Eigentlich hätte ich heute gern etwas Nettes, Heiteres gebloggt. Schon um zu dokumentieren, dass ich durchaus nicht immer nur "polemisch" sein will, kann und muss. Aber, um mal Bertolt Brecht zu zitieren: Die Verhältnisse, sie sind nicht so.
Wie der eine oder andere Stammleser meines Blogs wissen wird, hat die schon vor zwei Jahren (und im aktuellen Wahlkampf erneut) vertretene Forderung der Piratenpartei, "Religion [zu] privatisieren" (d.h. aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen), erheblich dazu beigetragen, dass ich unter die Blogger gegangen bin. Da fühle ich mich nun aus aktuellem Anlass verpflichtet, darauf einzugehen, welche Fortschritte die Piraten mit der Umsetzung dieser Forderung machen - zumindest im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, in dem ich wohne und, horribile dictu, zur Kirche gehe.
Bei der Wahl im Herbst 2011 errangen die Piraten fünf der 51 Sitze in der Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg; das sieht zwar nach nicht sehr viel aus, sichert ihnen in diesem Bezirk aber immerhin eine so einflussreiche Position wie nirgendwo sonst. Da liegt es auf der Hand, dass Friedrichshain-Kreuzberg quasi zu einem Vorposten der Schönen Neuen Piratenwelt avanciert - dazu könnten einem tolle Nazivergleiche einfallen, aber zu diesem Mittel will ich mal lieber nicht greifen (obwohl ich mich natürlich bequem darauf berufen könnte, dass die Piraten schließlich selbst damit angefangen haben, sich mit den Nazis zu vergleichen). Jedenfalls entsteht der Eindruck, dass die Piraten die hiesige BVV als Experimentierfeld für ihre teils wirren, teils unverhohlen totalitären politischen Ideen nutzen und hier einfach mal austesten, wie weit sie damit kommen. Und siehe da, sie kommen erstaunlich weit.
Einen ersten Erfolg landeten sie mit dem Beschluss, die öffentlichen Gebäude des Bezirks mit Unisex-Toiletten auszustatten, um so ein Zeichen gegen das binäre Geschlechtermodell zu setzen. Das wurde im Allgemeinen wohl eher belächelt. Nun gut, Unisex-Toiletten tun ja schließlich niemandem weh. Nun aber wurde ein weiterer durch einen Antrag der Piraten initiierter Beschluss der BVV Friedrichshain-Kreuzberg bekannt: Die Bezirksmedaille, mit der einmal jährlich Einzelpersonen oder Gruppen für ihr ehrenamtliches Engagement im sozialen oder kulturellen Bereich geehrt werden, soll nicht (mehr) an kirchlich bzw. religiös engagierte Personen vergeben werden. In der Antragsbegründung hieß es: "Religion passt nicht zu Friedrichshain-Kreuzberg."
Da reibt man sich die Augen: dass so etwas möglich ist, nicht in einer totalitären Diktatur, sondern in der Mitte der deutschen Bundeshauptstadt. Tatsächlich fasste die BVV Friedrichshain-Kreuzberg diesen Beschluss bereits im Februar, aber erst jetzt drang er an die Öffentlichkeit. Was soll man daraus schließen? Wir diese Ächtung religiösen Engagements als Sommerloch-Thema wahrgenommen, oder hat es etwas mit der bevorstehenden Bundestagswahl zu tun?
Publik gemacht wurde der Fall am vergangenen Montag in Gunnar Schupelius' Kolumne "Mein Ärger" in der B.Z.; ich muss gestehen, das ärgert mich. Die B.Z. ist in meinen Augen ein verwerfliches, schändliches Blatt, und gerade Gunnar Schupelius' "(ge)rechter Zorn" fordert bei mir des Öfteren linken Zorn heraus. Aber noch weit ärgerlicher, als dass ausgerechnet die B.Z. über diesen Skandal berichtete, finde ich es, dass (zunächst) NUR die B.Z. es tat. Da muss man ja schon fast dankbar sein, dass es überhaupt jemand getan hat. Obwohl ich der B.Z. wirklich, wirklich nicht dankbar sein möchte.
Immerhin, seit dem Erscheinen von Schupelius' Beitrag hat die Affäre erhebliche Kreise gezogen. Das Erzbistum Berlin griff das Thema auf seiner Facebook-Seite auf, mehrere katholische Blogger bezogen Stellung (siehe z.B. hier, hier, hier und hier), die Nachrichtenportale kath.net, evangelisch.de und idea.de berichteten, und auch bei Radio Vatikan ist der Fall inzwischen angekommen.
