich dem Franz und seiner Familie gar nicht g'nug danken für ihre Gastfreundschaft -- und natürlich dem Herrn für diese erstaunliche Fügung. Ich meine das ganz ernst: Dass ich überhaupt dort war, war für mich persönlich bereits das erste Zeichen des machtvollen Wirkens des Heiligen Geistes. 

-- Klinge ich komisch? Nun ja, ich kann's nicht ändern: So war's eben. 

Hier ist man MEHR willkommen als woanders.

Die MEHR öffnete um 16 Uhr ihre Pforten; wir waren schon etwas früher auf dem Messegelände und hatten bereits in der Warteschlange vor dem Einlass einige interessante Gespräche. Vor dem Eingang, in der klirrenden Winterkälte, spielte eine Band rockigen Lobpreis. Nachdem wir durch die Einlasskontrolle durch waren, schauten wir uns erst mal in Halle 7 um - wo sich neben dem Gebetshaus-Shop und dem Gebetshaus-Café auch das MEHRforum befand, eine bunte Ansammlung von Infoständen christlicher Vereine und Initiativen, strukturell durchaus vergleichbar mit der "Kirchenmeile" beim Katholikentag. Zum Teil - zu einem ziemlich kleinen Teil, zugegeben - waren sogar dieselben Aussteller vertreten, beispielsweise die Youcat Foundation, die Lebensschutzinitiative ALfA oder das Institut für natürliche Empfängnisregelung (INER). Aber gerade die oberflächlichen Ähnlichkeiten machten die Unterschiede nur umso deutlicher. Während die Infomeilen von Kirchen- und Katholikentagen vielfach von Initiativen dominiert werden, deren Verständnis von Reformen darauf hinausläuft, die Kirche(n) müsste(n) sich mehr "der Lebensrealität der Menschen" anpassen, oder die die Kirche(n) mehr oder weniger explizit als Vorfeldorganisation(en) der Grünen sehen (möchten), fehlten auf der MEHR völlig, und somit auch die sauertöpfische Aura, die sie vielfach ausstrahlen. Umgekehrt würde man etwa das "umstrittene" Hilfswerk Open Doors bei Kirchen- oder Katholikentagen wohl vergeblich suchen. Viele der vertretenen Initiativen - beispielsweise Campus für Christus, deren spanischen Ableger ich vom Jakobsweg her in sympathischer Erinnerung hatte, und die Christliche Initiative für Indien (CIFI), bei der es kostenlosen Chai-Tee und indische Knabbereien gab - waren überkonfessionell ausgerichtet, wenn auch mit einem gewissen evangelikalen Grundton. Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass die Initiatoren und ständigen Mitarbeiter des Gebetshauses Augsburg, das die MEHR-Konferenz ausrichtet, zwar mehrheitlich Katholiken sind, aber großen Wert auf den konfessionsübergreifenden Charakter ihres Engagements legen. Das prägte auch den Gesamtablauf der Konferenz. Ein mir bekannter freievangelischer Pastor kommentierte dies auf Facebook mit den Worten: "Ökumene kann was richtig Geniales sein - solange sie nicht von Kirchenfunktionären veranstaltet wird..." Dass das Bemühen um Ökumene nicht immer konfliktfrei verlaufen kann, wurde zwar auch hier an der einen oder anderen Stelle deutlich - dazu eventuell später etwas mehr -, aber Alles in Allem standen doch die Gemeinsamkeiten - das für gläubige Christen verschiedenster Konfessionen Verbindende - deutlich im Vordergrund. 

Auch das Bistum Augsburg hatte einen Stand auf dem MEHRforum, und an katholischen Medienvertretern waren die Tagespost und Radio Horeb mit Infoständen vertreten; bei der Tagespost stand am ersten Konferenztag der Chefredakteur persönlich am Infostand und verteilte Freiexemplare der Zeitung. Auffallend stark vertreten, unter den Ausstellern wie im Publikum, waren Mönche und Ordensschwestern im Habit (darunter auch evangelische Marienschwestern - ich hätte nicht gedacht, dass es so etwas gibt) und Priester im Kollarhemd oder sogar in Soutane. Einträchtig daneben und dazwischen sah man aber auch Hipster mit Sidecut, Nerd-Brille und Piercings, Jugendliche und junge Erwachsene mit Basecaps oder Dreadlocks, Familien mit kleinen Kindern - insgesamt ein sehr bunter (und sehr fröhlicher) Haufen. 

