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Montag, 24. Februar 2020

Kaffee & Laudes - Das Wochen-Briefing (7. Woche im Jahreskreis)

Herzlich willkommen, Leser, zur letzten Folge der Artikelserie "Kaffee & Laudes"! -- Zur letzten? Ja, ganz richtig: Seit Beginn dieser Reihe ist zwar noch kein ganzes Kalenderjahr vergangen, aber durchs Kirchenjahr sind wir einmal durch: Die Fastenzeit steht vor der Tür, und das scheint mir ein sinnvoller Anlass zu sein, eine Zäsur zu setzen. Zumindest was den Reihentitel angeht, da es sich sonst wohl nicht vermeiden ließe, dass Artikelüberschriften sich wiederholen. Aber keine Sorge, "Wochen-Briefings" wird es auf diesem Blog auch weiterhin geben, unter einem neuen Reihentitel und mit einigen weiteren kleinen Änderungen. Genaueres dazu erfahrt Ihr nächste Woche! 

Was bisher geschah: Während des größten Teils der zurückliegenden Woche habe ich mich immer dann, wenn das Kind mit der Mama und/oder den Omas unterwegs war, darum bemüht, meinen Lektüre-Rückstand aufzuarbeiten und außerdem an ein paar schon seit längerer Zeit geplanten Blogartikeln weiterzuarbeiten, und ich darf sagen, ich bin recht zufrieden mit den Ergebnissen. Mit der im engeren Sinne journalistischen Arbeit geht es weniger gut voran, was, wie ich glaube, vor allem mit einem gewissen Widerwillen meinerseits zu tun hat, mich mit derzeit tagesaktuellen Themen auseinanderzusetzen. Nachrichten, insbesondere politische, konsumiere ich nur in sehr vorsichtiger Dosierung und kann mich dabei des Eindrucks nicht erwehren, es seien ausnahmslos alle bekloppt geworden. Erholung vom täglichen Wahnsinn bot am Donnerstagabend ein erneuter Besuch der Community Networking Night im Baumhaus, wohin ich aufbrach, nachdem ich gerade einen Blogartikel über diese zauberhafte Location fertiggestellt hatte. Ich unterhielt mich dort ausgesprochen gut, warb in der "News You Can Use"-Runde für unser offenes Büchertauschregal, und außerdem machte ich ein paar Beobachtungen, die ein interessantes Licht auf die Frage "Wie christlich ist eigentlich das Baumhaus?" werfen (eine Frage, die im just erwähnten Blogartikel teils explizit, teils implizit eine gewisse Rolle spielt).  Beobachtung 1: An der "Ressources & Needs"-Pinnwand suchte jemand Partner für ein "Bibel-Tandem". Beobachtung 2: Baumhaus-Co-Initiator Scott, der unter anderem auch DJ ist, legte eine Instrumentalversion des Titelsongs von "Jesus Christ Superstar" auf und zeigte sich entzückt, dass ich das Stück erkannte. --  Am Freitagnachmittag druckte ich in Berlins preisgünstigstem Copyshop neue Flyer für "Dinner mit Gott", Krabbelbrunch und unsere wöchentliche Lobpreis-Andacht, am Abend hatte meine Liebste dann mal wieder einen Foodsaving-Einsatz in einem Biomarkt, der uns neben allerlei Backwaren diverse Blattsalate sowie Äpfel, Weintrauben, Möhren, Zucchini und Paprika bescherte. Am Sonntag hatte ich Lektorendienst, und nach der Messe fand wieder unser "Büchertreff" statt; wir waren diesmal nicht sehr gut vorbereitet und die Veranstaltung war vergleichsweise schwach besucht, aber immerhin unterhielten wir uns gut mit einem Ehepaar aus Heiligensee, das eigens für den Büchertreff nach Tegel gekommen war. Außerdem fanden wir eine Bücherspende vom "Freundeskreis Maria Goretti" für unser Büchereiprojekt vor; eine erste flüchtige Durchsicht hat mir den Eindruck vermittelt, dass es sich überwiegend um Heiligenbiographien in jugendgerechter Darstellung handelt. Durchaus interessant! 


Was ansteht: Für heute Abend ist ein Treffen mit einem befreundeten Journalisten- und Bloggerkollegen und seiner Familie geplant;  und zwar treffen wir uns zum Abendessen bei mir zu Hause, und meine Frau kocht. Ganz altmodisch. Am Dienstag gilt es, bei der Lobpreis-Andacht noch einmal möglichst viele Lieder mit "Halleluja" zu singen, bevor die Fastenzeit anfängt; dann kommt der Aschermittwoch, da ist im unserer Kirche um 19 Uhr Messe mit Spendung des Aschenkreuzes. Für den Rest der Woche ist nicht viel geplant. Am Samstag gibt es in Heiligensee einen "Tag der liturgischen Dienste" für Ministranten, Lektoren, Küster und Gottesdienstbeauftragte; ich habe  der Veranstaltungsankündigung in den Vermeldungen nicht eindeutig entnehmen können, ob sich die Einladung an die ganze Pfarrei oder nur den Heiligenseer Gemeindeteil richtet, aber ich hoffe mal, das finde ich bis dahin noch heraus.


aktuelle Lektüre: Was lange währt, wird endlich gut, ich habe - fünf Tage später, als mein Zeitplan es eigentlich vorgesehen hatte - Leseetappe 4 meiner "100-Bücher-Challenge" endlich abgeschlossen und mit Etappe 5 begonnen. Da der dazugehörige Auswertungs-und Vorschauartikel noch einiges an Zeit und Arbeit beanspruchen wird, will ich erst mal nicht zu viel verraten, aber eins kann ich doch schon mal sagen: Im Unterschied zu Etappe 4 ist mein erster Eindruck von praktisch allen Büchern, die in Etappe 5 auf meiner Leseliste stehen, besser als erwartet. Einige deutlich besser, einige immerhin ein bisschen. 


Linktipps: 
Donal McKernan lebt mit seiner Familie in Danthonia, einer Niederlassung der neutäuferischen "Bruderhof"-Bewegung im ländlichen Australien. Das Leben dort, sagt er, sieht in etwa so aus, wie sich wahrscheinlich viele Leute eine #BenOp-Community vorstellen: Man betreibt Selbstversorger-Landwirtschaft, verbringt viel Zeit unter freiem Himmel, die Kinder werden von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft unterrichtet. Vor diesem Erfahrungshintergrund setzt er sich mit Rod Drehers "Benedikt-Option" und den gängigen Topoi der Kritik an dieser auseinander - und weist darauf hin, dass die "Bruderhof"-Bewegung schon seit 100 Jahren ein Konzept dezidiert christlichen Gemeinschaftslebens praktiziert, das mit den Ideen der #BenOp vieles gemeinsam hat. (Übrigens verweist Rod Dreher in seinem Blog wiederholt sehr wohlwollend auf den "Bruderhof".) -- McKernan räumt ein, dass Dreher in seinem Buch kein "detailliertes Bild davon zeichnet, wie die Benedikt-Option [in der Praxis] aussehen könnte", meint aber, sinnvoller, als vermeintliche oder tatsächliche Schwächen von Drehers Buch zu attackieren, sei es - wie etwa Leah Libresco es in ihrem Buch "Building the Benedict Option" tue - eigene Antworten auf die Frage zu finden, wie christliche Gemeinschaft aussehen könne. Weiterhin verweist er auf die Catholic Worker-Bewegung, die lateinamerikanischen Basisgemeinden und L'Arche und hebt hervor, dass all diese Bewegungen mit wenig oder gar keinem Geld angefangen hätten -- was ein gewichtiges Argument gegen das Vorurteil darstelle, die #BenOp sei nur für Christen aus der oberen Mittelschicht realisierbar, die genug Geld für so etwas übrig hätten. Die genannten Gemeinschaften, so McKernan, hätten "durch Gebet, harte Arbeit und Wunder überlebt, nicht durch ausgeklügelte Businesspläne. Das mag verrückt klingen und ist es wohl auch, aber es scheint, dass Gott über derartige verrückte Unternehmungen freundlich lächelt." 
Vorige Woche habe ich in der Rubrik "Heilige der Woche" darauf hingewiesen, dass der Tagesheilige vom 21. Februar, Petrus Damiani, für "scharfe Kritik an moralischen Missständen im Klerus (insbesondere Päderastie)" bekannt gewesen sei. Dass gerade dieser Umstand sein Werk heute wieder ausgesprochen aktuell erscheinen lässt, wollte ich damit implizit angedeutet haben. Derweil bezeichnete ein als "Whisky-Priester" bekannter Geistlicher das "Liber antigomorrhanius" des Hl. Petrus Damiani (das allerdings eigentlich "Liber Gomorrhianus" heißt, aber wer wird so kleinlich sein) auf seiner Facebook-Wall als "eines der wirkmächtigsten homophoben Pamphlete der Kirchengeschichte"; nun gut, so kann man den Sachverhalt wohl auch ausdrücken. Der Catholic World Report dagegen holte am Gedenktag des Heiligen einen erstmals am 27.09.2018 veröffentlichten Artikel von Matthew Cullinan Hoffman aus dem Archiv hervor, in dem es, na guck, um die Aktualität des Werks Petrus Damianis (den der Autor den "Cheftheoretiker der Konterrevolutionäre gegen das korrupte kirchliche Establishment" des 11. Jhs. nennt) vor dem Hintergrund der Missbrauchskrise geht. Der Autor weiß, wovon er spricht, denn er ist der Übersetzer und Herausgeber einer 2015 erschienenen englischsprachigen Ausgabe des "Liber Gomorrhianus"

Ja, ich weiß: Der FOCUS. Ich gehöre gewissermaßen zu der Generation, die gelernt hat, diesem Nachrichtenmagazin zu misstrauen, seit es existiert, und oftmals hst dieses Misstrauen wohl auch seinen guten Grund. Aber manchmal ist man doch froh, dass es den FOCUS gibt, nämlich dann, wenn dort Stimmen zu Wort kommen, denen man im linksliberalen Mainstream der deutschen Medienlandschaft eher kein Gehör geben würde. Im vorliegenden, recht umfangreichen Beitrag stellt der "Kindheitsforscher" Michael Hüter die provokante These auf, "seelisch und emotional" gehe es der Mehrzahl der Kinder in unserer modernen Gesellschaft so schlecht wie nie zuvor, jedenfalls "außerhalb  von Kriegszeiten". Warum? Weil sie zu wenig Liebe erfahren, insbesondere von ihren Eltern. -- Es überrascht mich nicht im geringsten, dass Johannes Hartl diesen Artikel auf Facebook und Twitter empfohlen hat, denn einige Aussagen Michael Hüters weisen ein hohes Maß an Übereinstimmung mit Thesen auf, die Hartl in seinen Vorträgen (z.B. "Ökologie des Herzens") vertritt.  Diese Übereinstimmung sehe ich z.B. in Passagen wie diesen: 
"Totalitarismus, Krieg, gesellschaftliche Polarisierung und generell alle Formen von Missachtung und Zerstörung wären ohne den frühen (auch elterlichen) Liebesmangel unmöglich. Wer nicht früh Liebe erfahren und somit lieben gelernt hat, der wird später auch nichts lieben und bewahren. [...]
Auch die [...] maßlose Zerstörung unserer natürlichen Lebensräume lässt sich auf diesen frühen und seit langem zur Norm gewordenen frühkindlichen Liebesmangel zurückführen. Wir brauchen nicht das Klima oder die Natur retten, sondern lediglich die hohe Entfremdung von unserer eigenen Natur beenden."
Vor diesem Hintergrund betrachtet Hüter den Trend zur "Fremdbetreuung des Kindes vom 1. bis zum 18. Lebensjahr, 38 Stunden die Woche und das am besten auch noch in den Ferien" als eine dramatische Fehlentwicklung mit katastrophalen Folgen: "Mit Ganztageskrippen, Ganztages-Kitas und Ganztages-Schulen, weggesperrt vom 1. bis zum 18. Lebensjahr, wird der Mensch nicht gebildeter, nicht kompetenter, und schon gar nicht humaner werden." 


Heilige der Woche: 

Heute, Montag, 24. Februar: Hl. Matthias, Apostel. Im 1. Kapitel der Apostelgeschichte wird geschildert, wie die Elf Apostel nach der Himmelfahrt Jesu einen Nachfolger für dem abtrünnig gewordenen Judas Iskariot bestimmen, um die symbolträchtige Zahl von Zwölf Aposteln wiederherzustellen: Zwischen zwei für das Apostelsmt infrage kommenden Kandidaten aus dem weiteren Kreis der Jünger Jesu entscheidet das Los und fällt auf Matthias. Diese Episode ist deshalb so bedeutsam, weil sie gewissermaßen den ersten administrativen Akt der jungen Kirche schildert, und sie gilt als grundlegend für das Prinzip der Apostolischen Sukzession, das in der kirchlichen Hierarchie bis heute Gültigkeit hat. Darüber hinaus berichtet die Bibel nichts über den Apostel Matthias; der außerbiblischen Tradition zufolge soll er im Jahr 63 das Martyrium erlitten haben. Seine Gebeine sollen im 4. Jh. nach Trier gelangt sein, ihre Verehrung in der dortigen Abteikirche St. Matthias ist seit dem Jahr 1127 nachgewiesen. Es handelt sich um das einzige Apostelgrab nördlich der Alpen. 

