Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Freitag, 29. Januar 2016

Mit den Bösen werden wir schon fertig, aber die Guten machen mir angst

Eins vorweg: Ich habe den unlängst zum "Unwort des Jahres" gekürten Begriff "Gutmensch" nie besonders gemocht, geschweige denn selbst verwendet. Er klang mir immer zu sehr nach Häme und Zynismus. Zudem wurde und wird er für mein Empfinden oft allzu undifferenziert verwendet. Menschen, denen die Idee sozialer Verantwortung fremd ist, benutzen ihn gern, um jedwedes Engagement für notleidende und benachteiligte Mitgeschöpfe verächtlich und lächerlich zu machen - "Gutmensch" als beleidigend gemeintes Synonym für "(Möchtegern-)Weltbverbesserer" - wobei: der Begriff "Weltverbesserer" wird ja ebenfalls nicht selten mit abwertendem Unterton verwendet. Andere beziehen den Begriff "Gutmensch" auf Personen, die sich auf penetrante Weise im Glanze einer behaupteten moralischen Überlegenheit sonnen - und diese warten zuweilen auch mit Zitaten von Geistesgrößen des letzten oder vorletzten Jahrhunderts auf, die belegen sollen, dass der Begriff ursprünglich in diesem Sinne geprägt wurde. Was nichts daran ändert, dass die häufige Verwendung des Begriffs im erstgenannten Sinne ihn missverständlich macht. Als eine Teilmenge derjenigen, die im letzteren Sinne als "Gutmenschen" bezeichnet werden, kann man solche Zeitgenossen betrachten, die ein bestimmtes Bündel politischer, vor allem gesellschaftspolitischer Standpunkte auf eine Weise vertreten, die die Auffassung erkennen lässt, es könne oder dürfe dazu keinen legitimen Gegenstandpunkt geben. Die ihre Meinung also nicht als Meinung vertreten, sondern als Inbegriff des Guten und Wahren - und Andersdenkende nicht überzeugen, sondern aus dem Diskurs ausschließen und verdammen wollen. 

Letzterer Typus tummelt sich in jüngster Zeit tatsächlich immer auffälliger in sozialen und anderen Medien, aber diese Leute als "Gutmenschen" zu bezeichnen, finde ich fast schon verharmlosend. Denn die sind gefährlich. Und zwar gefährden sie ironischerweise genau das, was sie zu verteidigen vorgeben: eine tolerante, plurale und offene Gesellschaft. 

Das "Bündel politischer Standpunkte", von dem ich oben andeutungsweise sprach und das neben der Migrationspolitik vor allem Familien- und Sozialpolitik, Gender Mainstreaming, "Sexuelle Vielfalt" und politisch korrekte Sprache betrifft, wird vielfach - von Anhängern und Gegnern gleichermaßen - als "links" verortet, aber zumindest bei einem Teil dieser Standpunkte habe ich meine Zweifel an dieser Zuordnung. Was zugegebenermaßen daran liegt, dass ich insgesamt immer mehr daran zweifle, dass die Kategorien "rechts" und "links" zur Einordnung politischer Positionen heutzutage noch sinnvoll anwendbar sind. Was ja kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass diese Kategorien aus dem 19. Jahrhundert stammen. Schaut man sich z.B. die Sitzordnung der Fraktionen der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 an, kann man feststellen, dass viele Standpunkte, die damals "links" waren, heute als "rechts" gelten. Wie es dazu gekommen ist, lässt sich natürlich historisch nachvollziehen, aber es scheint mir doch diskutabel, ob man Begriffe, deren Bedeutung sich in einem Zeitraum von gut eineinhalb Jahrhunderten so sehr gewandelt hat, nicht lieber aufgeben und durch neue Begriffe ersetzen sollte. Zumal die Klassifizierung bestimmter politischer Standpunkte als "links" es den Anhängern dieser Standpunkte ermöglicht, ihre Gegner als "rechts" zu klassifizieren. Was einerseits natürlich nicht mehr als logisch ist, andererseits aber, aufgrund einer deutschen Besonderheit, problematisch. 

Diese deutsche Besonderheit ist fast schon zu offensichtlich, um sie auszusprechen: Fast überall, wo die Begriffe "links" und "rechts" zur Unterscheidung politischer Positionen verwendet werden, werden sie als zwei gleichermaßen legitime Flügel des politischen Meinungsspektrums aufgefasst - legitim insoweit, wie sie sich innerhalb des verfassungsgemäßen Rahmens bewegen. In Deutschland ist das nicht so. Hier bedeutet "rechts" im allgemeinen Sprachgebrauch nahezu automatisch "rechtsextrem" und wird mit der ideologischen Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus assoziiert. Wenn jemand - wie es z.B. Erika Steinbach einmal unternahm - behauptet, der Nationalsozialismus sei eigentlich eine linke Bewegung gewesen, wird dieser Jemand öffentlich ausgelacht, anstatt dass sich mal die Mühe gemacht würde, diese Aussage auf die darin enthaltenen Spurenelemente an Wahrheit zu untersuchen. Nein, nein und nochmals nein: Die Nazis waren rechts, und wer rechts ist, ist ein Nazi. Punktum. 

Exemplarisch deutlich wurde dies jüngst in einer Kolumne der taz zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. An prominenter Stelle, nämlich kurz vor Schluss, fanden sich da die Sätze:
"Wer hierzulande für Pegida auf die Straße geht, wer AfD wählt, wer Hasskommentare in sozialen Medien schreibt, wer Unterkünfte für vertriebene Menschen anzündet, der tut das in der Nachfolge des industriellen Massenmords an den Juden. Das muss man wissen." 
(Nicht ganz deutlich wird aus dem Kontext, ob es sich dabei um ein indirektes Zitat des Publizisten Jürgen Roth oder um des taz-Redaktuers eigene Ansicht handelt.) 

Keine Frage: Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte sind abscheuliche Verbrechen. Die PEGIDA ist, nach allem, was ich so von dieser Bewegung mitbekomme, ein Sammelbecken für allerlei mehr oder weniger wirre, mehr oder weniger extreme und gefährliche Verschwörungstheorien und Ideologeme. Auch für das Gemisch aus deutschnationalem Pathos und Wirtschaftsliberalismus, mit dem die AfD sich vielfach hervortut, hege ich keinerlei Sympathie. In Online-Diskussionen fallen mir viele (nicht alle!) Sympathisanten der AfD ebenso wie die der PEGIDA durch hasserfüllte Sprache und dumpfe Vorurteile auf. Dennoch: Zu behaupten, jeder PEGIDA-Demonstrant und jeder AfD-Wähler betreibe eine Fortsetzung des nationalsozialistischen Holocaust mit anderen Mitteln, ist absurd und empörend. 

(Interessant ist übrigens, dass ganz allgemein von "Hasskommentare[n] in sozialen Medien" die Rede ist, so als kämen solche ausschließlich aus einem politischen und weltanschaulichen Lager. Das unterscheidet sich ganz erheblich von meiner Wahrnehmung.) 

Klar ist: Wer einen oder mehrere politische Gegner in der Nachfolge eines massenmörderischen Terrorregimes verortet, der sagt damit: Mit solchen Leuten kann man nicht diskutieren - die muss man bekämpfen. Eine Botschaft, die bei Vielen auf fruchtbaren Boden fällt - und auf vielerlei Art in die Tat umgesetzt wird. So gab es im vergangenen Jahr 42 Anschläge auf AfD-Parteibüros; Vertreter dieser Partei erhalten Morddrohungen, ihre Autos werden angezündet, und im beschaulichen Karlsruhe wurde jüngst auf einen AfD-Plakataufsteller geschossen. In weiten Teilen der Öffentlichkeit wird das, sofern man es überhaupt zur Kenntnis nimmt, achselzuckend hingenommen: "Die" hätten es ja nicht besser verdient, das seien schließlich geistige Brandstifter, die den rechtsextremen Mob zu Gewaltverbrechen gegen Migranten und andere Minderheiten anstachelten. Derweil nutzen Politiker der etablierten Parteien ihren Einfluss auf die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, um die AfD aus TV-Debatten auszuschließen. Anstatt sich inhaltlich mit dieser Partei auseinanderzusetzen, versuchen sie lieber, sie durch "eine Änderung des Parteiengesetzes finanziell aus[zu]trocknen"

Da wirkt zunächst erst einmal vergleichsweise erfreulich, dass die Netzaktivistin Katharina Nocun, ehemalige politische Geschäftsführerin der Piratenpartei, es unlängst unternommen hat, sich kritisch mit dem Programm der AfD auseinanderzusetzen - genauer gesagt: mit ihrem Wahlprogramm für die Landtagswahl in Baden-Württemberg am 13. März. Zu diesem Zweck postete sie 25 Ausschnitte aus diesem Programm, jeweils mit kurzen, knackigen Kommentaren versehen, auf Twitter und veröffentlichte diese 25 Tweets dann auch gesammelt auf ihrem Blog. Diese Vorgehensweise ist allerdings an sich schon bezeichnend. Schließlich ist Twitter ein Medium, das eine aphoristische Kürze erfordert. Wenn Katharina Nocun ihre Auseinandersetzung mit dem AfD-Programm ganz auf diese Form beschränkt, dann zeigt das, dass sie der Auffassung ist, die von ihr herausgegriffenen Zitate jeweils mit einem flapsigen Spruch "erledigen" zu können - eine eingehendere Analyse, so meint sie offenbar, sind diese Thesen nicht wert. 

Folgerichtig lassen sich die meisten ihrer Tweets griffig mit "Boah, sind die blöd!" zusammenfassen. Und natürlich: "Alles Nazis!" Frau Nocun befleißigt sich der bewährten Strategie, das als gegeben vorauszusetzen, was sie eigentlich beweisen will - indem sie jedem Programmpunkt, den sie zitiert, die schlimmstmögliche Deutung unterlegt und dabei fleißig Nazi-Assoziationen ausstreut. Die inhaltliche Richtigkeit ihrer Aussagen ist dabei zweitrangig, aber das bringt die Eigendynamik des Mediums Twitter wohl so mit sich. 

So schreibt sie zum Beispiel: 
"Die AfD will nicht nur die Wehrpflicht einführen sondern auch einen "Tag des Heimatschutzes". Déjà-vu anyone?" 
An dieser Stelle erst einmal ein bisschen Nachhilfe für Frau Nocun: Die Wehrpflicht muss man in Deutschland nicht "einführen", es gibt sie bereits. Sie hat sogar Verfassungsrang. Lediglich die Einberufung von Wehrpflichtigen ist seit März 2011 ausgesetzt. Und dass die Netzaktivistin bei dem Begriff "Heimatschutz" ein "Déjà-vu" hat, dafür kann ja nun niemand was. Anders als Frau Nocun anzunehmen scheint, haben diesen Begriff nicht die Nazis erfunden; er entstand vielmehr um die Wende vom 19. und 20. Jahrhundert und umfasste u.a. so ehrenwerte Ziele wie Natur- und Denkmalschutz. Die AfD versteht laut dem im betreffenden Tweet zitierten Auszug ihres Wahlprogramms unter "Heimatschutz" allerdings die Tätigkeit von "Bundeswehr, Feuerwehren, Polizei und THW". Schlimm? Wer sich an der Begrifflichkeit stört, für den wird es vielleicht eine interessante Neuigkeit sein, dass die Bundeswehr bis 2007 Heimatschutzbataillone unterhielt. In den USA gibt es seit 2002 ein Heimatschutzministerium (Department of Homeland Security); aber ich vergaß, das hat ja George W. Bush eingeführt, und der war ja auch ein Nazi. Allerdings hat das Heimatschutzministerium auch unter Barack Obama das dritthöchste Budget aller US-Ministerien. Auch ein Nazi? Obama? Echt? 