Eine ganze Reihe von Bloggerkollegen und/oder Facebook-Freunden von mir - von denen ich ungefähr die Hälfte schon bei anderen Anlässen mal live kennengelernt hatte - hatten angekündigt, ebenfalls zur MEHR kommen zu wollen, und wir hatten ausgemacht, uns bei der Gelegenheit mal treffen zu wollen; zunächst sah ich allerdings niemanden von diesen, dafür aber andere Bekannte - zum Beispiel den Diakon meiner ehemaligen Berliner Wohnortpfarrei (mit "ehemalig" meine ich: vor meinem jüngsten Umzug innerhalb Berlins), aber auch Leute, die ich lose über Facebook und/oder Twitter kannte, aber bisher nicht mit ihnen "befreundet" gewesen war. 

Halle 5, in der sich das "Auditorium" mit Bühne und rund 10.000 Sitzplätzen befand, öffnete gegen 18 Uhr, aber die offizielle Eröffnung der Konferenz stand erst um 19:30 Uhr an. Als ich irgendwann zwischen diesen Zeitpunkten dem Auditorium zustrebte, traf ich erstmals einige von den Leuten, die ich zu treffen gehofft und erwartet hatte - eine Gruppe, die ich fortan als "die Jungs" zu bezeichnen gedenke, da sie wohl gerade mal halb so alt sind wie ich. Mit diesen nahm ich auf der Tribüne Platz - und lief dabei einem Priester über den Weg, den ich vom Nightfever in Berlin kenne und der mich jovial begrüßte: "Wo hast du deine Frau gelassen?" - "Die kommt nach. Am Samstag." -- Der Anblick des Auditoriums war beeindruckend, dabei war es zu diesem Zeitpunkt gerade erst rund zur Hälfte gefüllt. 

Ich sag mal: Boah. 
"Aber ich war immerhin schon mal bei den Stones!", sagte ich zu "den Jungs". "Und zwar zu einem Zeitpunkt, als ihr noch als Quark im Schaufenster gelegen habt!" 

Auf den Sitzen lagen "Center Shocks" - "Charismatiker-Kaugummi", scherzte ich - und kleine Kärtchen mit Tipps dazu, wie man in den Lobpreis-Sessions in die richtige andächtige Stimmung kommen konnte. Ich fand diese Anregungen gar nicht doof, hatte aber zunächst eher wenig Lust, sie auf mich selbst anzuwenden - womit ich sagen will: Ich wollte vorläufig nicht so recht aus meiner distanzierten Beobachterrolle raus. Was angesichts der bombastischen Stimmung gar nicht so einfach war. Aber über mein Fremdeln mit der charismatischen Gebetspraxis (und überhaupt mit dem Stil charismatischer Veranstaltungen) habe ich mich ja unlängst bereits geäußert. Was dabei natürlich auch eine Rolle spielt, ist, dass ich aus einem Landstrich stamme, wo ein andernorts als normal geltender Grad an Emotionalität bereits als obszön und ein bisschen schockierend wahrgenommen wird. Dort gelte ich schon als exaltiert. Vor diesem Hintergrund erschienen mir die Gebetshaus-Mitarbeiter auf der Bühne - die Moderatoren Sebastian Lohmer und Elke Mölle, die Lobpreisleiterin Veronika Lohmer und last not least Hauptredner und Gebetshaus-Leiter Johannes Hartl - anfangs arg überkandidelt und affektiert, und zeitweilig dachte ich, wenn ich noch einmal die Wörter "genial" und "Faszination" hören müsste, müsste ich schreiend weglaufen. Insofern war Johannes Hartls Eröffnungsvortrag eine echte Herausforderung für mich, denn der stand unter dem Motto "Heilige Faszination". Bisher hatte ich Wortbeiträge von Hartl nur in schriftlicher Form gekannt, und die hatte ich fast durchweg großartig gefunden; den Vortrag fand ich nun inhaltlich ebenfalls sehr gut, aber mit seinem Sprachduktus, seinem Tänzeln, seinen Comedy-Einlagen tat ich mich doch recht schwer. Um's mal auf den Punkt zu bringen: Ich fühlte mich zeitweilig stark an Jan Delay in seiner Sprecherrolle als "Vector" im Animationsfilm "Ich - einfach unverbesserlich" erinnert. 

An den Vortrag von Johannes Hartl schloss sich ein Konzert von Michael Patrick ("Paddy") Kelly an. Ich hatte ja schon vorausgeschickt, dass ich mich auf diesen Auftritt richtig freute, wenn auch aus nicht ganz ironiefreien Gründen. Tatsächlich war das Konzert richtig klasse. Also noch weit besser als ich erwartet hätte. Mit dem, was die Kelly Family vor rund zwanzig Jahren so gemacht hat, hatte das nur noch sehr entfernt etwas gemeinsam: Der "neue" Paddy Kelly klingt eher nach U2. Im guten Sinne. 

Allerdings war ich - was wohl verständlich ist, wenn man bedenkt, dass ich seit knapp 19 Stunden auf den Beinen war - allmählich extrem müde; daher suchte ich meine "Gastfamilie" auf und war recht zufrieden, dass diese auch bald mal nach Hause wollte. 

