Kurz vor Weihnachten erschien im Berliner Tagesspiegel eine Kolumne von Harald Martenstein mit dem provozierenden Titel "Sieg des Christentums". Nun ja, Martenstein - neben Jan Fleischhauer, Matthias Matussek und Ulf Poschardt einer der führenden Quoten-Konservativen der deutschen Kolumnistenzunft - traut sich ja auch sonst so allerlei. Schon 2013 beispielsweise wagte er es, mit einem Beitrag im ZEIT-Magazin der alleinseligmachenden Gender-Heilslehre zu widersprechen. Im selben Jahr und am selben Ort mokierte er sich über Transgender-Toiletten, woraufhin sein Kollege Stefan Niggemeier ihm attestierte, er, Martenstein, schreibe "stellvertretend für die sich für schweigend haltende Mehrheit weißer, heterosexueller, alter Männer, die die Welt nicht mehr verstehen"; er schreibe gegen den "Machtverlust" dieser Gruppe an und benutze "dabei regelmäßig die stärkste stumpfe Waffe, die ihm zur Verfügung steht: Ignoranz."
Und nun provoziert dieser selbe Martenstein also erneut, indem er etwas Positives über das Christentum schreibt. Ausgerechnet zu Weihnachten, wo es doch eigentlich ein ehernes Gesetz unserer Leitmedien (angefangen beim SPIEGEL) ist, das man just in dieser festlichen Zeit das Christentum nach Kräften schmähen müsse.
Und was genau schreibt er da, der Martenstein? Im Wesentlichen, dass das Christentum, ideengeschichtlich betrachtet, der menschlichen Kultur und Zivilisation manches Gute beschert habe, das man auch dann anzuerkennen und wertzuschätzen in der Lage sein müsse, wenn man selbst nicht gläubig sei. That's it, basically. Die christliche Heilsbotschaft, so Martenstein abschließend wörtlich, habe "nicht nur Gutes gebracht, aber doch mehr Gutes als Schlechtes".
Dass man mit einer derart harmlosen Aussage überhaupt irgendwelches Aufsehen erregen kann, scheint mir schon eine ganze Menge auszusagen. Wirklich überrascht war ich aber, dass die Kolumne - nachdem BILD-Journalist Ralf Schuler sie aus der Printausgabe des Tagesspiegels abfotografiert und in dieser Form auf Facebook und Twitter geteilt hatte - von zahlreichen engagierten konservativen Christen in meinem virtuellen Umfeld in den höchsten Tönen gelobt und begeistert weiterverbreitet wurde. Sind wir schon so weit?, dachte ich unwirsch. Lechzen wir so sehr nach Anerkennung seitens der säkularen Gesellschaft, dass Aussagen wie die oben zitierte uns in Ekstase versetzen?
Ein anderes Zitat aus Martensteins Kolumne wirft ein noch schärferes Licht auf das, worauf ich hier hinaus will: "[D]ie Idee der Menschenrechte [...] ist das, was vom Christentum übrig bleibt, wenn man die Religion abzieht." Ah ja. So so. Na, wenn das so ist, dann brauchen wir das Christentum als solches ja jetzt eigentlich nicht mehr, oder? Vermutlich hat Harald Martenstein das so nicht gemeint; aber darauf läuft es hinaus. Betrachtet man das Christentum lediglich unter einem funktionalistischen Aspekt - was hat es der Menschheit gebracht? -, dann kommt man ganz leicht zu dem Ergebnis, dass das, was am Christentum Religion, Glaube ist, in unseren heutigen aufgeklärten Zeiten eigentlich obsolet oder bestenfalls noch dekoratives Beiwerk ist. Wie gläubige Christen dazu Beifall klatschen können, erschließt sich mir nicht. Genauer gesagt, ich habe durchaus eine Erklärung dafür - sie gefällt mir nur nicht. Im Grunde bedient Martensteins Kolumne eine Haltung, die man als "Kulturchristentum" bezeichnen kann: die Haltung von Menschen, die selbst nicht (mehr) unbedingt gläubig sind, aber dennoch eine gewisse Wertschätzung für das kulturelle "Erbe" des Christentums bewahrt haben (und deshalb vielleicht auch gelegentlich - zum Beispiel zu Weihnachten - in die Kirche gehen). Dass dieses "Kulturchristentum" sich in unserer Gesellschaft offenkundig immer noch einer gewissen Verbreitung erfreut, wird von manchen Christen, die sich mit der schwindenden gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz ihres Glaubens schwer tun, anscheinend als Hoffnungszeichen aufgefasst. Ich halte das für falsch. Genauer gesagt, ich betrachte die Auffassung, man könne (oder müsse) gewisse Restbestände des Christentums auch ohne den christlichen Glauben bewahren, eher als ein Problem, um nicht zu sagen: eine Gefahr.