Dasselbe Prinzip der schlimmstmöglichen Assoziation wendet Frau Nocun auch angesichts der AfD-Forderung an, in den Schulen "Unterrichtsdisziplin einzufordern und konsequent durchzusetzen":
"Die AfD möchte der Jugend von heute wieder ordentlich Disziplin einbläuen. Die Frage ist nur: Wie. *schauder*" 
Hm. Hat sich die Piratin in letzter Zeit mal an einer Schule umgesehen? Und zwar möglichst nicht an einer Privatschule in Beverly Frohnau oder ähnlichen Wohlstandsghettos, sondern beispielsweise an einer Integrierten Sekundarschule in einem "Problemkiez"? Hat sie mal mit Lehrern gesprochen? Gibt es nicht vielleicht Gründe für die Auffassung, mehr Disziplin an Schulen sei dringend notwendig? Vielleicht - aber wenn die AfD das fordert, dann ist damit bestimmt der Rohrstock oder Schlimmeres gemeint, denn wie wir wissen, sind das ja Nazis.

Folgerichtig interpretiert Katharina Nocun den Programmpunkt "Bürgerarbeit statt Hartz IV" - im Wahlprogramm definiert als "Ausübung gemeinnütziger Arbeit durch Langzeitarbeitslose" - als Forderung nach "Zwangsarbeit unter Mindestlohn". Dazu, welche Assoziationen der Begriff "Zwangsarbeit" auslöst und wohl auch auslösen soll, muss ich wohl nichts mehr sagen - zu "unter Mindestlohn" dann aber doch. Im AfD-Wahlprogramm ist von "ca. 30 Wochenstunden" und "ca. 1.000 EUR monatlich" die Rede. Der gesetzliche Mindestlohn für 30 Wochenstunden liegt bei 1.105 Euro monatlich. Wenn man bedenkt, dass in der zitierten Passage beide Zahlenangaben mit einem "ca." versehen sind, dann kommt das ja so einigermaßen hin.

Daneben wirft Frau Nocun der AfD auch vor, sie werbe "offen für die politische Beeinflussung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten". Dazu ist zunächst einmal anzumerken, dass die in den Länderparlamenten vertretenen Parteien - und um eine Landtagswahl geht es hier ja - über die Rundfunkräte de facto einen gewissen Einfluss auf die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten haben. Interessant ist nun doch eigentlich eher, wofür die AfD diesen Einfluss, wenn sie ihn denn bekommt, ihrem Programm zufolge nutzen will: nämlich dafür, dass "Ehe und Familie positiv dargestellt werden".

Und damit sind wir bei einem Kernthema angekommen: Mehr als die Hälfte der 25 Zitate, die Frau Nocun aus dem AfD-Programm zur Landtagswahl in Baden-Württemberg herausgepickt und kommentiert hat, drehen sich im weitesten Sinne um Familien- und Geschlecherpolitik. --  Ich gebe zu, ich habe das Programm über diese Ausschnitte hinaus nicht gelesen. Ich weiß daher nicht, ob diese Auswahl einen repräsentativen Eindruck vermittelt, aber ich könnte mir vorstellen, dass der Bereich Familienpolitik tatsächlich einen Hauptschwerpunkt dieses Programms bildet. Vergessen wir nicht, dass das grün-rot regierte Baden-Württemberg infolge der Kontroversen um den "Bildungsplan 2015" und dank der Mobilisierungstätigkeit des Bündnisses Demo für Alle das bundesweit vorrangige Schlachtfeld in Sachen Familien- und Genderpolitik ist. Da liegt die Vermutung nahe, dass die AfD gerade auf diesem Gebiet Wähler aus dem bürgerlich-konservativen Milieu für sich zu gewinnen hofft. Dementsprechend spiegeln aber eben viele der familienpolitischen Thesen, die Katharina Nocun in ihrer Tweet-Serie aufs Korn nimmt, keine genuinen oder gar exklusiven AfD-Positionen wider, sondern einfach klassisch konservative Positionen. Und da wird es nun interessant - denn während ich, aus weiter oben genannten Gründen, an und für sich keinerlei Interesse daran habe, die AfD in Schutz zu nehmen, werde ich umso hellhöriger, wenn im Zuge des "Kampfes gegen Rechts" zum allgemeinen Angriff auf alles geblasen wird, was konservativ ist.
"Die 60er haben angerufen & wollen ihr verstaubtes Familienbild zurück: Wahlprogramm from hell made by AfD."
Dieser Tweet fasst Frau Nocuns Haltung zu den familienpolitischen Thesen des von ihr untersuchten Wahlprogramms bereits recht griffig zusammen. Ihre Strategie besteht darin, konservative Standpunkte lächerlich zu machen, ohne zu begründen, was daran so lächerlich sein soll. So als wäre diese Lächerlichkeit evident. Der konkrete Anlass für den obigen Kommentar war übrigens die Aussage, es sei "nicht akzeptabel", dass "derzeit mehr als jede dritte Ehe in Deutschland geschieden" werde: "Von den Betroffenen wird eine Scheidung oft als persönliche Katastrophe erlebt." Lächerlich? - Ein probates Mittel ist es natürlich auch, Aussagen, die man kritisieren möchte, erst einmal grob zu verzerren:
"AfD will Jugendliche vor Inhalten bewahren die zu 'Promiskuität' verleiten. Was heißt das? Kein Sex vor der Ehe?"
Wie witzig. - Die Ablehnung einer Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften mit der Ehe, "da nur die Ehe zwischen Mann und Frau eine Familie begründen kann" - was CDU und CSU übrigens genauso sehen -, kommentiert Katharina Nocun wie folgt:
"In der Retro-AfD Welt geht Familie nur in der Ehe zwischen Mann und Frau. Wie traurig- Familie ist da wo Liebe ist!" 
Ganz ehrlich: Ich kann dieses Geplärre über "Liebe" in diesem Zusammenhang nicht mehr hören. Liebe ist Privatsache. Ob Menschen, die eine Partnerschaft miteinander eingehen wollen, einander lieben oder nicht, geht den Staat und damit den Gesetzgeber nichts an. Was Ehe und was Familie ist, hingegen sehr wohl - da Artikel 6 des Grundgesetzes festschreibt, diese Institutionen stünden "unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung". Ohne Zweifel haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes bei der Formulierung dieses Satzes eine Vorstellung von Ehe und Familie im Auge gehabt, die heute Vielen als "verstaubt" erscheinen mag. Der Versuch, die Begriffe Ehe und Familie "zeitgemäß" umzudefinieren, liefe mit Blick auf Art. 6 GG geradezu auf eine Verfassungsänderung durch die Hintertür hinaus. Inhaltlich mag man davon halten, was man will, aber besonders demokratisch ist dieses Verfahren nicht gerade.

Ähnlich lapidar behandelt Katharina Nocun die Forderung, "dass jedes Kind darin gestärkt wird, sein biologisches Geschlecht anzunehmen":
"Als hätte man eine Wahl wie man fühlt..." 
Stimmt: Die hat man natürlich nicht. Genauso wahr ist es aber, dass Gefühl - bzw. Gefühl allein - nicht die beste Basis für weit reichende Entscheidungen ist. Schon allein, weil Gefühle so wankelmütig sind. Nicht nur, aber besonders bei Kindern. Geschlechtsdysphorie - ein Gefühl der Unzufriedenheit mit dem eigenen Geschlecht, die Vorstellung, man wäre glücklicher, wenn man ein anderes Geschlecht hätte - ist ein bei Kindern in vorpubertärem Alter gar nicht so seltenes Phänomen, aber bei den meisten geht das wieder vorbei. Eine schwierige Phase ist es aber natürlich in jedem Fall. Sollte da die Auffassung, es sei besser, die Kinder darin zu stärken, ihr biologisches Geschlecht anzunehmen, als sie als transgender einzustufen und womöglich auf eine Geschlechtsumwandlung vorzubereiten, nicht zumindest erwägenswert sein?

Und übrigens:
"Habe ich schon erwähnt was die AfD vom Recht auf Abtreibung hält?" 
Hier ist wieder einmal Nachhilfe angebracht: Ein "Recht auf Abtreibung" gibt es nicht und kann es nicht  geben. Dass Frau Nocun das nicht weiß, wundert mich nicht besonders, aber gerade deshalb ist es mir wichtig, das zu betonen. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach bekräftigt, dass der Staat die Pflicht hat, das Lebensrecht ungeborener Kinder zu schützen. Inwieweit die geltende Rechtslage dieser Vorgabe gerecht wird, ist eine andere Frage. Was sagt denn die AfD dazu?
"Die Alternative für Deutschland [...] wendet sich gegen alle Versuche, Abtreibungen zu bagatellisieren, sie staatlicherseits zu fördern oder sie gar zu einem 'Menschenrecht' zu erklären. Schwangeren in Not müssen konkrete Hilfen angeboten werden, damit sie sich für ihr Kind entscheiden können." 
Ja, und was soll daran nun bitte falsch sein? -- Es tut mir wirklich herzlich leid, dass es gerade die AfD ist, die so etwas in ihrem Programm stehen hat, aber in diesem Punkt - unbeschadet aller berechtigten Kritik an anderen Positionen dieser Partei - hat sie einfach zu hundert Prozent Recht! -- Katharina Nocun hingegen findet Abtreibung offenbar prima und Abtreibungsgegner jedenfalls doof. Etwas weiter unten behauptet sie:
"Den demographischen Wandel will die AfD durch weniger Abtreibungen bewältigen. Gott, wirf Hirn vom Himmel!" 
Letzterem Wunsch möchte man sich fast anschließen, wenn auch mit einer abweichenden Wurfrichtung. Denn entweder kann Frau Nocun vor lauter Voreingenommenheit selbst nicht sinnerfassend lesen, oder sie baut darauf, dass ihr Publikum das nicht kann. Der obige Tweet stellt nämlich diejenige Passage des AfD-Programms, auf die er sich bezieht, komplett auf den Kopf: Tatsächlich steht dort, zur Lösung der demographischen Probleme Deutschlands bedürfe es eines kinderfreundlicheren gesellschaftlichen Klimas (wörtlich: einer "Willkommenskultur für Kinder" - ich würd' mal sagen, diese Formulierung ist Geschmackssache), und dieses würde zugleich "auch [!] eine Reduzierung der viel zu hohen Abtreibungszahlen mit sich bringen". Drücken wir's mal formelhaft aus: "Maßnahme x ist notwendig für A und kann gleichzeitig auch B bewirken" ist nicht dasselbe wie "Wir wollen A durch B erreichen". Aber wen kümmert schon Logik.

