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Dienstag, 24. Juli 2018

Wie wär's mit einer Einkoch-AG?


Mal so zwischendurch gefragt: Wie läuft's denn so mit'm Foodsharing? -- Gut läuft's! -- Manchmal fast ein bisschen zu gut. Zwar nicht im strengen Sinne regelmäßig (also im Sinne fester Zeitabstände), aber doch recht häufig übernimmt meine Liebste Abholtermine in zwei Bio-Supermärkten und einer Bäckerei unseres Stadtbezirks; rein vom Zeit- und Arbeitsaufwand her wäre da sogar noch mehr möglich, aber zuweilen wissen wir schon gar nicht mehr, wohin mit dem ganzen Essen. Obwohl es ja, wie schon mal erwähnt, im Zweifel immer noch die Suppenküche der Franziskaner in Pankow und neuerdings auch den "FairTeiler" in der Provinzstraße gibt. Neulich hatte meine Liebste zwei Biomarkt-Abholtermine innerhalb einer Woche; aus den erbeuteten Lebensmitteln machte sie einen großen, großen Topf voll Blumenkohl-Kartoffelcremesuppe, eine ebenfalls ziemlich üppige Pilzpfanne und kochte zudem einige Gläser mit Brokkoli und grünen Bohnen ein, und mit dem, was dann noch übrig war, konnten wir immer noch den zuvor ziemlich weitgehend geleerten Kühlschrank und Brotschrank des FairTeilers wieder auffüllen. 









Kurz, ich habe es wohl schon wiederholt (zumindest implizit) angemerkt: Im Foodsharing steckt noch eine Menge unausgeschöpftes Potential, und meine Liebste und ich waren ja praktisch von Anfang an der Meinung, es müsste eigentlich möglich sein, da die Kirchengemeinde mit ins Boot zu holen. Wie genau? Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Man könnte innerhalb der Gemeinde dafür werben, dass mehr Leute sich als Foodsaver registrieren und Abholungen übernehmen. Man könnte auch in Räumen der Kirchengemeinde einen "FairTeiler" einrichten -- daran hat neulich sogar schon unser Pfarrer Interesse geäußert, von sich aus ("Sie machen doch dieses Foodsaving..."). Und schließlich und nicht zuletzt wäre auch die Weiterverarbeitung der erbeuteten Lebensmittel ein interessantes Thema. 

Es ist ja so: Gerade rohes Obst und Gemüse ist, wenn es beim Foodsharing landet, oft ziemlich kurz davor, schlecht zu werden. Schließlich geben die Betriebe nur diejenigen Waren ab, die sie am nächsten Tag nicht mehr verkaufen können. Das heißt, oftmals muss man die Lebensmittel entweder innerhalb weniger Tage verbrauchen, oder man muss sie auf eine Weise verarbeiten, die sie länger haltbar macht. Einkochen, zum Beispiel. Was aber für eine einzelne Person ziemlich arbeitsaufwändig sein kann, vor allem wenn man nur eine Küche mit recht begrenzter Arbeitsfläche zur Verfügung hat und gleichzeitig noch ein Baby an dem Versuch hindern muss, sich an der heißen Ofenklappe aufzurichten.

Also: Hier wäre ein Punkt, an dem eine Kirchengemeinde ins Spiel kommen könnte, insbesondere dann, wenn sie in ihren Gemeinderäumen über eine geräumige und gut ausgestattete Küche verfügt, die es ermöglicht, dass mehrere Leute gleichzeitig darin arbeiten, ohne sich gegenseitig im Weg zu sein. Für die Küche des Gemeindehauses unserer örtlichen Kirche gilt das nur bedingt bzw. eher nicht, wohl aber für die einer benachbarten Pfarrei innerhalb des "Pastoralen Raums". Dort könnte ich mir eine "Einkoch-AG" sehr gut vorstellen: eine Gruppe von Gemeindemitgliedern (aber gern auch unter Einbeziehung "externer" Interessierter), die sich einmal in der Woche (oder, wenn es unbedingt sein muss, auch seltener) trifft, um von einem oder mehreren Gruppenmitgliedern per Foodsaving herangeschafftes Obst und/oder Gemüse zu putzen, zu schnibbeln und einzukochen -- oder gegebenenfalls auch gleich zu Suppe, Marmelade o.ä. weiterzuverarbeiten. Gemeinsame Küchenarbeit ist eine gute gemeinschaftsbildende Maßnahme, und die Pfarrei sammelt nach und nach einen stattlichen Vorrat an lange haltbaren Lebensmitteln an, die sie Bedürftigen zukommen lassen und/oder für Gemeindeveranstaltungen nutzen kann.

Zu bedenken ist dabei allerdings, dass damit in keinem Fall Geld zu machen ist: Lebensmittel, die man über das Foodsharing-Netzwerk erhalten hat, darf man zwar verschenken, nicht aber verkaufen. Das hat einerseits mit dem gewissermaßen anti-kommerziellen Ethos der Initiative zu tun, andererseits aber auch mit lebensmittelrechtlichen Auflagen und Vorschriften. Das heißt, wie und wo auch immer die Produkte einer mit Foodsharing-Waren arbeitenden Einkoch-AG auf den Tisch kommen, muss es stets gratis geschehen. Es steht zu erwarten, dass die Kolping-Tanten, die beim einmal monatlich nach der Sonntagsmesse stattfindenden Gemeinde-Brunch ihre "Suppe des Monats" zu Apothekerpreisen feilbieten, angesichts solchen Dumpings lange Gesichter machen werden, aber aus meiner persönlichen Sicht ist das kein bug, sondern ein feature...



Montag, 23. Juli 2018

Das Stadtteilfest vor der Haustür – Eine Modellrechnung in Sachen Gemeindeaufbau

Am vergangenen Wochenende fand in meinem „Kiez“ das 9. Tegeler Hafenfest statt; da ich letztes Jahr um diese Zeit verreist war und in den Jahren zuvor noch nicht in dieser Ecke der Stadt wohnte, kannte ich dieses Fest bislang nur vom Hörensagen, aber es war im Vorfeld schon abzusehen gewesen, dass das eine ziemlich große Nummer werden würde. Und da die Pfarrkirche meiner Wohnortpfarrei nur rund 500 Meter vom Festgelände entfernt liegt und ein Blick auf den Stadtplan es sehr wahrscheinlich anmuten ließ, dass eine recht große Zahl von Leuten auf ihrem Weg zum Hafenfest an der Kirche vorbeikommen würde, hatte es in den Gemeindegremien oder auch in informellen Gesprächen zum Thema Gemeindeentwicklung schon vor Monaten Überlegungen dazu gegeben, ob und wie man dieses Event dazu nutzen könnte, auf den Kirchenstandort aufmerksam zu machen. Wenn ich mich richtig erinnere, war es eine der beiden Gemeindereferentinnen des Pfarreiverbands, die diesen Gedanken als erste zur Sprache brachte.

Konkrete Schritte wurden aber erst einmal nicht unternommen, und wie das immer so ist: Schwuppdiwupp war es auf einmal Juli, und das Hafenfest stand buchstäblich vor der Haustür.




Nun war ich allerdings nicht willens, diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen; daher machte ich mir ein paar Gedanken darüber, was sich mit minimaler Vorbereitungszeit wohl noch realisieren lassen würde. Das Ergebnis meines Nachdenkens teilte ich per Mail dem Pfarrer, den Gemeindereferentinnen und einigen erfahrungsgemäß ziemlich "aktiven" Gemeindemitgliedern mit: Mein Vorschlag lautete, einen Stehtisch mit einer Auswahl an Info-Materialien auf den Kirchenvorplatz zu stellen, und dann müsste man eben ein paar Leute haben, die sich stundenweise hinter diesen Tisch stellen und für Passanten ansprechbar sind -- oder sie gegebenenfalls auch aktiv ansprechen. Von einigen der Adressaten meiner Mail erhielt ich ausgesprochen positive Reaktionen auf meinen Vorschlag, und eine Handvoll Leute - darunter der Pfarrer und die Lokalausschuss-Vorsitzende - erklärten sich sogar bereit, selbst bei der Aktion mitzumachen. Also machten wir das so!




Um allerdings die zwischen Anspruch und Realität klaffende Lücke gleich von vornherein einzuräumen: Wenn ich mir überlege, wie ich mir eine Werbeaktion der Pfarrgemeinde auf einem Stadtteilfest idealerweise vorstellen würde, dann sähe das so aus, dass während der gesamten Dauer des Festprogramms immer zwei Personen am Infostand stehen und zwei weitere über das Festgelände schlendern und dort Infomaterial verteilen und mit Leuten ins Gespräch kommen. Wenn man dabei niemandem zumuten möchte, über das gesamte Wochenende verteilt mehr als vier Stunden für diese Aktion aufzuwenden – sagen wir: jedes Zweierteam übernimmt zwei Stunden am Infostand und zwei Stunden Flanieren –, dann bräuchte man dafür, grob überschlagen, 40 Personen.

Nun wird wahrscheinlich annähernd jeder, der ein bisschen Erfahrung mit der Rekrutierung von Freiwilligen für Gemeindeaktivitäten in einer normalen Ortspfarrei hat, sagen, es sei völlig illusorisch, für irgendeine Aktion der Gemeinde 40 Freiwillige aufzutreiben. Ich bezweifle auch nicht, dass diese Einschätzung den Ist-Zustand in den meisten Pfarreien (einschließlich meiner eigenen) zutreffend widerspiegelt. Aber das heißt ja nicht, dass das so sein (bzw. bleiben) muss. Wieso sollte es das eigentlich? Die Pfarrei, von der hier die Rede ist, hat laut Stand vom 31.12.2017 stolze 4.234 Mitglieder. Auf drei Gemeindeteile an unterschiedlichen Standorten verteilt, zugegeben; aber hin und wieder sollte man doch mal erwarten dürfen, dass die ganze Pfarrei an einem Strang zieht, gerade wenn es um eine Aktion geht, die auch der ganzen Pfarrei zugute kommen kann und soll. Wieso also erscheint es so abwegig, dass man für irgendeine Aktion der Pfarrei - die Infostand-Aktion zum Tegeler Hafenfest soll wohlgemerkt nur ein Beispiel sein - wenigstens 1% der Mitglieder als Helfer rekrutieren können sollte?