Am nächsten Tag, Freitag, öffneten die Messehallen ab 8 Uhr, aber wir trafen "erst" gegen 9 dort ein. Ich drehte erneut eine Runde durch das MEHRforum und steuerte dann gegen 9:30 Uhr das Auditorium an, wo Veronika Lohmer und ihre Lobpreisband spielten. Ohne lange nachzudenken, schritt ich direkt auf den Bereich vor der Bühne zu, wo sich bei Punkkonzerten der Moshpit befinden würde -- den Praise Pit also gewissermaßen. Und guck einer an, der innere Widerstand, den ich am Abend zuvor noch geradezu körperlich gespürt hatte, war plötzlich einfach mal weg. Ich ließ mich einfach mitreißen, und ehe ich's mich versah, stand ich mit verzückt in die Höhe gereckten Armen da. 

Lobpreis am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen.
An dieser Stelle vielleicht mal ein paar generelle Anmerkungen zum Lobpreis-Pop als Musikrichtung und Performance. Man darf den modernen Lobpreis-Pop keinesfalls mit dem Neuen Geistlichen Lied verwechseln - in gewisser Hinsicht ist er sogar dessen glattes Gegenteil. Die Texte sind oft an Psalmen oder neutestamentliche Cantica angelehnt oder zumindest von einer biblisch inspirierten Sprache und Metaphorik geprägt; die Melodien sind eingängig und (natürlich) mitsingtauglich, dabei deutlich energiegeladener, mitreißender und wesentlich weniger banal, als das beim NGL allzu oft der Fall ist. Ein besonderes Charakteristikum dieser Songs, das mir schon bei meinen Besuchen bei der Praystation in Berlin aufgefallen war, habe ich erst bei der MEHR richtig verstanden: An bestimmten Stellen ruft der jeweilige Lobpreisleiter in die Gesangspausen die Anfangsworte des nächsten Verses hinein. Das ist nicht einfach ein Stilmittel, sondern hat einen ganz praktischen Zweck: Ein typischer Lobpreis-Song besteht aus drei oder manchmal auch vier verschiedenen Teilen, die man als Strophe, Refrain und Bridge (oder gegebenenfalls Bridge 1 und Bridge 2) bezeichnen könnte. Da diese Teile jeweils ein unterschiedliches Level an emotionaler Intensität haben, wird beim Vortrag oft spontan zwischen ihnen gewechselt -- und dann ist es für die Band (und für den Techniker, der den Text zum Mitsingen auf dem Bildschirm einblendet) natürlich wichtig, zu wissen, was als Nächstes kommt

Was übrigens die oben aufgeworfene Frage nach dem Unterschied zu einem Rockfestival angeht: Bei letzteren, oder zum Beispiel bei dem Stones-Konzert, bei dem ich wie gesagt vor ewigen Zeiten mal war, kann man beim Publikum (oder gegebenenfalls bei sich selbst) durchaus einen ähnlichen Grad an Verzückung wahrnehmen. Manch Einem geht es wohl - darauf wurde in mehreren Vorträgen der Konferenz angespielt - beispielsweise auch im Fußballstadion so. Dennoch ist das irgendwie anders, auf eine Weise, die sich kaum präzise in Worte fassen lässt. Wenn die Stones oder meinetwegen - um andere selbst erlebte Beispiele zu nennen - die Fugees, die Fantastischen Vier oder Aerosmith auf der Bühne stehen, ist die Stimmung im Publikum wohl euphorisch, aber nicht im eigentlichen Sinne entrückt, sondern durchaus irdisch und hat auch einen gewissen Anteil von Aggressivität; wenn Bayern München gegen Real Madrid oder was weiß ich wen spielt, dürfte es ähnlich sein. Bei einer guten Lobpreis-Session hat man das Gefühl, dass der Himmel offen steht, auch wenn da im physischen Sinne das Dach einer Messehalle ist. Zudem feiert der Rock- oder Popstar sich selbst und wird vom Publikum gefeiert; beim Lobpreis wird nur Einer gefeiert, nämlich Jesus

Bei der Lobpreis-Session am Freitagmorgen blieb ich zwar nur rund eine halbe Stunde, aber es folgten ja noch diverse weitere, jeweils ab 19:30 Uhr und dann noch einmal am späten Abend. In den Auslaufzonen neben den Zuschauerrängen machten junge Frauen Ausdruckstanz, und dazwischen standen Grüppchen von je drei bis fünf Personen, die einander die Hände auf die Schultern legten und füreinander beteten. Übrigens unterschied sich die MEHR auch darin von handelsüblichen Festivals, dass es nicht nur ein Sanitätsteam gab, sondern auch Segnungsteams, die auf Wunsch auch Heilungsgebete praktizierten. Auch dazu später noch mehr, wenn nicht in diesem Artikel, dann im nächsten