Dafür, dass die AfD - offenkundig in Hinblick auf den schon erwähnten Bildungsplan 2015 - vor einer "volkserzieherische[n] Überhöhung von nicht heterosexuellen Menschen" warnt, hat Katharina Nocun nur ein Wort: "Paranoia". Ebenso die Einschätzung, Frauenquote und Gleichstellungsbeauftragte führten zu einer "Diskriminierung von männlichen Stellenbewerbern": "Paranoia". Und diese Diagnose stammt, wohlgemerkt, von einer Frau, die hinter jedem Kieselstein die Wiederkehr des Nationalsozialismus wittert.

Ich habe - ich betone es nochmals - eigentlich nicht die Absicht, hier eine Lanze für die AfD zu brechen; wenngleich es mich wundert, dass von den Positionen dieser Partei, die auch mich ganz erheblich stören, in Frau Nocuns Twitter-Philippika so gut wie nichts vorkommt. Vielleicht stand dazu im Wahlprogramm für Baden-Württemberg einfach zu wenig Verwertbares drin, kann ja sein. Jedenfalls aber muss ich feststellen, dass die ehemalige Piraten-Geschäftsführerin mit der Art und Weise, wie sie das Programm der AfD aburteilt, bei mir das glatte Gegenteil ihrer Intention erreicht. Dazu trägt sowohl der manipulative Charakter ihrer Polemik bei als auch der Umstand, dass sie sich nicht darauf beschränkt, gegnerischen Positionen inhaltlich zu widersprechen, sondern es gleich als ganz und gar inakzeptabel darstellt, dass überhaupt jemand diese Positionen vertritt. Eine geradezu fanatische Feindschaft gegenüber, sagen wir mal, tradierten Familien- und Gesellschaftsmodellen rundet den Gesamteindruck ab. Versuche ich, ex negativo aus dem, was sie ablehnt, abzuleiten, wofür sie eintritt, kommt mir das Grausen. -- Mit alledem steht Katharina Nocun selbstverständlich nicht allein; wäre dem so, dann wären ihre Äußerungen die Auseinandersetzung ja gar nicht wert. Tatsächlich machen aber beispielsweise die aggressiven Kampagnen gegen die Demo für Alle oder den Marsch für das Leben hinreichend deutlich, in welchem Ausmaß konservative Positionen pauschal mit rechtsextremen in einen Topf geworfen werden und so aus dem politisch-gesellschaftlichen Diskurs verbannt werden sollen.


Es lässt sich nicht leugnen: Wir leben in einer Ära des Populismus, der Lagerbildung und der Beißreflexe. Der Populismus eines Lagers heizt den Populismus des entgegengesetzten an; besonnene und differenzierte Äußerungen finden so immer weniger Gehör. Der Populismus der (vermeintlich) Guten aber ist weit gefährlicher als der Populismus der offensichtlich Bösen. Er verspricht ein gutes Gewissen, und dieser Umstand macht ihn verführerischer und darum auch mehrheitsfähiger. So beunruhigend das Grassieren von Hassparolen gegen Migranten, gegen ethnische, sexuelle oder andere Minderheiten, so erschreckend die Ausbrüche realer Gewalt gegen Angehörige dieser Gruppen ohne Zweifel sind: Beim weitaus überwiegenden Teil der Zivilgesellschaft werden sie stets auf Ablehnung und Gegenwehr stoßen. Die Diktatur der Guten hingegen kommt auf leiseren Sohlen. 



Dienstag, 26. Januar 2016

Hostienfrevel bei eBay

In den letzten Tagen gab es unter meinen katholischen Facebook- und Twitter-Freunden große Aufregung und Empörung über ein beim Online-Flohmarkt eBay eingestelltes Angebot: Ein eBay-Nutzer mit dem Alias 20maximilian02 bot dort eine "[v]om Papst geweihte Hostie" feil. Diese stamme "aus einer Eucharistiefeier, die der Papst zu Weihnachten 2015 persönlich gehalten hat", hieß es in der Artikelbeschreibung. Als ich zum ersten Mal auf diesen Umstand aufmerksam gemacht wurde, stand der Verkaufspreis des Artikels nach vier abgegebenen Geboten bei 10,50 €; am nächsten Morgen hieß es auf Facebook, der Preis habe sich inzwischen auf 61 € erhöht. Offenbar herrscht in den Weiten des Internets also eine gewisse Nachfrage nach vom Papst geweihten Hostien. 

Und was ist daran nun so schlimm? - Für gläubige und praktizierende Katholiken, die in der Erstkommunion-Katechese ein bisschen aufgepasst und seither nicht alles wieder vergessen haben, dürfte sch diese Frage von selbst beantworten -- sollte man meinen. Aber einerseits ist die Lehre von der Realpräsenz Christi in der Eucharistie wohl selbst unter Katholiken so selbstverständlich doch nicht - wir hatten das Thema ja neulich erst -; und andererseits schreibe ich meinen Blog ja nicht nur für Katholiken, und schon gar nicht nur für Leute, die sowieso schon alles wissen. Daher hier eine kurzgefasste und stark vereinfachte Erklärung. 

Die Katholische Kirche lehrt, dass bei der Wandlung in der Heiligen Messe die eucharistischen Gaben - Brot und Wein - wirklich und wahrhaftig zu Leib und Blut Christi werden. Man nennt das Transsubstantiation. Von ihrer Materie her, ihrer äußeren Gestalt, verändern sie sich zwar nicht, aber von ihrer Substanz her sind sie nach der Wandlung eben nicht mehr Brot und Wein, sondern Christus selbst. In Johannes 6,51 sagt Jesus Christus: "Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, ich gebe es hin für das Leben der Welt." Und kurz darauf, in Vers 55, bekräftigt Er noch einmal: "Mein Fleisch ist wirklich eine Speise und mein Blut ist wirklich ein Trank." Anders als einige andere christliche Konfessionen versteht die Katholische Kirche diese Aussagen sehr wörtlich. Leib und Blut Christ sind für gläubige Katholiken so wertvoll, dass diejenigen Hostien, die nicht noch in derselben Messfeier verzehrt (sumiert) werden, im Tabernakel eingeschlossen werden - das ist eine Art Tresor, nur prächtiger. Man bezeichnet die gewandelten (konsekrierten) Hostien auch als "das Allerheiligste". Und das Allerheiligste verkauft man nicht - das sollte Jedem, der mit dem Begriff des Heiligen überhaupt etwas anfangen kann, unmittelbar einleuchten. 

Hinzu kommt natürlich, dass man nicht wissen kann, was der prospektive Käufer mit der Hostie machen würde, wenn er sie erst mal hätte. Auch ganz abgesehen vom kommerziellen Aspekt ist es nach katholischer Lehre ein schweres Sakrileg, eine konsekrierte Hostie aus der Kirche zu entwenden (vgl. die Instruktion Redemptionis Sacramentum, Nr. 132 u. 172 a). Die Kirchengeschichte kennt Erzählungen über Gläubige, die ihr Leben dafür eingesetzt haben, das Allerheiligste vor dem Zugriff Unwürdiger zu schützen - ein bekanntes Beispiel ist der Hl. Tarsitius

Nun haben wir allerdings bereits festgestellt, dass eine konsekrierte Hostie sich rein materiell betrachtet in nichts von einer nicht-konsekrierten unterscheidet. Es gibt zwar mystisch begabte Menschen, die laut eigener Aussage spüren können, ob eine Hostie konsekriert wurde oder nicht, aber das ist natürlich letztlich nicht überprüfbar. Es könnte sich somit bei der bei eBay angebotenen Hostie natürlich auch um eine nicht-konsekrierte handeln; das ist im Grunde sogar erheblich wahrscheinlicher - denn wie 20maximilian02 es geschafft haben will, eine konsekrierte Hostie aus einer vom Papst zelebrierten Weihnachtsmesse herauszuschmuggeln, in der meines Wissens üblicherweise nur Mundkommunion zugelassen ist, das müsste er mir erst mal erklären. An eine ungeweihte Hostie kommt man viel leichter - die liegen in vielen Kirchen vor Beginn der Messe offen aus. Ja, vielleicht ist das, was da auf eBay angeboten wurde, sogar nur eine stinknormale Backoblate aus dem Supermarkt. Mit einer solchen könnte 20maximilian02 nun im Prinzip machen, was er will; aber wenn er sie zu Verkaufszwecken fälschlich als vom Papst geweihte Hostie ausgibt, dann ist das eben Betrug

Eine solche Vorspiegelung falscher Tatsachen zum Erzielen eines höheren Verkaufspreises ist aus katholischer Sicht durchaus ebenfalls sündhaft, aber einem Katholiken, der an die Realpräsenz Christi in der Eucharistie glaubt, wird ein derartiges Vergehen vergleichsweise geringere Schmerzen bereiten als ein missbräuchlicher Umgang mit dem Leib Christi. Aus der Perspektive des weltlichen Rechtsverständnisses dürfte es genau umgekehrt sein. In jedem Fall stellte der Umstand, dass die Echtheit des angebotenen Artikels schlechterdings nicht überprüfbar ist, einen ausreichenden Grund dar, bei eBay eine Beschwerde gegen dieses Angebot einzulegen - mit einer Begründung, die man bei eBay auch versteht. Zahlreiche Katholiken nutzten diese Möglichkeit und meldeten das Angebot als missbräuchlich; u.a. schaltete sich der namhafte Tiroler Moraltheologe Josef Spindelböck in die Angelegenheit ein. Daraufhin wurde das Angebot tatsächlich zunächst gelöscht - aber wenig später stellte 20maximilian02 den Artikel unverdrossen erneut ein. 

Mir stellt sich bei alledem vor allem die Frage: Wer macht denn sowas? Und diese Frage geht in zwei Richtungen: an die Adresse des Anbieters und der prospektiven Käufer. Wobei die Frage nach den prospektiven Käufern natürlich auch wieder an den Anbieter zu stellen wäre: Was stellt der sich vor, was für Kunden sich von seinem Angebot angesprochen fühlen sollten? Gläubige Katholken, die von ihrem Glauben einigermaßen was verstehen, dürften es aus den oben genannten Gründen schon mal nicht sein. Bzw. wenn der Verkäufer denkt, dass sein Angebot für diese Zielgruppe reizvoll wäre, dann versteht er selbst nicht viel vom katholischen Glauben. Das ist ziemlich wahrscheinlich - schon weil er es für relevant hält, dass es sich (angeblich) um eine vom Papst geweihte Hostie handelt. Okay, der Papst ist ein Promi. Und die Reliquienvereherung, für die die Katholische Kirche in der Vergangenheit oft gescholten wurde und z.T. noch heute gescholten wird, hat längst ihren Platz im weltlichen Starkult gefunden, gerade in Form von Berührungsreliquien. Für Gegenstände, die einmal dem Prominenten X oder Y gehört haben, zahlen Fans oft horrende Preise. Da ist es dann umso weniger überraschend, dass die Verehrung von Berührungsreliquien auch innerhalb der Kirche, wo sie ja eine lange Tradition hat, nach wie vor ihren Platz hat - und sich für manche Gläubige nicht allein auf "offizielle" Heilige beschränkt, sondern sich zum Beispiel eben auch auf den aktuellen Papst erstreckt. Jedoch: Wir reden hier von einer geweihten Hostie - und die ist, wie gesagt, nach katholischem Glauben der wahrhaftige Leib Christi, völlig unabhängig davon, ob die Wandlung vom Papst vollzogen wurde oder von irgendeinem Dorfkaplan. Dass 20maximilian02 in seiner Artikelbeschreibung anmerkt, die von ihm feilgebotene Hostie habe "ja eine besondere Segnung erfahren", ist nach katholischem Verständnis somit kompletter Unsinn. Wobei natürlich die Möglichkeit besteht, dass manche Katholiken sich dessen nicht bewusst sind. Es soll ja auch Leute geben, die sich den Segen "urbi et orbi" auf Video aufzeichnen und jeden Tag anschauen, in der Annahme, sie würden auf diese Weise jeden Tag vom Papst gesegnet. 