Natürlich ist das eine rhetorische Frage. Tatsächlich sind mir die Gründe für dieses Phänomen durchaus kein solches Rätsel. Zunächst mal bekommt man den beiweitem größten Teil der nominellen Mitglieder kaum je in der Kirche zu sehen. In unserer Beispielpfarrei lag der Mittelwert aus beiden "Zählsonntagen" des Jahres 2017 - wiederum: verteilt auf drei Standorte - bei 303 Messbesuchern. Das entspricht knapp 7,2% aller Mitglieder und liegt somit noch deutlich unter dem bereits ziemlich indiskutablen Bundesdurchschnitt von 9,8%. Wenn man nun annimmt, dass innerhalb der Gruppe der regelmäßigen Gottesdienstbesucher der Anteil derjenigen, die darüber hinaus zu aktiver Mitarbeit in der Gemeinde und für die Gemeinde bereit sind, ähnlich hoch ist wie der Anteil der regelmäßigen Gottesdienstbesucher unter allen Mitgliedern, kommt man meiner persönlichen Einschätzung zufolge bei einer realistischen Zahl potentieller Helfer an. Dass die dann obendrein nie alle auf einmal zur Verfügung stehen, weil immer irgend jemand Urlaub oder ein krankes Kind oder Theaterkarten oder einfach gerade mal keinen Bock hat, können wir für die Modellrechnung vernachlässigen. Jedenfalls sehen wir hier, dass man ganz leicht bei einer "Aktiven"-Quote von unter einem Prozent ankommt; und jetzt wage ich mal die steile These: Für ein gutes, gesundes Gemeindeleben sollte eine Beteiligungsquote von 1% aller Mitglieder eigentlich das Minimum sein. Und dass wir uns daran gewöhnt haben, es als normal hinzunehmen, dass diese Quote nicht erreicht wird, ist ein wesentlicher Teil des Problems. 

Einer, der es entschieden ablehnt, solche schwachen Beteiligungsquoten als normal hinzunehmen, ist der kanadische Priester und Gemeindeberater James Mallon: Ein ganzes, knapp 15 Seiten (S. 197-211) umfassendes Unterkapitel seines Buches "Divine Renovation - Wenn Gott sein Haus saniert" dreht sich darum, wie wichtig es sei, klare Erwartungen gegenüber den Gemeindemitgliedern zu formulieren. Es sei ein Irrtum, anzunehmen, man könne oder müsse anderen Menschen dadurch Wertschätzung zeigen, dass man es möglichst vermeidet, Ansprüche an sie zu stellen; tatsächlich sei das glatte Gegenteil der Fall:
"Eine hohe Willkommenskultur und eine hohe Erwartungshaltung sind tatsächlich eine respektvollere Reaktion auf Menschen, denn wir sagen ihnen: 'Wir glauben, dass Gott in dir und durch dich wirken wird. Wir erwarten das und du solltest dasselbe tun.' Das ist um vieles besser als zu sagen: 'Du bist hier hoch willkommen und übrigens erwarten wir gar nichts von dir. Du musst weder etwas tun noch etwas geben, ja, du musst nicht einmal kommen, wenn du keine Lust hast, aber du sollst wissen, dass du als Mitglied unserer Pfarrgemeinde willkommen bist.' Das ist nicht weit weg davon, dass wir keinerlei Erwartungen an neue Mitglieder haben, weil wir sowieso nicht damit rechnen, dass Gott in ihnen und durch sie wirkt." (S. 198f.) 
Folgerichtig hat die von Father Mallon geleitete St. Benedict Parish in Halifax, Kanada, eine Broschüre für neue Gemeindemitglieder erarbeitet, aus der unmissverständlich hervorgeht, welche Erwartungen die Gemeinde an ihre Mitglieder stellt -- und dazu gehört neben dem regelmäßigen Gottesdienstbesuch beispielsweise auch die Bereitschaft, an Seminaren zur Glaubensvertiefung teilzunehmen, sowie auch die Bereitschaft, einen Dienst innerhalb der Gemeinde zu übernehmen. Je nach den persönlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten, versteht sich.

Ich ahne an dieser Stelle allerlei Einwände, teils eher pragmatischer ("Das mag ja in Amerika funktionieren, aber hier bei uns ticken die Leute anders -- wenn man die zu sehr drängt, werden sie erst recht nicht wollen"), teils ganz grundsätzlicher Art, wie sie beispielsweise mein streitbarer Stammleser Imrahil wohl in die Feststellung kleiden würde: "Verpflichtend ist nur das Verpflichtende." Was natürlich stimmt. Konkret gesagt: Wenn jemand ein guter Katholik in dem Sinne ist, dass er die Sonntagspflicht einhält, dass er, wenn er sich einer schweren Sünde bewusst ist, diese ordnungsgemäß beichtet, ehe er das nächste Mal zur Kommunion geht, und auch sonst verlässlich diejenigen religiösen Pflichten einhält, die die Kirche verbindlich vorschreibt -- mit welchem Recht könnte man dem sagen, er "müsse" aber noch mehr tun

Freilich kann man darauf erwidern, als Christen seien wir schließlich dazu aufgerufen, Gott mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Denken zu lieben; und ein Liebender wird wohl eher nicht darauf beharren, er habe für seine Geliebte doch schon alles getan, wozu er verpflichtet sei, und nun möge man ihn bitte in Ruhe lassen. -- Der Clou an der Sache ist nun allerdings, dass der Wert des freiwilligen Engagements gerade darin liegt, dass es eben freiwillig ist. Es wäre also ein Widerspruch in sich, daraus eine Pflicht machen zu wollen. Die Leute müssen schon selbst aktiv werden wollen.

Wie aber bringt man sie dazu, dass sie wollen?

Ich würde ja sagen, zur Mitarbeit in der Kirchengemeinde motiviert man Leute am besten, indem man ihnen bewusst macht, dass ein reichhaltiges, lebendiges, vielfältiges Gemeindeleben etwas Gutes, Schönes und Wertvolles ist; so gut und so wertvoll, dass es die Mühe wert ist, selbst etwas dazu beizutragen. Und indem man ihnen vermittelt, dass es so viele unterschiedliche Möglichkeiten gibt, sich ins Gemeindeleben einzubringen, dass für jeden etwas dabei ist, was seinen Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Um das glaubwürdig vermitteln zu können, muss man allerdings erst mal dafür sorgen, dass die Realität in der Pfarrei wenigstens in Ansätzen diesem Bild entspricht. Das heißt, solange man die 1%-Hürde nicht übersprungen hat, müssen die wenigen Aktiven erst einmal ein überproportionales Maß an Arbeit investieren. Das erste Stück den Berg hoch ist das steilste -- genau wie wenn man in St. Jean Pied-de-Port auf den Jakobsweg geht...

Kommen wir nun aber mal zum praktischen Erfahrungsbericht: Was wir auf die Schnelle und mit einer recht überschaubaren Zahl Freiwilliger hinkriegten, war, unseren improvisierten Infostand auf dem Kirchenvorplatz an drei der vier Tage, die das Hafenfest dauerte, für jeweils vier bis fünf Stunden zu "bemannen". Mit gutem Beispiel vorangehend, schob ich selbst ungefähr viereinhalb Stunden Dienst am Infostand, verteilt auf zwei Tage. Während dieser Zeit kamen, zu Fuß und mit dem Fahrrad, insgesamt über 600 Personen unmittelbar an dem Stand vorbei -- nicht mitgerechnet die, die an der gegenüberliegenden Straßenseite entlanggingen, und auch nicht die, die im Auto vorbeikamen, angesichts der sommerlichen Temperaturen teilweise mit offenen Fenstern oder offenem Verdeck. Im Durchschnitt ergibt das also über 130 Passanten pro Stunde, und das heißt: Hätte man genug Freiwillige gehabt, um den Infostand während der gesamten Öffnungszeiten des Festgeländes offen zu halten, hätte man über 5.000 Personen erreichen können.

Einräumen muss ich derweil, dass man, um an so einem Infostand Dienst zu schieben, schon eine gewisse Toleranz in Sachen Ignoriertwerden mitbringen muss. Im Ignorieren sind die Berliner Weltklasse. Ich hätte eigentlich erwartet, dass sehr viel mehr Leute schon allein aus Neugier mal kurz an dem Stand stehenbleiben und "mal kuck'n" würden, als das tatsächlich der Fall war; offenbar sind unerwartet viele Leute überhaupt nicht neugierig. Ganz im Gegensatz zu Kindern und Hunden -- woraus meine Liebste den brillanten Schluss zog: "Beim nächsten Mal müssen wir Luftballons und Hundeleckerli mitnehmen."

Wie dem auch sei: Irgendwie hat es mir Spaß gemacht, am Infostand zu stehen, und ich würde so etwas eigentlich gern öfter machen. Na gut, die nächste Gelegenheit ist nicht fern: Am 8. September ist in Berlin Fest der Kirchen, und da hat der Mittwochsklub einen Stand angemeldet.

Immerhin zehnmal während meiner Einsatzzeit am Infostand kam ich mit Passanten ins Gespräch -- ganz unterschiedliche Leute, ganz unterschiedliche Gespräche. Wenn man das nun auch wieder hochrechnet auf die weiter oben als Idealvorstellung festgehaltene Zahl von 40 Freiwilligen... Zugegeben: Letztendlich weiß man natürlich nie, was solche Passantengespräche wirklich "bringen". Man kann nur versuchen, Samenkörner auszustreuen; ob daraus dann etwas wächst, und wenn ja, was, das hat man nicht in der Hand. Nichtsdestoweniger ist das Potential solcher Aktionen riesig. Angenommen, jedem Freiwilligen gelänge es, eine einzige Person für die Mitarbeit in der Kirchengemeinde zu interessieren und zu motivieren: Dann hätte man im nächsten Jahr schon doppelt so viele Freiwillige.  Und im Jahr darauf viermal so viele. -- So gut mir diese Vision gefällt, gilt es aber zugleich im Auge zu behalten, dass es letztlich nicht um Zahlen geht. Auch wenn die "Erfolgsquote", sofern sie überhaupt messbar ist, geringer ausfällt als "jeder Freiwillige rekrutiert eine weitere Person", heißt das nicht, dass der Aufwand sich nicht "lohnen" würde. Möglicherweise ist unter den Zehntausenden von Menschen, die zum Stadtteilfest strömen, einer, der, ohne sich dessen bewusst zu sein, nur darauf wartet, dass ihn jemand aus der Kirchengemeinde anspricht und einlädt.

Und wenn man diesen einen "erwischt", dann hat es sich allein dafür schon gelohnt.


P.S.: Gerade noch rechtzeitig vor der Fertigstellung dieses Artikels erreichte mich per Mail das Feedback eines freiwilligen Helfers, sodass ich mich bei der Einschätzung des "Erfolgs" unserer kleinen Infostand-Aktion nicht allein auf meinen persönlichen Eindruck verlassen muss. Ich zitiere mal: 
"Wie ich finde, war der improvisierte Werbetisch eine sehr gute Idee [...]. Etwas Resonanz hat es schon gegeben und der eine oder andere überlegt sich sicherlich ob er zum Marsch für das Leben oder zum Nightfever geht [...]. Einige haben sich auch getraut in die Kirche zu gehen. Für die aufgewendete Zeit würde ich sagen, ein gutes Ergebnis." 
Sicherlich hätte man mit mehr Vorbereitungszeit Manches noch besser machen können -- aber daraus können wir ja für zukünftige Aktivitäten dieser Art lernen... 