Übrigens muss ich einräumen, dass ich schon ziemlich lange auf keinem Festival mehr war und deshalb bei einigen Beobachtungen, die ich am Rande des MEHR-Programms machte, nicht mit letzter Sicherheit sagen kann, ob es sich um normale Festival-Phänomene handelte oder ob da der Heilige Geist am Werk war. "Da hinten liegt eine junge Frau auf dem Boden, und alle streicheln an der jungen Frau herum", teilte mir einer der "Jungs" am Freitagnachmittag mit. 
"Äh... soll das so?" 
"Keine Ahnung. Geh hin und schau's dir an, es ist nur ungefähr zwei Meter von dir entfernt." 
Das tat ich. Richtig, da lag eine junge Frau auf dem Boden, ein junger Mann hielt ihre Hand in seiner und streichelte sie, und drumherum standen zwei, drei weitere junge Leute, die wohl für die Liegende beteten, wobei eine sich selbst streichelte. Ich hatte mir die Szene irgendwie extremer vorgestellt. Im Laufe der folgenden Tage hörte ich andeutungsweise immer mal wieder von einem Phänomen, das "Ruhen im Geist" genannt wird und äußerlich betrachtet wohl Ähnlichkeit mit einer Ohnmacht hat. Soll eine tolle Erfahrung sein für die, die sich darauf einlassen. Ich schwanke da noch ein bisschen zwischen Skepsis und Bewunderung. 

Zurück zur chronologischen Reihenfolge: Meine nächste Amtshandlung am Freitagvormittag bestand darin, dass ich den Raum der Stille aufsuchte, wo es, wie das Programmheft verriet, die "Möglichkeit zum stillen Gebet für Besucher aller Konfessionen" und "zusätzlich eucharistische Anbetung nach dem katholischen Verständnis" gab. Auch etwas, was man bei gewöhnlichen Festivals eher nicht findet und beim Katholikentag auch nur mit Mühe. Also, Möglichkeiten zum stillen Gebet wohl schon, aber Eucharistische Anbetung kam im Programm des letztjährigen Katholikentags praktisch nicht vor, abgesehen natürlich vom Nightfever. Ich kniete also eine Weile vor dem Allerheiligsten, und das war schön; am Nachmittag kam ich noch einmal wieder und blieb länger. 

Zum zweiten Vortrag von Johannes Hartl ("Willkommen in der Wirklichkeit"), der um 10:25 Uhr begann, wollte ich zunächst gar nicht gehen und trieb mich stattdessen noch eine Weile an den Infoständen in Halle 7 herum, aber in der Pause des Vortrags traf ich einen der "Jungs", der mich überredete, mir die zweite Hälfte mit ihm zusammen anzuhören. "Wenn der Hartl mal normal spricht - also, so normal er eben kann -, dann finde ich ihn richtig gut", merkte ich zwischendrin an. Tatsächlich war es wohl so, dass ich anfing, mich an seinen Stil zu gewöhnen, und mich deshalb umso mehr auf den Inhalt dessen konzentrieren konnte, was er sagte. Übrigens muss man ja auch die Zusammensetzung des Publikums bedenken. Ich habe gelesen, das Durchschnittsalter auf der MEHR soll 37 gewesen sein. Da lag ich ja noch einigermaßen in der Mitte, aber wenn man bedenkt, dass auch einige erheblich ältere Leute da waren, kommt man unschwer zu dem Schluss, dass es sich bei einem Großteil des Publikums um "Millennials" handelte (ein Eindruck, den man auch bekommen konnte, wenn man sich einfach nur umsah), und zu denen muss man vielleicht so reden. Übrigens war gerade das Thema dieses Vortrags sicherlich nicht nur, aber besonders für "Millennials" ausgesprochen wichtig. Das erläutere ich vielleicht noch in einem der folgenden Beiträge, aber vielleicht erklärt es sich auch von selbst. 