Man könnte natürlich auch auf die Idee kommen, 20maximilian02 beabsichtige mit seinem Hostien-Angebot auf eBay eine Art "Geiselnahme" mit "Lösegelderpressung" - er spekuliere also darauf, dass fromme Katholiken bereit sind, viel Geld für diese Hostie auszugeben, um zu verhindern, dass sie in falsche Hände gerät und zu sakrilegischen Zwecken verwendet wird. In der einen oder anderen Facebook-Diskussion wurde tatsächlich der Gedanke geäußert, vielleicht könne man auf diesem Wege Schlimmeres verhüten - allerdings sprach sich der überwiegende Teil der Diskussionsteilnehmer dagegen aus, mit dem Hinweis, dadurch würde man den an sich schon sakrilegischen Handel mit dem Allerheiligsten ja letztlich nur unterstützen und zu Wiederholungs- bw. Nachahmungstaten ermutigen. Ich glaube auch irgendwie nicht, dass dieser eBay-Händler überhaupt so weit denkt; in seiner Artikelbeschreibung deutet jedenfalls nichts darauf hin. 

Wenn 20maximilian02 seine Hostie nun also bei gläubigen Katholiken nicht loswird - bei wem dann? Wer könnte sonst ein Interesse am Besitz dieses Artikels haben? - Satanisten, flüstert es in meinem Hinterstübchen. Man hört immer wieder, dass Satanisten konsekrierte Hostien in ihren Besitz zu bringen versuchen, um sie bei ihren Schwarzen Messen zu verwenden. Der berühmte Exorzist Gabriele Amorth soll einmal geäußert haben, der Glaube an die Realpräsenz sei unter Satanisten anteilmäßig verbreiteter als unter Katholiken. Was der Katholischen Kirche natürlich zu denken geben müsste. Im vorliegenden Fall würde ich allerdings denken, eine Artikelbeschreibung, die gezielt Satanisten als Käufer anlocken soll, sähe anders aus. Zumal Satanisten im Internet vermutlich ganz andere Foren haben, über die sie sich das Zubehör zu ihren Ritualen beschaffen, als ausgerechnet eBay

Ein besonders bemerkenswertes Detail der Artikelbeschreibung auf eBay ist übrigens der Hinweis, die Hostie eigne sich "sehr gut z.B. für die private Eucharistiefeier Zuhause [sic] im kleinen Kreise". Auch hier fragt man sich natürlich erst einmal: "Private Eucharistiefeier zu Hause im kleinen Kreise"? Wer macht denn sowas? Aber darauf gibt es eine einfache Antwort: Die österreichische "Wir sind Kirche"-Vorsitzende Martha Heizer und ihr Mann, die machen sowas. Die im Jahr 2014 ausgesprochene Exkommunikation des Ehepaares Heizer wurde damit begründet, dass die Heizers "regelmäßig in ihrem Privathaus im österreichischen Absam (Tirol) Messen gefeiert" hätten, "gemeinsam mit anderen Gläubigen, allerdings ohne geweihte Priester".  Darüber, ob sie zu diesem Zweck auch selbst "Wandlung gespielt" oder auf bereits konsekrierte Hostien zurückgegriffen haben, schweigt des Sängers Höflichkeit. Zuzutrauen wäre ihnen gewiss Ersteres. Ein solches Vorgehen verriete freilich das Fehlen des Glaubens an die Wirksamkeit der Weihehandlung des Priesters, der bei der Wandlung in persona Christi agiert - und ließe wiederum an das Diktum Pater Amorths bezüglich der Verbreitung Glaubens an die Realpräsenz bei Satanisten und bei Katholiken denken. 




Sonntag, 24. Januar 2016

Zukunftsbilder aus Dorsten

Ich war noch nie in Dorsten. Bis vor Kurzem wusste ich noch nicht einmal so genau, wo das liegt. Und von der dortigen Pfarrei St. Agatha - im Jahr 2009 fusioniert aus den Gemeinden St. Agatha, Hl. Kreuz, St. Johannes und St. Nikolaus - hatte ich nie etwas gehört, bis ich kürzlich der Online-Ausgabe der Nordwest-Zeitung entnahm, dass der ehemalige Pfarrer von St. Willehad in Nordenham, Torsten Jortzick, dort übergangsweise als Aushilfspfarrer tätig wird. Dorsten liegt im westfälischen Teil des Bistums Münster und hat - ganz anders als Nordenham oder gar Dänemark - eine weit überwiegend katholische Bevölkerung. Da herrschen also entschieden andere Arbeitsbedingungen für einen katholischen Geistlichen als in der Diaspora. Was nicht zwingend bedeutet, dass das Eine einfacher wäre als das Andere.
Pfarrer Jortzick bei seiner ersten Hl. Messe in Dorsten; Bildquelle hier.
So findet sich in den Pfarrnachrichten für die Woche vom 10.-17.01. unter der Überschrift "Pastor Jortzick für ein halbes Jahr in unserer Pfarrei... Und wie geht es weiter?" ein vom leitenden Pfarrer Ulrich Franke verfasster Text, der zunächst einmal etwas irritierend anmutet.

"Unser Bischof hat nach dem Ausscheiden von Kaplan Finkemeier Herrn Pastor Jortzick für ein halbes Jahr zur Aushilfe in unserer Pfarrei bestimmt. [...] Wie die meisten von ihnen, bin ich über dieses Provisorium nicht gerade erbaut, unabhängig von der Person des Priesters. Der häufige Wechsel der Priester ist für die Arbeit in unserer Pfarrei nicht gut. Das habe ich auch dem Personalchef gesagt. Er steht vor dem Dilemma, dass eben immer weniger Priester zur Verfügung stehen und gerade noch die anstehenden Pfarrstellen besetzt werden können. Wir werden auf Dauer sicher keinen dritten Priester mehr bekommen. Das schreibe ich, weil es wichtig ist, dass wir hier vor Ort nach anderen Wegen und Formen von Beteiligung der Gottesdienst- und Gemeindeleitung gucken müssen, auch dann, wenn wir jetzt noch einen dritten Priester haben.
Wir heißen Pastor Jortzick in unserer Pfarrei herzlich willkommen und hoffen, dass er sich bei uns bald einleben wird.
U. Franke, Pfarrer"
Willkommenskultur sieht anders aus, könnte man meinen. Zwar betont Pfarrer Franke, dass sein Unmut nichts mit Torsten Jortzick persönlich zu tun hat, und findet zum Schluss doch noch ein paar warme Worte für den neuen Aushilfsgeistlichen, aber man fragt sich doch, was ihn wohl geritten hat, ausgerechnet die Bekanntgabe der Ankunft eines neuen Priesters zum Anlass zu nehmen, seinem Ärger über die Personalpolitik des Bistums Luft zu machen. Zumal er ja selbst einräumt, dass die Personalabteilung des Bistums bereits ihr Möglichstes tut, dass aber schlicht nicht genug Priester zur Verfügung stehen, um allen Ansprüchen aller Pfarreien gerecht zu werden. Was Pfarrer Franke dabei offenbar umtreibt, erkennt man auf den zweiten Blick: Indem er seine Gemeinde darauf einstimmt, dass die Pfarrei "auf Dauer sicher keinen dritten Priester mehr bekommen" wird, will er die Notwendigkeit betonen, "nach anderen Wegen und Formen von Beteiligung der Gottesdienst- und Gemeindeleitung" zu suchen. 

Man tut wohl gut daran, diese Mahnung im Zusammenhang damit zu sehen, dass die Pfarrei St. Agatha Dorsten ihre Mitglieder erst jüngst mittels einer Fragebogenaktion dazu aufgefordert hat, "ihr Wunschbild von Kirche" zu zeichnen - und nun zusehen muss, welche Konsequenzen sie aus den Ergebnissen dieser Befragung zieht. 

Ganze 1249 Personen nahmen an der Fragebogenaktion teil - übrigens nicht nur Katholiken: 12,3% der Teilnehmer gaben ihre Religionszugehörigkeit als evangelisch an, 0,8% als muslimisch, 0,4% als orthodox. "Das Ergebnis ist außerordentlich", wird Pfarrer Franke in der Dorstener Zeitung zitiert, und auch die Pfarrgemeinderatsvorsitzende Ulrike Esser zeigt sich erfreut über die hohe Beteiligung: "Unser Ziel waren 1000", gibt sie zu Protokoll - und fügt hinzu: "In anderen Pfarreien haben nur 300 Menschen mitgemacht." Was aber hat die Umfrage denn nun ergeben? - Zunächst einmal, dass Gemeinschaft den Menschen besonders wichtig ist. "Die Kirche wird sich also als Ort des Zusammenhalts gewünscht. Die Kirche als Ort in der Not, des Trostes, der Zuwendung spielt offensichtlich eine große Rolle", sagt Pfarrer Franke in der Dorstener Zeitung. Der Pfarrgemeinderatsvorsitzenden gibt dieser Befund sogleich zu denken:
"Wenn Gemeinschaft das ist, was die Menschen mit Kirche verbinden, aber nur sieben Prozent unsere Pfarreimitglieder in die Kirche kommen, dann ist das doch konträr. Die Menschen gehen zum Fußball ins Stadion, um Gemeinschaft zu erleben. Warum rennen die uns nicht die Bude ein?"
Das sind gewichtige Fragen - die sogleich die Häme eines vulgäratheistischen Leserbriefschreibers mit dem Pseudonym "Suedwind" herausfordern:
"[F]ragen sie das ernsthaft? Die Menschen haben Augen und Ohren und diese Antennen sind empfindlicher ausgestattet, als wie [!] vor Jahrzehnten oder wie im düsteren Mittelalter! Die Menschen lesen, hören Radio, sehen Fern und haben das Internet, und erfahren genau an diesen Stellen, was hohe Ordensträger [sic!] der Kirchen sich erlauben, wie die Kirche Kapital hortet. Und das[s] der Mensch nicht die 'Krone der Schöpfung sein kann', das zeigen uns regelmäßig Satellitenaufnahmen des Universums. Denn das[s] der Mensch eines Tages dort auf eine andere Intelligenz stoßen wird, oder umgekehrt, das ist nüchterner und wahrscheinlicher gedacht, als in die Kirche zu laufen und den 'lieben Gott' anzubeten, denn DER wird mit Sicherheit im All nicht anzutreffen sein."
Hier wird also mal wieder fröhlich alles in einen Topf geworfen, von korrupten Kirchenvertretern bis hin dazu, dass die moderne Wissenschaft den Glauben an Gott obsolet mache; dabei gibt es "Suedwind" offenkundig kein bisschen zu denken, dass zahlreiche Menschen in Dorsten dennoch Wünsche und Erwartungen an die Kirche haben - und nicht an die NASA, die gefälligst endlich mal Kontakt zu außerirdischen Lebensformen aufnehmen möge. Na, wahrscheinlich ist diesen Leuten einfach nicht zu helfen. 
 