Dienstag, 25. Februar: Hl. Walburga (ca. 710-779), Äbtissin. Stammte der Überlieferung zufolge aus dem angelsächsischen Königshaus von Wessex, war die Schwester der Hll. Willibald und Wunibald und mütterlicherseits eine Nichte des Hl. Bonifatius, der sie, nachdem sie im Kloster Wimborne in Dorsetshire erzogen worden war, als Missionarin ins Frankenreich berufen und wurde 761 Äbtissin des Klosters Heidenheim in Mittelfranken. Der 25. Februar ist ihr Todestag; daneben wurde und wird ihrer auch am Tag der Übertragung ihrer Gebeine nach Eichstätt, dem 1. Mai, gedacht -- daher rührt der Name "Walpurgisnacht" für die Nacht zum 1. Mai. 


Aus dem Stundenbuch: 

Ihr seid jetzt nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes. (Epheser 2,19)



Donnerstag, 20. Februar 2020

Baumhaus Berlin: Be the Change you want to see in the World

Regelmäßigen Lesern meiner Artikelserie "Kaffee & Laudes" dürfte nicht entgangen sein, dass ich schon mehrfach das "Baumhaus" im Berliner Ortsteil Wedding - laut Eigenbeschreibung ein "Projektraum für sozial-ökologischen Wandel" - erwähnt und insbesondere die dort regelmäßig stattfindende "Community Networking Night" in den höchsten Tönen gelobt habe. Wenn ich mich ohne Nachschauen korrekt erinnere, habe ich auch schon mehr als einmal in Aussicht gestellt, mal in einem eigenständigen Artikel ausführlich zu erläutern, was ich daran eigentlich so toll finde und inwiefern ich das für den Interessenschwerpunkt dieses Blogs (Gemeindeerneuerung, Neuevangelisierung, "christliche Graswurzelrevolution") als relevant betrachte. Nach meinem jüngsten Besuch dort - anlässlich einer als "Emergency Meeting" angekündigten Veranstaltung in der letzten Januarwoche - scheint mir nun die Zeit gekommen, dieser Ankündigung endlich mal Taten folgen zu lassen. 

Also, habe ich mir gedacht, gehe ich mal vom Speziellen zum Allgemeinen vor und fange mit der Schilderung des besagten "Emergency Meetings" an, um von da aus darauf zu kommen, was ich grundsätzlich so toll am Baumhaus finde. 

Von einer "normalen" Community Networking Night unterschied sich die genannte Veranstaltung im Wesentlichen durch eine Ansprache des Baumhaus-Co-Initiators Scott Bolden; und ich muss sagen: Eine Ansprache wie diese würde ich gern einmal in einem kirchlichen Kontext hören, sei es als Predigt im Gottesdienst oder auch in einem nicht-liturgischen Zusammenhang. Mir ist klar, dass diese Aussage zu Fehldeutungen einlädt, aber keine Sorge, ich werde sie gleich erläutern. Das Thema der auf Englisch gehaltenen Ansprache war, dem Motto des Abends entsprechend - "Emergency",  also "Notsituation" oder auch "Ernstfall"; wider Erwarten stand dabei indes die angespannte finanzielle Situation des Baumhauses, die in der Veranstaltungsankündigung hervorgehoben worden war, gar nicht so sehr im Vordergrund -- die spielte Scott eher herunter. Ja, natürlich sei das Baumhaus zur Deckung seiner Fixkosten (s. Abb.) auf Spenden angewiesen, und augenblicklich besonders: Die Kostendeckung für die nächsten zwei Monate stehe auf recht wackligen Füßen, man könne da also jede Unterstützung brauchen, die zu haben sei. Gleichzeitig verbreitete er aber Optimismus: Man werde diese Durststrecke schon überstehen und weitermachen.



Wesentlich mehr als um den akuten Geldbedarf des Projekts ging es in der Ansprache aber um die Frage "Wozu machen wir das alles hier überhaupt?", und in diesem Zusammenhang äußerte Scott die Überzeugung, dass sich die ganze Welt in einer Notfallsituation befindet: dass sie auf einen sozialen, ökonomischen und nicht zuletzt natürlich ökologischen Kollaps zusteuert, und wenngleich die Vorboten der Katastrophe im Alltag der meisten Menschen hierzulande noch nicht spürbar seien, sei doch jetzt die Zeit, Maßnahmen zu ergreifen, um die Katastrophe nach Möglichkeit noch abzuwenden. In jedem Katastrophenfilm, so Scott, gibt es diese Sequenz vor dem dramatischen Höhepunkt - bevor der Meteorit einschlägt, der Vulkan ausbricht, die Flutwelle die Küste erreicht, die Ork-Armee ins Land einbricht -; eine Sequenz, in der die Helden der jeweiligen Geschichte sich zusammentun und ihre unterschiedlichen Fähigkeiten und Ressourcen kombinieren, um sich auf das Unvermeidliche vorzubereiten. Eine Sequenz, in der Schiffe gezimmert, Vorräte gesammelt, Waffen geschmiedet, Formeln berechnet werden. Das, sagte Scott, ist die Situation, in der wir uns befinden, und das ist es, was wir tun.

Und ich dachte mir: Ich würde gern mal erleben, wie ein Kirchenvertreter mit einem vergleichbaren Sinn für Dringlichkeit über die spirituelle Krise der westlichen Welt spricht. 

Dieser Gedanke drängte sich umso mehr auf, als Scott Bolden, so wie ich ihn kennengelernt habe, jemand ist, der sich sehr im Klaren darüber ist, dass die ökologische Krise, ursächlich betrachtet, auch und nicht zuletzt eine spirituelle Krise ist. Mir fällt dazu Johannes Hartls auf der jüngsten MEHR-Konferenz gehaltener Vortrag über die "Ökologie des Herzens" ein. Ich weiß nicht, wie Scott zum christlichen Glauben steht - mein Eindruck ist, dass seine Spiritualität eher pantheistisch orientiert ist -; aber ich bin ziemlich überzeugt, dass über die These, dass Zerstörungen des natürlichen Lebensraums ihren Ursprung letztlich in einer unerfüllten Sehnsucht des menschlichen Herzens haben, zwischen ihm und Hartl ein hohes Maß an Übereinstimmung herrschen würde. So ist der "sozial-ökologische Wandel", den zu fördern das Baumhaus sich auf die Fahnen geschrieben hat, auch und nicht zuletzt als ein Wandel zu verstehen, der in den Herzen der Menschen zu beginnen hat. Aus diesem Grund ist das Baumhaus so darauf bedacht, Gemeinschaft zu stiften, Menschen miteinander in Verbindung zu bringen, um so in kleinem Maßstab Strukturen zu etablieren, die zur Keimzelle oder, wenn man so will, zum "Versuchslabor" für eine menschlichere Gesellschaft werden können.

Nichts anderes als dies bedeutet letztlich das Prinzip "Graswurzelrevolution". Und eine spezifisch christliche Version einer solchen Graswurzelrevolution - nicht in dem Sinne, dass der christliche Glaube gewissermaßen als Sahnehäubchen auf die Vision von der menschlicheren und zugleich ökologisch nachhaltigeren Gesellschaft draufgesetzt wird, und erst recht nicht im Sinne einer Reduktion und Abstraktion des christlichen Glaubens zu "christlichen Werten", die in einer solchen Gesellschaftsvision problemlos ihren Platz fänden, sondern vielmehr so, dass das Motto "Instaurare omnia in Christo" ("alles in Christus erneuern") die Maßstäbe dafür setzt, was man unter einer wahrhaft menschenfreundlichen Gesellschaft versteht -, wäre nach meinem Verständnis die #BenOp. So, hätten wir das mal geklärt.

Nun hat das Baumhaus, wie bereits angedeutet, zwar nicht diesen christlichen Aspekt, aber auf der anderen Seite fehlt vielen kirchlichen Einrichtungen dafür alles andere. Oder nein, ehrlich gesagt ist es sogar noch schlimmer: In vielen kirchlichen oder kirchennahen Initiativen findet man den dezidiert christlichen Aspekt ebenfalls nicht, oder höchstens in einer so verwässerten Gestalt, dass man darauf schließlich auch noch verzichten könnte. Aber auch da, wo dieser letztgenannte Kritikpunkt nicht oder nur zum Teil zutrifft, packt mich in jüngster Zeit immer häufiger die Ungeduld gegenüber der, wie mir scheint, charakteristischen Behäbigkeit volkskirchlicher Strukturen, die mangels Visionen und Phantasie einfach so weiterwurschteln, wie sie es seit jeher gewohnt sind, und dabei beharrlich ignorieren, dass ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Und deshalb stellt für mich das Baumhaus - wo ich Menschen begegne, die die Überzeugung ausstrahlen, dass es sowohl notwendig als auch möglich ist, die Welt zu verändern - einerseits eine Erholung vom Kirchenfrust dar und andererseits auch einen Ansporn, etwas von diesem "Spirit" in den kirchlichen Raum hineinzutragen.  

Nun aber mal von vorne: Dass ich überhaupt aufs Baumhaus aufmerksam geworden bin, das immerhin zehn U-Bahn-Stationen von meinem Zuhause entfernt liegt (was für Berliner Verhältnisse allerdings noch als "halbwegs nah" gelten kann), verdanke ich tatsächlich Facebook, und zwar genauer gesagt der Rubrik "Veranstaltungen, die dich interessieren könnten". Da hatte der olle Algorithmus mal den richtigen Riecher.  Bei der betreffenden Veranstaltung, die am Vorabend des Palmsonntags 2019 stattfand, handelte es sich um eine Buchvorstellung zu Anja Hradetzkys "Wie ich als Cowgirl die Welt bereiste und ohne Land und Geld zur Bio-Bäuerin wurde"; das Buch habe ich hier und auch in der Tagespost ausführlich gewürdigt, es hat Platz 5 auf meiner Buchtipp-Rangliste des Jahres 2019 erreicht, aber nicht nur deshalb hat sich der Besuch gelohnt. Die Location fand ich schon allein von der Raumgestaltung her einfach total schön - wie man, außer auf den folgenden Fotos, auch unter diesem Link nachvollziehen kann -, aber mindestens ebenso gut gefiel mir die Ausstrahlung der Leute dort. Man fühlte sich einfach willkommen, hatte den Eindruck, von lauter netten, interessanten und aufgeschlossenen Menschen umgeben zu sein. Seither - das habe ich, glaube ich, auch schon mal irgendwo geschrieben - treibt mich die Frage um, wie man einen Raum gestalten muss, damit er quasi "von selbst" die richtigen Leute anlockt




Ja, das ist eine Toilette. Die wahrscheinlich schönste nicht-private Toilette Berlins. 
Zwischen meinem ersten und meinem zweiten Besuch im Baumhaus - diesmal mit Frau und Kind, zur Community Networking Night - vergingen sage und schreibe drei Monate, wovon allerdings (wie man in der Reihe "Kaffee & Laudes" detailliert nachlesen kann) ungefähr der letzte Monat damit verging, dass wir praktisch jede Woche vorhatten, da hinzugehen, und es dann doch nicht schafften. Auch jetzt noch denke ich nahezu jede Woche "Man könnte ja mal wieder..." und schaffe es dann doch viel seltener, als ich eigentlich möchte. Was mich an dem Veranstaltungsformat Community Networking Night von vornherein interessierte, war seine strukturelle Ähnlichkeit mit unserem "Dinner mit Gott", oder, wenn man ehrlich ist, damit, wie ich mir unser "Dinner mit Gott" idealerweise vorstellen würde. Tatsächlich habe ich - wie ich bereits in einem eigenen Artikel dargelegt habe - meine Erlebnisse bei der Community Networking Night im Baumhaus zum Anlass genommen, beim "Dinner mit Gott" einige konzeptionelle Änderungen einzuführen, um dieser Idealvorstellung etwas näher zu kommen. Ein knappes halbes Jahr später würde ich sagen, dass diese Änderungen durchaus "etwas gebracht" haben, aber letztendlich steht und fällt so ein Konzept immer mit den Leuten, die daran teilnehmen, und da ist nach wie vor Luft nach oben. 

Das für mein Empfinden interessanteste Segment der Community Networking Night im Baumhaus nennt sich "News You Can Use"; in dem just erwähnten Artikel zur Neugestaltung des "Dinner mit Gott" beschrieb ich die Kernidee dieses Programmpunktes wie folgt: 
"Schlicht gesagt geht es darum, allen Teilnehmern Gelegenheit zu geben, Projekte und Ideen vorzustellen, an denen sie gerade arbeiten und/oder bei denen sie Unterstützung benötigen, und Dienste oder Hilfen jedweder Art anzubieten oder zu suchen. (Gibst Du Gitarrenunterricht oder würdest Du gern welchen nehmen? Kannst Du Fahrräder reparieren oder ist Dein Fahrrad gerade kaputt? Suchst Du Helfer für einen Umzug oder zum Äpfelpflücken?)"
Bei dieser "News You Can Use"-Runde gibt es, so oft ich bisher dabei war, immer allerlei Interessantes und Verblüffendes. Neulich im Rahmen des "Emergency Meetings" auch wieder. "Wir planen gerade einen Lehmofen." -- "Heißt das, ihr baut einen Lehmofen?" -- "Nein, im Moment planen wir ihn nur." -- "Wir kommen aus Japan und sind in Berlin für ein Projekt, bei dem wir aus Pappe und Elektroschrott Roboter bauen." Das nur mal als ein paar Beispiele dafür, was da für Leute hinkommen. Wieso kommen solche Leute nicht zu unseren Veranstaltungen? Man muss offenbar der Tatsache ins Auge sehen, dass eine Kirchengemeinde nicht gerade der Ort ist, wo Leute als erstes hingehen, wenn sie ein spannendes Projekt planen und dafür Unterstützer suchen - oder auch umgekehrt, wenn sie sich denken "Ich würde gerne Leute kennenlernen, die Ideen für spannende Projekte haben, bei denen ich mitmachen könnte." Aber warum ist das so? Vermutlich gibt es eine Reihe unterschiedlicher Aspekte, die dazu beitragen, aber ich denke mir, es müsste doch möglich sein, etwas daran zu ändern. Zum Beispiel, indem man in der Kirchengemeinde eine Atmosphäre schafft, die auf solche Leute einladender wirkt. 