In der Mittagspause wanderte ich mit meinem jungen Freund durch Halle 7 und führte an verschiedenen Infoständen interessante Gespräche - vor allem an einem Stand, an dem es, sehr passend zum Thema des vorangegangenen Vortrags, um Pornographie- und Computerspielsucht ging. Der junge Mann, der uns informierte, fragte uns, ob wir "mit Jugendlichen arbeiten", und als wir bejahten, empfahl er uns ein Arbeitsbuch zum Thema Medienkompetenz und Suchtverhalten: Es koste normalerweise 29,90 €, sagte er, aber hier und jetzt könne man es für eine Spende erwerben. Ich nahm eins. Am Stand der (freievangelischen) Theologischen Hochschule Ewersbach kamen wir mit einer jungen Studentin dieser Hochschule ins Gespräch. Und das war, so nett das Gespräch auch war, so ein Punkt, wo es mit der Ökumene ein bisschen schwierig wurde. Die junge Dame war nämlich ursprünglich katholisch gewesen, hatte aber, wie sie erzählte, in ihrer katholischen Heimatgemeinde "überhaupt keinen lebendigen Glauben erlebt" und war deshalb im Teenageralter zur Freien evangelischen Gemeinde übergetreten. Sie freue sich aber, sagte sie, bei dieser Veranstaltung festzustellen, "dass es auch Katholiken gibt, die für den Glauben an Jesus Christus brennen". Das war sicher nett gemeint, klang für mein katholisches Ohr aber ein bisschen herablassend - umso mehr, als wir uns schließlich auf einer Veranstaltung befanden, die sehr wesentlich von Katholiken initiiert worden war. Gleichzeitig konnte ich mir schon irgendwie vorstellen, was sie meinte - dazu mehr in einem späteren Beitrag... Noch heikler wurde es, als das Thema Taufe zur Sprache kam: Obwohl der Bund Freier evangelischer Gemeinden die Kindertaufe zwar nicht selbst praktiziert, wohl aber die Kindertaufe anderer Konfessionen als gültig anerkennt, hatte unsere Gesprächspartnerin ihren Konfessionswechsel durch eine erneute Taufe besiegelt - da sie meinte, von ihrer Säuglingstaufe habe sie ja "nichts gehabt", und für sie sei es wichtig, durch die Taufe ihren Glauben zu bekennen. Ich sagte mir: Nein, ich werde jetzt KEINE Diskussion über Sakramententheologie vom Zaun brechen. Aber kurz darauf traf ich einen oben bereits kurz erwähnten Bekannten, der Pastor einer freievangelischen Gemeinde ist, und den sprach ich darauf an, ob es nicht ein Widerspruch sei, dass sein Gemeindebund zwar die Kindertaufe anderer Konfessionen als gültig anerkennt, aber trotzdem als Kind getaufte Personen auf deren Wunsch erneut tauft. Er räumte ein, dass das sakramententheologisch nicht unproblematisch und auch innerhalb des Gemeindebundes nicht unumstritten sei. 

Um 15 Uhr folgte ein Vortrag des evangelikal-charismatischen Erweckungspredigers Walter Heidenreich, aber ich verhielt mich "antizyklisch", blieb zunächst in der sich angesichts des Vortrags im Auditorium rapide leerenden Halle 7, um mir etwas zu essen zu kaufen, konferierte auf elektronischem Weg mit meiner Liebsten, die gerade dabei war, sich auf den Weg nach Augsburg zu machen, und ging noch einmal zur Eucharistischen Anbetung. Erst gegen 16 Uhr ging ich ins Auditorium, um zu schauen, ob Walter Heidenreich schon mit seinem Vortrag fertig war, denn um 16:30 stand die Heilige Messe zum Hochfest der Erscheinung des Herrn an. Aber Heidenreich überzog. Als ich in seiner Hörweite ankam, berichtete er gerade von der Bekehrung eines Mannes, der in Manila auf einer Müllkippe lebte, und anschließend von einem Einsatz in einem Altenheim, wo sechs Seniorinnen "geistgetauft" wurden und sofort anfingen, "in neuen Sprachen anzubeten". Ich ging erst mal wieder. Als ich wiederkam, ging Heidenreich gerade dazu über, in assoziativer Reihenfolge alle erdenklichen Krankheiten wegzubeten. Das war alles ein bisschen too much für mich, aber auch darauf werde ich noch zurückkommen. 

Die Heilige Messe - zelebriert von Pater Raniero Cantalamessa OFMCap, seit 1980 Prediger des Päpstlichen Hauses - war jedenfalls aus katholischer Sicht ein Highlight, und nebenbei bemerkt war sie - ebenso wie die von Weihbischof Florian Wörner zelebrierte Abschlussmesse zum Fest Taufe des Herrn am Sonntag - ungeachtet der poppigen Musikauswahl und der charismatisch aufgeputschten Atmosphäre in der Halle liturgisch korrekter als alle anderen Messen, die ich in dieser Weihnachtszeit mitgefeiert habe, sei es in Nordenham oder Berlin. (Das erscheint mir vor allem deshalb erwähnenswert, weil in der Anmoderation eines Tagesthemen-Beitrags zur MEHR-Konferenz behauptet wurde, die hier praktizierten Frömmigkeitsformen hätten "mit den traditionellen Ritualen nicht mehr viel gemein" - der Beitrag aber gleichwohl ausgiebig mit Szenen aus den beiden Eucharistiefeiern bebildert wurde.) Pater Cantalamessa ist eine beeindruckende Persönlichkeit, und seine Predigt war enorm stark (mehr dazu in einem der folgenden Beiträge). 