Sonntag, 22. Juli 2018

Neues vom Pastorenmangel in Butjadingen

Der Umstand, dass ich vor, während und nach meinem jüngsten "Heimaturlaub" recht eifrig über Themen aus der schönen Wesermarsch gebloggt habe, hat mir einen interessanten Twitter-Kontakt beschert -- nämlich einen Nordenhamer "Lokalblogger", der mich seither gelegentlich mit aktuellen Informationen zu Themen versorgt, die in das Interessenspektrum meines Blogs fallen. Zuletzt hat dieser Kollege mich nun darauf aufmerksam gemacht, dass die Lokalausgabe der "Nordwest-Zeitung" ein Thema aufgegriffen hat, das ich hier vor einigen Wochen schon am Wickel hatte: den bevorstehenden massiven Abbau von Pfarrstellen seitens der Oldenburgischen Landeskirche. Der von Rolf Bultmann und Detlef Glückselig verfasste Artikel unter der Überschrift "Immer weniger Pastoren - nun sollen's Ehrenamtliche richten" konzentriert sich auf die Situation in den sechs evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden Butjadingens: Burhave, Eckwarden, Langwarden, Stollhamm, Tossens und Waddens. Diese 
"verfügten bis zum Jahr 1986 über rechnerisch 5,5 Pfarrstellen. Derzeit sind es noch drei, wobei eine nach dem Ausscheiden von Pastor Hartmut Blankemeyer vakant ist. [...] Und in einigen Wochen wird es eine weitere Vakanz geben.
Zum 1. Oktober tritt nach 27 Jahren Stollhamms Pfarrer Joachim Tönjes, der auch Eckwarden betreut, in den Ruhestand." 
Den Pastor Tönjes kenne ich übrigens persönlich, wenn auch eher flüchtig. Sehr viel besser kenne ich seinen Bruder. Die Welt ist halt sehr klein, besonders auf dem Lande. Aber das mal nur am Rande; der entscheidende Punkt des Artikels ist, dass die Stollhammer Pfarrstelle nach den Plänen der Landeskirche nicht wieder besetzt werden soll. "Langfristig, so der Plan der Landeskirche, soll es nur noch eine Pfarrstelle für die sechs Butjadinger Kirchengemeinden geben" -- und die hat derzeit der Pastor von Burhave, Klaus Braje, inne, "der zusätzlich für Waddens zuständig ist". Den kenne ich ebenfalls persönlich. Was jetzt wohl keine so große Überraschung war. 

Abb. ähnlich; Bildquelle: Pixabay 

Verantwortlich für diesen radikalen Stellenabbau ist übrigens nicht allein der strikte Sparkurs der Landeskirche, über den ich bereits berichtet habe, sondern auch "der sich verstärkende Pastorenmangel": Wie man dem NWZ-Bericht entnehmen kann, ist es "angesichts des Mangels an Pastorennachwuchs fraglich", ob die noch verbleibenden Planstellen "überhaupt mit Pastorinnen und Pastoren besetzt werden können". Dass eine Kirche, die einerseits keinen Zölibat und anderereits sehr wohl die Frauenordination kennt, bei ihrem geistlichen Personal solche Nachwuchssorgen hat, könnte dem einen oder anderen reformeifrigen Katholiken zu denken geben; aber lassen wir das mal beiseite. Klar ist, dass die künftige Personalsituation "für die Kirchengemeinden eine große Herausforderung darstellt": 
"Wenn künftig ein einziger verbliebener Pastor auf der 129 Quadratkilometer großen Halbinsel viel Zeit im Auto verbringen muss, um für seine pastoralen Tätigkeiten über die Dörfer zu fahren, wird immer mehr der Einsatz Ehrenamtlicher, besonders der Kirchenältesten, nötig sein.
'Die können das auch', ist Joachim Tönjes überzeugt." 
Mag ja sein; wobei sich mir allerdings die Frage aufdrängt: Was genau ist "das"? Ich muss in diesem Zusammenhang gestehen, dass ich von der evangelischen Kirche (wie sich nicht zuletzt in Diskussionen mit evangelischen Theologen immer wieder zeigt) nicht viel verstehe. Ich habe folglich keine allzu konkreten Vorstellungen von den Aufgaben eines evangelischen Pastors und davon, welche dieser Aufgaben auf Ehrenamtliche übertragen werden könnten. That said, fällt mir an dieser Stelle der Stoßseufzer des Bloggerkollegen Martin Recke ein, immer wenn er den Satz "Das müssen in Zukunft Ehrenamtliche machen" höre, entsichere er seinen Colt. Ich kann nur empfehlen, zu lesen, was er zu diesem Thema weiter zu sagen hat; dann muss ich das hier nämlich nicht wiederholen. 

Ganz grundsätzlich stehe ich jedenfalls - wie ich ebenfalls schon mindestens einmal angemerkt habe - dem Ansatz, diejenigen Aufgaben, für die kein hauptamtliches Personal mehr vorhanden ist, an ehrenamtliche Mitarbeiter zu delegieren, äußerst kritisch gegenüber. Weil dadurch Strukturen, die eigentlich schon in sich zusammengebrochen sind, künstlich aufrecht erhalten werden, und das auf dem Rücken der engagierten Kirchenmitglieder. Vergessen wir nicht, dass es neben dem Pastorenschwund in der evangelischen Kirche Butjadingens auch einen nicht weniger dramatischen Mitgliederschwund gibt; um die Handlungsfähigkeit der etablierten Kirchenstruktur mit Hilfe von Ehrenamtlichen aufrecht zu erhalten, müsste man folglich die Quote der aktiv mitarbeitenden Kirchenmitglieder permanent erhöhen, und wie will man das erreichen, wenn sich gleichzeitig der Eindruck vermittelt, alles gehe den Bach runter? Der Versuch, trotz schwindender Kräfte alles so weiterzumachen wie bisher, führt naturgemäß dazu, dass von allem immer ein bisschen weniger gemacht wird. Man verwaltet nur den Niedergang. 

Zum Beispiel ist, wie die NWZ zu berichten weiß, "bereits jetzt in fünf der sechs Butjadinger Kirchengemeinde[n] nicht der Pastor, sondern ein Kirchenältester Vorsitzender des Gemeindekirchenrats". Toll. Aber wieso gibt es überhaupt sechs Gemeindekirchenräte? Antwort: weil "Burhave, Eckwarden, Langwarden, Stollhamm, Tossens und Waddens sowie die benachbarte Kirchengemeinde Abbehausen" zwar seit 2007 einen "Kooperationsverbund" bilden, in dessen Rahmen "[n]eben dem Kanzeltausch und der gegenseitigen pastoralen Vertretung [...] bei regelmäßigen Treffen Informationen ausgetauscht, Veranstaltungen vorbereitet und die Fortentwicklung der Zusammenarbeit beraten" werden – jedoch "ohne dass die Kirchengemeinden dabei ihre Eigenständigkeit eingebüßt hätten". Das klingt so, als wäre das etwas Gutes. Aber ist das nicht hochgradig ineffizient? Ich bin wahrhaftig kein Freund von Verwaltungszentralisation und Großgemeinden, aber wozu braucht man auf einer Fläche von 129 km² sechs formal eigenständige Kirchengemeinden, wenn die sich letztlich sowieso alle einen Pfarrer teilen müssen? Verheizt man da nicht die Bereitschaft der Kirchenmitglieder zu ehrenamtlichem Engagement in sinnlosen Gremiensitzungen? 

Tatsächlich gewährt der NWZ-Artikel ein paar interessante Einblicke in diesen bürokratischen Super-GAU. So versichert etwa der Vorsitzende des Eckwarder Gemeindekirchenrates, Rolf Siefken, die "Bereitschaft, den Pastor zu unterstützen, sei da"; er wünsche sich jedoch "eine bessere finanzielle Ausstattung der örtlichen Kirchenverwaltung, damit die Ehrenamtlichen insbesondere bei bürokratischen Tätigkeiten durch das Kirchenbüro entlastet werden können". Nun ja: Mehr Geld zu fordern dürfte angesichts des Sparkurses der Landeskirche ein problematisches Ansinnen sein. Vielleicht wäre es doch mal eine Überlegung wert, ob man die bürokratischen Abläufe nicht effizienter gestalten (und damit womöglich sogar noch Geld einsparen) könnte? -- Auf eine ganz andere Baustelle weist Jan-Wilhelm Hessenius, Kirchenratsmitglied und Lektor in Tossens, hin: Er sieht ein Problem "in der seiner Meinung nach erheblich erschwerten Lektoren-Ausbildung. Die Änderung im Lektoren-Gesetz hätte die Bereitschaft, sich als Ehrenamtlicher zum Lektor ausbilden zu lassen, deutlich gemindert [...]. Hier müsse die Kirche umdenken." Aber hallo! In der evangelischen Kirche braucht man eine Ausbildung, um Lektor sein zu dürfen? Da würde ich mich aber auch schön bedanken! Nun ja, ich habe mir das "Gesetz über die Beauftragung von Gemeindegliedern mit Aufgaben der öffentlichen Verkündigung" daraufhin mal angesehen und zweierlei festgestellt: Zum einen ist es gar so neu nicht, sondern wurde am 27. Mai 2016 verabschiedet; zum anderen betrifft es ausdrücklich nur sogenannte "Predigtlektoren" und "Prädikanten": Die ersteren sind befugt, "einen Gottesdienst [zu] leiten und auf Grundlage einer Lesepredigt [zu] predigen", die letzteren darüber hinaus auch dazu, "eine selbst verfasste Predigt [zu] halten". Okay: Dass es dazu einer speziellen Ausbildung bedarf, leuchtet mir ein. Für den einfachen Lektorendienst ("Sie übernehmen in Gottesdiensten z.B. biblische Lesungen oder Gebete") bietet die Landeskirche lediglich einen "Offenen Grundkurs" an, der aber allem Anschein nach nicht verpflichtend ist. 