Demselben Ziel, Leute, die etwas anzubieten haben, mit Leuten zusammenzubringen, die etwas suchen, dient eine Pinnwand im Flur zu den Toiletten: 


Huch, da hängt ja ein Mittwochsklub-Flyer. Wer den da wohl hingehängt hat. Zwinkersmiley. 
Okay, so eine Pinnwand ist im Prinzip nicht unbedingt eine originelle Idee. Deshalb soll es die demnächst auch als App geben. Kein Scherz. Aber originell oder nicht, ich frage mich bei diesem Anblick: Wieso haben wir so eine Pinnwand nicht? In der Kirche, meine ich. Ja, es gibt eine Art "Schwarzes Brett" im Windfang der Kirche, aber das wird nicht auf diese Weise genutzt. Das erinnert mich übrigens an einen Artikel von der guten Simcha Fisher mit dem schönen Titel "Committees are no Substitute for True Community". Den hatte ich eigentlich schon längst mal in meine wöchentlichen Linktipps (im Rahmen von "Kaffee & Laudes") aufnehmen wollen, habe dann aber doch davon Abstand genommen, da es nur ein Auszug aus einem in dem australischen Magazin Catholic Weekly erschienenen Artikel ist und die Website von Catholic Weekly sich aus obskuren Sicherheitsgründen von einer deutschen IP-Adresse nicht öffnen lässt. Aber was soll's, dann begnügt man sich eben mit der Kurzfassung und denkt sich den Rest selber. Fällt zumindest mir nicht sehr schwer. Einleitend schildert die liebe Simcha nämlich eine Kirchengemeinde, der sie und ihre Familie früher mal angehört haben und die "eine echte Gemeinschaft" gewesen sei: 
"Die Gemeinde war wirklich divers, es gab dort reiche und arme Leute, alte und junge, gesunde und kranke, und sie war auch ethnisch und kulturell sehr gemischt. [...] Nachdem wir uns auf dem E-Mail-Verteiler der Gemeinde eingetragen hatten, erhielten wir regelmäßig Mails: Der und der braucht jemanden, der ihn am Donnerstag zum Arzt bringt. Der und der braucht Hilfe beim Ölwechsel. Zufällig habe ich in dem Zeitraum, in dem wir zu dieser Kirchengemeinde gehörten, kein Kind zur Welt gebracht, aber ich kann mir die Lawine von Eintopfgerichten und selbstgehäkelten Strampelhöschen gut vorstellen, die über uns hereingebrochen wäre, wenn das der Fall gewesen wäre." 
Und sie resümiert: "Im Grunde ist es tragisch, dass ich diese Gemeinde als etwas so Besonderes erlebt habe -- und nicht als den Normalfall." Tja. Isso. Es sollte eigentlich der Normalfall sein. Aber solange das nicht der Fall ist, muss es halt Leute geben, die mit gutem Beispiel vorangehen. -- So, damit habe ich jetzt eigentlich alles gesagt, was ich sagen wollte, und würde alles Weitere gern meinen Lesern zum Selber-Weiterdenken überlassen. Aus kompositorischen Gründen müsste ich zwar zum Ende dieses Artikels eigentlich wieder einen Bogen zurück zum Anfang und somit zum Baumhaus schlagen, aber vielleicht spare ich mir das einfach, klappe stattdessen den Rechner zu und gehe zur Community Networking Night. Das letzte Mal ist schließlich schon wieder drei Wochen her... 



Mittwoch, 19. Februar 2020

Die 100-Bücher-Challenge: Etappe 3

Willkommen zurück, Leser! Ehe ich mich an die Auswertung einer Leseetappe mache, von der ich im Vorfeld argwöhnte, sie werde sich in Sachen #BenOp-Relevanz als die bislang schwächste des laufenden Kirchenjahres erweisen, sind vielleicht ein paar grundsätzliche Anmerkungen zu meinem Vorgehen bei der Auswahl meiner Lektüre und der Zusammenstellung der einzelnen Etappen am Platz. Ich könnte schließlich auch am laufenden Band Fachbücher über Gemeindeaufbau, Gemeindeentwicklung etc. lesen. Aber mal abgesehen davon, dass mich das wahrscheinlich zu Tode nerven würde, würden mir auch allerlei überraschende Impulse entgehen, läse ich nur Bücher, von denen ich in groben Zügen schon vorher zu wissen glaube, was drinsteht und inwiefern sie #BenOp-relevant sind. 

Hinzu kommt natürlich, dass mein umfangreiches Lesepensum nicht allein dazu dient, Anregungen für das Großprojekt Christliche Graswurzelrevolution zu sammeln, sondern auch dazu, Bücherspenden oder Fundstücke aus "Büchertankstellen" auf ihre Tauglichkeit für das Büchereiprojekt zu überprüfen, und wenngleich diese beiden Zwecke nicht gänzlich unabhängig voneinander sind, sind sie doch auch nicht einfach identisch. Aber das nur am Rande. Entscheidend ist vor allem, dass ich mich gern überraschen lasse -- und darum eine ganze Menge Bücher auf meine Leseliste gesetzt habe, bei denen ich lediglich das vage Gefühl habe, sie könnten "irgendwie interessant" sein, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, worin dieses "Irgendwie" konkret bestehen könnte. Und außerdem bemühe ich mich, die Chancen, das Pensum von 100 Büchern in einem Jahr überhaupt zu schaffen, dadurch zu erhöhen, dass ich die einzelnen Etappen möglichst abwechslungsreich und unterhaltsam gestalte. 

Wie gut ist mir das in Etappe 3 gelungen? Schauen wir mal: 




  • Alexander Oetker: Winteraustern

Angesichts der Tatsache, dass dieses Buch ein Weihnachtsgeschenk von meiner Mutter war, und unter Berücksichtigung des Umstands, dass meine Mutter hier zumindest gelegentlich mitliest, mag die Frage im Raum stehen: Könnte ich es unumwunden zugeben, wenn es mir nicht gefallen hätte? -- Nun, ich denke schon, dass ich das könnte. Fangen wir aber trotzdem mal mit dem Positiven an: Der Roman liest sich flüssig und passagenweise sogar ausgesprochen fesselnd, der Autor beherrscht souverän die Genre-Konventionen  des Erfolgsmodells "Regionalkrimi". Für meinen Geschmack sogar ein bisschen zu souverän; aber okay, der Mann hat bei RTL gearbeitet und kennt das Publikum, und man kann ihm wohl kaum einen Vorwurf daraus machen, dass er mit seinen Büchern Geld verdienen möchte. Ein bisschen ärgerlich ist es aber doch, wie deutlich man merkt, dass der Roman weniger mit Herzblut geschrieben wurde als vielmehr mit festem Blick auf den Geldbeutel. Und zwar ist das vor allem deshalb ärgerlich, weil der Roman durchaus gut genug ist, dass man sich wünschen würde, er wäre noch etwas besser

Inhaltlich geht es in dem Buch um Mordermittlungen im Austernzüchter-Milieu an der französischen Atlantikküste, und etwas augenzwinkernd könnte man sagen, das sei schon allein deshalb ein #BenOp-relevantes Thema, weil Rod Dreher ein großer Liebhaber von Austern ist. Mit erheblich größerem Ernst könnte man diese Aussage dahingehend modifizieren, dass traditionelle regionale Kulinarik als bewahrenswertes und bedrohtes Kulturgut ein "Crunchy Cons"-Thema ist, und die Schwierigkeiten kleiner Familienbetriebe, sich auf dem Markt zu behaupten, erst recht. Dank dieser Hintergrundmotive konnte sich der Roman zeitweilig durchaus Hoffnungen auf eine wenn auch bescheidene Ranglistenplatzierung machen. Insbesondere der Umstand, dass die beiden Mordopfer eine Kooperative junger Austernzüchter geplant hatten, um trotz der immer schwieriger werdenden wirtschaftlichen Bedingungen die kleinen Familienbetriebe erhalten zu können, erscheint #benOppig, doch leider wird dieses Thema nur recht oberflächlich angeschnitten, und der Mord hat damit, wie sich herausstellt, überhaupt nichts zu tun -- aber dazu später. Auch noch interessant ist es, dass mehrfach (auf S. 31 u. 232) die islamistischen Terror-Akte vom 13. November 2015 in Paris angesprochen werden; diese liegen zu Beginn der Haupthandlung des Romans nämlich erst gut einen Monat zurück. Thematisiert werden in diesem Zusammenhang auch die Lebensbedingungen in den Banlieues von Paris, die als Brutstätten von Kriminalität und politisch-religiöser Radikalisierung gezeichnet werden. Okay: Dass aktuelle, im weitesten Sinne politische Themen mit in die Handlung hineinspielen, ist durchaus auch eine genretypische Zutat. Am Rande spielt sogar "die EU mit ihrer Datenschutzverordnung" eine Rolle (S. 135). 

Was an diesem Roman indes ziemlich arg nervt, ist der angeberisch anmutende Einsatz von Französisch-Vokabeln, und mehr noch das dick aufgetragene, versnobte Schwelgen in Feinschmecker-Fachjargon. Gerade dies scheint aber das Alleinstellungsmerkmal von Oetkers "Aquitaine-Krimis" zu sein, die spezielle Zutat, die seinen Serienhelden Luc Verlain von anderen Wallander-Klonen unterscheidet. Selbst mit dem trauernden Vater eines Mordopfers tauscht der Ermittler sich ausgiebig über die Zubereitung von Austern und den dazu passenden Wein aus, und auch als der Roman zum Ende hin erheblich tempo- und actionreicher wird, ist für Gourmet-Fachsimpeleien über Wein, Käse und Rinderfilet immer noch Zeit. -- Erschwerend kommt hinzu, dass die Handlung auch in Krimi-spezifischer Hinsicht zunehmend enttäuschend verläuft. Gegen Ende der ersten Romanhälfte unterläuft dem Autor - so scheint es mir jedenfalls - erstmals ein logischer Anschlussfehler. "Ich habe Sie zuerst nicht erkannt, Commissaire, mein Mann aber schon", sagt die Mutter eines der beiden Mordopfer auf S. 125 zum Ermittler -- womit gemeint ist, dass er ihn als Sohn eines früheren Austernzüchter-Kollegen von früher her kennt; als aber 20 Seiten später ihr Mann vernommen wird, scheint er sich erst wieder daran zu erinnern, als der Kommissar es selbst erwähnt. Weiter hinten liefert sich Verlains dienstliche und private Partnerin Anouk einen Boxkampf mit dem Betreiber einer Kampfsport-Schule, um diesen dazu zu bewegen, Informationen über die Identität eines Verdächtigen preiszugeben; kurze Zeit später wird die Identität dieses Verdächtigen jedoch durch einen Abgleich von Fingerabdrücken festgestellt, womit der Boxkampf als ermittlungstechnisch völlig überflüssiges Schaustück für den Leser dasteht. Dass das ein grober Patzer ist, scheint dem Autor nicht einmal bewusst zu sein, denn er weist sogar explizit darauf hin: "Schade, dass wir die Akte nicht ein wenig früher hatten, dann wäre dir der Boxkampf erspart geblieben" (S. 249). Tja. Doof.

Und gerade als man denkt, die Ermittlungen liefen allzu glatt, der Fall sei ein bisschen arg simpel gestrickt und nichts deute darauf hin, dass noch eine Überraschung bevorstehen könnte, kommt der Autor mit einem Twist um die Ecke, der den Zusammenhang zwischen der Krimihandlung und dem wirtschaftlichen Überlebenskampf der kleinen Austernzüchter kurzerhand aus dem Fenster wirft und stattdessen, man höre und staune, Homophobie als Mordmotiv aus dem Hut zaubert. Sorry für den Spoiler, obwohl, eigentlich eher #sorrynotsorry. "Nur weil das Weltbild des alten Pujol eine solche Lebensweise nicht vorsah" (S. 298), also bitte

Stellen wir der Vollständigkeit halber noch die Gretchenfrage: Wie hält es der Roman mit der Religion? Dass militanter Islamismus am Rande eine Rolle spielt, hatte ich schon erwähnt; der zwischenzeitliche Hauptverdächtige Karim, ein in den Banlieues aufgewachsener junger Mann nordafrikanischer Herkunft, ist Muslim, aber nicht fromm (er vertreibt sich die Zeit mit "Pornoheftchen", S. 207), während sein Boxtrainer gegenüber der Polizei bekennt, er habe "zu Allah gebetet" (S. 245), dass Karim nichts mit den Morden zu tun haben möge. Auf christlicher Seite korrespondiert damit eine Äußerung der sympathischen jungen Austernzüchter-Tochter Julie Labadie: S. 227: "Madame Pujol [...] ist im Krankenhaus, sie kriegt heute ihre Diagnose. Ich habe heute Nacht für sie gebetet" (S 227). Auf S. 268 erfährt man übrigens, dass dieses Gebet erhört wurde. An zwei Stellen des Romans werden bedeutende Kirchenbauten in Bourdeux, nämlich einmal die Kathedrale (S. 86) und einmal die Basilika Saint-Michel (S. 100), als Sehenswürdigkeiten bzw. Orientierungspunkte erwähnt; das war's dann aber auch. 