-- Oder doch? Frau Esser vom Dorstener Pfarrgemeinderat zumindest ist dieser Meinung, und Pfarrer Franke wohl auch. Schauen wir uns die Ergebnisse der Umfrageaktion also mal etwas genauer an. 
 
Erst einmal wurden den Teilnehmern da zehn Symbolbilder gezeigt, von denen sie angeben sollten, welche sie besonders ansprechen und was sie dazu assoziieren. Vom Bild eines Priesters in Orantenhaltung fühlten sich dabei nur 11,5% (Platz 8) angesprochen; besser schnitten das Bild einer in zwei Händen gehaltenen brennenden Kerze (31,6%, Platz 2) und eines Kreuzes vor Sonnenuntergangs-Kulisse (19,8%, Platz 4) ab. Sind demnach Priester gar nicht so wichtig und der Priestermangel somit gar kein so gravierendes Problem? Nun, wir wollen nicht vorgreifen. Andere Bilder, die zur Auswahl standen, zeigten beispielsweise eine Elefantenherde (12,7%, Platz 6) oder ein Sportstadion (9,3%, Platz 9).

Unter den zu den Bildern assoziierten Begriffen wird "Gemeinschaft" mit weitem Abstand am häufigsten genannt; es folgen Begriffe wie "Vertrauen/Geborgenheit", "Caritas/Hilfe/Nächstenliebe" oder "Begeisterung/Freude". Die Begriffe "Liturgie/Gebet/Gottesdienst" tauchen nur am Rande auf. Heißt das, dass die Kirche den Dorstenern vor allem als soziales Netzwerk wichtig ist, der religiöse Aspekt sie hingegen nur am Rande interessiert? Den Eindruck könnte man haben, aber es ist nicht unbedingt so. Was für Assoziationen den Leuten in den Sinn kommen, ist schließlich auch davon abhängig, was für Bilder man ihnen anbietet, und von den zehn zur Auswahl stehenden Bildern sahen eben nur drei irgendwie nach Religion oder "Spiritualität" aus. Ich sag mal: Zu einer Elefantenherde würde mir auch nicht unbedingt "Gottesdienst" oder "Gebet" einfallen. 

Die übrigen Teile der Umfrage sind nach Altersgruppen getrennt ausgewertet: Personen unter 18 Jahren, 18-40jährige, 41-65jährige und Personen über 65 Jahren. Dabei zeigen sich unerwartete Übereinstimmungen zwischen Kindern und Jugendlichen einerseits und Senioren andererseits - zum Beispiel bei der "Wichtung [sic] der Angebote" der Pfarrei: Bei beiden Altersgruppen landet hier der Gottesdienst ganz vorn - 74,3% der befragten Senioren und sogar 76,1% der befragten Kinder und Jugendlichen finden ihn "wichtig". Eine Überraschung gibt es auch bei der Bilderbewertung: Während die Senioren die einzige Gruppe sind, bei denen das Bild des betenden Priesters mit 23% unter die Top 3 gekommen ist, gefiel den Kindern das Kreuz bei Sonnenuntergang am besten (32,4%)! 

In den beiden mittleren Altersgruppen konnten sich immerhin 36,5% respektive 33,5% für das Bild mit der Kerze begeistern. Im Wichtigkeits-Ranking landet der Gottesdienst hier allerdings nur jeweils auf Platz 4: Nur 44,7% der 18-40jährigen stufen ihn als "wichtig" ein, bei den 41-65jährigen sind es immerhin 61,8%. Welche Angebote der Pfarrei finden diese Altersgruppen aber denn nun wichtiger? Hier ist die Rangfolge in beiden Alterssegmenten die gleiche: Auf Platz 3 landen "Kinder- und Jugendgruppen" ("wichtig" sagen 61,2% der 18-40jährigen und 71% der 41-65jährigen), auf Platz 2 "kirchliche Feiern", was immer man sich darunter im Einzelnen vorzustellen hat (68% resp. 75,8%); und ganz vorn rangiert in beiden Gruppen - mit 85,5% (!) resp. 79,8% - der Kindergarten. Das hat sicherlich damit zu tun, dass viele der Befragten, gerade unter den jüngeren Erwachsenen, selbst Kinder im relevanten Alter haben; aber das erklärt längst nicht alles: Auf die Frage, welche Angebote der Pfarrei die Umfrageteilnehmer tatsächlich nutzen, nannten nämlich nur 52,3% der 18-40jährigen und sogar nur 14,5% der 41-65jährigen den Kindergarten. 

Dieselbe Diskrepanz zwischen Wichtigkeits-Ranking und tatsächlicher Nutzung findet sich allerdings auch bei anderen Angebnoten der Pfarrei. Nur und ausgerechnet beim Gottesdienst ist das Verhältnis in den Altersgruppen zwischen 18 und 65 Jahren umgekehrt: Der wird offenbar mehr besucht als wichtig gefunden (18-40j.: 49,7% Teilnahme; 41-65j.: 75,5%, mehr als bei allen anderen Angeboten). 

Diese komplexen Zahlenverhältnisse zwischen der Wertschätzung verschiedener Angebote und ihrer tatsächlichen Nutzung dürfte den Verantwortlichen der Pfarrei bei der Suche nach praktischen Konsequenzen aus den Ergebnissen der Umfrageaktion schon so manche harte Nuss zu knacken geben. Hinzu kommt aber natürlich, dass die Pfarrei einen großen Teil ihrer Mitglieder überhaupt nicht erreicht: Die Pfarrgemeinderatsvorsitzende sprach, wie oben zitiert, von gerade mal 7%, die überhaupt in die Kirche kommen. Folgerichtig wirft die Dorstener Zeitung die Frage auf: "Welche Angebote müssen hinzukommen, damit die 93 Prozent stiller Kirchensteuerzahler sich in der Pfarrei wiederfinden?" Ulrike Esser antwortet: 
"Das wollen wir gar nicht entscheiden. Wir können den Menschen nicht Angebote vorsetzen und sie sollen die annehmen. Wir wollen von ihnen wissen: Was wünscht ihr euch".
Dieses Dienstleistungs-Selbstverständnis scheint mir dann aber doch problematisch. Man sollte meinen, was die Kirche den Menschen bieten kann und bieten will, das müsse sie schon selbst wissen. Auf die Menschen mit ihren Wünschen und Bedürfnissen ein- und zuzugehen, um sie, wie es im zeitgenössischen Pastoralsprech so unschön heißt, "da abzuholen, wo sie stehen", ist ein Ansatz, der natürlich seine Berechtigung hat; aber ihren Auftrag - das, was die Kirche in der Welt zu sein und zu tun hat - bekommt sie nicht von ihren Mitgliedern; den hat sie von Jesus Christus bekommen. Sie kann also nicht einfach sagen "Die Elefantenherde hat mehr Stimmen bekommen als der Priester, also brauchen wir keinen neuen Priester, sondern viel dringender ein oder zwei Elefantenbabys". Oder, weniger humorig ausgedrückt: Auch wenn zahlreiche Gemeindemitglieder der Meinung sind, das Wichtigste an der Pfarrei sei der Kindergarten, dann heißt das trotzdem nicht, dass der Kindergarten das Wichtigste an der Pfarrei ist

Wirklich bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die separate Auswertung der Antworten jener Umfrageteilnehmer, die nach eigener Angabe "die Gottesdienste nicht besuchen". Diese Personen - insgesamt 21,1% der Befragten - finden zwar ebenfalls den Kindergarten am wichtigsten (66,9% "wichtig", 0,8% "ziemlich unwichtig"); aber immerhin 27,4% finden auch die Gottesdienste "wichtig" ("ziemlich unwichtig" auch hier nur 0,8%). Obwohl sie selbst nicht daran teilnehmen. Das ist erstaunlich, aber im Grunde haben die Leute ja Recht: Natürlich wäre es wünschenswert, dass sie an den Gottesdiensten teilnähmen, aber die Wichtigkeit des Gottesdienstes ist nicht davon abhängig, ob sie daran teilnehmen oder nicht. Als Hardcore-Kathole vom Dienst möchte ich sogar behaupten: Die Feier der Heiligen Messe wäre selbst dann die wichtigste Aufgabe der Pfarrei, wenn niemand hinginge. Und wenn die Verantwortlichen der Pfarrei - in erster Linie natürlich die Priester - der Feier der Heiligen Messe tatsächlich diesen Stellenwert in ihrem Dienst einräumen, dann teilt sich diese Wichtigkeit vielleicht auch einer größeren Zahl von Gemeindemitgliedern mit - und ganz vielleicht gehen dann auch mehr Leute tatsächlich hin. (Da wird jetzt mancher sagen "Das ist ein frommer Wunsch" - aber ja, natürlich ist es das, was denn sonst?) 

Pfarrer Jortzick traue ich es - so wie ich ihn kennen gelernt habe - jedenfalls zu, dass er etwas von diesem Geist in das Gemeindeleben von St. Agatha einbringt und dass dieser Geist Früchte trägt. Zumindest für das nächste halbe Jahr. Und dann muss man mal weiter sehen. Die Pfarrei hat derweil für den 11. März eine "Zukunftswerkstatt" angekündigt: "Von 18 bis 21 Uhr wird in einem Workshop an den Ideen für die Kirche der Zukunft gearbeitet", heißt es in der Dorstener Zeitung. Man darf gespannt sein


Donnerstag, 21. Januar 2016

"...et invisibilium" - oder: Vielleicht habe ich mir Richard Dawkins nur ausgedacht

Seit meiner Jugend habe ich in sechs oder sieben verschiedenen Kirchenchören gesungen, katholischen wie auch evangelischen. Dabei muss ich anerkennen, dass die evangelischen in der Regel die besseren waren. Aber das Repertoire von Kirchenchören ist ja ohnehin mehr oder weniger ökumenisch - will sagen: In katholischen Chören wird ebenso Bach oder Schütz gesungen wie in evangelischen Chören Mozart oder Haydn. So habe ich z.B. vor nunmehr fast 20 Jahren, unmittelbar vor meinem Umzug nach Berlin, mit der Evangelischen Kreiskantorei Nordenham-Blexen Mozarts "Krönungsmesse" geprobt - bei der Aufführung war ich schon nicht mehr dabei, aber die Proben haben mir viel Spaß gemacht, und die "Krönungsmesse" mag ich bis heute sehr. Einige Passagen sind mir besonders deutlich im Gedächtnis geblieben und schwirren immer mal wieder in meinem Kopf herum - so vor allem eine Stelle aus dem Credo, welche lautet: 
"Visibilium omnium, omnium, et invisibilium." 
Aus heutiger Sicht möchte ergänzen, dass ich diese Textpassage aus dem Nicäno-Konstantinopolitanum auch inhaltlich sehr bemerkenswert und alles andere als selbsterklärend finde. In der ökumenischen deutschsprachigen Fassung des Glaubensbekenntnisses lautet die Stelle im Kontext: 
"Wir glauben [od. "Ich glaube"] an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt." 
In dieser Aussage des Credo, die den Glauben an Gott als Schöpfer aller Dinge bekennt, wird also die Existenz einer sichtbaren und einer unsichtbaren Welt vorausgesetzt. Mir scheint zuweilen, dass wir heute Gefahr laufen, die Begriffe "sichtbar" und "unsichtbar" zu sehr einzuengen bzw. allzu wörtlich zu verstehen: "Sichtbar" wäre demnach das optisch Wahrnehmbare, womöglich sogar nur das mit bloßem Auge Wahrnehmbare. In diesem Sinne wäre der Unterschied zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren aber nur ein gradueller und kein prinzipieller; es käme eben darauf an, wie genau man hinsieht. Fasst man den Unterschied zwischen "sichtbar" und "unsichtbar" demnach als abhängig von den Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit auf, dann kann man sagen, dass die Naturwissenschaft schon seit geraumer Zeit daran arbeitet, Alles sichtbar zu machen - "sichtbar" hier verstanden als "messbar", "physikalisch nachweisbar", "berechenbar". Das Glaubensbekenntnis aber erinnert uns daran, dass es jenseits der mit naturwissenschaftlichen Methoden und Instrumentarien vermessbaren und berechenbaren Welt noch eine andere gibt, die sich dem Zugriff dieses Instrumentariums prinzipiell entzieht. Im Grunde ist das etwas, das die Menschheit immer gewusst hat; nur die letzten paar Generationen scheinen es vergessen zu haben - und bilden sich sogar ein, dieses Vergessen wäre ein Fortschritt, ein Zuwachs an Erkenntnis.

