In diesem Jahr feiern
die „Tafeln“[*] ihr 25-jähriges Bestehen in Deutschland. Das
zentrale Anliegen dieser gemeinnützigen Hilfsorganisation ist es,
Lebensmittel, die im Handel nicht mehr verkauft werden können und
ansonsten entsorgt werden müssten, an Bedürftige zu verteilen. Die
erste Initiative dieser Art wurde 1993 in Berlin gegründet, seit
1995 existiert ein bundesweiter Dachverband. Heute haben die Tafeln
in Deutschland rund 60.000 ehrenamtliche Mitarbeiter, die in über
2.000 „Tafel-Läden“ und anderen Ausgabestellen wöchentlich etwa
eineinhalb Millionen Menschen mit Lebensmitteln versorgen. Rund ein
Viertel der Empfänger sind Kinder und Jugendliche.
25 Jahre „Tafeln“
in Deutschland – ein Grund zum Feiern? Nicht alle sehen das so.
Kritiker bemängeln, Hilfeleistungen, die Bedürftige in der Position
von Bittstellern und Almosenempfängern belassen, seien keine Lösung
für das Armutsproblem in Deutschland. Private Initiativen, die Armut
lediglich lindern, trügen dazu bei, die Politik aus der
Verantwortung zu entlassen, die strukturellen Ursachen von Armut zu
bekämpfen. Die unverkennbar große Nachfrage nach den Leistungen der
Tafeln beweise das Versagen des Sozialstaats.
Diese Stoßrichtung der
Kritik ist an und für sich nicht neu. In Deus caritas est,
der ersten Enzyklika Papst Benedikts XVI., heißt es, „seit dem 19.
Jahrhundert“ habe sich dieser „Einwand, der dann vor allem vom
marxistischen Denken nachdrücklich entwickelt wurde“, auch und
besonders gegen „die kirchliche Liebestätigkeit“ gerichtet:
„Die Armen, heißt es, bräuchten nicht Liebeswerke, sondern Gerechtigkeit. Die Liebeswerke – die Almosen – seien in Wirklichkeit die Art und Weise, wie die Besitzenden sich an der Herstellung der Gerechtigkeit vorbeidrückten, ihr Gewissen beruhigten, ihre eigene Stellung festhielten und die Armen um ihr Recht betrügen würden. Statt mit einzelnen Liebeswerken an der Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse mitzuwirken, gelte es, eine Ordnung der Gerechtigkeit zu schaffen, in der alle ihren Anteil der Welt erhielten und daher der Liebeswerke nicht mehr bedürften.“ (DCE 26)
An solchen Äußerungen
ist, wie Benedikt XVI. lakonisch anmerkt, „zugegebenermaßen
einiges richtig, aber vieles auch falsch“. Formuliert wurden sie
ursprünglich in einer Zeit, als Armut in Deutschland noch ein
Massenphänomen war; dass sie bis heute immer wieder laut werden,
wirft nicht nur ein bezeichnendes Licht auf die beharrliche Fortdauer
marxistisch inspirierter Gesellschaftstheorien, sondern auch ganz
allgemein darauf, wie schwer sich eine inzwischen reich gewordene
Gesellschaft damit tut, dass Armut und Hunger in ihren Reihen dennoch
nicht gänzlich ausgerottet sind. In dem Unbehagen, das die bloße
Existenz von Armut inmitten einer Wohlstandsgesellschaft auslöst,
mag sich auch eine Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg äußern,
ein vages Bewusstsein dafür, dass der eigene relative Wohlstand
möglicherweise auf tönernen Füßen steht.
Für Christen könnte
und sollte gerade die Fastenzeit ein Anlass sein, sich zu fragen,
welche Anforderung die Tatsache, dass in unserer eigenen
Nachbarschaft Menschen nicht genug zu essen haben, an uns stellt. Wie
die Evangelien berichten, ermahnte Jesus Christus Seine Jünger kurz
vor dem Beginn Seiner Passion: „Die Armen habt ihr immer bei euch“ (Mt 26,11). Die Geschichte hat dieser Einschätzung Recht gegeben: Kein
politisches und kein ökonomisches System hat es auf Dauer geschafft,
Armut zu beseitigen. Und gerade diejenigen Ideologien, die dies am
vehementesten versprochen haben, haben die katastrophalsten
Ergebnisse erzielt. Es scheint, dass der Versuch, die Armut zu
beseitigen, nur allzu leicht dazu verführt, die Armen
beseitigen zu wollen.