Zusammenfassend möchte ich diesen Roman als ein Paradebeispiel für das wohl gar nicht so seltene Phänomen betrachten, dass ein Buch gerade dadurch, dass es gar nichts anderes sein will als leichte Unterhaltung, selbst diesem Anspruch nur mit Abstrichen gerecht wird. Ich wäre zu behaupten, hätte der Autor die Themen, die er lediglich oberflächlich anreißt, etwas ernster genommen, hätte das gerade auch der Krimi-Handlung gut tun können. Nach dem Abschluss des "Falles" geht das Buch übrigens noch etwa 20 Seiten lang weiter und endet mit einem Cliffhanger, der auf eine geplante Fortsetzung hindeutet. Die ist aber bisher nicht erschienen. 

  • Andreas Schlüter: Level 4 - Die Stadt der Kinder 
Die Story sieht erst einmal vielversprechend aus: Ein 12-jähriger Schüler probiert ein gerade frisch auf den Markt gekommenes Computerspiel aus, das in einer Stadt ohne Erwachsene spielt - und plötzlich verschwinden aus der Stadt, in der er lebt, tatsächlich alle Erwachsenen, woraufhin sich eine Gruppe von Kindern und Teenagern im Alter von etwa neun bis 14 Jahren vor die Aufgabe gestellt sieht, das Abgleiten der Stadt in Chaos und Anarchie aufzuhalten. Zu einem Zeitpunkt, als ich noch mitten in der Lektüre steckte, habe ich bereits den paradoxen Eindruck zu Protokoll gegeben, dieser Jugendroman "könnte ein gutes Buch sein, wenn es nicht so schlecht wäre". Nun, da ich damit durch bin, kann ich diese Einschätzung nur unterstreichen. Ich habe selten so ein schlampig und uninspiriert hingeschmiertes Buch gelesen, und das ist angesichts des Potentials, das in der Handlungsidee gesteckt hätte, ein ausgesprochen schmerzhafter Befund.

Nicht der geringste Mangel des Buches besteht darin, dass die Klappentext-Behauptung, es handle sich um einen "Computerkrimi", im Grunde eine Mogelpackung ist: Das Computerspiel, um das es vorgeblich geht, kommt tatsächlich nur am Rande vor, und die wenigen Passagen, in denen der Spielverlauf beschrieben wird, wirken recht primitiv und phantasielos. Das Buch ist von 1994, und ich möchte behaupten, ich wäre schon damals - obwohl ich nie ein besonders großer Computerspiel-Freak war - in der Lage gewesen, mir auf der Basis real existierender Spiele, die ich kannte, etwas Überzeugenderes auszudenken.

Noch schlimmer ist allerdings, dass der Handlungsverlauf insgesamt den Eindruck völliger Planlosigkeit erweckt. Wobei man zugeben muss, dass gerade dadurch zuweilen recht interessante Situationen entstehen -- wenn auch unbeabsichtigt oder sogar wider Willen. So fällt auf S. 49, einen Tag nachdem schlagartig und auf unerklärliche Weise alle Erwachsenen aus der Stadt verschwunden sind, einer der Hauptfiguren plötzlich ein: "Ich habe meinen Bruder vergessen!" Dieser kleine Bruder ist drei Jahre alt und "geht in die Kinderkrippe": "Meine Eltern holen ihn immer nach der Arbeit ab und kommen mit ihm dann nach Hause aber gestern Abend kamen meine Eltern ja nicht" -- und das hat offenbar ausgereicht, damit die große Schwester die bloße Existenz ihres Bruders fast einen vollen Tag lang komplett vergisst. Tatsächlich drängt sich hier der Eindruck auf, in Wirklichkeit sei es der Autor gewesen, der bis zu diesem Punkt der Handlung vergessen hatte, dass es ja auch Kleinkinder und Säuglinge geben müsste, für die das plötzliche Verschwinden der Erwachsenen unmittelbar viel dramatischere Folgen haben müsste als für Schulkinder. Also verfällt er kurzerhand auf die Lösung, dass Kleinkinder und Säuglinge ebenso verschwunden sind wie die Erwachsenen. Toll. Aber immerhin, für einen kurzen, glorreichen Moment hing eine Problematisierung der flächendeckenden Krippenerziehung in der Luft.

Noch interessanter und potentiell #BenOp-relevanter wird es allerdings, als die recht überschaubare Schar derjenigen Kinder, die gewillt sind, dem Chaos Einhalt zu gebieten, zu der Erkenntnis gelangt, dass jeder Einzelne von ihnen Fähigkeiten und Kenntnisse hat, die zum Nutzen der Gemeinschaft eingesetzt werden können. Besonders gut gefällt mir die Passage, in der die Überlegung des Protagonisten, als Vorsichtsmaßnahme gegen Verrat oder Unzuverlässigkeit nur einen "inneren Kreis" der auf seiner Seite stehenden Kinder in seine Pläne einzuweihen, als eine Versuchung zurückgewiesen wird. 

Insgesamt muss man aber leider sagen, dass einzelne halbwegs gelungene Passagen nur umso mehr den miserablen Gesamteindruck unterstreichen. Zu diesem trägt auch die Darstellung des Verhältnisses zwischen Kindern und Erwachsenen bei, die gleichermaßen inkonsistent wie überzogen anmutet. Wenn der Autor die plötzlich auf sich allein gestellten Kinder darüber sinnieren lässt, dass ihnen ja jetzt erst bewusst wird, was die Erwachsenen normalerweise alles für sie tun und dass sie eigentlich dankbar dafür sein müssten, ist da zwar von der Sache her etwas Wahres dran, aber der dick aufgetragene Moralismus der Darstellung wirkt eher peinlich. An anderer Stelle wird dann wieder so getan, als wäre es typisch für die Erwachsenenwelt, dass die Interessen und Bedürfnisse der Kinder in ihr nichts zählen: So entdecken die Protagonisten kurz vor Schluss, dass es analog zum Computerspiel "Die Stadt der Kinder" auch eine "Stadt der Erwachsenen" gibt -- eine Art Stadtverwaltungs-Simulation, in der es abstruserweise Punkte dafür gibt, die Turnhalle abzureißen oder alle Straßenbäume zu fällen. Alles in allem, so scheint mir, lässt dieses Buch darauf schließen, dass Autor und Verlag keine besonders hohe Meinung von der Intelligenz ihres Zielpublikums gehabt haben. 

Stellen wir auch hier wieder die sprichwörtliche Gretchenfrage, so ist festzustellen, dass Kirchen (ebenso wie auch Moscheen, Synagogen, Tempel oder sonstige Stätten der Religionsausübung) - in Schlüters "Level 4" im Unterschied zu Oetkers "Winteraustern" nicht einmal mehr als Gebäude eine Rolle spielen. Während der Umstand, dass einige handelnde Personen in der Jugendfeuerwehr aktiv sind, eine gewisse Rolle für den Handlungsverlauf spielt, ist keine Rede davon, ob es in der "Stadt der Kinder" vielleicht Messdiener gibt; und man komme mir jetzt bitte nicht mit dem Einwand, deren besondere Fähigkeiten und Kenntnisse wären für die Handlung ja auch wesentlich weniger relevant als die der Jugendfeuerwehr. Man hätte sich da sehr wohl etwas einfallen lassen können, wenn man gewollt hätte. Damit nicht genug, wird auch an keiner Stelle in Betracht gezogen, dass in Notsituationen auch Beten eine plausible Handlungsoption sein könnte. -- Es ist nicht so, dass ich diese völlige Abwesenheit von Religion nun unbedingt dem Autor zum Vorwurf machen wollte: Hätte ich das Buch zu einem anderen Zeitpunkt und in einem anderen Kontext gelesen, wäre mir dieser Umstand womöglich gar nicht besonders aufgefallen. Und genau da liegt das Problem. Mir scheint, es sagt eine Menge über den Zustand unserer Gesellschaft aus, wenn die totale Abwesenheit von Religion gar nicht mehr als auffällig wahrgenommen wird. Eine Stadt ohne Kleinkinder, eine Stadt ohne Straßenbäume oder ohne Hunde und Katzen, das käme uns sonderbar vor und würde nach einer Erklärung verlangen, aber eine Stadt ohne Kirchen wird unhinterfragt hingenommen. Wobei: Immerhin wird relativ kurz vor Schluss  des Buches beiläufig erwähnt, dass die beiden weiblichen Hauptfiguren Jennifer und Miriam "früher" - wann immer das gewesen sein mag, schließlich sind sie erst 13 Jahre alt - öfter zur "Kirchendisco" gegangen sind (S. 216 u. 220). Als ziviligesellschaftliche Institution - hier konkret als eine, die Freizeitangebote für Kinder macht, die noch zu jung sind, um in eine richtige Disco reinzukommen - ist die Kirche also doch noch präsent. (Bei so einer "Kirchendisco" war ich in meinen frühen Teenagerjahren übrigens auch mal. Das gibt's also tatsächlich.)

In gewissem Sinne könnte man also vielleicht sagen, das Buch werde erst durch seine Mängel wirklich interessant, aber letztlich ist das alles einfach unbefriedigend. Insbesondere - ich wiederhole mich -, weil die prinzipielle Handlungsidee so viel mehr hergegeben hätte. 


  • Maxim Gorki: Wanderungen durch Russland 

Diesen Band, der 29 zwischen 1912 und 1917 erstveröffentlichte, überwiegend wohl vergleichsweise unbekannte Erzählungen des Autors enthält, möchte ich als einen entschiedenen Glücksgriff bezeichnen: Von Stil und Atmosphäre der Erzählungen Gorkis bin ich schwer begeistert, wenngleich mir im letzten Drittel mehrfach durch den Kopf ging, es wäre der konzeptionellen Geschlossenheit des Bandes möglicherweise förderlich gewesen, wenn er nach der Erzählung "Es tut sich was!" (S. 251-265) zu Ende gewesen wäre; nicht etwa, dass die noch folgenden Erzählungen alles in allem schlechter gewesen wären als die davor, aber mit wenigen Ausnahmen ("Die Vogelsünde""Am Tschangul""Ein lustiger Geselle", eventuell noch "Das Buch" und "Die Gaffer"passen sie vom Stil, der Atmosphäre und Erzählsituation her nicht so recht zu diesen. Das verbindende Element zwischen den einzelnen Geschichten, gewissermaßen der rote Faden der Sammlung, der im letzten Drittel zuweilen verloren zu gehen droht, besteht darin, dass der Ich-Erzähler - ein offenbar überdurchschnittlich gebildeter junger Mann - kreuz und quer durch Russland wandert (daher der Titel), um Land und Leute kennenzulernen, und hier und dort Gelegenheitsarbeiten annimmt (meist solche, für die ihn der Umstand qualifiziert, dass er  lesen und schreiben kann). -- Unter "rein literarischen" Gesichtspunkten zählt der Band ohne jede Diskussion zum Besten, was ich in den zurückliegenden Monaten gelesen habe; inhaltlich ist der Befund indes komplizierter.

Ich hatte ja bereits angemerkt, dass ich mich für den in der Sowjetunion trotz persönlicher Freundschaft mit Lenin ideologisch nie ganz unumstrittenen Gorki nicht zuletzt wegen seines wohl einigermaßen ambivalenten Verhältnisses zum christlichen Glauben interessiere; womit ich allerdings nicht gerechnet hätte, ist, wie allgegenwärtig religiöse Bezüge in dieser Sammlung sind. Unter den 29 Einzeltexten sind nur zwei - und zwar die beiden kürzesten, "Heimwärts" (es sei denn, man zählte hier die beiläufige Erwähnung des "gottgefälligen Gewerbe[s]" der Fischer auf S. 230 mit) und "Das Glück" - in denen nicht von Elementen des christlichen Glaubens die Rede wäre, von Gott und Heiligen, von Kirchen und Klöstern, von Gottesdienst und Gebet, es treten Kirchendiener, Diakone, Popen und ehemalige Klosterzöglinge auf. Unabhängig von der Haltung des Erzählers zur Religion - dazu später - drängt sich angesichts dieses Befunds zunächst einmal der Gedanke auf: Wenn der christliche Glaube im vorrevolutionären Russland tatsächlich so allgegenwärtig war, wie es in diesen Erzählungen den Anschein hat, was für verheerende Auswirkungen auf die Gesellschaft muss es dann gehabt haben, dass diesem Volk später staatlicherseits der Atheismus verordnet wurde? 