Mindestens seit Platon - ich sage "mindestens", weil man über die vor-platonische Philosophie nur wenig Sicheres weiß - war im abendländischen Denken sogar die Auffassung vorherrschend, die metaphysische Welt sei gegenüber der physischen die wahrere, die eigentlichere; die Naturwissenschaft, die lediglich die Außenseite der Dinge beschrieben könne, sei somit gegenüber der Metaphysik eine unvollkommenere, im wahrsten Sinne des Wortes oberflächlichere Form von Wissenschaft. Dass diese Auffassung im Zuge der Aufklärung kippte, mag man als folgerichtig betrachten angesichts des rasanten Fortschritts naturwissenschaftlicher Welterkenntnis im 17. und 18. Jahrhundert. Je mehr bislang unerklärlich scheinende Phänomene auf natürliche Ursachen zurückgeführt werden konnten, je mehr Gesetzmäßigkeiten in der bislang unberechenbar erscheinenden natürlichen Welt entdeckt wurden, umso mehr emanzipierte sich die Naturwissenschaft als Erkenntnisquelle von der Vormundschaft der Metaphysik. So sehr, dass die naturwissenschaftliche Methodik mehr und mehr als Inbegriff von "Wissenschaft" überhaupt wahrgenommen wurde und die Metaphysik in den Bereich des Aberglaubens abgedrängt wurde. Nur allzu leicht konnte der Fortschritt naturwissenschaftlicher Welterkenntnis zu der Annahme verführen, nach und nach werde alles vorläufig noch Unerklärliche ebenfalls erklärbar werden, und was sich naturwissenschaftlicher Messbarkeit und Nachweisbarkeit entziehe, das gebe es schlichtweg nicht.

Es sollte eigentlich auf der Hand liegen, dass es sich bei dieser Auffassung um eine Überdehnung bzw. Fehlanwendung naturwissenschaftlicher Erkenntniskriterien handelt. Naturwissenschaft ist per definitionem eine Disziplin, die die natürliche Welt durch das Sammeln, Auswerten und Interpretieren von Daten zu erklären strebt - und zwar von solchen Daten, die ihrerseits dem Bereich der natürlichen Welt angehören. Über die Existenz oder Nichtexistenz einer übernatürlichen Welt kann sie schlechterdings nichts aussagen, da sich ihr Instrumentarium nicht auf diese erstreckt. Wenn Anhänger einer strikt naturwissenschaftlichen Weltsicht die Existenz einer übernatürlichen Realität, und damit auch die Existenz Gottes, mit dem Argument verwerfen, die Annahme einer solchen Realität sei für die Erklärung natürlicher Vorgänge nicht notwendig, verabsolutieren sie damit lediglich ihren eigenen erkenntnisleitenden Denkansatz, der über die Frage der Erklärbarkeit natürlicher Vorgänge nicht hinausgeht. Während es Atheismus als philosophische Überzeugung "schon immer" - also, soweit wir wissen, mindestens seit den alten Griechen - gegeben hat, ist der naturwissenschaftlich argumentierende New Atheism, wie er z.B. von Richard Dawkins vertreten wird, im Grunde nichts als metaphysische Blindheit. Und genau das macht ihn so langweilig - oder, vornehmer ausgedrückt: philosophisch dürftig.

Dass jemand, der erklärt, er glaube deshalb nicht an Gott, weil dessen Existenz sich nicht beweisen lasse, schon im Ansatz her nicht begriffen hat, was Glauben bedeutet, versteht sich von selbst. Interessant wäre allerdings die Frage, wie solche New Atheists mit der Tatsache umgehen, dass es sich im täglichen Leben gar nicht konsequent durchhalten lässt, nur das für real existent zu halten, was sich mit naturwissenschaftlichen Mitteln nachweisen lässt. Bewusst oder unbewusst glaubt absolut jeder Mensch an eine Vielzahl von unbeweisbaren Dingen - weil er anders gar nicht leben könnte. Nehmen wir mal, nur als Beispiel, Liebe. Wenn Person A zu Person B sagt "Ich liebe dich" - was würden wir dann von Person B halten, wenn diese erwiderte "Beweise es mir!"? - Zugegeben, so etwas kommt vor. Ich würde zwar sagen, dass das nicht unbedingt für die emotionale Gesundheit von Person B spricht, aber dennoch, es kommt vor. Nun wird Derjenige, der von einem anderen Menschen einen Liebesbeweis fordert, damit vermutlich nicht einen Nachweis über Gehirnströme oder Hormonausschüttung oder dergleichen meinen, sondern eher, dass der Andere seine Liebe durch Taten zeigen solle. Das wäre aber im wissenschaftlichen Sinne kein Beweis, denn auch wenn Person A sich so verhält, wie Person B es verlangt, kann Person B immer noch nicht wissen, ob Person A tatsächlich aus Liebe so handelt oder womöglich aus ganz anderen Motiven heraus.

Aber da ich gerade von Gehirnströmen, Hormonausschüttung und dergleichen sprach: Natürlich gibt es Wissenschaftler, die tatsächlich argumentieren, so etwas wie Liebe gebe es nicht, sondern das, was der Mensch so bezeichnet, sei lediglich das Produkt bestimmter biochemischer Prozesse im Gehirn, ebenso wie auch alle anderen Emotionen, Stimmungen, Vorlieben und Abneigungen. Wenn man es genau nimmt, ist dieser Erklärungsansatz so neu nun übrigens auch nicht - man denke nur an die Körpersäftelehre des ollen Galen. Darauf kann man natürlich erwidern, auch hier verfielen die Verabsolutierer der naturwissenschaftlichen Methodik in ihren üblichen Fehler, den physikalisch messbaren Ausdruck einer Sache mit der Sache selbst zu verwechseln; das, was die Naturwissenschaft messe und beschreibe, sei, aller Verfeinerung des Instrumentariums zum Trotz, auch hier nach wie vor nur die Außenseite der Dinge - nur die Schatten an der Höhlenwand, wie Platon es beschreiben würde. Fast noch schöner ist allerdings, dass dieser Denkansatz, wenn man ihn konsequent weiterführt, das naturwissenschaftliche Denken selbst ad absurdum führt.

Denn natürlich ist das Denken selbst ebenfalls das Ergebnis einer nachweis- und messbaren Gehirntätigkeit. Wenn es nun nicht mehr sein sollte als das, wie könnte man dann davon ausgehen, dass es irgendeinen Erkenntniswert hinsichtlich der Realität außerhalb des eigenen Gehirns hat? Alle Naturwissenschaft basiert auf Beobachtung, also auf sinnlicher Wahrnehmung; so sehr der technische Fortschritt nun auch die Möglichkeiten der Wahrnehmung erweitert und verfeinert, letztlich müssen alle Ergebnisse auch der feinsten und fortgeschrittensten Messmethoden durch den selben alten menschlichen Wahrnehmungsapparat gefiltert und im Gehirn verarbeitet werden. Und je mehr wir über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns und der menschlichen Sinnesorgane herausfinden, umso klarer wird, dass wir gar nicht wissen können, ob die Welt, die wir wahrnehmen, tatsächlich existiert oder ob das Gehirn sie uns nur vorgaukelt. Wir kennen das Phänomen aus Filmen wie Matrix oder Vanilla Sky oder diversen Episoden von Star Trek - The Next Generation. Sicher, unsere Sinnesorgane reagieren auf äußere Reize. Aber die Umwandlungsprozesse, die diese Signale durchmachen, bis sie im Bewusstsein ankommen, sind so komplex, dass es keine Gewissheit darüber geben kann, ob das, was wir wahrnehmen, tatsächlich existiert. 

Eine gängige Antwort hierauf lautet, die Richtigkeit der eigenen Wahrnehmung könne man dadurch überprüfen, dass man sie mit der Wahrnehmung anderer Menschen abgleicht. Aber auch das ist im Grunde zu kurz gedacht - denn die bloße Existenz anderer Menschen, mit denen ich mich über die Wirklichkeit verständigen könnte, könnte ja theoretisch ebenfalls etwas sein, das mir mein Gehirn nur vorgaukelt. 

Hier und jetzt können wir diese Möglichkeit aber wohl getrost ausklammern, denn wenn sie zuträfe, würde ja nie jemand diesen Blogartikel lesen. Gehen wir also weiterhin davon aus, dass es eine physische Realität gibt - dass wir aber, streng naturwissenschaftlich betrachtet, nicht wissen können, inwieweit unsere Wahrnehmung der Welt dieser Realität entspricht. Der gläubige Mensch kann sagen, Gott befähige den Menschen zur Erkenntnis der Wirklichkeit, ja mehr noch: der Wahrheit. Der Atheist hingegen muss, wenn er die Erkenntnisse der Hirnforschung ernst nimmt, anerkennen, dass die objektive Realität und seine subjektive Wahrnehmung derselben zwei grundsätzlich verschiedene Paar Schuhe sind. Seine Sicht der Welt kann somit nicht objektiv "richtig" sein, sondern lediglich subjektiv "stimmen" oder "passen" (im Sinne des englischen "to fit") - und sie "stimmt" bzw. "passt" insoweit, wie sie ihm das Überleben in dieser letztlich unerkennbaren Realität ermöglicht. 