So gesehen liegt es
nahe, sich zu fragen, ob sich hinter der Forderung nach politischen
Maßnahmen gegen Armut nicht zuweilen auch der Wunsch verbirgt,
persönlich nicht mit der Armut vor der eigenen Haustür
behelligt zu werden. Soll sich doch der Staat darum kümmern – wozu
zahle ich schließlich Steuern? Peter Maurin, der Begründer der
Catholic Worker-Bewegung in den USA, merkte dazu an, in einer
solchen Haltung wiederhole sich „die Frage des ersten Mörders:
'Bin ich meines Bruders Hüter?'“
Aus christlicher Sicht
ist dagegen zu bedenken, dass „die Hungrigen speisen“
nicht ohne Grund an erster Stelle unter den Werken derBarmherzigkeit steht, die Christus Seinen Jüngern in Seiner
Endzeitrede in Matthäus 25 explizit und nachdrücklich aufträgt.
Weiter werden genannt: den Dürstenden zu trinken geben; die Nackten
bekleiden; die Fremden aufnehmen; Kranke und Gefangene besuchen. „Was
ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir
getan“, betont Jesus Christus; und diese Ermahnung richtet sich an
jeden Einzelnen. Davon, die Werke der Barmherzigkeit an
professionelle Dienstleister oder gar an staatliche Behörden zu
delegieren, ist keine Rede. Damit soll nicht bestritten werden, dass
auch der Staat Verantwortung für die Armen und Kranken zu tragen
hat; dennoch können politische Maßnahmen ehrenamtliches Engagement
nicht gänzlich überflüssig machen – und sollten es auch
nicht. Um nochmals die Enzyklika Deus caritas est zu zitieren:
„Liebe – Caritas – wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft. Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. Wer die Liebe abschaffen will, ist dabei, den Menschen als Menschen abzuschaffen. Immer wird es Leid geben, das Tröstung und Hilfe braucht. Immer wird es Einsamkeit geben. Immer wird es auch die Situationen materieller Not geben, in denen Hilfe im Sinne gelebter Nächstenliebe nötig ist.“ (DCE 28)
Kehren wir zum
konkreten Beispiel der „Tafeln“ zurück, fällt ein Aspekt ihrer
Tätigkeit als besonders bemerkenswert ins Auge: die Herkunft
der dort an Bedürftige ausgegebenen Lebensmittel. In der Hauptsache
handelt es sich um Waren, die aus dem Handel aussortiert wurden –
zumeist wegen eines nahen oder bereits abgelaufenen
Mindesthaltbarkeitsdatums, zuweilen aber auch aufgrund von
Verpackungsfehlern oder Beschädigungen. Dieser Umstand weist auf das
Paradox hin, dass Menschen hungern, während gleichzeitig ein enormes
Überangebot an Nahrungsmitteln herrscht: Obwohl pro Jahr etwa
100.000 Tonnen nicht verkäuflicher Lebensmittel an die Tafeln
gespendet werden, werden in Deutschland Schätzungen zufolge immer
noch 18 Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr weggeworfen – in
sozialer, wirtschaftlicher und nicht zuletzt auch in ökologischer
Hinsicht ein Problem von gewaltigen Ausmaßen. Papst Franziskus weist
in seiner Enzyklika Laudato si' darauf hin, dass weltweit
sogar „etwa ein Drittel der produzierten Lebensmittel verschwendet
wird“, und merkt dazu an, dass „Nahrung, die weggeworfen wird,
gleichsam vom Tisch des Armen geraubt wird“ (LS 50).