Die klassische marxistisch-leninistische Erwiderung darauf wäre natürlich, gerade die Religion sei in vorrevolutionärer Zeit ein Mittel gewesen, das Volk im Elend festzuhalten, und folglich sei es zur Verbesserung der Lage des Proletariats dringend notwendig gewesen, die Menschen aus den "Fesseln der Religion" zu befreien; und tatsächlich erscheint es durchaus möglich, Gorkis Darstellung der starken und geradezu selbstverständlich erscheinenden Frömmigkeit gerade der einfachen und armen Leute in diesem Sinne zu interpretieren; aber wirklich eindeutig ist das nicht. In einigen der Erzählungen wird zwar ein recht deutlicher Kontrast zwischen dem Hang der Frommen zu passiver Duldsamkeit und dem Eifer derer in Szene gesetzt, die bestrebt sind, das Los der Menschen zu verbessern.; interessant ist indes, dass der Erzähler - in dem man angesichts des autobiographischen Hintergrunds zumindest eines Teils der Erzählungen wohl mehr oder weniger ein Alter Ego des Autors sehen kann - dabei nicht eindeutig Stellung bezieht. Es scheint wesentlich zum Konzept dieses Erzählzyklus zu gehören, dass der Erzähler auf seinen Wanderungen Eindrücke sammelt, ohne sie zu bewerten. Er mag emotionale Reaktionen zeigen - Dinge, die er erlebt und erfährt, machen ihn traurig oder zornig oder rühren ihn -, aber ein Urteil gibt er nicht ab.

Deutlich genug wird allerdings, dass der Ich-Erzähler selbst, soweit er überhaupt als Charakter fassbar wird, kein Frommer ist; an einer Stelle (S. 266) sagt er explizit, dass er sich nicht zu den "Gläubigen" zählt, und wiederholt finden sich bei ihm Hinweise auf eine vitalistische, pantheistisch angehauchten Naturspiritualität, so etwa, wenn er auf S. 259 "die strahlendhelle Sonne" als "Stammutter aller Menschen und Götter" anspricht. In der Erzählung "Graue Gespenster" (S. 404-422), die Lenin besonders geschätzt haben soll, legt Gorki einem verkrüppelten und vernachlässigten Knaben die naive Frage in den Mund: "[W]er hat denn den Hergott gemacht - die Herrgottschnitzer?" (S. 418). Im Rahmen der Erzählung löst diese Frage lediglich Gelächter aus, aber ich frage mich doch, ob Gorki hier nicht womöglich einen versteckten Hinweis auf die religionsphilosophische Bewegung der "Gotterbauer" eingebaut hat, von der Tante Wiki sagt, er habe ihr zumindest zeitweilig nahegestanden. 

In einigen Erzählungen des Bandes - und das sind einigermaßen folgerichtig die, die mir am besten gefallen - entsteht der Eindruck, dass der Ich-Erzähler die Gläubigkeit der kleinen Leute nicht bloß mit Verwunderung, sondern zu einem gewissen Grad auch mit Bewunderung betrachtet -- weil er wahrnimmt, wie viel Kraft und seelische Stabilität selbst im größten Elend sie aus diesem Glauben schöpfen (was freilich nicht hindert, dass einige von ihnen hier und da auch recht eigenwillige und fragwürdige Auffassungen von Gott und Christentum an den Tag legen). Meine Favoriten unter den 29 Erzählungen der Sammlung sind in dieser Hinsicht: 

  • "Ein Mensch wird geboren" (S. 6-18) 
Hier begegnet der Ich-Erzähler einer Wanderarbeiterin, die am Rande der Landstraße ein Kind zur Welt bringt, und hilft ihr bei der Entbindung. Die Zuversicht der Frau, trotz aller Widrigkeiten das Leben zu meistern, wird nachdrücklich mit ihrem Vertrauen auf den Beistand der Muttergottes in Verbindung gebracht (S. 15: "Ja freilich, wenn die Muttergottes mit ihr war - was sollte ich da noch sagen!") 

  • "Niluschka" (S. 69-95) 
In einem armen, verkommenen Wohnvierteln lebt ein "gottgefälliger Narr" (S. 75): ein hübscher, sanftmütiger, leicht geistig verwirrter Knabe, der von den Nachbarn als ein fast überirdisches Wesen bestaunt wird. Der Händler und Pfandleiher Wologonow will den Nimbus der Heiligkeit, der den Knaben umgibt, noch verstärken, indem er ihm - erfolglos - beizubringen versucht, in Rätseln zu sprechen. Der Ich-Erzähler missbilligt das (wobei es allerdings immerhin bemerkenswert ist, dass Wologonow keine eigennützigen Interessen verfolgt, sondern lediglich überzeugt ist,  die Leute im Stadtteil bräuchten einen Heiligen), aber auch er kann sich der Ausstrahlung des Jungen nicht entziehen. Schließlich stirbt der Knabe - nachdem er in der "Spätmesse" gewesen ist und dort zwei "Weihbrote [...] als milde Gabe erhalten" hat (S. 90) -, überraschend, aber sehr friedlich im Schlaf. 

  • "Der Verstorbene" (S. 234-250) 
Der Ich-Erzähler kommt in ein abgelegenes, nur aus sieben Häusern bestehendes Dorf und fragt nach Arbeit; zunächst weißt man ihn ab, aber dann wird ihm gesagt, er könne sich einen Groschen verdienen, indem er die Totengebete für einen kürzlich Verstorbenen liest - im Dorf gibt es nämlich niemanden, der lesen kann. Allerdings zeigt sich, dass im Dorf auch kein Gebetbuch aufzutreiben ist; das einzige Buch, das dort vorhanden ist, ist ein Lehrbuch für Grammatik. Der Erzähler rezitiert daraufhin die ihm bekannten Totengebete aus dem Gedächtnis und erfüllt diese Aufgabe sehr gewissenhaft, obwohl er gleichzeitig in Gedanken seine Skepsis gegenüber dem christlichen Glauben zum Ausdruck bringt. Diese Geschichte scheint mir sehr illustrativ für die ambivalente Haltung des Erzähler gegen dem Christentum, auch wenn er am Ende wieder seinem oben bereits angesprochenen vitalistisch-pantheististischen Sonnenkult huldigt. 

Auch in der Erzählung "Ein Weib" (S. 136-168) bezieht die Titelfigur - wiederum eine Wanderarbeiterin - Lebensmut und Zuversicht aus ihrem Glauben, wenngleich ihr Lebenswandel selbst nach ihren eigenen Maßstäben nicht unbedingt gottgefällig ist. Besonders interessant an dieser Erzählung finde ich die Passage, in der die Titelfigur dem Ich-Erzähler ihre Zukunftspläne unterbreitet: 
"Warte nur, wenn mir erst der richtige Mann begegnet, suchen wir uns zusammen ein Stück Land. Wir werden es in der Nähe von Nowyj Afon finden, ich kenne die Gegend, ich hin dort gewesen. Und dann werden wir anfangen, das Land zu bestellen: wir werden einen Obstgarten haben, einen Gemüsegarten und einen Acker, alles wie sich's in einer guten Wirtschaft gehört. [...] Und wenn wir erst alles gut eingerichtet haben, werden andere zu uns stoßen, dann sind wir schon die Alteinwohner und genießen Achtung bei allen anderen! Nicht lange, und ein neues Dorf ist entstanden, ein hübscher Winkel. Der Mann wird, eh man sich's versieht, zum Dorfältesten gewählt. [...] Und im Garten spielen die Kinder, eine Laube steht mitten darin..." (S. 158f.) 
Ich finde, diese Vision mutet ausgesprochen #benOppig an, bis hin zu dem bemerkenswerten Detail, dass es in der Nähe der hier projektierten Ansiedlung ein Kloster gibt (das in der Erzählung "Kalinin", S. 203-229, vorkommt). 

Interessant ist auch, dass in mehreren Texten der Sammlung religiöse Minderheiten/Sekten/Sondergemeinschaften eine Rolle spielen, am profiliertesten die Molokanen in der Erzählung "In der Schlucht" (S. 169-202). In der Erzählung "Das Buch" (S. 308-319) gibt der Telegrafist Judin einem Kollegen brieflich den Rat, "in eine Kolonie von Tolstoi-Anhängern zu gehen" (S. 314). 

Zusammenfassend ist zu sagen, dass die insgesamt bestenfalls als zwiespältig zu beurteilende Haltung zum Christentum, die in dem Buch zum Ausdruck kommt, es einigermaßen schwierig macht, ihm einen angemessenen Platz auf der Rangliste zuzuweisen; indes haben wir ja bereits einige Präzendenzfälle dafür, dass mangelnde Rechtgläubigkeit allein noch kein Ausschlusskriterium ist. Dennoch, und trotz aller hier hervorgehobenen interessanten Details, bleibt die #BenOp-Relevanz des Bandes hinter seiner allgemeinen literarischen Qualität deutlich zurück; mehr als ein Platz zwischen May und Orwell ist da leider nicht drin. 


  • G.K. Chesterton: Thomas & Franz 
Bei dieser Ausgabe von Chestertons biographischen Essays über den Hl. Thomas von Aquin und den Hl. Franz von Assisi in einem Band handelt es sich, wie ich schon einmal vermerkt hatte, nach Angaben des Verlags um die "[e]rste vollständige deutsche Textfassung" dieser Werke; beide Teile des Buches greifen auf ältere Übersetzungen zurück, die jedoch "durchgesehen, überarbeitet und ergänzt" wurden --  und wenn ich an dem Buch etwas auszusetzen habe, dann, dass es ein gründlicheres Lektorat verdient hätte. An einigen Stellen holpern Satzbau und Grammatik ganz erheblich. Nun gut, ich weiß aus eigener Erfahrung, wie solche Fehler entstehen: Man formuliert einen Satz mehrfach um, und am Ende steht hier und da ein aus einer früheren Fassung übriggebliebenes Partikelchen an einer Stelle herum, wo es nicht (mehr) hingehört, oder man ersetzt ein Verb, ohne zu beachten, dass sich dadurch die Rektion ändert. Kann alles passieren, und ironischerweise passiert so etwas typischerweise gerade dann, wenn besonders sorgfältig am Text gearbeitet wurde; aber früher gab es mal Lektoren, die solche Fehler eliminiert hätten, bevor das Buch in den Handel kommt. 