Anschließend traf ich mich im Gebetshaus-Shop mit ein paar Bloggerkollegen, die ich am Abend zuvor nur flüchtig und von Weitem gesehen hatte. Anders als ich waren sie auch im Heidenreich-Vortrag gewesen, und ich war zunächst verblüfft, festzustellen, dass sie den toll gefunden hatten. "Natürlich ist Manches von dem, was er sagt und tut, schwer zu schlucken, gerade für Katholiken", räumten sie ein. Als ich meine Bedenken angesichts des Heilungsgebets am Schluss des Vortrags äußerte, erklärten sie mir, es gebe auch katholische Priester, die genau solche Heilungsgebete im Auftrag des Vatikans praktizierten. "Aber ist nicht genau das ein erheblicher Unterschied?", wandte ich ein. -- Nicht unbedingt, meinten die Kollegen: Der Heilige Geist verleihe Seine Gaben schließlich, wie und wem Er will, und entscheidend sei doch, "was am Ende rauskommt". Tatsächlich hatten meine Gesprächspartner in ihrem engsten Umfeld, sogar in der eigenen Familie, Fälle medizinisch unerklärlicher Heilungen durch Gebet (nennen wir sie doch einfach Wunder. Wir sollten keine Angst haben, den Begriff  "Wunder" in den Mund zu nehmen. Überhaupt: Menschenfurcht. Äh, darauf komme ich noch...) erlebt. -- An dieser Stelle ein kleiner Vorgriff. Am Samstagnachmittag kam im Kreise der Bloggerkollegen und "der Jungs" das Gespräch erneut auf das Thema "Heilungsgebet", und dabei ergab sich der folgende Dialog: 
"Wo ich schon mal hier bin, sollte ich vielleicht die Gelegenheit nutzen, mir meine Rückenprobleme wegbeten zu lassen." 
"Mach doch. Vielleicht erwischst du ja den Heidenreich noch." 
"Nee, den nicht. Bei dem hätte ich Angst, dass der mir bei der Gelegenheit gleich noch das Rauchen abgewöhnt." 

Mit einem der besagten Bloggerkollegen und einer weiteren Facebook-Freundin ging ich anschließend essen in einem italienischen Restaurant unweit des Messegeländes. Rappelvoll mit MEHR-Besuchern. Und obwohl das Personal des Restaurants angesichts dieses Ansturms Schwerstarbeit leisten musste, merkte unsere Kellnerin an, es sei auffällig, was für eine freundliche Stimmung die Gäste mitbrächten. -- Zum letzten Vortrag des Tages - gehalten von Ben Fitzgerald, einem aus Australien stammenden Evangelikalen - wollten meine Begleiter wieder zurück sein; ich war zunächst nicht ganz überzeugt, ob ich mir an diesem Abend noch einen weiteren Vortrag zumuten wollte, aber mein Bloggerkollege meinte: "Wenn man nicht bei einem freikirchlichen Vortrag war, war man nicht auf der MEHR." Ich ließ mich also überreden, mich ihm anzuschließen -- und im Rückblick bin ich extrem dankbar für diese Überredung, denn dieser Vortrag war für mich in gewissem Sinne - auch wenn ich schon vorher Vieles sehr gut und anregend gefunden hatte - der Wendepunkt der ganzen Konferenz. 

Und wisster was, Leser? Da das so ein schöner Cliffhanger ist und dieser Artikel ohnehin schon so lang geworden ist, mache ich an dieser Stelle erst mal einen Punkt. Fortsetzung folgt (bald!)! 



Donnerstag, 5. Januar 2017

Der Sprung des Glaubens und wo man damit landen kann

Lieber Jochen, 

angeregt durch die Kommentarschlacht zu meinem Neujahrsartikel habe ich mal ein bisschen im Blog-Archiv zurückgeblättert und festgestellt, dass wir so ungefähr dieselbe Diskussion bereits im April und in Ansätzen sogar schon im letzten Januar geführt haben. Das ist an sich natürlich überhaupt nicht schlimm. Allerdings hat das Nachlesen unserer früheren Diskussionen meinen Eindruck verfestigt, dass ich eigentlich alles Nötige dazu, dass und warum ich Fragestellungen, die sich aus einer naturwissenschaftlich geprägten Weltsicht ergeben, als eher wenig relevant für den Glauben empfinde, schon einmal gesagt habe. 

Andererseits: Dass Du so beharrlich auf derartige Fragestellungen zurückkommst, zeigt mir, dass sie für Dich durchaus relevant sind und dass ich das akzeptieren und ernst nehmen sollte. 