Gleichwohl hat es natürlich eine gewisse Folgerichtigkeit, wenn Kirchenratsmitglied Hessenius angesichts der Streichung von Pfarrstellen die Frage der Gottesdienstleitung durch Ehrenamtliche zur Sprache bringt. Schon jetzt leitet er "bis zu 20 Gottesdienste im Jahr, wobei ihm die plattdeutschen die liebsten sind"; es liegt auf der Hand, dass der Bedarf zukünftig steigen wird. Was mich zu der Frage zurückbringt: Wenn der scheidende Stollhammer Pastor Tönjes über ehrenamtliche Kirchenmitarbeiter sagt "Die können das auch", was genau meint er dann mit "das"? 

Wie schon gesagt: Ich verstehe nicht viel von der evangelischen Kirche. Ich weiß streng genommen nicht einmal, ob die Verantwortungsträger vor Ort, seien sie haupt- oder ehrenamtlich, in der Kirche überhaupt etwas anderes sehen als eine "Gemeinschaft der Kasualienkonsumenten" (M. Welker) und ob sie überhaupt mehr wollen als den Niedergang verwalten. Eine beständig abnehmende Zahl von Kirchenmitgliedern taufen, konfirmieren und beerdigen, bis niemand mehr da ist und man das Licht ausmachen kann: Wenn das das Ziel ist, dann ist die Kirche auf einem guten Weg, und das gilt nicht nur für die Wesermarsch und auch keinesfalls nur für die evangelischen Landeskirchen. Wenn es das aber nicht ist, dann würde ich den Verantwortlichen dringend empfehlen, sich beizeiten mal zusammenzusetzen, um 
  • a) Klarheit darüber zu gewinnen, was denn dann das Ziel ist und 
  • b) sämtliche verfügbaren Ressourcen - materielle, personelle, zeitliche usw. - radikal und schonungslos dahingehend zu evaluieren, ob und inwieweit sie in einer Weise eingesetzt werden, die dem in a) formulierten Ziel dient. Und daraus entsprechende Konsequenzen zu ziehen. 

Das kann - und wird höchstwahrscheinlich - ein schmerzhafter Prozess sein. Aber ich habe die vage Ahnung, dass Teil a) der eigentlich schwierigere Teil der Aufgabe ist. Einige Anregungen dazu, passenderweise sogar aus explizit evangelischer Perspektive, habe ich hier gefunden. Aus katholischer Sicht widmet sich der kanadische Priester James Mallon in seinem Buch "Divine Renovation - Wenn Gott sein Haus saniert" dieser Frage. Ein bisschen Bereitschaft zu eigenständigem Transferdenken vorausgesetzt, dürfte beides auch für Angehörige der jeweils anderen Konfession lesenswert sein. 



Donnerstag, 19. Juli 2018

Auf vielfachen Wunsch: Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 11

Es ist schon ganz schön lange her - über eineinhalb Jahre! -, dass ich meine großangelegte Analyse des kulturkämpferischen Sensationsromans "Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau" von Dr. A. Rode (1869) unvollendet liegen gelassen habe; aber das Publikum vergisst nichts -- oder genauer gesagt: Eine kleine, aber treue (um nicht zu sagen hartnäckige) Gruppe von Lesern und Leserinnen erinnert mich mehr oder weniger regelmäßig daran, dass ich ihnen noch eine Fortsetzung schuldig bin. Also gut, dann will ich mich diesem Drängen mal nicht verschließen. 

Glücklicherweise hatte ich seinerzeit einen günstige Zäsur gewählt, um das Thema vorerst ruhen zu lassen -- nämlich eine Stelle, an der der Verfasser (wieder einmal) einen Zeitsprung unternimmt und einen neuen Handlungsstrang eröffnet. Folglich muss ich mich bei der Wiederaufnahme nicht groß mit Ausführungen zum Thema "Was bisher geschah" aufhalten. Mit Kapitel XLIV steuert der Roman geradewegs auf die Schilderung des Polnischen Aufstands von 1830/31 zu -- der "von so schweren Folgen für den ganzen Adel Polens, insbesondere auch für die Familie Ubryk, begleitet" ist, dass der Verfasser "dem geneigten Leser" dessen Darstellung "nicht vorenthalten" zu dürfen meint (S. 566). Tatsächlich ist es nicht verwunderlich, dass der Autor an diesem quasi auf dem Weg liegenden Sujet nicht vorübergehen konnte, schließlich war der Polnische Aufstand nach und neben der Pariser Julirevolution von 1830 das wohl bedeutendste revolutionäre Ereignis der Vormärzzeit und löste beim liberalen deutschen Bürgertum eine schwärmerische Polenbegeisterung aus, die sich auch vielfältig in der Literatur niederschlug. Der Patriotismus, die Freiheitsliebe und Opferbereitschaft der Polen wurden als vorbildlich auch für die Deutschen gepriesen; wie wir noch sehen werden, wirkt sich dies auch auf Rodes "Barbara Ubryk"-Roman aus, obwohl die liberale Polenbegeisterung in Deutschland sich in den 1860er Jahren eigentlich schon deutlich abgekühlt hatte. 

Aber der Reihe nach! Das XLIV. Kapitel widmet sich größtenteils der Schilderung der grausamen Willkürherrschaft des Großfürsten Konstantin Pawlowitsch Romanow, der als Militärgouverneur von Warschau de facto Regent des auf dem Wiener Kongress geschaffenen Königreichs Polen war -- und den der Verfasser beharrlich "Constantin Cesarewitsch" nennt ("Zesarewitsch" war der Titel des russischen Thronfolgers; das war zur Zeit der Handlung aber nicht Konstantin, sondern sein Neffe Alexander). Die Schilderung von Konstantins tyrannischen Launen wirkt bis ins Groteske überzeichnet, hat aber wohl einen wahren Kern darin, dass der Großfürst sich tatsächlich durch seine despotische Härte beim polnischen Volk verhasst machte. Eine Verbindung zur antiklerikalen Tendenz des Gesamtromans stellt der Autor dadurch her, dass er recht gezwungen anmutende Parallelen zwischen dem Militärregime in Warschau und der Klerikerherrschaft in Rom zieht (S. 571f.) und zudem behauptet, Konstantin habe sich in seinem "fortwährenden Kampf gegen die Macht des Geistes [...] mit der römischen Kirche, die das Wissen von jeher bekämpfte", verbündet (S. 579). 

Die historische Zuverlässigkeit des Romans ist auch hier wieder, wie schon bei früheren Passagen mit Bezug zu Ereignissen der Weltgeschichte, gering. Auf S. 578 heißt es, Polen habe "nach seiner Einverleibung in Rußland durch Kaiser Nikolaus eine Verfassung (Constitution) verliehen" bekommen; dies geschah jedoch bereits 1815 unter der Regierung Alexanders I., Nikolaus' Bruders und Vorgängers. Auf S. 581 bringt Dr. Rode - dem ich seinen Doktortitel übrigens immer weniger abkaufe - das Kunststück fertig, das Datum des Ausbruchs des Polnischen Aufstands im Abstand von nur 12 Zeilen einmal richtig und einmal falsch anzugeben: "Am Montag, dem 29. November" und "Der Montag, der 30. November". Aber seien wir mal gnädig und ziehen in Erwägung, dass das auch der Setzer verbockt haben könnte. 

Wie aber kommen nun die dem Leser bereits bekannten Romanfiguren ins Spiel? -- Elkas Sohn Ladislaus, der inzwischen Jura studiert hat und Beamter geworden ist, hat sich zu einem glühenden polnischen Patrioten entwickelt und sich, wie einst Jaromir Ubryk, "dem geheimen Revolutionskomité" (S. 582) angeschlossen; schon vor dem Ausbruch des Aufstands wird er zusammen mit einigen anderen Verschwörern verhaftet. Als seine Eltern das erfahren, schließt sich auch Kasimir - trotz des energischen Einspruchs seiner Frau - den Aufständischen an und übernimmt sogleich eine Führungsposition. Es gelingt ihm, seinen Adoptivsohn aus der Haft zu befreien; doch inzwischen hat sich auch die 13jährige Barbara, die "etwas von dem ungestümen Character ihrer Mutter an sich" hat (S. 564), aus dem Haus gestohlen und hilft beim Barrikadenbau und beim Verbinden von Verwundeten. Sie wird Zeuge, wie ihr Halbbruder Ladislaus, der die polnische Fahne gegen einen Angriff russischer Kürassiere verteidigt, schwer verwundet wird; als sie ihnen zu Hilfe kommen will, wird sie von einem Pferd getreten und bricht, die Fahne in der Hand, bewusstlos zusammen. 

Zunächst wird sie für tot gehalten, aber als sich zeigt, dass sie noch lebt, nehmen ein Fabrikarbeiter und seine Frau, deren Sohn auf den Barrikaden gefallen ist, sie zu sich und pflegen sie. Inzwischen wird Ladislaus tödlich verwundet nach Hause gebracht und stirbt zwei Tage später. Erst nach zwei Wochen erfahren Elka und Kasimir durch einen Arzt vom Verbleib ihrer Tochter und holen sie wieder nach Hause. Ihre heldenhafte Verteidigung der polnischen Fahne macht unter der Bevölkerung Warschaus Furore, und als der Gutsbesitzer Jockowski einige Wochen später ein "Sensenträger-Regiment"  aufstellt, wählt dieses Regiment Barbara "zur Fahnenjungfrau" (S. 623). Da sie noch nicht von ihren Verletzungen genesen ist, kann sie diese Wahl nicht annehmen, aber das Regiment bringt ihr vor dem Balkon ihres Elternhauses eine Huldigung aus, bei der "das Musikkorps die Hymne: La fille du regiment spielte" (S. 624). Da ist dem Herrn Dr. Rode nun freilich ein böser Fehler unterlaufen: "La fille du régiment", wonach das ganze XLVI. Kapitel "Die Tochter des Regiments" betitelt ist ("Wer kennt nicht das schöne französische Lied: La fille du regiment? Nicht nur drüben über dem grünen Rheine kann man es so oft mit Begeisterung von den Franzosen singen hören, auch bei uns, an der Ostsee und am Bodensee, hat es sich eingebürgert" -- S. 603), ist eine Oper von Gaetano Donizetti, die erst 1840 uraufgeführt wurde. Da müssen die braven Warschauer schon Hellseher gewesen sein. 

Insgesamt ist die Fiktion, aus Barbara Ubryk eine gefeierte Heldin des Aufstands von 1830/31 zu machen, natürlich hochgradig unglaubwürdig: Müssen sich die zeitgenössischen Leser nicht gesagt haben, dass sie das, wenn es denn wahr gewesen wäre, anlässlich ihrer Befreiung aus dem Kloster knapp 40 Jahre später aus der Presse erfahren haben würden, ja, wäre es überhaupt glaubhaft, dass eine so bekannte Persönlichkeit jahrelang sang- und klanglos in einem Kloster verschwindet? Dasselbe gilt im Grunde natürlich auch schon für den Schachzug des Autors, eine Tochter einer immens reichen Gräfin aus ihr zu machen. 