So. Wenn dies mein einziger Kritikpunkt an diesem Buch ist, dann sagt das wohl schon eine Menge darüber aus, wie begeistert ich vom Inhalt bin. Trotzdem noch eine Anmerkung zur Form: Auf den ersten Blick wirkt es unverständlich, warum in diesem Band die später entstandene Biographie über Thomas von Aquin vor derjenigen über Franz von Assisi abgedruckt ist. Es lässt sich jedoch vermuten, dass dies damit zu tun hat, dass das Kapitel "Zwei Bettelmönche", das den Hl. Thomas und den Hl. Franz als unterschiedliche Typen von Heiligen gegeneinander kontrastiert, auf diese Weise die Funktion einer Einleitung für den ganzen Band übernehmen kann. Dieses einleitende Kapitel schlägt dann auch direkt einige ausgesprochen #BenOp-relevante Saiten an. Natürlich könnte man sagen - und könnte dies mit einschlägigen Zitaten von Freund Rod begründen -, das Studium des Lebens großer Heiliger sei schon an und für sich #BenOp-relevant; ein Kapitel, das dezidiert die Frage in den Fokus rückt, was es eigentlich heißt, ein Heiliger zu sein, und was die Heiligen uns für unsere Gegenwart und Zukunft zu sagen haben, und das außerdem den revolutionären Charakter der hochmittelalterlichen Bettelorden-Bewegung hervorhebt, ist dann doch noch in besonderem Maße interessant. Ein paar bemerkenswerte Zitate gefällig? 
"Der Heilige ist ein Heilmittel, weil er ein Gegengift ist. Darum ist er wahrhaft oft ein Märtyrer, denn weil er ein Gegengift ist, hält man ihn für ein Gift. Meistens erneuert und heilt er die Welt dadurch, daß er besonders von dem zuviel hat, was die Welt zu wenig hat, und das ist fraglos in jedem Zeitalter etwas Verschiedenes. Jede Generation sucht sich instinktiv ihren eigenen Heiligen, und der ist nicht so, wie die Menschen ihn sich wünschen, sondern vielmehr, wie Sie ihn brauchen." (S. 18f.)  
"Wenn die Welt zu weltlich wird, kann die Kirche sie zurechtweisen, aber wenn die Kirche zu weltlich wird, kann die Welt sie nicht ob ihrer Weltlichkeit zurechtweisen." (S. 19) 
Über die Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner - die "große mittelalterliche Bewegung, die immer noch so wenig verstanden wird" - sagt Chesterton auf S. 22, diese sei "[i]m Gesamtaufbau der Geschichte [...] wichtiger als die Reformation" gewesen: "Ja, im eigentlichen Sinne des Wortes war gerade sie die Reformation." Darauf kommt er auf S. 28 nochmals zurück: "Die Menschen, die aus anderen Gründen den Ausgang der Reformation begrüßen, werden sich nichtsdestoweniger die Tatsache klarmachen müssen, daß die Scholastiker die Reformatoren und die späteren Reformatoren im Vergleich zu diesen Reaktionäre waren." (Im Nachwort zu seinem Thomas-Essay, auf S. 181, geht Chesterton in seinem negativen Urteil über die Reformation so weit, Martin Luther als "eindeutig krank" einzuschätzen.) Über den Hl. Dominikus berichtet der Verfasser eine bemerkenswerte Anekdote, "die bei uns sicher noch sehr viel öfter erzählt würde, wenn es um ein Puritaner gegangen wäre" (S. 37): Demnach habe seinerzeit einmal "der Papst auf seinen prächtigen päpstlichen Palast gezeigt" und gesagt : "Petrus kann nicht mehr länger sagen: 'Silber und Gold habe ich nicht'", worauf der Hl. Dominikus erwidert habe: "Nein, und ebensowenig kann er heute noch sagen: 'Stehe auf und wandle!'" (S. 37f.) -- Und schließlich noch ein schönes und hochgradig #BenOp-relevantes Bonmot über die Volksbewegung der Bettelorden: 
"Ein Mensch, der es wagt, sich direkt an das Volk zu wenden, hat immer eine große Menge von Feinden, angefangen beim Volk selbst." (S. 41) 
Was Chesterton im weiteren Verlauf des Buches über die Biographie des Aquinaten mitzuteilen weiß, ist zweifellos lesenswert; im engeren Sinne #BenOp-relevant ist dieser im engeren Sinne biographische Teil aber in deutlich geringerem Maße als Chestertons Ausführungen über die Philosophie des Hl. Thomas oder, allgemeiner gesprochen, über seine Sicht auf das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft. Hier knüpft Chesterton in mancherlei Hinsicht an sei  Standardwerk "Orthodoxie" an (Stichwort: "Der Selbstmord des Denkens");  gleichzeitig sind hier auch die Anknüpfungspunkte zum 2. Kapitel der "Benedikt-Option" über die geistesgeschichtlichen "Wurzeln der Krise" sind nicht zu übersehen. Bereits im Einleitungskapitel hat Chesterton die leicht boshafte These aufgestellt, 
"daß, wie das 18. Jahrhundert sich für das Zeitalter der Vernunft, das 19. Jahrhundert sich für das Zeitalter des gesunden Menschenverstandes hielt, das 20. Jahrhundert sich bis jetzt nur für das Zeitalter eines ungesunden Menschenverstandes halten kann" (S. 20); 
was würde er wohl erst zum einundzwanzigsten sagen? Ein paar Seiten später tadelt er, "die modernen Schriftsteller" gingen "ohne Nachprüfung von der Annahme aus, daß alles geistige Freiwerden den Menschen von der Religion weg und zum Unglauben hinführen müsse, und so haben sie blindlings und öde das charakteristischste Merkmal des Religiösen überhaupt aus dem Auge verloren" (S 27). In einem ähnlichen Zusammenhang heißt es auf S. 49, im Viktorianischen Zeitalter sei die abstruse Auffassung aufgekommen,
"nur die Häretiker hätten der Welt je geholfen, nur diejenigen, die die mittelalterliche Kultur fast zerstörten, könnten bei dem Aufbau der modernen Welt von Nutzen sein. Diese Auffassung hat eine Menge der merkwürdigsten Fabeln hervorgebracht, so die, daß die Kathedralen eigentlich von einem Geheimbund von Freimaurern erbaut worden seien, oder daß das Epos des Dante eine Geheimschrift sei, die auf die politischen Hoffnungen Garibaldis hinweise."
Tatsächlich trifft man ja auch heute noch, besonders im Internet (oder in Kneipen), Leute, die derartigen Schwachsinn buchstäblich für wahr halten und weiterverbreiten. Chesterton hingegen stellt klar:
"Aber derartige Verallgemeinerungen sind schon von vornherein unwahrscheinlich und entsprechen auch nicht den Tatsachen. Diese mittelalterliche Zeit war im Gegenteil eher eine Periode gemeinnützigen und körperschaftlichen Denkens und in mancher Hinsicht wirklich weiter und umfassender als das individualistische Denken unserer Zeit." 
Das Kapitel "Eine Betrachtung über die Manichäer" enthält exzellente Passagen über das rechte Verständnis christlicher Askese und zur Zurückweisung des verbreiteten Vorwurfs der Lebens-, Leib- und Weltfeindlichkeit, und natürlich ist auch das ein Thema, das allerlei Anknüpfungspunkte gegenüber der "Benedikt-Option" aufweist. "Wie weit katholische Aszese auch gehen mag, in jedem Fall ist sie eine mehr oder minder weise Vorsichtsmaßregel gegen das Übel des Sündenfalles. Niemals aber bedeutet sie einen Zweifel an das Gute der Schöpfung", stellt Chesterton klar (S. 96); und er macht sich lustig über die verbreitete, aber irrige Vorstellung, "daß die katholische Kirche die sexuelle Sphäre als etwas Sündiges betrachte": "Wie es dann möglich ist, daß die Ehe als Sakrament gilt, wenn doch Sex Sünde sei, oder warum die Katholiken die Geburten fördern, während ihre Gegner für Geburtenbeschränkung eintreten, das herauszufinden überlasse ich der Kritik" (S. 94). Im Essay über Franz von Assisi taucht das heiß umstrittene Thema "Kirche und Sexualmoral" abermals auf: 
"In dem Augenblick, da der Geschlechtstrieb aufhört, Diener zu sein, wird er zum Tyrannen. Es liegt, aus welchem Grunde auch immer, etwas Gefährliches und Übertriebenes in der Bedeutung, die man ihm in der menschlichen Natur beimißt, und er bedarf wirklich einer besonderen Reinigung und Weihe." (S. 216)
Diese Zeilen könnten fast wortwörtlich auch im 9. Kapitel der "Benedikt-Option" stehen; sinngemäß jedenfalls tun sie es. -- Aus Chestertons Ausführungen darüber, wie die neuzeitliche Philosophie im Vergleich zu derjenigen des Hl. Thomas buchstäblich den Verstand verloren habe, ließe sich noch allerlei zitieren, aber das würde hier wohl den Rahmen sprengen. Wenden wir uns lieber dem mit Spannung erwarteten Essay über Franz von Assisi zu, denn der ist wirklich brillant; so brillant, dass es schwerfällt, daraus zu exzerpieren, weil man sich dann ja dazu entschließen müsste, etwas wegzulassen. Sehr schön sind schon die einleitenden Ausführungen dazu, warum es für den modernen Menschen so schwierig ist, eine Gestalt wie den Hl. Franziskus zu begreifen; und die kirchengeschichtliche Einordnung der Situation, in der der Hl. Franziskus lebte und wirkte, schließt gewissermaßen eine Lücke in dem historischen Abriss, den Freund Rods "Benedikt-Option" liefert, nämlich die Lücke zwischen der Zeit des Hl. Benedikt und dem von Rod als Ursprung der modernen Malaise identifizierten "schrecklichen 14. Jahrhundert". Interessant ist da nicht zuletzt auch die Beobachtung Chestertons, der moderne Mensch neige intuitiv dazu, die Lebenszeit des Hl. Franz "der Frühzeit der Kirche" zuzurechnen, obwohl die Kirche damals tatsächlich "bereits älter als tausend Jahre" war; noch genauer auf den Punkt gebracht, steht Franz von Assisi unserer heutigen Zeit chronologisch näher als der Zeit der ersten Christen. 
"Die Kirche sah damals alt aus wie jetzt, und wie jetzt gab es manche, die da glaubten, sie liege in den letzten Zügen. In Wahrheit war die Rechtgläubigkeit nicht gestorben, sie mag jedoch  sterbenslangweilig gewesen sein. Sicher ist, daß manche Leute anfingen, sie für sterbenslangweilig zu halten." (S. 233)
Die Schlussfolgerung daraus liegt auf der Hand: Wenn es damals möglich war, quasi aus dem Nichts eine Bewegung zu schaffen, die die alt und müde gewordene Kirche wieder jung, frisch und vital erscheinen ließ, wieso sollte es nicht auch heute möglich sein? -- Was Chesterton über die eigentliche Biographie des Heiligen schreibt, ist nicht weniger fesselnd und faszinierend. Besonders hervorhebenswert erscheint mir, dass der Autor den poverello von Assisi zwar als hinreißend sympathisch schildert, dabei aber gleichzeitig sehr deutlich macht, dass der Heilige durchaus nicht der softe, harmlose Proto-Hippie war, als der er durch allerlei Kindergottesdienst-Materialien, NGL-Liedtexte und den Zeffirelli-Film "Bruder Sonne, Schwester Mond" geistert. Ein Aspekt, der damit durchaus zusammenhängt, ist für die Frage nach der #BenOp-Relevanz des Buches von ganz zentraler Bedeutung: der Aspekt des von Chesterton stark betonten Kontrasts zwischen der franziskanischen Bewegung und dem älteren, auf den Hl. Benedikt zurückgehenden Klosterwesen. Zunächst einmal erkennt Chesterton die auch von Rod Dreher hervorgehobene, kaum zu überschätzende Bedeutung des benediktinischen Mönchtums für den Aufbau der europäischen Zivilisation ausdrücklich an: Mit seinen "Ratschläge[n] zur Vollkommenheit", die "immer die Form von Gelübden der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams angenommen" hätten, mit seinen "unweltlichen Zielen" also habe das christliche Klosterwesen "einen großen Teil der Welt zivilisiert": "Die Mönche hatten die Leute pflügen und säen wie auch lesen und schreiben gelehrt. Tatsächlich hatten sie die Menschen beinahe alles gelehrt, was die Menschen wußten." (S. 219) Gleichwohl, argumentiert Chesterton, habe die besondere Leistung und, wenn man so will, das Erfolgsrezept der franziskanischen Bewegung gerade darin gelegen, worin sie sich vom älteren Mönchtum unterschied, ja diesem geradezu entgegengesetzt war: 
"In einem treffenderen Sinn, als ihn die Antithese gewöhnlich ausdrückt, ist es wahr, daß der hl. Franziskus verstreute, was der hl. Benedikt  gesammelt hatte. Was aber in der Welt des Geistes wie Korn in den Speichern aufbewahrt lag, wurde die Samen über die Erde verstreut. Die Diener Gottes, die eine belagerte Garnison gewesen waren, wurden zu einer marschierenden Armee." (S. 276) 
Interessant ist diese Gegenüberstellung nicht zuletzt deshalb, weil im Zuge der Kritik an Rod Drehers "Benedikt-Option" zuweilen die Idee einer "Franziskus-Option" als Gegenentwurf durch die religiös-politischen Feuilletons waberte. Zumeist (wenn auch nicht ausnahmslos) basierten diese Entwürfe auf einer übertriebenen bzw. verzerrten Darstellung der #BenOp als einer von Pessimismus geprägten, isolationistischen und rein defensiven "Wagenburg-Strategie", auf die mit einem optimistischen, weltoffenen Ansatz zu antworten sei, nämlich eben der "Franziskus-Option", die sich mindestens ebenso sehr auf den gegenwärtigen Papst beruft wie auf dessen Namenspatron aus Assisi. "An die Ränder gehen" und so. Na, dann schauen wir uns doch mal an, wie Chesterton den Unterschied zwischen dem benediktinischen und dem franziskanischen Ansatz sieht. 
"Der hauptsächliche Unterschied [...] lag natürlich in der Idee, daß die Mönche ein fast nomadisches Wanderleben führen sollten, statt fest ansässig zu bleiben. Sie sollten sich mit der Welt mischen. Und darauf antwortete der mehr altmodische Mönch natürlich mit der Frage, wie sie sich denn mit der Welt mischen wollten, ohne in die Welt verstrickt zu werden. Das war eine viel ernstere Frage, als sich eine lockere Frömmigkeit klarmachen mag. Aber der heilige Franziskus gab eine Antwort, die genau seiner Persönlichkeit entsprach [...]. Sein Argument war, daß der geweihte Mann überall hingehen könne, zu allen Menschen, selbst den schlimmsten, solange es nichts gebe, womit sie ihn halten könnten. Wenn er aber Bande oder Bedürfnisse wie die gewöhnlichen Menschen hätte, so würde er den gewöhnlichen Menschen gleich werden." (S. 278f.) 
Bäm. Wir sehen hier: Die Forderung "Gleicht euch nicht dieser Welt an" (Römer 12,2) bleibt vollumfänglich in Kraft -- und da das Leben "mitten in der Welt" es im Vergleich zum Leben im Kloster schwieriger macht, diese Forderung zu erfüllen, werden verschärfte Maßnahmen angewandt, um der Gefahr der Verweltlichung vorzubeugen. 
"In einer Beziehung war der [Franziskaner-]Bruder tatsächlich fast das Gegenteil eines Mönches. Der Wert des alten Klosterlebens hatte darin bestanden, daß es nicht nur ein ethischer, sondern auch ein wirtschaftlicher Rückhalt war. [...] Für den Mönch war es charakteristisch, daß alle wirtschaftlichen Belange mit seinem Eintritt ein für allemal erledigt waren. Er wußte, wo er sein abendliches Mahl bekommen würde, wenn es auch ein sehr einfaches Mahl war. Hingegen war es für einen Bruder charakteristisch, daß er nicht wußte, wo er sein abendliches Mahl bekommen würde. Es bestand immer die Möglichkeit, daß er gar nichts bekam." (S. 285) 
In diesem Zusammenhang weist Chesterton auch auf den bemerkenswerten Umstand hin, dass die anfängliche Skepsis der kirchlichen Hierarchie gegenüber der franziskanischen Bewegung wohl in erster Linie der Sorge entsprang, "ob die Regel [der Franziskaner] nicht allzu hart für die menschliche Natur sei. Denn die katholische Kirche ist immer auf der Hut vor einem zu weit gehenden Asketentum und dessen Übeln" (ebd.). -- Mit anderen Worten: Die "franziskanische Option", richtig verstanden, ist gegenüber der "benediktinischen" keineswegs die mildere, sondern ganz im Gegenteil die wildere, die radikalere und gefährlichere Variante. Ich denke da zum Beispiel an die Franziskaner der Erneuerungdie sich gezielt in den schlimmsten, von Armut, Drogensucht und Gewaltkriminalität gebeutelten Gegenden niederlassen. Wer dieser Option den Vorzug geben möchte: bitte gerne. Aber man muss eben wissen, worauf man sich einlässt. Wer von einer "Franziskus-Option" spricht und darunter ein anspruchsloses Kuschelchristentum versteht, der hat nun wirklich überhaupt nichts begriffen. -- Aus "punkiger" Perspektive hingegen hat die franziskanische Option (wie gesagt: wenn man zu einem solchen Maß an Radikalität bereit ist) durchaus unverkennbare Vorzüge: 
"Besonders ein Unterschied zwischen den alten Mönchen und den neuen Brüdern erwies sich jedoch gerade für die praktische und rasche Durchführbarkeit von Wert. Den alten Gemeinschaften mit ihrer stabilitas loci und ihrem abgeschlossenen Leben haftete die Beschränktheit eines gewöhnlichen Haushalts an. Wie einfach sie auch lebten, benötigten sie doch eine gewisse Zahl von Zellen oder wenigstens Betten, in jedem Fall jedoch einen gewissen Raum für die jeweilige Anzahl von Mitbrüdern. Die Zahl der Mönche hing deshalb ab vom Landbesitz und vom Baumaterial. Franziskaner konnte man hingegen durch das bloße Versprechen werden, mit Glück am Wegesrand Beeren zu finden oder eine Brotrinde aus einer Küche zu erbetteln, unter einer Hecke zu schlafen oder geduldig an einer Türschwelle zu sitzen. Es gab daher keinen wirtschaftlichen Faktor, der die Zahl der exzentrischen Enthusiasten begrenzte, gleichgültig wie schnell sie auch anwuchs." (S. 281f.) 
Abschließend möchte ich noch ein paar Einzelaspekte hervorheben. Im Zusammenhang mit der bekannten Anekdote, derzufolge der Hl. Franz den in einer Vision empfangenen Auftrag, das verfallene Haus Gottes wieder aufzurichten, zunächst ganz wörtlich versteht und sich daran macht, eigenhändig eine baufällige Kirche instandzusetzen, findet sich bei Chesterton eine Passage, die das Herz des Graswurzelrevolutionärs höher schlagen lässt: "Kirchen baut man nicht, indem man für sie bezahlt, und bestimmt nicht mit dem Geld anderer Leute. Kirchen baut man nicht einmal, indem man mit eigenem Geld für sie bezahlt. Kirchen baut man, indem man sie baut" (S. 240f.). Ganz großes Tennis! Eine Passage, mit der man die AG Gendergerechtigkeit ärgern kann, hat das Buch ebenfalls aufzuweisen. Mit Blick auf den berühmten "Sonnengesang" des Hl. Franz, in dem leblose Dinge als "Bruder" und "Schwester" angesprochen werden, lobt Chesterton den "feine[n] Instinkt für Differenzierung", den der Heilige an den Tag lege -- "beispielsweise den Sinn für den Geschlechtsunterschied": "Nicht umsonst nannte er Feuer seinem Bruder, wild, lustig und stark, und Wasser seine Schwester, rein, klar und unberührt." (S. 269) Siehst du, werter Leser, die wutverzerrten Gesichter vor dir, die beispielsweise die Vertreterinnen und Sympathisanten der Zweinullerbewegung angesichts solcher Zuschreibungen aufsetzen würden? Ich sehe sie! Und schließlich ein sehr schöner Satz, den man sich getrost übers Bett hängen kann: 
"Allerdings ist es, im Gegensatz zur Meinung der Pazifisten und Übergerechten, nicht die geringste Inkonsequenz, wenn wir die Menschen lieben und sie bekämpfen, sobald wir sie ehrlich und um einer guten Sache willen bekämpfen." (S. 232) 
Was sagen wir nun also abschließend zu diesen beiden Heiligenbiographien aus der Feder des großen Chesterton? Wir sagen: Absolut großartig, muss man lesen! In der Rangliste ordne ich das Buch dennoch hinter Carretto ein, aus dem einzigen Grund, dass dessen Büchlein praxisorientierter ist und stärker darauf abzielt, den Leser zu aktivieren. Aber davon abgesehen reicht keines der seit dem Advent gelesenen Bücher auch nur entfernt an dieses heran. 
  