In diesem Zusammenhang fällt mir eine aktuelle Allensbach-Umfrage ein, derzufolge der christliche Glaube in Deutschland zwar rapide im Schwinden begriffen ist, gleichzeitig aber die Auffassung, Deutschland sei "stark" oder "sehr stark" "durch das Christentum und christliche Werte geprägt", in jüngster Zeit zugenommen hat. -- Wenn ich mich da an die PEGIDA-Demonstranten erinnere, die vor gut drei Jahren (oder wann?) meinten, das christliche Abendland dadurch verteidigen zu können oder zu müssen, dass sie im Advent Weihnachtslieder singen, habe ich den Verdacht, dass für diesen prozentualen Zuwachs zumindest teilweise solche Zeitgenossen verantwortlich sind, die vom Christentum überhaupt keine Ahnung haben, für die "Deutschland ist ein christlich geprägtes Land" aber eine Chiffre für "Der Islam gehört nicht zu Deutschland" ist. Aber auch davon abgesehen möchte ich behaupten - und mir ist bewusst, dass dies nur eine Behauptung ist, für die ich keine Belege anführen kann und deren Plausibilität allein im Auge des Betrachters liegt -, dass die Aussage "Wir leben in einem von christlichen Werten geprägten Land" ein klassisches Beispiel für eine Aussage ist, die sich selbst Lügen straft. Wer so etwas sagt, drückt damit die Auffassung aus, dass es so sein sollte, aber wenn es tatsächlich so wäre, hätte er gar keine Veranlassung, es zu sagen.
Die besagte Allensbach-Umfrage wurde übrigens auch in der Predigt der Christmette angesprochen, die ich am diesjährigen Heiligen Abend mit meiner Frau und meiner kleinen Tochter besucht habe. Meine zwei Monate alte Tochter hat die erste Christmette ihres Lebens zum größten Teil verschlafen, darunter auch die Predigt. Darum beneide ich sie ein bisschen. -- Dreh- und Angelpunkt der Predigt war eine andere Umfrage: eine des Instituts INSA, die sich darum drehte, was für Leute am Heiligabend einen Gottesdienst zu besuchen planten. Besonders hob der Pfarrer das Ergebnis hervor, dass Leute, die am Heiligabend in die Kirche gehen, überdurchschnittlich politisch interessiert seien. Das sei gut und folgerichtig, meinte der Pfarrer: Politisches und soziales Engagement sei wichtig für Christen, und es sei wichtig. dass "christliche Werte" in Politik und Gesellschaft zur Geltung kämen. Nicht recht deutlich wurde aus der Predigt, was für "christliche Werte" das im Einzelnen sein sollten - abgesehen von einem vagen "Seid nett zueinander".
Wenn die Essenz des Christlichen in solcher Weise simplifiziert wird, denke ich mir immer, Nicht- und Andersgläubige dürften zu Recht beleidigt sein, für was für verkommene Kreaturen man sie demnach wohl halten müsse. Das eigentliche Problem, das ich mit der Rede von "christlichen Werten in Politik und Gesellschaft" habe, ist jedoch: Die Erfahrung zeigt, dass "christliche Werte", sobald sie aus ihrem Begründungszusammenhang im christlichen Glauben herausgelöst werden, praktisch nach Belieben umgedeutet und sogar ins Gegenteil ihrer eigentlichen Bedeutung verkehrt werden können. Dieser Prozess ist in der westlichen Welt im Prinzip seit der Aufklärung im Gange; das hat Chesterton schon vor über 100 Jahren sehr scharfsichtig dargestellt, und der Philosoph Alasdair MacIntyre beschreibt es in "Der Verlust der Tugend" (1987) ähnlich. Ganz schlicht ausgedrückt: "Christliche Werte" sind eine Abstraktion; die Kirche aber hat keine Abstraktionen zu verkünden, sondern den ganz konkreten Christus.
Um aber auch mal etwas Positives zu sagen: Das - von einem anderen Geistlichen zelebrierte - Hochamt am Weihnachtstag war, abgesehen von einigen Längen in der Predigt und der bizarren Entgleisung, zum Agnus Dei den Kirchentagsschlager "Wenn Menschen sich verschätzen..." zu spielen, sehr schön. Später am Tag machte mich meine Twitter-App auf einen Tweet des eingangs schon am Rande erwähnten Ulf Poschardt aufmerksam:
Um aber auch mal etwas Positives zu sagen: Das - von einem anderen Geistlichen zelebrierte - Hochamt am Weihnachtstag war, abgesehen von einigen Längen in der Predigt und der bizarren Entgleisung, zum Agnus Dei den Kirchentagsschlager "Wenn Menschen sich verschätzen..." zu spielen, sehr schön. Später am Tag machte mich meine Twitter-App auf einen Tweet des eingangs schon am Rande erwähnten Ulf Poschardt aufmerksam:
"Wer soll eigentlich noch freiwillig in eine Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den #Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht?"