Nun könnte der Atheist anerkennen, dass für sehr viele Menschen der Glaube an Gott - oder an irgendeine metaphysische Wirklichkeit - zu einem stimmigen Weltbild fest dazugehört. Aus Sicht des Atheisten ist das eine Illusion, aber - aus den oben ausgeführten Gründen - doch auch nicht mehr als jede andere Form der Weltwahrnehmung auch. Der Atheist könnte also zu dem Schluss kommen: "Für diese Menschen - wenn auch nicht für mich - funktioniert die Annahme, dass es einen Gott gibt; und in dem Maße, wie diese Annahme funktioniert, stimmt sie und ist somit nützlich, also gut." Ohne Zweifel gibt es Atheisten, die das exakt so sehen und darum gläubigen Menschen gegenüber ausgesprochen tolerant sind - zumindest soweit diese ihrerseits die Toleranz gegenüber Nicht- und Andersgläubigen wahren. Warum aber begegnet man so vielen Atheisten, die dem Phänomen des religiösen Glaubens so viel Wut und Hass entgegenbringen? Was veranlasst Atheisten, andere Menschen davon überzeugen zu wollen, es gäbe keinen Gott? -- Der religiöse Mensch ist missionarisch, weil und insofern er von der Wahrheit seines Glaubens überzeugt ist und diese Wahrheit auch Anderen mitteilen möchte. Der Atheist jedoch, wenn er die Prämissen seines Denkens ernst nimmt, hat keine Wahrheit, von der er überzeugt sein könnte. Wie erklärt sich also das sonderbare Phänomen eines "missionarischen Atheismus"? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? 

Aber das ist wohl ein Thema für einen eigenständigen Beitrag. Mal sehen, ob und wann ich mich dazu aufraffen kann. 


Dienstag, 19. Januar 2016

Augen, Mund und Hände täuschen sich in Dir

"[M]ein Glaube erzählt von Weite und Freiheit, von Liebe und Größe." Nein, das ist kein NGL-Liedtext; das ist ein Zitat aus der gestrigen Standpunkt-Kolumne auf katholisch.de mit dem kämpferischen Titel "Gemeinsame Eucharistie jetzt!", verfasst von meiner Twitter- und Facebook-Freundin Gudrun Lux. Darin bezeichnet sie es als "traurig", "dass wir Menschen, die in unseren Gemeinden mit uns feiern, die eucharistische Gastfreundschaft verweigern (sollen)" - womit sie den Umstand meint, dass evangelische Christen in der katholischen Heiligen Messe nicht zur Kommunion zugelassen sind. Einen Umstand, den sie darauf zurückführt, dass "krampfhaft versucht wird, an [einer] Überlieferung festzuhalten, die so weit weg ist von den Menschen". Sie räumt ein, sie "verstehe - systemimmanent denkend - die Argumente, die die Trennung begründen"; schließlich habe sie "Theologie studiert". "Und doch steht mein Glaube dagegen, an dieser Trennung festzuhalten."
 
Was sollen wir nun hierzu sagen? Persönlich ist mir Gudrun - das möchte ich betonen, ehe ich meine Messer auspacke - ausgesprochen sympathisch. Das geht mir auch mit einigen anderen (wenn auch wenigen) Bekannten so, die in Glaubens- und Kirchenfragen ähnliche Ansichten vertreten wie sie. Was nichts daran ändert, dass mir die liberalkatholische Denke partout nicht in den Kopf will.
 
Systemimmanentes Denken - so suggeriert das obige Zitat - ist etwas, das es zu überwinden gilt, wenn man vorankommen will; und das "System", von dem dabei die Rede ist, ist die Lehre der Kirche. "Systemimmanent" betrachtet sind die katholische Eucharistie und das evangelische Abendmahl sehr verschiedene Dinge; sie sehen zwar äußerlich ähnlich, ja - sofern nicht, besonders auf evangelischer Seite, mal wieder mit formalen "Innovationen" experimentiert wird - verwechselbar aus, aber sie bedeuten substanziell Unterschiedliches. Als studierte Theologin weiß Gudrun das natürlich, aber: das ist "so weit weg [...] von den Menschen"! -- Wenn damit gemeint ist, dass viele Christen das unterschiedliche Eucharistie- bzw. Abendmahlsverständnis der katholischen, lutherischen und reformierten Lehre nicht nachvollziehen können, dann ist da wohl etwas Wahres dran. Aber müsste die Antwort darauf dann nicht eher darin bestehen, den Menschen das, was ihre jeweilige Konfession in dieser Frage lehrt, verständlich zu machen, anstatt schlicht zu konstatieren, dass diese theologischen Fragen im individuellen Glaubensleben vieler Christen de facto keine Rolle spielen? Und kann man sich wirklich auf den sensus fidei der Gläubigen berufen, wenn zuvor jahrzehntelang die Katechese vernachlässigt wurde?
 
Man mag sich fragen: Wie hoch ist wohl der Prozentsatz der Katholiken - in Deutschland, in Europa, weltweit - , die tatsächlich an die Realpräsenz Christi in der Eucharistie glauben, die kirchlichen Vorschriften zum würdigen Kommunionempfang kennen und befolgen? Wenn man sich hierzulande in einer beliebigen katholischen Pfarrei ansieht, wie viel da zur Kommunion gegangen und wie wenig gebeichtet wird, kann man da seine Zweifel haben (sollte aber andererseits auch nicht vorschnell urteilen - man kann den Leuten schließlich nicht ins Herz sehen). Wie mag es bei den Lutheranern aussehen, zu deren Bekenntnis schließlich auch der Glaube an die Realpräsenz, wenn auch nicht ganz im selben Verständnis wie bei den Katholiken, gehört, die aber dennoch seit 1973 eine Abendmahlsgemeinschaft mit den Reformierten haben, deren Abendmahlsverständnis ein völlig anderes ist? Ich möchte mal die Behauptung wagen, hätte eine breite Mehrheit der Christen aller Konfessionen die Glaubenslehre ihrer jeweiligen Kirche bzw. Gemeinschaft wirklich verinnerlicht und akzeptiert, dann würde sich die Frage der gemeinsamen Eucharistie gar nicht stellen. Dann würden die Gläubigen, auch ohne dass man es ihnen "verbieten" müsste, gar nicht bei der jeweils anderen Konfession zur Kommunion bzw. zum Abendmahl gehen wollen - sowohl aus Treue zum eigenen Glauben als auch aus Respekt gegenüber dem Glauben der Anderen.
 
Bildquelle: Catholic Memes auf Facebook
 
Die liberalkatholische Antwort hierauf scheint zu lauten: Wenn größere Kenntnis der Glaubenslehre der jeweiligen Konfession dazu führt, die Gräben zwischen den Konfessionen zu vertiefen, dann ist es besser, die Leute wissen nicht so genau bescheid. Und das ist genau der Punkt, an dem ich nicht mehr mitkomme. Ironischerweise wurde just an dem Tag, an die "Gemeinsame Eucharistie jetzt!"-Kolumne auf katholisch.de erschien, in der Messe 1. Samuel 15,16-23 gelesen; und da heißt es in Vers 22f.: ""Gehorsam ist besser als Opfer, Hinhören besser als das Fett von Widdern. Denn Trotz ist eine Sünde wie Zauberei, und Widerspenstigkeit ist ebenso schlimm wie Frevel und Götzendienst." -- Was hat das mit unserem Thema zu tun? --  Im Katechismus der Katholischen Kirche heißt es unter Nr. 1124: "Der Glaube der Kirche geht dem Glauben des einzelnen voraus, der aufgefordert wird, ihm zuzustimmen." Man hat manchmal den Eindruck, dass dieser Satz zu den ersten gehört, die liberale Katholiken aus ihrer persönlichen Ausgabe des Katechismus gern herausstreichen würden. Sie gehen - explizit oder implizit - lieber davon aus, dass Glaube primär etwas Persönliches und Individuelles sei. Das birgt freilich die Gefahr, die Glaubenslehre der Kirche nur noch als Büffet zu benutzen, von dem man sich nur das auf den Teller schaufelt, was einem schmeckt, und den Rest liegen lässt. -- Seien wir ehrlich; Das ist eine Versuchung, der jeder von uns ausgesetzt ist. Aber es macht schon einen Unterschied, ob ein solcher selektiver Umgang mit Glaubensinhalten jemandem, der der Glaubenslehre der Kirche nach bestem Wissen und Gewissen folgen will, lediglich unterläuft, oder ob man die Lehre der Kirche da, wo man ihr nicht zustimmen mag, explizit verwirft oder für irrelevant für den eigenen individuellen Glauben erklärt.
 
Die Auffassung, jeder könne und solle selbst entscheiden, woran er glauben will und woran nicht, ist zweifellos sehr modern und wirkt sehr tolerant. Die Frage ist allerdings, was bei einem solchen Glaubensverständnis aus der Dimension der Wahrheit wird. Wenn man davon ausgeht, dass Glaubenssätze sich auf eine objektive Wahrheit beziehen, dann können sie nicht zugleich wahr und unwahr sein. Dann kann es auch nicht egal sein, ob man ihnen zustimmt oder nicht. Wenn man hingegen nicht von einer objektiven Wahrheit ausgeht, auf die der Glaube sich bezieht, dann - ja, was dann?
 
Ohne Frage ist Gudrun zuzustimmen, wenn sie feststellt: "Die Trennung der christlichen Konfessionen bleibt ein Skandal." Als hoffnungsvolles Zeichen der Annäherung nennt sie u.a. "die gegenseitige Anerkennung der Taufe"; tatsächlich ist diese gleichzeitig auch eine Verpflichtung. Wer getauft ist, gehört zum Leib Christi. Die Trennung der Christenheit, die Uneinigkeit der Konfessionen fügt dem Leib Christi schwere Wunden zu. Damit kann man sich nicht achselzuckend zufrieden geben. Aber kann der Weg zur Annäherung wirklich darin bestehen, das Trennende einfach zu ignorieren bzw. als "nicht so wichtig" zu deklarieren? Es mag theologische Einzelfragen geben, in denen unterschiedliche Auffassungen kein Hindernis für die Einheit der Christenheit darstellen. Die Frage der Realpräsenz Christi in der Eucharistie gehört jedoch nicht dazu. Diese Frage ist viel zu wichtig, um sie mit "vielleicht" zu beantworten.
 
 
 
 

Samstag, 16. Januar 2016

Das kam mir doch gleich so spanisch vor!

Ist ein Shitstorm einmal ausgebrochen, wird es schwer, ihn wieder einzufangen. Aber man kann - nein, muss! - es immerhin versuchen.
 
Inzwischen haben es ja vermutlich alle mitbekommen: Eine Welle der Empörung brandete in den letzten Tagen durch die Sozialen Netzwerke, weil irgendsoein geistig im Mittelalter stecken gebliebener Kirchenfürst Frauen geschla Gewalt gegen Frauen gutgeheißen hatte, jedenfalls dann, wenn die Frauen ihren Männern ungehorsam wären. Oder so ähnlich. Genauer gesagt handelte es sich um Braulio Rodríguez Plaza, den Erzbischof von Toledo in Spanien, und tatsächlich hatte er nichts dergleichen gesagt, sondern im Gegenteil häusliche Gewalt gegen Frauen scharf getadelt -- aber der Reihe nach.
 