Fast noch ärgerlicher finde ich es allerdings, wie nonchalant der Autor sich Barbaras Halbbruder Ladislaus vom Halse schafft. Man hätte doch denken können, als leiblicher Sohn des schurkischen Jesuiten Rebinsky hätte er in den Bemühungen des Jesuitenordens, das Vermögen der Familie Elkas in die Finger zu bekommen, noch eine wichtige Rolle spielen können. Aber offenbar wusste der Verfasser von Anfang an nicht recht viel mit dieser Figur anzufangen, schließlich hatte er Ladislaus schon einmal für längere Zeit praktisch spurlos aus dem Romangeschehen verschwinden lassen. Dass er ihn dann doch wieder auf die Bildfläche zurückholte, konnte zunächst einmal hoffen lassen, er werde ihm später noch eine wichtigere Rolle zuweisen; stattdessen ist der junge Mann nun tot, was möglicherweise ein Indiz dafür ist, dass Dr. Rode seinen Plan für den weiteren Handlungsverlauf - wieder einmal - spontan geändert hat. Sofern von einem solchen Plan überhaupt die Rede sein kann, woran man durchaus Zweifel haben darf. 

Am Rande erwähnt sei eine Fußnote auf S. 604, in der der Autor tadelt, dass nach Schlachten häufig nicht sorgfältig genug geprüft werde, ob unter den vermeintlich Gefallenen noch Lebende sind, und diese voreilig in Massengräbern verscharrt werden; er nennt Beispiele aus der Schlacht bei Kissingen (1866) und der Schlacht bei Custozza -- derer es allerdings zwei gab, 1848 und ebenfalls 1866.

Das XLVII. Kapitel, "Der Apfel des Tantalus", gehört einem anderen Handlungsstrang an und durchbricht zudem die Chronologie der Handlung, weshalb ich es hier vorerst übergehe. Ich habe wohl schon mehrfach angemerkt, dass eine derart sprunghafte Handlungsführung nicht unbedingt ungewöhnlich für Kolportageromane ist, aber gleichzeitig auch ein Indiz dafür sein könnte, dass der Autor unter erheblichem Zeitdruck gearbeitet hat.

Kapitel XLVIII trägt den treffenden Titel "Ein Stück Weltgeschichte" und schildert die Niederschlagung des Polnischen Aufstandes durch die russische Armee. Besonders ausführlich wird die Schlacht bei Grochów vom 25. Februar 1831 dargestellt, wobei der Autor in seinen Angaben zu den Truppenstärken die zahlenmäßige Überlegenheit der Russen stark übertreibt - wohl um den Heldenmut der Polen umso mehr zu betonen - und den Schlachtverlauf zudem so schildert, dass es den Anschein hat, die Polen hätten die Schlacht gewinnen können, wenn Fürst Radziwiłł nicht aus militärischer Unfähigkeit, wenn nicht gar purer Feigheit, den Rückzug angeordnet hätte. Überhaupt schreibt Dr. Rode das Scheitern des Polnischen Aufstands mit Vorliebe dem Versagen Einzelner zu - angefangen von "der zweideutigen Haltung und den hindernden Maßregeln" des ersten Oberbefehlshabers Józef Chłopicki (S. 652) bis hin zu den "verrätherische[n] Anordnungen" des "Judas" Jan Krukowiecki, "der einen so teuflischen Charakter besaß" (S. 666f.). Die Schlachtbei Ostrołęka (26. Mai 1831), die den ersten entscheidenden Sieg der Russen markierte, wird überhaupt nicht erwähnt. Von den Hauptfiguren der Romanhandlung erfährt man in diesem Kapitel wenig; nur Kasimir Ubryk wird ein paarmal erwähnt: Er will "ein Regiment aus Warschauerbürgern errichten und dessen Führung übernehmen", was Chłopicki ihm jedoch ausredet, woraufhin er sich "[a]us Groll darüber [...] aus dem Administrationsrathe" zurückzieht und vorübergehend beabsichtigt, "an dem ganzen Befreiungswerke nicht mehr Theil zu nehmen"; dann entschließt er sich aber doch, "dem Revolutionsrathe die Summe von 500,000 Gulden zu übergeben, lehnte es aber vorläufig ab, selbst die Waffen zu ergreifen" (S. 652). In diesem Zusammenhang erinnert der Autor auch an die eigentliche Haupthandlung, indem er anmerkt, dass diese großzügige Spende die erbschleicherischen Jesuiten dazu veranlasst, den Verlust dieser "bedeutenden Summe" zu beklagen (S. 653). Erneut kommt Kasimir ins Spiel, als Chłopicki bei Grochów schwer verwundet wird und zur Genesung "eiligst nach Warschau gebracht" wird,
"wo er sogleich von Kasimir in seinen Palast und in liebende Pflege genommen wurde.
Vergessen war jetzt der Groll, den Kasimir gegen ihn gehegt; er bewunderte und ehrte in ihm jetzt einen Helden, der für des Vaterlandes heilige Rechte gefallen war." (S. 658) 
(In Wirklichkeit ging Chłopicki zur Heilung seiner Wunden nach Krakau.)

Bogdan Willewalde: Die Schlacht bei Grochów (gemeinfrei
Auf S. 661 erfährt man, daß Kasimir Ubryk in den "Reichstag in Warschau [...] gewählt worden" ist. Der vielleicht interessanteste Teil des Kapitels ist jedoch eine Passage, in der der Autor aus der Handlung heraustritt und sich direkt an den Leser wendet: 
"Bewunderungswürdig ist der Opfermuth eines Volkes, wenn es sich gegen seine Unterdrücker erhebt. Der geneigte Leser wird daher unsere Schilderung desselben keineswegs ohne Interesse lesen; zumal die Zeit nahe sein dürfte, wo auch wir denselben Opfermuth, denselben Heldenmuth zu beweisen haben werden. Lassen wir noch zehn Jahre verstreichen – Deutschland hat eine andere Gestalt wie heute. Einig und groß wird es dastehen. Viele, ja Viele unserer freundlichen Leser werden diesen nahen Zeitpunkt erleben; aber sie werden auch nach zehn Jahren sagen: Große Opfer hat uns Deutschlands Einigung und Größe gekostet!" (S. 653) 
Erinnern wir uns, die Veröffentlichung des Romans begann im August 1869. Wir befinden uns mittlerweile im 14. Lieferungsheft, was, wenn wir von wöchentlicher Erscheinungsweise ausgehen, bedeutet, dass dieser Absatz Ende Oktober oder Anfang November erschien; falls nur alle 14 Tage ein neues Lieferungsheft erschien, befinden wir uns sogar schon im Januar oder Februar 1870. Am 19. Juli 1870 begann der Deutsch-Französische Krieg, am 18. Januar 1871 wurde das Deutsche Kaiserreich proklamiert. Da hatte Dr. Rode mit seinen "zehn Jahren" also noch sehr großzügig geschätzt.

Zu Beginn des irrtümlich mit der (im römischen Zahlensystem gar nicht existierenden) Nummer "IXL" versehenen Kapitels "Das bittere Brod der Verbannung" (richtig wäre die Nummer XLIX gewesen) übernehmen die Russen wieder die Herrschaft in Polen und verhängen drakonische Strafen gegen die Rädelsführer des Aufstands -- zu denen auch Kasimir Ubryk gezählt wird, nicht nur wegen seiner Position "als Mitglied des Revolutions-Administrationsrathes und später des Reichsrathes", sondern auch wegen seiner "bedeutenden Geldspenden". Auch der "Verlust seines Sohnes Ladislaus und die Verwundung seiner Tochter Barbara in der Befreiungsnacht des 29. Novembers" geben den Russen
"Grund genug, die Proskription auch auf ihn auszudehnen, obgleich er nicht persönlich die Waffen geführt hatte. So prangte denn sein Name ebenfalls auf der Liste der zum Tode des Erhängens Verurtheilten.
Kasimir war aber nicht Willens gewesen, solchen Lohn für feine Vaterlandsliebe zu ernten. Den Eintritt eines ähnlichen Ereignissee voraussehend, hatte er mit den meisten Mitgliedern des Reichstages am 5. Oktober die Grenze Polens überschritten." (S. 670) 
Derweil ist Elka mit ihren drei Töchtern, darunter Barbara, vorerst in Warschau geblieben, um einer drohenden Enteignung ihres Landbesitzes durch den Verkauf desselben zuvorzukommen. Bei dieser Gelegenheit lässt der Autor erneut seinem schon früher unangenehm aufgefallenen Antisemitismus die Zügel schießen, indem er ausführt, der Verkauf der Güter 
"wäre in solchen Zeiten eine schwierige Aufgabe gewesen, wenn [...] Polen nicht so von Juden überschwemmt gewesen wäre, wie kein anderes Land. An diese wandten sich nun die Verwaltungsbeamten. Mit großer Eile griffen die Juden zu, in der Meinung, daß die Familie Ubryk in Folge ihrer starten Compromittirung beim Aufstande flüchtig gehen und deshalb ihre Güter aufgeben müsse. Sie fanden diese alle im besten Zustande, sehr ertragsfähig und mit großen Dörfern arrondirt. So konnte es nicht ausbleiben, daß sie sich im Ankaufspreise überboten und die Herrschaften um sehr hohen Preis ablösten. Zuletzt veräußerte Elka auch den Palast Zolkiewicz in Warschau, sowie den ihrer Tante, der Gräfin Czernewsla, an das Bankhaus Salomon." (S. 673). 
Später erfährt man, dass "die russische Regierung alle während des Aufstandes abgeschlossenen Verträge und Verläufe nicht anerkannt" und die Güter dennoch konfisziert hat: "Die betreffenden Juden [...] sind daher eigentlich um ihr Geld geprellt worden" (S. 677). 
Elka jedenfalls erfährt bald nach dem Einmarsch der Russen in Warschau, 
"daß ihr Gemahl zum Tode und Confiscation seiner Güter verurtheilt sei. Auf diese Nachricht verließ sie sofort mit ihrem Baarvermögen Warschau, ehe noch nach ihr gefahndet werden konnte. Außerhalb Warschau nahm sie einen fremden Namen an und erreichte ziemlich ungehindert die Grenze.
Ohne Aufenthalt reiste Elka mit ihren Kindern weiter nach Dresden, das sie nach einigen Wochen erreichte. Hier miethete sie sich ein Haus und begann sich zu längerem Aufenthalte einzurichten. Kasimir befand sich unterdessen eben auf der Flucht nach Sachsen. Er war, nachdem der Reichstag an der Grenze sich aufgelöst hatte, mit den meisten Mitgliedern desselben, wie bereits erwähnt, in einem preußischen Grenzstädtchen internirt gewesen." (S. 673). 
Durch glücklichen Zufall findet Kasimir seine Familie in Dresden wieder, und fortan leben sie "ruhig und zurückgezogen" (S. 677). -- Der Rest des Kapitels, immerhin weitere sechs Seiten, bildet einen rein episodischen Einschub, der aber so skurril ist, dass ich ihn nicht gänzlich übergehen möchte. Ich werde ihn daher in der nächsten Folge dieser Reihe würdigen.