Ich hatte schon vor nun bald einem Jahr gesagt - ich paraphrasiere jetzt mal, um weder Dich noch mich damit zu langweilen, mich wortwörtlich zu wiederholen -, dass die Naturwissenschaft sich ihrem Wesen und ihrer Methodik nach darauf beschränkt, die physische Realität zu untersuchen, und somit über eine etwaige metaphysische Realität gar nichts aussagen kann. Dass, wie Du neulich schriebst, die Gottesfrage für die Naturwissenschaft keine Rolle spielt, ist somit folgerichtig und "methodenimmanent"; daraus folgt aber, dass der Satz auch umgekehrt gilt: Für die Gottesfrage spielt die Naturwissenschaft (zunächst einmal) keine Rolle. 

Soweit meine Ausgangsthese, aber wie das eingeklammerte "zunächst einmal" schon andeutet, muss oder will ich sie ein wenig modifizieren. Es leuchtet mir schon ein, dass man aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen existentielle Fragen bezüglich des eigenen Daseins ableiten kann. Zum Beispiel: Welche Bedeutung kann meine Lebensleistung vor dem Horizont der schieren Größe (und des Alters) des Universums überhaupt haben? Oder: Wie kann es sein, dass ich mich als mit mir selbst identisch wahrnehme, wenn die Atome, aus denen die Zellen meines Körpers (einschließlich meines Gehirns) bestehen, heute ganz andere sind als noch vor ein paar Jahren? 

Solche Fragen kann man sich stellen. Aber wozu sind sie nütze, wenn nicht dazu, zu dem Schluss zu kommen, die eigene Existenz sei bedeutungslos? Eine nicht besonders motivierende Erkenntnis, würde ich meinen. Dennoch schaffen es die allermeisten Menschen, morgens aufzustehen und an ihr Tagwerk zu gehen. Und nicht nur die, die sich solche Fragen niemals stellen. Ja, das wohl Erstaunlichste ist, dass selbst existentialistische Philosophen das tun, deren Tagwerk genau darin besteht, Essays über die Bedeutungslosigkeit des Daseins zu verfassen. Warum sollte jemand so etwas tun? Schon Chesterton stellte mit Bezug auf Nietzsche fest - das genaue Zitat habe ich gerade nicht griffbereit -: Anzunehmen, die eigene Existenz sei absurd, und dann Zeit und Mühe darauf zu verwenden, Andere von der Absurdität des Daseins zu überzeugen, ist potenzierte Absurdität. 

Wenn also Menschen nicht in der Lage sind, einen Sinn in ihrem Dasein zu finden, und dennoch so leben, als hätte ihr Dasein einen Sinn, dann deutet das darauf hin, dass dieser Sinn unabhängig von ihnen existiert. C. S. Lewis argumentierte, allein die Tatsache, dass Menschen nach einem Sinn suchen, sei ein Beweis (nicht "proof", aber "evidence") dafür, dass es diesen Sinn gibt. Das muss man nicht überzeugend finden; aber schon indem man von der Möglichkeit Gebrauch macht, es nicht überzeugend zu finden, fällt man ein Urteil mittels des Verstandes, und schon dies zu tun setzt die Annahme, dass so etwas wie Sinn existiert, voraus. Lewis würde das jedenfalls so sehen. 

Diesen Sinn kann, wie gesagt, die Naturwissenschaft nicht finden, da die Frage danach nicht in ihren Bereich fällt. Was also tun? -- Kierkegaard war der Ansicht, der Absurdität und Bedeutungslosigkeit des Daseins könne man nur durch den "Sprung des Glaubens" (oder "Sprung in den Glauben") überwinden. Nach seinem Verständnis wäre dies allerdings ein Sprung, der die Vernunft hinter sich lässt, denn Vernunft und Glaube hätten, so meinte Kierkegaard, "einander nichts zu sagen". Ich habe - entschuldige, wenn ich hier kurz mal persönlich werde - zuweilen den Eindruck, dass Du diese Auffassung auch bei den von Dir so betitelten "Kampfchristen" vermutest bzw. ihnen unterstellst. Tatsächlich lehrt die Katholische Kirche das glatte Gegenteil, nämlich dass der Glaube vernunftgemäß sei; dass Gott die Welt vernünftig erschaffen hat und dass die Vernünftigkeit der Schöpfungsordnung, die der Mensch mittels der ihm verliehenen Vernunft erkennen kann, geradezu eine Spur Gottes ist, ein Kennzeichen, durch das die Schöpfung auf den Schöpfer zurückverweist. Das würde, wie wir gesehen haben, auch der Anglikaner Lewis unterschreiben. 