  • Matt Ruff: Fool on the Hill 
Zu diesem Buch hatte ich schon ziemlich früh zu Protokoll gegeben, dass es zwar "hübsch skurril" und "flott lesbar" sei, aber infolge der "aufreizenden Oberflächlichkeit der Story" auch "etwas Ärgerliches" an sich habe. Im weiteren Verlauf der Lektüre nahm der letztere Aspekt mehr und mehr überhand: In dem Maße, wie der ursprüngliche Reiz des "Frechen" und "Unkonventionellen" sich abnutzte, wuchs in mir die Überzeugung, dass die phantastischen wie auch die grotesk-komischen Elemente, mit denen der Roman aufgemotzt ist, in erster Linie dazu dienen, davon abzulenken, dass die Handlung im Grunde recht banal, ja fast möchte ich sagen: primitiv ist. Ironischerweise findet sich bereits im ersten Drittel des Romans eine Passage, in der ein als verklemmter Spießer gezeichneter Nebencharakter, der Student Brian Garroway, seine Meinung über einen von dem unschwer als Alter Ego des Autors erkennbaren Protagonisten George verfassten Roman kundtut:
"Du schreibst einen ganz ordentlichen Stil [...]. In seiner unausgefeilten Art ganz gut. Abgesehen davon fand ich die Geschichte ziemlich an den Haaren herbeigezogen - ein New-Wave-Artusroman? - und außerdem viel zu lästerlich. Und zu romantisch." (S. 117f.) 
Hey, dachte ich, diese Kritik könnte von mir sein! Später verschärft Brian seine Kritik an George (der ihm inzwischen die Freundin ausgespannt hat) zu der Einschätzung, dieser sei "nur darauf aus, das amerikanische Lesepublikum moralisch zu verderben. Genau wie dieser James Joyce" (S. 366); und auch da war meine spontane Reaktion: Da is' was dran. 

Auch nicht uninteressant ist, dass es in der englischsprachigen Wikipedia-Version eine "Inhaltsangabe" zu diesem Roman gibt, die buchstäblich nichts über seinen Inhalt verrät, jedenfalls wenn man "Inhalt" im Sinne von "Handlung" versteht. Es handelt sich eher um einen Interpretationsansatz, und zwar um einen für mein Empfinden ziemlich an den Haaren herbeigezogenen. Bezeichnend ist dieser Wikipedia-Artikel allerdings auch insofern, als die Handlung des Romans tatsächlich kaum nacherzählbar ist. 

Nach gut drei Achteln des Gesamtumfangs bekam ich erstmals Lust, die Lektüre kurzerhand abzubrechen. Machte ich dann aber doch nicht, zumal die Romanhandlung nach 382 Seiten (!) schlagartig erheblich an Spannung zunahm -- dank der Wiedererweckung eines dämonischen Ungeheuers, das mehr als ein Jahrhundert lang auf dem im Volksmund "Knochenacker" genannten Friedhof der Cornell University geschlafen hat. (Dass ich das hier verrate, sehe ich nicht als Spoiler an, da es bereits diverse Vorausdeutungen auf dieses Geschehen gegeben hat und sogar im Klappentext die Rede davon ist). Ein noch überzeugenderer Grund dafür, das Buch zu Ende zu lesen, bestand indes darin, dass es auf seine Weise etwas ausgesprochen lllustratives an sich hat -- und zwar gerade in denjenigen Aspekten, die mir an ihm missfallen

Der jenseits seines reinen Unterhaltungswertes wohl interessanteste Aspekt des Buches ist,  dass (und auf welche Weise) der Autor sich darin an seinem christlichen Background abarbeitet: Er kommt aus einer Familie frommer Lutheraner, sein Vater war Krankenhausseelsorger, seine Mutter wuchs als Missionarstochter in Südamerika auf. -- Dass der Held des bedeutendsten Nebenhandlungsstrangs des Romans ein Hund namens Luther ist, ist in diesem Zusammenhang noch als vergleichsweise liebenswürdig zu betrachten: Dieser Hund ist ausgesprochen fromm und zugleich ein eindeutiger Sympathieträger. Eine im Kosmos dieses Romans geradezu einzigartige Kombination, möchte ich hinzufügen. Sehr viel bezeichnender und für eine Analyse des Romans aus #benOppiger Sicht geradezu zentral ist eine Passage, in der die weibliche Hauptfigur Aurora den Protagonisten George fragt, was er eigentlich gegen Christen habe. George reagiert ausweichend: Er habe gar nicht grundsätzlich etwas gegen Christen, vielmehr sei er "schlicht gesagt ein Vertreter der Eisdielen-Theorie des Christentums": "Einunddreißig Geschmacksrichtungen. Daß du Zitrone nicht magst, bedeutet nicht, daß du den ganzen Laden boykottierst" (S. 301). Bei der "Geschmacksrichtung", die George (und mit ihm wohl der Autor) "nicht mag", soll es sich offenbar in erster Linie um das erzkonservative "Moral Majority"-Christentum handeln, das zur Entstehungszeit des Romans gerade gesellschaftspolitisch im Aufwind war und das innerhalb der Romanhandlung primär durch den oben schon erwähnten Brian Garroway repräsentiert wird: führendes Mitglied der Campusgruppe "Cornellianer für Christus", "ein überzeugter Christ, unerschütterlich in seinem Glauben und ein erklärter Gegner von Drogen, Alkohol, Zigaretten und Pornographie" (S. 65). Das Vorzeigebeispiel dafür, dass Christen auch anders sein können, soll dagegen offenbar Aurora verkörpern, die sich - "[t]rotz des Kreuzes [...], das sie um den Hals trug, und trotz des dazugehörigen dogmatischen Überbaus" Gott insgeheim als weiblich vorstellt:
"Es war eine romantische Vorstellung, und Aurora hätte sie Brian und den anderen Christlern niemals erklären, geschweige denn vor ihnen rechtfertigen können. Also glaubte sie einfach daran, in aller Stille und ganz für sich allein" (S.159).
Na ganz toll. Als in der oben angesprochenen Religionsdiskussion mit George ein zufällig vorbeikommender Dritter einwirft, George habe "zufällig eine Voreingenommenheit zugunsten aller Arten von Ausgestoßenen", und das mache ihn "zu einem natürlichen Gegner jeder organisierten Religion" (S. 301), wirft Aurora ein: "Auch Christen können Ausgestoßene sein" (S. 302). Diese zunächst auf Unverständnis stoßende Aussage untermauert sie mit der Feststellung:
"Spricht man von Gott in einer Weise, die nicht nach hundert Prozent reiner Theorie klingt, endet das Gespräch so prompt, als habe jemand den Stecker rausgezogen." (ebd.) 
Das ist sehr fein beobachtet, aber trotzdem werde ich nicht recht warm mit dieser Aurora -- die sich übrigens später auf dem Heuboden ihres Elternhauses ausführlich von George entjungfern lässt. Dieser wiederum hat bereits bei seinem allerersten Auftritt im Roman einem Hund davon erzählt, dass er sein erstes Mal im zweiten Jahr auf der High School mit einer Katholikin hatte, die er zu diesem Zweck erst einmal betrunken machen musste: "Bei ihrer nächsten Beichte gelangte Caterina zu der Überzeugung, daß wir eine Todsünde begangen hatten, und machte Schluß mit mir" (S. 23). Ich weiß auch nicht: Irgendwie scheint es mir charakteristisch für eine bestimmte Spielart von Gegnern des Christentums (wozu insbesondere frustrierte Ex-Christen gehören), dass sie Jungfräulichkeit nicht ertragen können. So als wüssten sie, dass der Jungfräulichkeit eine geheimnisvolle Macht innewohnt, die sie brechen zu müssen glauben.

Nebenbei bemerkt scheint der Autor der Überzeugung zu sein, konservative Christen würden auf den bloßen Anblick gleichgeschlechtlicher Liebespaare ähnlich reagieren wie Vampire auf Sonnenlicht oder Superman auf Kryptonit, und deshalb mutet er seinen einschlägigen Charakteren solche Anblicke mehrfach mit unverhohlener Schadenfreude zu. -- Man würde ja erwarten oder sich zumindest wünschen, dass jemandem mit einem familiär-religiösen Hintergrund, wie Matt Ruff ihn hat, im Rahmen einer Distanzierung vom (bzw. kritischen Auseinandersetzung mit dem) Christentum mehr und Anderes einfiele, als gläubige Christen pauschal als Langweiler, Spießer und/oder Sexualneurotiker zu veralbern; in dieser Hinsicht ist das Buch eine grobe Enttäuschung. 