Vorgestern, Donnerstag, kam mir erstmals auf Facebook ein Link zu einem Artikel unter, in dem behauptet wurde, Erzbischof Rodríguez habe in einer Predigt am 27. Dezember erklärt: "Frauen können verhindern, dass sie geschlagen werden, indem sie einfach das tun, was die Männer von ihnen verlangen". Aufgemerkt: Der 27. Dezember, das war das Hochfest der Heiligen Familie. Origineller Anlass, um den Frauen ins Stammbuch zu schreiben "Gehorcht euren Männern, oder es gibt was auf's Maul!" Okay, der Artikel stammte vom Humanistischen Pressedienst (hpd) - und, um einen schönen Satz zu zitieren, den ich im Zuge der darauf folgenden Debatten las: "Wenn der hpd nur 'Guten Morgen' sagt, hat er schon zweimal gelogen." Ähnliche, teilweise annähernd gleichlautende Berichte fand man jedoch auch in anderen Nachrichtenquellen; auch die Katholische Nachrichtenagentur KNA brachte eine entsprechende Meldung, die u.a. vom Kölner Domradio, aber auch von der WELT übernommen wurde. Bis zum Donnerstagabend war aus der angeblichen Äußerung des Erzbischofs von Toledo bereits ein Meme geworden, das sich auf Facebook, Twitter etc. fröhlich verbreitete.
 
So richtig konnte ich mir von Anfang an nicht vorstellen, dass der 2009 von Papst Benedikt XVI. zum Erzbischof von Toledo ernannte Rodríguez - der mir ansonsten übrigens vollkommen unbekannt war - den inkriminierten Satz tatsächlich gesagt haben sollte. Möglich, dass er etwas gesagt hatte, was man mit ausreichend bösem Willen in diese Richtung interpretieren konnte. Dass Ehefrauen ihren Männern gehorsam sein sollen, ist ja in der Tat Bestandteil der christlichen Ehelehre - der Apostel Paulus spricht z.B. im Epheserbrief davon. Und man weiß ja, wie mediale Berichterstattung über Kirchenthemen häufig funktioniert. Man nimmt eine möglicherweise missverständliche Äußerung, reißt sie aus dem Kontext, zitiert oder paraphrasiert sie ungenau und tendenziös, und fertig ist der Skandal. In Spanien ist häusliche Gewalt gegen Frauen, bis hin zu Mord, ein massives und aktuell intensiv diskutiertes Problem, da liegt es auf der Hand, dass es große Aufmerksamkeit erzeugt, wenn der Primas der Katholischen Kirche des Landes sich in einer Predigt zu diesem Thema äußert. Und dass die angebliche Äußerung des Erzbischofs von Toledo auch in Deutschland einschlug wie eine Bombe, darf man durchaus im Zusammenhang mit den Exzessen der Silvesternacht in Köln und anderen Städten sehen, die dafür gesorgt haben, dass Gewalt gegen Frauen - wenn auch nicht direkt häusliche Gewalt - auch hierzulande ein allgegenwärtiges Thema ist. Nicht wenige öffentliche Reaktionen auf die Vorfälle der Silvesternacht sehen das Hauptproblem der massenhaften sexuellen Übergriffe auf Frauen offenbar darin, dass sie der Fremden- und insbesondere der Islamfeindlichkeit im Lande Vorschub leisten könnten. Und man weiß ja: Nichts hilft so gut gegen Islamophobie wie die lautstark vorgetragene Behauptung, das Christentum - vorzugsweise in Gestalt der Katholischen Kirche - sei ja mindestens genauso schlimm. Also MINN-DESS-TENZ.
 
Gründe für die Vermutung, es handle sich bei dem angeblichen Zitat des Erzbischofs um einen inszenierten Skandal, gab es also zur Genüge, und bereits am Donnerstag gab es darüber allerlei Diskussionen unter Blogoezesanen und anderen engagierten Netzkatholiken. Dabei wurde u.a. festgestellt, dass die inkriminierte Predigt ja schon fast drei Wochen alt war - sollte es da nicht möglich sein, den Originaltext irgendwo online aufzufinden? Womöglich sogar auf der Website des Erzbistums Toledo? Ja, allerdings. Auf Spanisch natürlich, aber die Kenntnis der spanischen Sprache ist ja nun keine nur wenigen Auserwählten zugängliche Kunst. Ich selbst kann leider kein Spanisch, oder kaum; anders jedoch die Bloggerkolleginnen Heike Sander und Anna Diouf, die sich unabhängig voneinander unverzüglich daran machten, zu prüfen, was Erzbischof Rodríguez denn nun wirklich gesagt hatte. Ergebnis: Die Aussage der Predigt lief so ziemlich auf das Gegenteil dessen hinaus, was dem Erzbischof vorgeworfen wurde. 
 
In interessierten Kreisen verbreiteten sich Heikes und Annas Artikel schnell; ich las beide am frühen Freitagmorgen - allerdings hatte die Falschmeldung über die angeblichen frauenverachtenden Äußerungen des Kirchenmannes bis dahin bereits eine solche Breitenwirkung entfaltet, dass ich befürchtete, die solide Aufklärungsarbeit der beiden Bloggerkolleginnen werde dagegen nicht sonderlich viel ausrichten können. Ein auf einer Facebook-Seite mit dem Namen Die Atheisten gepostetes Foto des Erzbischofs mit dem berüchtigten, aber völlig frei erfundenen Zitat "Frauen können verhindern, dass sie geschlagen werden, indem sie einfach das tun, was die Männer von ihnen verlangen" war zu diesem Zeitpunkt schon fast 2.000mal geteilt worden. Das wird eine Sisyphosarbeit, sagte ich mir. Aber macht ja nichts, ich hab ja Zeit.
 
Also ließ ich mir diejenigen Facebook-Nutzer anzeigen, die das Bild öffentlich geteilt hatten. Und die Kommentare dazu. Diese reichten von hämischer Zustimmung über eine reiche Auswahl kotzender Smileys und Äußerungen à la "Was soll man von der Katholischen Kirche schon anderes erwarten?" bis hin zu massiven Beschimpfungen des Erzbischofs, unter denen die Bezeichnung "Arschloch" noch zu den eher maßvollen gehörte. Natürlich fehlte auch nicht der Klassiker, als katholischer Würdenträger sei Erzbischof Rodríguez doch bestimmt ein Kinderschänder. Hinzu kamen allerlei gegen den spanischen Primas gerichtete Gewaltphantasien, die von bloßem Verprügeln bis hin zur Kreuzigung reichten.
 
Einige der betreffenden Facebook-Nutzer hatten ihre Privatsphäre-Einstellungen so großzügig gestaltet, dass auch ich als völlig Fremder Kommentare zu ihren Beiträgen posten konnte. Also verlinkte ich bei schätzungsweise 30 bis 40 dieser Beiträge die Artikel von Heike und/oder Anna, mit dem Hinweis, man solle doch bitte mal zur Kenntnis nehmen, was der Erzbischof tatsächlich gesagt hatte - und was nicht. Einige meiner katholischen FB-Freunde beteiligten sich an meiner kleinen Kampagne. Und dann wartete ich auf Reaktionen.
 
Von den meisten Nutzern erfolgte überhaupt keine Reaktion. Die wenigen, die ich erhielt, liefen größtenteils nach demselben Schema ab. Stufe 1 bestand darin, die Glaubwürdigkeit der von mir verlinkten Artikel anzuzweifeln. Das seien doch keine seriösen Quellen. Ich wies darauf hin, dass in Annas Artikel sowohl der Originaltext der Predigt als auch eine von Anna selbst erstellte deutsche Übersetzung verlinkt seien. Ich meine, was für eine Quelle kann denn wohl glaubwürdiger sein als der Originaltext? Dennoch vollzog nur ein Teil derjenigen FB-Nutzer, die sich überhaupt auf eine Diskussion einließen, den Schritt zu Stufe 2: "Hätte aber ja sein können." Schließlich unterdrücke die Katholische Kirche Frauen seit 2000 Jahren, da passe so eine Äußerung einfach ins Bild, und wenn dieser eine Erzbischof diesen einen Satz tatsächlich gar nicht gesagt habe, dann mache das letztendlich doch gar keinen Unterschied: Immerhin hätte er es sagen können.
 
Diese Argumentation macht natürlich erst einmal etwas sprachlos. Fassen wir sie noch einmal zusammen: Einerseits beweist die Äußerung die Frauenfeindlichkeit der Katholischen Kirche, andererseits verleiht aber umgekehrt die ohnehin bekannte Frauenfeindlichkeit der Kirche dem Zitat seine inhärente Glaubwürdigkeit. Stellt sich heraus, dass die Aussage tatsächlich gar nicht getätigt wurde, ist das irrelevant, denn dass sie dennoch die wahre Einstellung der Kirchenoberen zu Frauenrechten widerspiegelt, steht so oder so fest. Da kommt man nicht mehr raus.
 
Kurz, die Bereitschaft, eine offensichtliche Falschaussage als falsch anzuerkennen und folglich zu revidieren, hält sich stark in Grenzen, wenn die Falschaussage so schön ins eigene Weltbild passt. Vielleicht ist dieses auffallend geringe Interesse an der Wahrheit aber  gar nicht so überraschend, wenn man bedenkt, dass derartige Reaktionen wohl überwiegend aus der vulgäratheistischen Ecke kamen. Da ist man versucht zu sagen: Schon klar, wären sie an der WAHRHEIT interessiert, dann wären sie ja auch interessiert an GOTT. -- Mir ist bewusst, dass diese Aussage in dieser pointierten Kürze polemisch und missverständlich wirken kann; ich habe hier und jetzt aber nicht den Raum und die Zeit, detailliert auszuführen, wie ich das meine (dazu habe ich schon seit geraumer Zeit einen eher theorielastigen Artikel in Planung - kommt hoffentlich bald). Daher vorläufig nur soviel: Wahrheit ist in letzter Konsequenz eine metaphysische Größe und kommt somit im Weltbild des New Atheism à la Richard Dawkins nicht vor, ja, nicht wenige New Atheists verbringen einen signifikanten Teil ihrer Arbeitszeit damit, der Welt zu erklären, dass es so etwas wie Wahrheit nicht gebe. Der New Atheism erkennt keine Wahrheit an, sondern nur Fakten. -- An dieser Stelle ein Hat Tip an Professor Ratzinger alias Papa Emeritus Benedikt XVI., dessen Einführung in das Christentum ich die Erkenntnis verdanke, dass factum das Partizip Perfekt von facere, machen, ist. Hätte ich kraft meines Latinums eigentlich auch selbst drauf kommen können. Aber man kommt halt nicht auf alles, worauf man kommen könnte. -- Fakten sind also dem Wortsinne nach etwas Gemachtes, und so gesehen ist ein Meme über einen Kirchenvertreter, der sagt, ungehorsame Frauen hätten Schläge verdient, ein Faktum. Ob die Behauptung, die dieses Meme aufstellt - also die Behauptung, der betreffende Kirchenvertreter habe dies tatsächlich gesagt - wahr ist, spielt demgegenüber fast schon keine Rolle mehr.
 
Unter den Reaktionen der Facebook-Nutzer, die ich auf Heikes und Annas Richtigstellungen hingewiesen hatte, sind allerdings ein paar rühmliche Ausnahmen zu nennen. Eine Nutzerin löschte ihren Beitrag umgehend (nachdem sie noch eine Antwort auf meinen Kommentar geschrieben hatte, die ich wegen der unmittelbar darauf folgenden Löschung des ganzen Beitrags nicht mehr lesen konnte); ein anderer Nutzer gestand freimütig, da sei er wohl einer Ente aufgesessen - und brachte zu seiner Verteidigung vor, er habe die Meldung für glaubwürdig gehalten, weil ja sogar die KNA darüber berichtet habe.