Mittwoch, 18. Juli 2018

Alle Bienlein sind schon da

Henning Wessels, der Vorsitzende des Imkervereins Jade-Weser, ist ein vielbeschäftigter Mann: Während meines jüngsten, gerade mal eine Woche dauernden Aufenthalts in der schönen Wesermarsch stand sein Name mehrmals aus verschiedenen Anlässen (die freilich alle etwas mit Imkerei zu tun hatten) in der Zeitung -- in beiden Lokalzeitungen, genauer gesagt. Ziemlich umfangreich berichteten sowohl die Nordwest-Zeitung als auch die Kreiszeitung Wesermarsch am 21. Juni über das "Blühstreifenprogramm des Landes Niedersachsen" -- am Beispiel der Ländereien des 30jährigen Landwirts Christoph Geil. Das ist übrigens derselbe, der hinter dem ambitionierten Bauprojekt auf der Sillenser Dorfwurt steckt, das ich hier neulich mal erwähnt habe. Überhaupt ein umtriebiger junger Mann. Bereits 2015 hat er dem CVJM-Sozialwerk Wesermarsch den Hof Oegens im Butjadinger Ortsteil Waddens abgekauft, 2017 dann, zusammen mit seinem Bruder, das ehemalige Schulhaus des Nordenhamer Ortsteils Phiesewarden erworben, um darin Mietwohnungen und eventuell auch Büroräume einzurichten. Außerdem organisiert er Beer-Pong-Turniere. Irgendwie sagt mir mein kleiner Finger, wenn es mittelfristig mit einem Benedikt-Options-Projekt (oder mehreren) in Butjadingen und/oder Nordenham klappen soll, dann wäre Christoph Geil jemand, den man dafür ins Boot holen sollte. Ich habe zwar nicht die geringste Ahnung, wie er's - gretchenfragenmäßig ausgedrückt - "mit der Religion hält", aber Unternehmungsgeist hat er offenbar reichlich, und irgendwie würde man schon auf einen Nenner kommen. Da bin ich optimistisch. 

Aber bleiben wir erst mal bei den Bienen. "Auf insgesamt 45 Hektar Land (ein Teil gehört einem Nachbarbetrieb) in Butjadingen und Nordenham", so las man's in der NWZ, "hat Christoph Geil Blühflächen angelegt, um Insekten und Wildtieren Nahrung und Deckung zu bieten." Ausgesät wird auf diesen Flächen eine sogenannte "Imkermischung" aus "Alexandrinerklee, Phacelia, Buchweizen, Ölrettich und Sonnenblumen". "Die Blühflächen müssen mit einem Imker abgestimmt, beraten und von ihm attestiert werden" -- nämlich oben besagtem Henning Wessels.

"Natürlich nutzt der Landwirt nicht gerade seine ertragreichsten Äcker als Blühstreifen", räumt der NWZ-Artikel ein:
"'Die Flächen hier liegen an einer Wurth. Die Bereiche sind sehr feucht', sagt er. Auch ungünstig geschnittene Stücke sind landwirtschaftlich schwer nutzbar. 'Ich hab ein paar Dreiecke, da war eine Blühfläche einfach sinnvoll', sagt Christoph Geil.
Für die Blühfläche bekommt er eine Entschädigung von 700 Euro pro Hektar vom Land und eine Flächenprämie der EU, berichtet er. Davon müsse man die Ausgaben für Saatgut, Pacht und die Arbeitszeit, die er investiert, abziehen. 'Und ich habe natürlich auf diesen Flächen einen Produktionsausfall. Ein bisschen Idealismus gehört schon dazu', sagt er lachend. Die Flächen sind über das Jahr für Insekten und für Wildtiere wie Hasen und Fasane, die in dem hohen Gras Deckung finden, reserviert." 
Ich sag's ja: Guter Mann, allem Anschein nach. "Der Umweltaspekt ist in der Landwirtschaft ein bisschen verloren gegangen", sagt er:
"Kühe seien auf immer höhere Leistung gezüchtet, entsprechend müssen die Weideflächen mehr energiereiches Futter bieten, für Blumen sei kein Platz. Chemischer Pflanzenschutz, Lichtverschmutzung in Großstädten (für nachtaktive Insekten ein Problem), der Verlust von Naturraum und eine geringere biologische Vielfalt sind Gründe für das Insektensterben." 
Und das Insektensterben ist ein hochaktuelles Thema in der Wesermarsch, wenn man der Lokalpresse Glauben schenken darf. Laut einem Kurzbericht der Kreiszeitung vom 23. Juni ("Geld für den Schutz von Insekten") sind Maßnahmen gegen den Rückgang der Insektenpopulation ein besonderes Anliegen der örtlichen Bundestagsabgeordneten Susanne Mittag (SPD). "Sinkt die Zahl und die Artenvielfalt weiter, verändert sich unser Ökosystem dramatisch", wird die Politikerin zitiert. "Es ist fünf vor zwölf und wir müssen handeln, sonst stehen wir bald mit Staubwedeln auf Leitern, um noch Äpfel und Kirschen im eigenen Garten zu haben." Gleich darauf erfährt man, dass Frau Mittags Parteifreundin, Bundesumweltministerin Svenja Schulze (wir haben eine Bundesministerin, die Svenja heißt? Echt jetzt?), als "Sofortmaßnahme [...] fünf Millionen Euro pro Jahr für den Insektenschutz" locker macht. Was würden wir bloß ohne die SPD machen.

An der Uni Bremen läuft derweil, wie die Kreiszeitung bereits am 20. Juni berichtete, ein ambitioniertes Projekt zur Beobachtung der Aktivitäten von Bienenvölkern: Das Projekt Bee Observer. Die Daten, die man mit diesem Projekt zu gewinnen hofft, sollen dabei helfen, "dem Bienenschwund [zu] begegnen":
"Die Bienenbeuten, wie die Imker die Behausungen nennen, sollen mit Sensoren ausgestattet werden, um Daten über den Zustand im Inneren zu gewinnen. [...] Jeder Bienenstock steht auf einer Waage. Einige Kabel führen aus dem Gehäuse heraus und münden in eine kleine Plastikbox, die am Gestell eine[r] jeden Behausung angebracht ist. Darin befindet sich ein Minicomputer, der die Messdaten zu Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Akustik und Luftströmung am Flugloch erfasst."
Die Zeitung hebt hervor, das Projekt setze
"auf Beteiligung der Bevölkerung und gemeinsames Forschen. Als sogenanntes Citizen-Science-Projekt (Bürgerwissenschaft) wird es für drei Jahre vom Bundesforschungsministerium gefördert. Das heißt: Wissenschaftler arbeiten explizit mit Bürgerinnen und Bürgern zusammen. Bei 'Bee Observer' sind Imker ebenso im Boot wie die sogenannte Maker-Szene. 'Das sind Menschen mit unterschiedlichsten beruflichen Hintergründen, die sich aus reinem Enthusiasmus heraus zusammenfinden und ihr Knowhow einbringen." 
Maker-Szene, so so, aha. Ist ja interessant. Kennt man da jemanden?

Die Überschrift des Kreiszeitungs-Artikels lautet übrigens "Algorhythmen für die Bienen"; ob das ein raffiniertes Wortspiel sein soll, bleibt unklar, im Artikeltext ist das Wort "Algorithmen" jedenfalls richtig geschrieben.

Aber kehren wir der mondänen Wissenschaftsmetropole Bremen den Rücken und wenden uns wieder der beschaulichen Wesermarsch zu. Dort scheint nämlich die Hobby-Imkerei trotz der Probleme mit Bienen- und allgemeinem Insektensterben geradezu zu boomen. Die Mitgliederzahl des Imkervereins Jade-Weser hat sich "in den letzten Jahren fast verdoppelt", verrät die Kreiszeitung im Rahmen eines in der Ausgabe vom 22. Juni erschienenen Interviews mit dem Vereinsvorsitzenden Henning Wessel, der zu Protokoll gibt: "In diesem Jahr bilden wir durch unseren qualifizierten Lehrgangsleiter [...] mehr als 50 Jungimker aus." Das Interview flankiert einen ganzseitigen Bericht über zwei Imker aus Butjadingen und Nordenham, die für die Qualität ihres Honigs mit Medaillen ausgezeichnet worden sind ("Süßer Erfolg für Wesermarsch-Imker"). Einer von ihnen, Carsten Läßig, "gehört zu den Imkern, die [...] neben Honig auch Wachskerzen herstellen".

Ich möchte übrigens nicht ausschließen, dass die Häufung von Artikeln mit Imkereibezug in der Lokalpresse mir nur deshalb so auffiel, weil ich ohnehin schon für dieses Thema sensibilisiert war. Aber wie dem auch sei: Am letzten Tag vor der Rückreise nach Berlin fand an meinem früheren Gymnasium ein Schulfest statt, das nicht nur der Einstimmung auf die Sommerferien, sondern auch - wie schon erwähnt - der Präsentation der Ergebnisse einer Projektwoche unter dem Motto "Die Welt der Tiere" dienen sollte. Da ging ich mit Frau und Kind hin, traf sogar einige alte Bekannte, und meine Liebste - die, wie ich bestimmt schon mal erwähnt habe, Lehrerin ist -, urteilte anerkennend, dies sei eins der am ansprechendsten gestalteten Schulfeste, die sie bisher erlebt habe. (Hier ein Pressebericht.) Wie sich zeigte, hatte eine Schülergruppe Honig hergestellt und bot diesen jetzt zum Verkauf an; geleitet worden war diese Projektgruppe von der Schulsekretärin, die diesen Posten auch schon "zu meiner Zeit" innehatte und seit 2016 im Vorstand des Imkervereins Jade-Weser aktiv ist. Sie und somit auch ihre Bienen leben ziemlich weit draußen auf dem Land, der nächste Nachbar ist ein Bio-Bauer (erzählte sie mir) -- dann soll der Honig wohl gut sein. Wir kauften ein Glas. 


Das Thema Insektensterben stand derweil im Mittelpunkt einer anderen Projektpräsentation; dort war unter anderem eine Anleitung zum Bau eines "Insektenhotels" zu bewundern.