Nun, die Predigt in "meiner" Christmette war zwar durchaus nicht so eindeutig links oder grün orientiert gewesen, aber trotzdem konnte ich mit Poschardts Aussage etwas anfangen. Allerdings warfen die Reaktionen, die er für diesen Tweet erntete - soweit ich sie zur Kenntnis genommen habe -, (wieder einmal) kein besonders gutes Licht auf den Geisteszustand des "Kommentariats". Zunächst einmal zeigte sich, dass die Stellungnahmen sich ziemlich strikt entlang politischer Gräben sortierten: Von "rechts" kam Beifall, von "links" Hohn und Häme. Sodann stellte ich fest, dass ein Großteil der zustimmenden Kommentare Poschardts Äußerung offenbar auf die Positionierung der Kirchen zur Flüchtlingspolitik bezogen. Ob er sie selbst so gemeint hatte, sei mal dahingestellt und ist mir im Grunde auch egal; mir jedenfalls geht es um diesen Punkt gar nicht. (Das mögen bitte auch diejenigen Leser meines Artikels beherzigen, die mit einem Kommentar schwanger gehen.) Die Frage, wie auf politischer Ebene mit der Flüchtlingssituation umzugehen ist, ist zweifellos komplexer und vielschichtiger, als es in der öffentlichen Debatte darüber vielfach den Anschein hat, und es mag schon sein, dass manche Kirchenvertreter dieser Komplexität in ihren Stellungnahmen nicht gerecht werden. Wenn Priester und Bischöfe jedoch die Flüchtlingsproblematik zum Anlass nehmen, darauf hinzuweisen, dass Fremde aufnehmen eines jener Werke der Barmherzigkeit ist, die Jesus Christus explizit von Seinen Jüngern verlangt, und dass wir als Christen dazu aufgerufen sind, in den Ärmsten unserer Mitmenschen Christus zu erkennen, dann ist das grundsätzlich völlig korrekt. Das ist aber im Kern keine politische Aussage, sondern eine, die sich an jeden einzelnen Christen persönlich richtet.
Demgegenüber geht der Tenor der negativen Reaktionen auf Poschardts Tweet überwiegend dahin, wenn Poschardt in einem christlichen Gottesdienst das Gefühl bekomme, er wäre bei einer Veranstaltung der Jusos gelandet, dann beweise das doch nur, dass christliche Werte heutzutage bei der politischen Linken eher zu Hause seien als weiter rechts im politischen Spektrum. Ich gehe davon aus, dass die Leute das ernst meinen. Und das sagt nicht nur etwas darüber aus, was sie sich unter christlichen Werten vorstellen (was ja in dem einen oder anderen Fall diskutabel sein mag), sondern mehr noch darüber, dass sie überhaupt nicht auf die Idee kommen, eine Predigt in einem christlichen Gottesdienst könnte eine prinzipiell andere Aufgabe haben als eine Politikerrede. Möglicherweise liegt es zu einem gewissen Grad in der Natur einer demokratischen Gesellschaft, dass die Leute, weil ihnen beigebracht wird, alles sei irgendwie politisch, daraus den Umkehrschluss ziehen, Politik sei Alles. Die Vorstellung, im christlichen Gottesdienst könne es um Größeres und, horribile dictu, Wichtigeres gehen als um Politik, ist offenkundig vielen Menschen, sogar innerhalb der Kirchen, völlig fremd - was darauf schließen lässt, dass sie überhaupt keine Vorstellung davon haben, was dieses Größere und Wichtigere sein könnte. Exemplarisch deutlich wird das in einem Tweet folgenden Wortlauts:
"Interessant an der Geschichte mit dem #PoschardtEvangelium ist m.E., wie selbstverständlich er den Weihnachsgottesdienst anscheinend als unpolitische Besinnlichkeitsdiensleistung betrachtet hat. Die Ware hat nicht den Ansprüchen genügt, nu wird gemeckert."
Wenn ein Gottesdienst nicht politisch ist - so wird hier offenkundig unterstellt -, dann ist er bloß "Besinnungsdienstleistung" (und somit irrelevant). Tertium non datur. Priester, die in ihren Predigten lieber über Politik reden als über die Basics des christlichen Glaubens, tragen zweifellos zu diesem Missverständnis bei. -- Sicherlich bietet das Weihnachtsevangelium nach Lukas einigen Stoff, um in der Predigt am Heiligen Abend den Bogen von der Geburt Jesu im Stall von Betlehem zu einer "Take-Home-Message" für die Messbesucher zu schlagen, die sie etwas über Nächstenliebe, Werke der Barmherzigkeit und "Friede auf Erden" lehrt. Das kann man machen, und man KANN es sogar GUT machen (wenn man es kann). Aber in erster Linie ist das Festgeheimnis von Weihnachten - die Menschwerdung Gottes in der Geburt Jesu Christi - kein Symbol für irgendetwas, sondern eine Realität; und zwar eine mit existentieller Bedeutung für die ganze Menschheit, ja für die ganze Schöpfung. Wenn unsere lieben Geistlichen DAS nicht rüberbringen, dann sollen sie ihren Laden bitte dichtmachen. Dann können die Leute nächstes Jahr Heiligabend im Einkaufszentrum feiern, mit einem Zelebranten im Weihnachtsmannkostüm. Why not? Der Weihnachtsmann steht schließlich auch für Werte. Man frage nur mal die Einzelhandelsverbände.