Angesichts des schieren Ausmaßes dieser Nahrungsmittelverschwendung
ist es nicht verwunderlich, dass es neben den Tafeln auch noch andere
Initiativen gibt, die sich darum bemühen, in Kooperation mit
Lebensmittelgroß- und Einzelhändlern Nahrungsmittel vor der
Mülltonne zu retten. So etwa das 2012 gestartete Projekt
Foodsharing, das noch erheblich dezentraler organisiert und
weniger institutionalisiert ist als die Tafeln und praktisch zur
Gänze von der Eigeninitiative von Privatpersonen lebt. Koordiniert
werden die Aktivitäten der einzelnen Beteiligten in der Hauptsache
mittels einer Internetseite. Dort ist unter anderem nachzulesen, dass
die Initiative bereits über 13 Millionen Tonnen Lebensmittel
gerettet hat und dass fast 35.000 Menschen ehrenamtlich an diesem
Projekt mitwirken. Wer im Rahmen von Foodsharing als
„Lebensmittelretter“ tätig wird, ist im Wesentlichen selbst
dafür verantwortlich, was er mit den vor dem Weggeworfenwerden
bewahrten Lebensmitteln anfängt; für den Eigenbedarf sind die
Mengen jedoch zumeist erheblich zu groß, weshalb sich im Prinzip
jeder „Lebensmittelretter“ sein eigenes Netzwerk zur
Weiterverteilung schafft. Vielfach werden auf diesem Wege auch
kirchliche Projekte mit Lebensmittelspenden unterstützt – so etwa
von Pfarreien oder Ordensgemeinschaften betriebene Suppenküchen oder
andere Einrichtungen für Obdachlose und sonstige Bedürftige.
Nebenbei bemerkt macht
die dezentrale Organisationsstruktur von „Foodsharing“
exemplarisch deutlich, dass Internetseiten und soziale Netzwerke ganz
neue Möglichkeiten eröffnen, ehrenamtliche Initiativen von
Einzelpersonen zu vernetzen und zu koordinieren, ohne dass es dazu
großer Verbände oder bürokratischer Institutionen bedürfte. Was
im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung funktioniert, könnte auch
in anderen Bereichen Schule machen. Konkurrenzdenken gegenüber
bestehenden Wohlfahrtsverbänden ist dabei unangebracht: Es gibt mehr
als genug zu tun.
Als Christen befinden wir uns in einer Zeit der Vorbereitung
auf das Osterfest. Die Kirche hat den Aufruf zur persönlichen
inneren Läuterung durch Fasten, Buße und Gebet in dieser Zeit des
Kirchenjahres stets auch mit dem Aufruf zur Wohltätigkeit, zum
Dienst an den Armen verbunden. Sicherlich ist es gut und richtig,
dies in Form von Geld- oder auch Sachspenden an wohltätige
Organisationen zu verwirklichen; ich möchte die genannten Beispiele
aber auch als Anregung verstanden wissen, darüber hinaus im
persönlichen Umfeld auch praktisch aktiv zu werden. Viele kleine,
lokale Initiativen suchen ständig nach ehrenamtlichen Helfern für
ihre Arbeit. Und was dabei besonders wichtig ist: Unser persönlicher
Einsatz hilft nicht nur den Bedürftigen; er verändert auch uns
selbst. Armut inmitten einer Wohlstandsgesellschaft ist selten
rührend oder romantisch; oft bietet sie einen ausgesprochen
unschönen Anblick, und so ist das Bedürfnis, sie lieber
auszublenden, nur allzu verständlich. Aber nur wenn wir bereit sind,
den Armen ins Gesicht zu sehen, können wir – wie es uns als
Christen aufgetragen ist – Christus in ihnen erkennen.
[*] Dieser Kommentar war bereits fertiggestellt, bevor die "Tafeln" durch aktuelle Vorkommnisse in Essen und Bochum-Wattenscheid plötzlich in aller Munde (no pun intended) waren. Ich habe darauf verzichtet, nachträglich Bezüge zu diesen Vorgängen einzuarbeiten, da es mir hier um Grundsätzlicheres geht.