Was ein "Insektenhotel" ist, wie so etwas aussieht und wozu es sinnvoll ist, habe ich übrigens erstmals auf dem Langen Tag der Stadtnatur erfahren, über den ich ja auch schon etwas gebloggt habe; und wie die Konditionierung von Wahrnehmung halt so funktioniert: Seitdem begegnen mir Insektenhotels quasi auf Schritt und Tritt. Sogar im Garten meiner Mutter hängt eins.

Kommen wir nun zu der entscheidenden Frage: Warum interessiert mich das alles so? -- Nun, ich bin ja schon länger der Meinung, Kirchengemeinden sollten, statt über "Bewahrung der Schöpfung" lediglich im Frauenkreis und womöglich noch in der Firmkatechese zu diskutieren, lieber einen Garten anlegen. Dass man dadurch endlich auch mal Leute, denen das Diskutieren nicht so liegt, die dafür aber praktisch veranlagt sind, für die Mitarbeit in der Pfarrei gewinnen könnte, wäre nur ein Vorteil unter vielen. Honig aus eigener Herstellung könnte ein Verkaufsschlager auf dem Pfarrfest (und darüber hinaus) sein, und "Wir bauen ein Insektenhotel" wäre sogar im Rahmen der Kinderkatechese ein machbares Projekt. Ich meine das übrigens alles völlig ernst.

Und wohlgemerkt stellen die bis hierher genannten Punkte gewissermaßen nur die Minimallösung für, nennen wir's mal Urban Parish Gardening dar; also das, was praktisch immer und überall mit überschaubarem Aufwand realisierbar wäre. Für ein Kräuterbeet und/oder ein Beet mit insektenfreundlichen Wildblumen dürfte so ziemlich jede Pfarrgemeinde, selbst mitten in der Großstadt, irgendwo Platz haben, und falls nicht, kann man immerhin Kapuzinerkresse auf dem Balkon und/oder Pilze und Chicorée im Keller anbauen. Ein Insektenhotel passt an jede Häuserwand, und Bienenzucht soll, wie ich mir habe sagen lassen, in der Stadt sogar tendenziell besser funktionieren als in von landwirtschaftlicher Monokultur geprägten Gegenden, da es eine größere Bandbreite blühender Pflanzen gibt.

Klar: Eine #BenOp-Landkommune auf einem ehemaligen Bauernhof in Butjadingen hätte in dieser Richtung noch ganz andere Möglichkeiten. Aber ich würde behaupten, selbst in einem durchschnittlich großen Pfarrgarten wäre so einiges möglich, wenn man's mit einem ausreichenden Maß an Kreativität, Enthusiasmus und Knowhow anginge. Wie die "sogenannte Maker-Szene" eben. Spannend fände ich ja zum Beispiel - ich deutete es schon mehrfach an - ein Permakultur-Projekt. Nach allem, was ich bisher über Permakultur weiß - was zugegebenermaßen nicht viel ist -, spielen dabei auch Insekten eine wichtige Rolle. Aber erst mal müsste ich mich gründlicher in das Thema einlesen. Beim besagten Langen Tag der Stadtnatur habe ich neben anderem Infomaterial ein Exemplar einer Zeitschrift mit dem vielversprechenden Titel Permakultur Magazin abgegriffen, aber leider habe ich seither festgestellt, dass dieses Heft derart vollgestopft mit sprachlichem, politisch-ideologischem und esoterisch-neopaganem Bullshit ist, dass man ein ganzes Arsenal an Rot- und anderen Farbstiften braucht, um da eine gewisse Übersichtlichkeit herzustellen und an die praxisrelevanten Informationen ranzukommen. Und das ist ein Langzeitprojekt: Bislang bin ich damit bis auf Seite 6 (von 60) vorgedrungen. Ich werde über den Fortschritt meiner Bemühungen berichten...



Dienstag, 17. Juli 2018

Wie viel Gemeinschaft darf's denn sein?

Unlängst gab es in den US-amerikanischen Medien einigen Wirbel um die Richterin Amy Coney Barrett, die als mögliche Nachfolgerin des in den Ruhestand gegangenen Anthony Kennedy am Obersten Gerichtshof gehandelt wurde. Die gläubige Katholikin und siebenfache Mutter (5 leibliche, 2 adoptierte Kinder) war erst im vergangenen Jahr zur Bundesrichterin an einem Berufungsgericht ernannt worden, und die für diese Ernennung notwendige Anhörung vor dem Justizausschuss des US-Senats hatte für Aufsehen gesorgt, weil die Senatorin Dianne Feinstein dabei suggeriert hatte, Barretts katholischer Glaube stelle ihre Eignung für dieses Richteramt infrage. Beobachter sahen darin ein Anzeichen für das Fortwirken eines in Teilen der US-amerikanischen Gesellschaft geradezu traditionellen Antikatholizismus; der von Senatorin Feinstein bei der Anhörung geäußerte Satz "The dogma lives loudly within you" wurde geradezu sprichwörtlich (und in katholischen Kreisen zu einem beliebten T-Shirt-Aufdruck). Die Spekulationen über eine mögliche Berufung Barretts an den Obersten Gerichtshof - die dann aber doch nicht erfolgte - führten nun zu einem erneuten Hochkochen von Ressentiments im Zusammenhang mit ihrer Religionszugehörigkeit: Es kursierten Gerüchte, die Richterin sei nicht einfach nur katholisch, sondern gehöre einer "Sekte" innerhalb der katholischen Kirche an. Tatsächlich handelt es sich bei dieser sogenannten "Sekte" um eine in den 1970er-Jahren gegründete charismatisch-katholische Kommunität namens "People of Praise"; Berichte darüber, um was für eine Art von Gemeinschaft es sich dabei tatsächlich handelt, erschienen u.a. auf der Website der Catholic News Agency, im vom Jesuitenorden herausgegebenen America Magazine, aber auch im Wall Street Journal und sogar auf der ausgeprägt linksliberalen Nachrichtenwebsite Slate. In der Zusammenschau ergeben diese Berichte ein sehr interessantes Bild -- und erinnern mich daran, dass Bloggerkollegin Crescentia schon vor einiger Zeit einen Artikel über eine andere, ebenfalls in den 1970ern gegründete charismatische Kommunität, die Alleluia Community in Augusta, Georgia, veröffentlicht hat, auf den ich eigentlich schon längst mal hatte eingehen wollen. Anlass für Crescentias Artikel war nämlich der Umstand gewesen, dass die Alleluia Community in Rod Drehers "Benedikt-Option" zweimal beiläufig als Positivbeispiel für intensives christliches Gemeinschaftsleben erwähnt wird. Und just am Abend vor dem Erscheinen dieses Blogartikels war ich mal wieder beim Kreis junger Erwachsener des Pastoralen Raums Friedrichshain-Lichtenberg gewesen, wo es an diesem Abend eine Diskussion über den in Berlin recht präsenten Neokatechumenalen Weg gab. Irgendwie, so scheint mir, drehte es sich in all diesen Fällen immer wieder um dieselben Fragen. Was macht christliches Gemeinschaftsleben aus, wann und inwieweit ist es etwas Gutes, und ab welchem Grad an Intensität wird es creepy und fanatisch?

Symbolbild, Quelle: Pixabay 

Das ist jetzt eine Menge Holz. Wo fange ich an? Am besten vielleicht bei der Diskussion, bei der ich live dabei war. Der Kaplan, der den Kreis junger Erwachsener leitet, hatte ein sehr nettes Ehepaar eingeladen, um das vom Neokatechumenalen Weg betriebene Neuevangelisierungs-Modell "Missio ad gentes" vorzustellen. So wirklich anschaulich wurde dieses Projekt aus den Schilderungen der Eheleute für mein Empfinden allerdings nicht; sie betonten, Vieles sei noch dabei, sich zu entwickeln, und sie wüssten selbst noch nicht so genau, wo das Ganze hingeht. Grundsätzlich habe ich für solche Aussagen großes Verständnis und denke, eine solche Offenheit dafür, den Dingen ihren Lauf zu lassen, kann durchaus etwas Gutes sein; ein bisschen konkreter hätte ich's aber schon gern gehabt -- ähnlich wie auch Bloggerkollegin Crescentia in ihrem Artikel über die Alleluia Community wiederholt kritisiert, die Selbstaussagen der Gemeinschaftsmitglieder klängen oft vage und unkonkret. 

Die Diskussion im Kreis junger Erwachsener verlief denn auch zunächst eher unspektakulär -- bis ein Teilnehmer darauf verwies, dass es ja auch innerkirchlich durchaus kritische Stimmen über den Neokatechumenalen Weg gebe, und einige der in diesem Zusammenhang oft geäußerten Kritikpunkte in den Raum warf. Daraufhin sah es erst einmal so aus, als wolle ihm niemand auf seine Fragen Antwort geben -- und was das angeht, halte ich es mit Crescentia: "Es kommt mir seltsam vor, wenn jemand nicht für genauere Erklärungen zu seiner Organisation zu haben ist." Andererseits kann ich zum Teil auch nachvollziehen, dass selbst in der Sache eigentlich "neutrale" Anwesende die kritischen Anfragen des jungen Mannes, und insbesondere die Art und Weise, wie er diese vorbrachte, als etwas unverschämt empfanden. Jedenfalls schien daraus implizit die Auffassung zu sprechen, bei innerkirchlichen Gruppen, die ein intensiveres Glaubensleben führen als der Durchschnittskatholik von nebenan, könne es sich ja nur um gefährliche Fanatiker handeln. Solche Ansichten kennt man ja auch aus der Presse. Wobei ich es immer besonders interessant finde, was derartige Vorhaltungen ex negativo über das Bild vom "normalen" Katholiken aussagen. 