Die Abwehrhaltung gegenüber dem gesellschaftspolitisch konservativen Backlash der Reagan-Ära prägt den Roman indes auch über die Religionsdiskussion hinaus; schließlich liegt es nahe, dass eine "progressive" Universität wie Cornell - an der der Autor studierte und diesen Roman als Abschlussarbeit im Fach "Kreatives Schreiben" einreichte und die, wenn auch in grotesk-phantastisch überzeichneter Gestalt, auch den Schauplatz des überwiegenden Teils der Romanhandlung abgibt - sich als eine bedeutende Bastion des Widerstands gegen "rückschrittliche" Tendenzen sehen möchte. Ironischerweise macht der Roman allerdings die programmatische Schwäche der (damals noch) "Neuen Linken" schmerzhaft deutlich: Verschiedene positive Identifikationsfiguren des Romans betrachten sich als "links", aber man hat den Eindruck, selbst wenn ihr Leben davon abhinge, könnten sie keine auch nur halbwegs plausible Erklärung dafür liefern, was das überhaupt heißen soll. Man ist gegen alles, was irgendwie rechts ist - gegen Ronald Reagan (S. 178ff.), William F. Buckley (S. 308f.), Lyndon LaRouche (S. 299f.), die (fiktive) Studentenverbindung Rho Alpha Tau und den Ku-Klux-Klan, so als wäre das alles mehr oder weniger dasselbe -, aber positiv entgegenzusetzen hat man dem nicht viel mehr als "freie Liebe" und einen vagen Nonkonformismus, der, abgesehen vom Protagonisten George, am reinsten von der Clique der sogenannten Bohemier verkörpert wird. Dabei handelt es sich um einen betont exzentrisch auftretenden Club von Studenten, der offenbar als eine Art Gegenentwurf zu den elitären Greek Letter Societys gedacht ist, aber tatsächlich auf seine Art nicht weniger elitär ist als diese -- und es ist einigermaßen verblüffend, wie offenherzig der Autor das eingesteht: 
"Sicher, viel von dem, was die Bohemier taten, war nicht im eigentlichen Sinn des Wortes originell - Löwenherz verdankte, was den Kleidungsstil seiner Mitkombattanten anging, einen Großteil seiner Einfälle Greenwich Village, wo er aufgewachsen war; die Finanzierung des kavalleristischen Aspektes der Gruppe verdankte er wiederum dem beträchtlichen, aus der Alten Welt stammenden Vermögen seiner Eltern". (S. 128)
Mich persönlich erinnern die Bohemier an nichts so sehr wie an die Life and Death Brigade aus "Gilmore Girls" (und wer weiß, womöglich waren sie sogar ein Vorbild für diese); kurz gesagt, es sind keine Revolutionäre, sondern Dandys, und so erscheint es einigermaßen folgerichtig, dass es auf Ruffs fiktionalisiertem Cornell-Campus auch eine (ihrem Selbstverständnis nach) stärker politisch ausgerichtete Abspaltung von den Bohemiern gibt, nämlich die "Blauen Zebras": "Während die Bohemier das Evangelium des Nonkonformismus predigten, brachten Fantasy und ihre Zebras [...] die Frohe Botschaft der Konfrontation und des Widerspruchs unter die Leute" (S. 147). Aber auch diese Gruppierung hat eher "Spaßguerilla"-Charakter und profiliert sich mit Nonsens-Forderungen wie "Selbstverteidigungstraining für Robbenbabys" (S. 145) -- was mir aus liturgischer Sicht natürlich gut gefällt; okay, Insiderwitz, 'Tschuldigung. So ziemlich das einzige politisch-weltanschauliche Thema, das mit einigem Ernst behandelt wird - das dann aber umso ausgiebiger -, heißt Rassismus. Der gesamte Hunde-Handlungsstrang dreht sich mehr oder weniger um dieses Thema, nämlich um die Feindschaft zwischen reinrassigen Hunden und Mischlingen. Aber auch unter den menschlichen Romancharakteren sind die richtig üblen Bösewichter durchweg Rassisten. Zudem legt der Autor eine auffällige Vorliebe für "gemischtrassige" Liebespaare an den Tag -- wobei ausgerechnet das Protagonistenpärchen George und Aurora eine auffällige Ausnahme bildet. Ein bisschen verräterisch, will mir scheinen. Dass das Thema Rassismus so eine prominente Rolle spielt, sieht mir überhaupt ein bisschen nach billigem und unoriginellem virtue signalling aus: Ich dächte, es gäbe einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Rassismus böse und falsch ist, und soweit ich mich erinnere, gab es diesen Konsens auch in den 80ern schon; was also treibt den Autor um, dass er uns seinen Antirassismus derart dick aufs Brot schmieren muss? (Gewiss: Dieselbe Frage könnte man, beispielsweise, auch an die Harry-Potter-Reihe stellen.)

Man könnte nun sagen, dieses virtue signalling stehe in einem etwas heiklen Spannungsverhältnis zu dem bei jeder Gelegenheit strapazierten Bekenntnis zum Nonkonformismus. Ich glaube allerdings - und das ist zugegebenermaßen ein noch etwas unausgegorener Gedanke -, dass gerade dieses Spannungsverhältnis zentral für das Verständnis des Romans ist. Ebenso wie die Tatsache, dass dieser Roman die Abschlussarbeit des Autors an der Uni war, denn das impliziert ja bereits, dass er ihn zu dem Zweck geschrieben hat, eine spezifische Form von Anerkennung zu ernten. Anerkennung seitens einer Zielgruppe, die eine rebellische Attitüde schätzt. Ja, das ist paradox. Aber menschlich. Viel mehr ist an Ruffs Verständnis von "Nonkonformismus" auch nicht dran als die Maxime "Lebe so, dass es die Spießer schockiert". Dafür, dass diese Haltung auch mir durchaus nicht fremd ist, legen meine Haartracht, meine T-Shirts und nicht selten auch mein aktiver Wortschatz durchaus beredt Zeugnis ab, aber wenn sie sich nicht mit höheren Idealen verbindet, wird sie doch recht schnell hohl und fade. 

Wie dem auch sei: Trotz aller Kritik kann ich mich einer gewissen Sympathie für diesen Roman und seine Charaktere letztlich doch nicht erwehren, und gemessen daran, dass ich mich oben noch über seine "aufreizende Oberflächlichkeit" beschwert habe, hat die Analyse ja doch einige ganz interessante Ergebnisse hervorgebracht. Somit qualifiziert sich der "Fool on the Hill" zwar definitiv nicht für die Rangliste, aber eine "nicht-direkt-lobende Erwähnung" in der Abschlusswertung verdient der Roman wohl doch. 


Der neue Zwischenstand der Rangliste sieht aus wie folgt: 

1. (1) Carlo Carretto: Wir sind Kirche
2. (NE) G.K. Chesterton: Thomas & Franz
3. (2) Norbert Baumert (Hg.): Jesus ist der Herr
4. (3) Georg Friedrich Rebmann: Ideen über Revolutionen in Deutschland
5. (4) Sr. M. Lucia (Hg.): Umkehr - Heiligung - Freude in Gott
6. (5) Reinhold Schneider: Las Casas vor Karl V.
7. (6) Karl May: "Weihnacht!"
8. (NE) Maxim Gorki: Wanderungen durch Russland
9. (7) George Orwell: Mein Katalonien
10. (8) Martin Klein: Lene und die Pappelplatztiger 
Die Zahl der Bücher, die die Qualifikation für die Rangliste nicht geschafft haben, erhöht sich (genauer gesagt: verdoppelt sich!) auf sechs: Südsee, Pilgern, Wölfe, Winteraustern, Level 4, Fool on the Hill. -- Soweit, so gut; nun aber auf zur Prognose für Etappe 4!

(Hinweis: Diese Prognose habe ich verfasst, BEVOR ich mit der 4. Leseetappe angefangen habe, und auch wenn das nun schon ein paar Wochen her ist, habe ich seither nichts mehr daran verändert.) 

  • Juli Sommermond: Tod einer Kinderseele, Bd. I 

Dieses Buch wurde von einer Frau aus unserer Pfarrgemeinde - einer Freundin, darf man wohl sagen - in unserem Büchereiregal hinterlegt, mit einigen Anmerkungen auf einem hineingelegten Blatt Papier; es folgten dann noch ein paar mündliche Mitteilungen an mich. Sie kennt die Autorin ("Juli Sommermond" ist, wie man sich wohl denken kann, ein Pseudonym) nämlich persönlich, oder kannte sie jedenfalls früher mal, zu einer Zeit nämlich, als die Autorin ebenfalls Mitglied unserer Pfarrgemeinde war. Das macht die Sache natürlich von vornherein interessant. Es handelt sich um den ersten Teil einer insgesamt dreibändigen, im Selbstverlag publizierten Autobiographie, die zugleich wohl auch als Geschichte einer spirituellen Suche angelegt ist. Schon der Klappentext macht auf mich einen etwas... sagen wir mal... überspannten Eindruck, aber neugierig auf den Inhalt bin ich allemal. 

  • William Makepeace Thackeray: Jahrmarkt der Eitelkeit 

Ein Fundstück aus einer Büchertelefonzelle, ich wüsste aber beim besten Willen nicht mehr, aus welcher. Ein Klassiker der Weltliteratur jedenfalls -- und somit gemäß der Regeln, die ich letztes Jahr aufgestellt habe, von vornherein nicht qualifiziert für die Rangliste der #BenOp-relevanten Lesefrüchte. Dafür aber 937 Seiten stark, daa Nachwort von Herbert Kühn (in dem es - es handelt sich um eine DDR-Ausgabe - wahrscheinlich wieder einmal darum geht, dem Roman mit einer ideologisch konformen Lesart nachzurüsten)  noch nicht mal mitgerechnet. Da könnte man jetzt natürlich fragen: Ist es dann nicht ziemliche Zeitverschwendung, das zu lesen, während eine unüberschaubare Menge zumindest potentiell #BenOp-relevanter Bücher auf mich wartet? Darauf antworte ich: Kann sein. Wird sich zeigen. Wenn ich im Zuge der Lektüre tatsächlich den Eindruck bekomme, meine Zeit zu verschwenden, kann ich die Lektüre immer noch abbrechen. Vielleicht ist das Buch abetrja auch gut genug, um es ganz "zweckfrei" zu lesen. Stanley Kubrick wollte den Roman verfilmen, entschied sich dann aber für ein anderes Werk des Autors, "Barry Lyndon"; er soll geäußert haben, Thackeray schreibe derart filmisch, dass man gar kein adaptiertes Drehbuch brauche, sondern einfach mit aus dem Roman herausgerissenen Seiten ans Set kommen und sie eins zu eins verfilmen könne. Gleichzeitig kann man wohl sagen, dass Thackeray rezeptionsgeschichtlich ziemlich tief im Schatten seines ein Jahr jüngeren Zeitgenossen Dickens steht. Na, ich bin jedenfalls gespannt, was mich erwartet. 

  • Georg Holmsten: Die Königin von Saba 

Ebenfalls aus einer Büchertelefonzelle: Ein historischer Roman aus den 50er-Jahren, über den man online so gut wie nichts in Erfahrung bringen konnte, außer dass offenbar noch recht viele Exemplare antiquarisch gehandelt werden. Könnte sich also - biblisches Sujet hin oder her - um zu Recht in Vergessenheit geratene Massenware handeln; der Untertitel "Geheimnisvoller Orient" wirkt nun auch nicht unbedingt vertrauenerweckend. Aber warten wir's mal ab; immerhin hat der Autor auch historische Sachbücher verfasst, darunter die Rowohlt-Monographien über Friedrich II., Voltaire, Rousseau und den Freiherrn vom Stein. Und mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde er auch. All das sagt aber natürlich nichts über die Qualität oder Pfarrbücherei-Tauglichkeit seines Romans aus (von eventueller #BenOp-Relevanz gar nicht erst zu reden), oder wenn doch, dann nicht zwingend etwas Positives... 

  • Gabriel Mandel: Das Reich der Königin von Saba 

Auch ein Fund aus einer Büchertelefonzelle. Nein, ich habe es nicht zusammen mit dem ähnlich betitelten Roman von Holmsten entdeckt, aber es erscheint mir reizvoll, beide Bücher in derselben Etappe zu lesen. Mandels Buch ist nämlich ein archäologisches Sachbuch. Da kann man dann gleich mal sehen, wie viel Holmstens "historischer Roman" in historischer Hinsicht taugt. Darüber hinaus weiß ich ehrlich gesagt nicht so genau, was ich mir von Mandels Buch versprechen soll; aber dass es für die Pfarrbücherei taugt, kann ich mir durchaus gut vorstellen.


  • Dietrich von Hildebrand: Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes 

Dieses ist, msn ahnt es bereits, das "mutmaßlich rechtgläubige" Buch dieser Etappe; ich habe es vor gut zweieinhalb Jahren beim Tag der Offenen Tür im Priesterseminar des Neokatechumenalen Weges in Berlin-Biesdorf abgestaubt und damals auch gleich angefangen, es zu lesen, bin aber, wie ein seitdem in dem Buch steckendes Lesezeichen beweist, damals nicht über S. 184 (von 376) hinausgekommen. Obwohl ich es sehr interessant fand. Na, jetzt bin ich, was das Lesen angeht, ja wesentlich besser im Training. Übrigens habe ich schon "damals" einige Leseeindrücke aus dem Buch in einem Blogartikel festgehalten. An viel mehr als die dort wiedergegebenen Exzerpte erinnere ich mich ehrlich gesagt nicht mehr, oder zumindest nicht mehr präzise; Thema des Buches ist jedenfalls die Krise der katholischen Kirche bzw., was noch gravierender ist, des katholischen Glaubens nach dem II. Vatikanischen Konzil; und ich würde mal sagen, dieses Thema hat seither nicht an Aktualität verloren. Eher im Gegenteil.


Wenn ich diese Leseliste so überblicke, dann scheint es mir, die 4. Etappe könnte der 3. den Titel der hinsichtlich der #BenOp-Relevanz bislang schwächsten Leseetappe gleich wieder abjagen. Es erscheint mir durchaus denkbar, dass nur Hildebrand es in die Rangliste schafft, und auch von diesem erwarte ich eigentlich nicht, dass er es mit Chesterton aufnehmen kann. Aber eingedenk dessen, was ich in der Einleitung zu diesem Artikel geschrieben habe, bleibe ich guten Mutes, dass es möglicherweise auch ganz anders kommt...