Es fehlt allerdings nicht an Stimmen, die meinen, der BVV-Beschluss sei doch gar nicht so schlimm: Wer sich aus religiöser Überzeugung heraus ehrenamtlich engagiere, dem könne an einer Ehrung durch den Bezirk doch nur wenig gelegen sein. Dieser Einwand hinkt allerdings auf beiden Beinen. Schließlich sollte man doch annehmen, dass auch Menschen, die aus nicht-religiöser Überzeugung ehrenamtlich tätig sind, damit nicht in erster Linie das Ziel verfolgen, die Bezirksmedaille von Friedrichshain-Kreuzberg zu bekommen. Mit dieser Argumentation könnte man die Auszeichnung also gleich ganz abschaffen. - Im Ernst: Es sollte eigentlich auf der Hand liegen, dass eine Ehrung der hier in Frage stehenden Art nicht in erster Linie dazu dient, den Geehrten für sein Handeln zu "belohnen", sondern dazu, ihn der Öffentlichkeit gegenüber als Vorbild herauszustellen. Somit macht der BVV-Beschluss deutlich, dass religiöse Menschen in Friedrichshain-Kreuzberg keine Vorbilder sein (dürfen) sollen. Die Antragsbegründung "Religion passt nicht zu Friedrichshain-Kreuzberg" macht wohl hinreichend deutlich, dass es hier um mehr geht als um eine Medaille. Die diversen vor Ort vertretenen Religionsgemeinschaften gänzlich aus dem Bezirk zu vertreiben, dazu reichen weder der Einfluss der Piraten noch die Befugnisse der BVV insgesamt aus. Was man jedoch tun kann, ist, religiös engagierten Menschen zu verstehen zu geben, dass sie unerwünscht sind. Mit kleinen, aber beharrlichen Nadelstichen. Zu denen auch dieser hier gehört:
Wie ebenfalls Gunnar Schupelius in seiner oben angeführten Kolumne zu berichten weiß,hat die BVV Friedrichshain-Kreuzberg beschlossen, dass "Festveranstaltungen auf der Straße [...] keine religionsnahen Titel
mehr tragen" dürfen: "Weihnachtsfeste müssen künftig als 'Winterfeste' und der
Ramadan, sofern er in der warmen Jahreszeit liegt, als 'Sommerfest'
gemeldet werden." Es scheint, als feiere die Jahresend-Flügelfigur fröhliche Urständ. Und das in einer Zeit, in der der religiöse Gehalt von Weihnachten wohl ohnehin immer weniger Menschen bewusst sein dürfte. Dieser abstruse Beschluss lässt die Religionsfeindlichkeit der Bezirkspolitiker beinahe als panischen Schrecken vor allem Religiösen erscheinen - und das hat ja schon fast wieder was Ermutigendes.
Derweil zeigt die in den letzten Tagen um sich greifende Empörung über den Beschluss, religiös engagierten Menschen die Bezirksmedaille zu verweigern, Wirkung: Vertreter verschiedener am Zustandekommen des Beschlusses beteiligter BVV-Fraktionen beeilen sich plötzlich zu versichern, SO sei das ja gar nicht gemeint gewesen: Selbstverständlich könnten weiterhin auch religiöse Menschen mit der Medaille ausgezeichnet werden, sofern ihr ehrenamtliches Engagement ansonsten den Vergabekriterien entspreche. Eine entsprechende Erklärung der Vorsteherin der Bezirksverordnetenversammlung, Kristine Jaath (Grüne), erschien auf der Internetpräsenz des Bezirks; und selbst die Fraktionsvorsitzende der Piratenpartei, Jessica Zinn, erklärte: "Menschen, die sich im Rahmen der Kirche ehrenamtlich
engagieren, können weiter geehrt werden. Wir fanden nur, niemand sollte
geehrt werden, nur weil er zum Beispiel evangelisch ist."
-- Also, Entschuldigung, aber da lachen doch die Hühner. Jemandem eine Medaille verleihen, "nur weil er zum Beispiel evangelisch ist" - wer käme denn auf so eine Idee? Das wäre ja fast so, als würde man jemandem einen Umweltpreis verleihen, weil er seinen Müll trennt. Wobei, das könnte ich mir sogar noch eher vorstellen. --
Aber sei dem, wie es sei: Der Eindruck, dass Religion in Friedrichshain-Kreuzberg alles in allem unerwünscht ist, bleibt bestehen, auch wenn Frau Jaath, Frau Zinn und andere plötzlich Kreide fressen. Ginge es hier nur um die Piraten, könnte man sich damit trösten, dass der Höhenflug dieser Partei offenkundig vorbei ist und das Piratenproblem sich innerhalb der nächsten zwei, drei Jahre von selbst erledigen dürfte. Aber das antireligiöse Potential in der Bevölkerung ist damit ja nicht einfach weg. Und dafür, dass Ressentiments gegen Religion(en) in urbanen Zentren wie Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg politisch mehrheitsfähig scheinen, haben in diesem konkreten Fall ja nicht nur die fünf Piraten in der BVV gesorgt, sondern auch die Abgeordneten der Grünen, der Linken und, man höre und staune, der SPD. Vielleicht hat es erst der Piraten als Provokateure bedurft, damit die Vertreter der etablierteren Parteien sich zu einem solchen Schritt entschließen konnten. Aber solche Provokateure werden sich immer finden, ob sie nun orangefarbene T-Shirts und Nerd-Brillen tragen oder irgend etwas Anderes. Ich möchte behaupten: Die Religionsgemeinschaften in den jungen, hippen Zentren unserer Großstädte werden sich warm anziehen müssen.