Besonders bezeichnend fand ich in diesem Zusammenhang die Frage, wie viel Zeit die Neokatechumenalen denn wohl so pro Woche für die Gemeinschaft aufwendeten. Die Antwort fiel wieder einmal vage aus, aber ich sagte ja gerade, dass es die Frage war, die ich bezeichnend fand. Die zielte nämlich erkennbar darauf ab, ob denn da noch genügend Zeit für andere Dinge übrig bliebe. Mit anderen Worten, aus der Art der Fragestellung schien die Auffassung zu sprechen, religiöses Gemeinschaftsleben könne oder dürfe nicht mehr sein als ein Hobby -- oder sogar (da es ja durchaus Leute gibt, für die ihr Hobby der wichtigste Bestandteil ihres täglichen Lebens ist, woran auch kaum jemand Anstoß nimmt) nur ein Nebenjob. Jedenfalls nicht das eigentliche Leben. Tatsächlich machten die Missio ad gentes-Leute aber auch gar nicht den Eindruck, dass ihr Gemeinschaftsprojekt ihr gesamtes tägliches Leben dominiert. Ich fand es geradezu ein bisschen enttäuschend, dass die Familien und Einzelpersonen, aus denen die Missio besteht, nicht zusammen wohnen, nicht einmal in der Nähe voneinander, sondern sich nur zwei- bis dreimal pro Woche zu Andachten, Gebets- und Gesprächszeiten treffen. Anderen erscheint das offenbar schon ganz schön viel; so unterschiedlich sind da die Maßstäbe. Aber okay, zugegeben: Man versuche mal, in einer stinknormalen Pfarrei einen Gemeindekreis zu etablieren, der sich einmal pro Woche trifft. Die meisten potentiell Interessierten werden sagen, das sei zu oft, man habe schließlich auch noch was anderes zu tun. Alle zwei Wochen ist schon anspruchsvoll, lieber nur einmal im Monat, aber auch das nur dann, wenn nicht erwartet wird, dass man jedesmal mit dabei ist. Ohne nun die jeweiligen individuellen Gründe dafür, dass jemand "auch noch was anderes zu tun hat", geringschätzen zu wollen, möchte ich schon behaupten, das sagt etwas über Prioritäten aus. Zugespitzt formuliert: Die Zeit, die man in und mit der Kirchengemeinde verbringt, wird als etwas wahrgenommen, was von der persönlichen Lebenszeit abgeht,  also nicht zum "eigentlichen Leben" gehört. In Anlehnung an den marxistischen Begriff der "entfremdeten Arbeit" könnte man hier von "entfremdeter Kirchlichkeit" sprechen -- aber das wäre vielleicht mal ein Thema für sich.

Nun laboriere ich allerdings nicht erst seit meiner Beschäftigung mit Rod Drehers "Benedikt-Option" an der Vorstellung, idealerweise sollte eine Kirchengemeinde ein Ort sein - "Ort" hier nicht nur im physischen Sinne verstanden, also nicht nur im Sinne bestimmter "institutionell" zur Kirchengemeinde gehörenden Räumlichkeiten -, den man nicht bloß zum Gottesdienst oder allenfalls noch zu bestimmten Veranstaltungen kultureller oder geselliger Art aufsucht, sondern der einen natürlichen Lebensmittelpunkt oder jedenfalls -schwerpunkt für ihre Mitglieder bildet. In diesem Sinne klingt manches von dem, was Crescentia in ihrem Artikel über die Alleluia Community berichtet, für mich ausgesprochen ansprechend und vorbildlich.
"Wir bilden Fahrgemeinschaften und treiben zusammen Sport. Wir helfen uns gegenseitig bei Geburten und bringen Essen vorbei, wenn das Baby geboren ist. Wir helfen den Älteren und kümmern uns um die Kranken. Wir betreiben eine Schule! Wir campen zusammen und konsumieren viel zu viel mexikanisches Essen", 
wird da ein Mitglied der Gemeinschaft zitiert, und weiter heißt es,
"die Kinder könnten den ganzen Tag draußen in der Nachbarschaft herumlaufen, seien überall willkommen und könnten in den Gärten mit den Kindern der Nachbarn spielen. Wenn ein größeres Stück Arbeit ansteht, z. B. die Renovierung eines Hauses, organisiert die Gemeinschaft 'work parties', bei denen Mitglieder zusammenkommen und anpacken."  
Trotzdem ist es natürlich legitim und wohl auch notwendig, zu hinterfragen, ob in dieser Art von "intentional communities" tatsächlich alles Gold ist, was glänzt. Dass gegen solche Gemeinschaften geradezu reflexartig der Vorwurf erhoben wird, es handle sich bei ihnen um "Sekten" oder sie hätten zumindest sektenartige Strukturen oder Tendenzen, schließt nicht aus, dass an diesem Vorwurf von Fall zu Fall etwas dran sein könnte. Solche Tendenzen können unterschiedliche Formen annehmen und unterschiedliche Aspekte des Gemeinschaftslebens betreffen; zwei Aspekte scheinen mir dabei besonders hervorhebenswert, und beide haben etwas mit dem Grad der Exklusivität der Gemeinschaft zu tun -- anders ausgedrückt: damit, wie entschieden sie sich nach außen hin abgrenzt. Konkret meine ich damit:

  • Wenn eine Gemeinschaft sehr stark auf eine für sie spezifische Form von Spiritualität konzentriert ist, kann das zu fundamentalistischen Verengungen in Glaubenslehre und -praxis und womöglich sogar zur Entwicklung von Irrlehren führen. 
  • Wenn die Mitglieder einer Gemeinschaft weitgehend isoliert von sozialen Kontakten außerhalb der Gemeinschaft sind, kann dies ein psychisch-emotionales (und evtl. zusätzlich auch noch materielles) Abhängigkeitsverhältnis erzeugen. 

In ihrem Artikel über die Alleluia Community führt Crescentia gewisse Indizien für beide genannten Tendenzen an; auch in der eingangs erwähnten Debatte um die People of Praise spielten diese Themen eine Rolle, und für den Neokatechumenalen Weg gilt ähnliches.  Nicht selten wird solche Kritik von "ausgestiegenen" früheren Mitgliedern der betreffenden Gemeinschaften geäußert. Ein weiteres Beispiel, auf das ich unlängst auf Twitter stieß, betrifft eine informelle katholische Community in Hyattsville, Maryland (einer Vorstadt von Washington, D.C.), die in der "Benedikt-Option" vergleichsweise ausführlich als Positivbeispiel gewürdigt wird. Hier wirkt der Kontrast zwischen der lobenden Schilderung im Buch und dem kritischen Insider-Erfahrungsbericht besonders ernüchternd. Aber wenn man sich für community building interessiert, dann kann man es sich eben nicht ersparen, sich auch mit möglichen Schattenseiten und Fehlentwicklungen auseinanderzusetzen. Das sieht nicht zuletzt auch Rod Dreher so, der in der "Benedikt-Option" wiederholt ausdrücklich vor potentiellen Fehlentwicklungen von Gemeinschaftsprojekten warnt. "Die wohl gefährlichste Versuchung für eng gestrickte Gemeinschaften", betont er etwa,
"ist der Drang, ihre Mitglieder übermäßig zu kontrollieren und allzu streng zu bevormunden, wenn sie von einem gewissen Reinheitsstandard abweichen. Es mag schwer zu entscheiden sein, wo und wann man in jedem einzelnen Fall die Grenze ziehen sollte, aber eine Gemeinschaft, die nicht über Flexibilität verfügt, wird zerbrechen – entweder sich selbst oder ihre Mitglieder." (S. 223)
Und weiter: 
"Gemeinschaften, die aus Furcht vor Unreinheit allzu fest in sich selbst eingehüllt sind, nehmen ihren Mitgliedern die Luft zum Atmen und würgen die Freude am gemeinschaftlichen Leben ab. Ideologie ist der Feind des freudigen Gemeinschaftslebens, und die zerstörerischste aller Ideologien ist der Glaube an die Möglichkeit, ein Utopia zu erschaffen. Solschenizyn sagte, die Trennlinie zwischen Gut und Böse verlaufe durch das Herz eines jeden Menschen. Diese grundlegende Wahrheit muss von jeder christlichen Gemeinschaft beherzigt werden, damit sie demütig und gesund bleibt." (S. 224)

Gesondert eingehen möchte ich noch - wenigstens kurz - auf einen Aspekt, den Bloggerkollegin Crescentia in der Formulierung zusammenfasst, die Alleluia Community falle "in die  'Aber ich könnte ja noch mehr tun'-Falle". An dieser Stelle hat Crescentia einen Link eingebettet, der zu einem anderen Artikel ihres Blogs führt; ich kann nur empfehlen, ihn zu lesen, denn er ist zum Verständnis von Crescentias Perspektive auf das Thema "radikales Christsein" ausgesprochen aufschlussreich. Gleich eingangs weist sie darauf hin, dass Skrupulosität ein wichtiges Thema ihres Blogs sei -- 
"also eine Zwangsstörung im religiösen Bereich, die sich bei Katholiken z. B. darin äußert, dass man bei jeder Gelegenheit fürchtet, eine (schwere) Sünde begangen zu haben [...]. Eine Schwierigkeit für Skrupulanten ist es immer, zu bewerten, ob eine Tat oder eine Unterlassung, eine Äußerung oder ein Gedanke, wirklich eine Sünde war". 
Bei der sogenannten "'Aber ich könnte ja noch mehr tun'-Falle" geht es nun konkret um die Angst vor dem Sündigen durch Unterlassung. Nach der Lektüre des Artikels leuchtet es mir durchaus ein, dass religiöse Bewegungen, denen es explizit darum zu tun ist, "mehr" zu tun als das, was die Kirche als verbindliche Pflichten für jeden Gläubigen definiert, für jemanden, der zu Skrupeln neigt, zur "Falle" werden können. Nämlich weil dieser Anspruch bei den betreffenden Personen dazu führen kann, sich verpflichtet zu fühlen, immer noch mehr und noch mehr zu tun, hinter diesem Anspruch aber zwangsläufig zurückzubleiben und sich daher permanent schuldig zu fühlen. Das ist eine ernstzunehmende Gefahr, die jemand, der selbst nicht gerade zur Skrupulosität geneigt ist, leicht unterschätzen kann. Da ist also eine große Sensibilität für die spirituellen und emotionalen Bedürfnisse jedes Einzelnen gefragt. 

Erschöpfend werde ich dieses Thema hier nicht behandeln können, daher mache ich erst mal einen Punkt -- jedoch nicht ohne abschließend noch einmal auf die "Benedikt-Option" zu verweisen, in der Chris Currie, einer der Initiatoren der erwähnten Gemeinschaft in Hyattsville, mit der Aussage zitiert wird: 
"Nur Gott allein kann all die verschiedenen Faktoren überblicken, die in Deiner Gemeinschaft zu berücksichtigen sind. Du wirst nie in der Lage sein, sie alle zu beeinflussen, und es wäre schädlich, das zu versuchen […]. Sei einfach offen für das Wirken des Heiligen Geistes in Deiner Gemeinschaft, sodass Leute, die etwas beitragen können, sich frei und ermutigt fühlen, es zu tun. […] Wir müssen begreifen, dass es nicht in erster Linie unsere eigenen Vorstellungen sind, die den Dingen ihre Richtung geben. Letztendlich ist Gott der Architekt, und unsere Aufgabe ist es vor allem, mit der Gnade zu kooperieren. Letztendlich werden wir auf diesem Weg von Gott geleitet, daher müssen wir unsere eigene Fähigkeit, die Dinge zu gestalten, mit Demut betrachten." (S. 225f.)