Dennoch hat Kierkegaard bis zu einem gewissen Grad Recht, wenn er den Akt des Glaubens als einen "Sprung" beschreibt - einen Sprung ins Ungewisse. Auch wenn die Schöpfung auf den Schöpfer verweist (weshalb es, nebenbei bemerkt, nicht nur kein Widerspruch, sondern sogar ausgesprochen folgerichtig ist, dass es große Naturwissenschaftler gab und gibt, die zugleich sehr gläubige Christen waren und sind), ist Gott doch wesentlich verschieden von der Schöpfung, also der physischen, sinnlich wahrnehmbaren Realität. Der jetzige Papa emeritus Benedikt XVI. schrieb 1968 in seiner "Einführung in das Christentum", dass "es zwischen Gott und Mensch eine unendliche Kluft gibt; weil der Mensch so beschaffen ist, dass seine Augen nur das zu sehen vermögen, was Gott nicht ist, und daher Gott der für den Menschen wesentlich Unsichtbare, außerhalb seines Sehfeldes liegende ist und immer sein wird." Daraus ergibt sich, so der damalige Professor Ratzinger weiter: "Immer schon [!] hat Glaube etwas von einem abenteuerlichen Bruch und Sprung an sich, weil er zu jeder Zeit das Wagnis darstellt, das schlechthin nicht zu Sehende als das eigentlich Wirkliche und Grundgebende anzunehmen." 

"Ich frage mich, ob man sich dafür entscheiden kann, glauben zu wollen", hast Du in einem Deiner jüngsten Kommentare geschrieben. Die Antwort lautet Ja. Der Glaube selbst - das ist in unserer Diskussion schon mehrfach angeklungen - ist einerseits eine Gnade, ein Geschenk, und somit nichts, was man "selber machen" kann. Aber dieses Geschenk anzunehmen, Ja zum Glauben zu sagen, bleibt ein Entschluss des einzelnen Menschen - ein "Sprung", ein Wagnis. Ohne diesen Sprung geht es nicht. Man hört und liest immer wieder von Menschen, die, zuvor gänzlich ungläubig, ein so intensives und erschütterndes Gotteserlebnis hatten, dass es ihnen daraufhin geradezu selbstverständlich, alternativlos erschien, den Glauben anzunehmen. Einige solche Fälle kenne ich aus meinem engsten persönlichen Umfeld. Ein Sprung bleibt es auch dann noch. Solange man diesen Sprung nicht gewagt hat, kann man nicht sehen und begreifen, sondern allenfalls in unklaren Umrissen erahnen, was auf der anderen Seite ist. (Das ist ein bisschen so wie mit der roten und der blauen Pille in "Matrix", aber dazu vielleicht ein andermal - das würde hier und jetzt zu weit führen.) 

Und aus genau diesem Grund ist es so schwierig und so unbefriedigend, über den Glauben auf einer rein theoretischen Ebene zu sprechen. Glauben ist im christlichen Verständnis nicht in erster Linie eine Theorie, ein Gedankengebäude, eine "Weltanschauung", sondern zuerst und vor allem eine lebendige Beziehung zu Gott. Wenn man einmal erfahren hat, dass Gott real ist, dann erscheinen einem gelehrte Abhandlungen über die Vereinbarkeit oder Nichtvereinbarkeit von Gottesbildern mit wissenschaftlichen Erkenntnissen schlicht gegenstandslos. Dann erscheinen Gedankengebäude, die Gott mehr oder weniger "wegzuerklären" versuchen, wie ein geistiger Turm von Babel, mit dem die Menschen den Himmel erreichen zu können meinen, der aber aus der Perspektive Gottes so mickrig ist, dass Er herabsteigen muss, um ihn zu betrachten (Gen 11,5!). 

Mir ist bewusst, dass das für jemanden, der diese unmittelbare Gotteserfahrung nicht kennt, sehr fremd und wenig hilfreich klingen muss. Aber es liegt nicht an mir, das zu ändern. Das Christentum beginnt historisch mit dem persönlichen Zeugnis derer, die dem auferstandenen Christus begegnet sind, und so beginnt Christsein bis heute immer wieder, überall auf der Welt. Alles, was danach kommt - Fundamentaltheologie, Dogmatik, Apologetik und, ja, auch Liturgie und Kirchenrecht -, hat seinen sinnvollen und notwendigen Platz im Gesamtgefüge der kirchlichen Glaubenslehre; aber ohne den ständigen Rückbezug auf diesen ersten Satz der christlichen Verkündigung - "Jesus lebt; wir sind ihm begegnet!" - wären all diese Dinge nichts als leergedroschenes Stroh. 

Mehr habe ich im Augenblick nicht zu sagen. 


P.S.: Doch, eins noch. Allmählich scheint mir, wir könnten aus unserem Austausch ein Buch machen. Was hältst Du von der Idee?