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Dienstag, 26. Dezember 2017

Hör mir auf mit christlichen Werten!

...oder: Was Martenstein, Poschardt und meinen Pfarrer verbindet bzw. trennt 

Kurz vor Weihnachten erschien im Berliner Tagesspiegel eine Kolumne von Harald Martenstein mit dem provozierenden Titel "Sieg des Christentums". Nun ja, Martenstein - neben Jan Fleischhauer, Matthias Matussek und Ulf Poschardt einer der führenden Quoten-Konservativen der deutschen Kolumnistenzunft - traut sich ja auch sonst so allerlei. Schon 2013 beispielsweise wagte er es, mit einem Beitrag im ZEIT-Magazin der alleinseligmachenden Gender-Heilslehre zu widersprechen. Im selben Jahr und am selben Ort mokierte er sich über Transgender-Toiletten, woraufhin sein Kollege  Stefan Niggemeier ihm attestierte, er, Martenstein, schreibe "stellvertretend für die sich für schweigend haltende Mehrheit weißer, heterosexueller, alter Männer, die die Welt nicht mehr verstehen"; er schreibe gegen den "Machtverlust" dieser Gruppe an und benutze "dabei regelmäßig die stärkste stumpfe Waffe, die ihm zur Verfügung steht: Ignoranz." 

Und nun provoziert dieser selbe Martenstein also erneut, indem er etwas Positives über das Christentum schreibt. Ausgerechnet zu Weihnachten, wo es doch eigentlich ein ehernes Gesetz unserer Leitmedien (angefangen beim SPIEGEL) ist, das man just in dieser festlichen Zeit das Christentum nach Kräften schmähen müsse. 

Und was genau schreibt er da, der Martenstein? Im Wesentlichen, dass das Christentum, ideengeschichtlich betrachtet, der menschlichen Kultur und Zivilisation manches Gute beschert habe, das man auch dann anzuerkennen und wertzuschätzen in der Lage sein müsse, wenn man selbst nicht gläubig sei. That's it, basically. Die christliche Heilsbotschaft, so Martenstein abschließend wörtlich, habe "nicht nur Gutes gebracht, aber doch mehr Gutes als Schlechtes". 

Dass man mit einer derart harmlosen Aussage überhaupt irgendwelches Aufsehen erregen kann, scheint mir schon eine ganze Menge auszusagen. Wirklich überrascht war ich aber, dass die Kolumne - nachdem BILD-Journalist Ralf Schuler sie aus der Printausgabe des Tagesspiegels abfotografiert und in dieser Form auf Facebook und Twitter geteilt hatte - von zahlreichen engagierten konservativen Christen in meinem virtuellen Umfeld in den höchsten Tönen gelobt und begeistert weiterverbreitet wurde. Sind wir schon so weit?, dachte ich unwirsch. Lechzen wir so sehr nach Anerkennung seitens der säkularen Gesellschaft, dass Aussagen wie die oben zitierte uns in Ekstase versetzen? 

Ein anderes Zitat aus Martensteins Kolumne wirft ein noch schärferes Licht auf das, worauf ich hier hinaus will: "[D]ie Idee der Menschenrechte [...] ist das, was vom Christentum übrig bleibt, wenn man die Religion abzieht." Ah ja. So so. Na, wenn das so ist, dann brauchen wir das Christentum als solches ja jetzt eigentlich nicht mehr, oder? Vermutlich hat Harald Martenstein das so nicht gemeint; aber darauf läuft es hinaus. Betrachtet man das Christentum lediglich unter einem funktionalistischen Aspekt - was hat es der Menschheit gebracht? -, dann kommt man ganz leicht zu dem Ergebnis, dass das, was am Christentum Religion, Glaube ist, in unseren heutigen aufgeklärten Zeiten eigentlich obsolet oder bestenfalls noch dekoratives Beiwerk ist. Wie gläubige Christen dazu Beifall klatschen können, erschließt sich mir nicht. Genauer gesagt, ich habe durchaus eine Erklärung dafür - sie gefällt mir nur nicht. Im Grunde bedient Martensteins Kolumne eine Haltung, die man als "Kulturchristentum" bezeichnen kann: die Haltung von Menschen, die selbst nicht (mehr) unbedingt gläubig sind, aber dennoch eine gewisse Wertschätzung für das kulturelle "Erbe" des Christentums bewahrt haben (und deshalb vielleicht auch gelegentlich - zum Beispiel zu Weihnachten - in die Kirche gehen). Dass dieses "Kulturchristentum" sich in unserer Gesellschaft offenkundig immer noch einer gewissen Verbreitung erfreut, wird von manchen Christen, die sich mit der schwindenden gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz ihres Glaubens schwer tun, anscheinend als Hoffnungszeichen aufgefasst. Ich halte das für falsch. Genauer gesagt, ich betrachte die Auffassung, man könne (oder müsse) gewisse Restbestände des Christentums auch ohne den christlichen Glauben bewahren, eher als ein Problem, um nicht zu sagen: eine Gefahr

In diesem Zusammenhang fällt mir eine aktuelle Allensbach-Umfrage ein, derzufolge der christliche Glaube in Deutschland zwar rapide im Schwinden begriffen ist, gleichzeitig aber die Auffassung, Deutschland sei "stark" oder "sehr stark" "durch das Christentum und christliche Werte geprägt", in jüngster Zeit zugenommen hat. -- Wenn ich mich da an die PEGIDA-Demonstranten erinnere, die vor gut drei Jahren (oder wann?) meinten, das christliche Abendland dadurch verteidigen zu können oder zu müssen, dass sie im Advent Weihnachtslieder singen, habe ich den Verdacht, dass für diesen prozentualen Zuwachs zumindest teilweise solche Zeitgenossen verantwortlich sind, die vom Christentum überhaupt keine Ahnung haben, für die "Deutschland ist ein christlich geprägtes Land" aber eine Chiffre für "Der Islam gehört nicht zu Deutschland" ist. Aber auch davon abgesehen möchte ich behaupten - und mir ist bewusst, dass dies nur eine Behauptung ist, für die ich keine Belege anführen kann und deren Plausibilität allein im Auge des Betrachters liegt -, dass die Aussage "Wir leben in einem von christlichen Werten geprägten Land" ein klassisches Beispiel für eine Aussage ist, die sich selbst Lügen straft. Wer so etwas sagt, drückt damit die Auffassung aus, dass es so sein sollte, aber wenn es tatsächlich so wäre, hätte er gar keine Veranlassung, es zu sagen. 



Die besagte Allensbach-Umfrage wurde übrigens auch in der Predigt der Christmette angesprochen, die ich am diesjährigen Heiligen Abend mit meiner Frau und meiner kleinen Tochter besucht habe. Meine zwei Monate alte Tochter hat die erste Christmette ihres Lebens zum größten Teil verschlafen, darunter auch die Predigt. Darum beneide ich sie ein bisschen. -- Dreh- und Angelpunkt der Predigt war eine andere Umfrage: eine des Instituts INSA, die sich darum drehte, was für Leute am Heiligabend einen Gottesdienst zu besuchen planten. Besonders hob der Pfarrer das Ergebnis hervor, dass Leute, die am Heiligabend in die Kirche gehen, überdurchschnittlich politisch interessiert seien. Das sei gut und folgerichtig, meinte der Pfarrer: Politisches und soziales Engagement sei wichtig für Christen, und es sei wichtig. dass "christliche Werte" in Politik und Gesellschaft zur Geltung kämen. Nicht recht deutlich wurde aus der Predigt, was für "christliche Werte" das im Einzelnen sein sollten - abgesehen von einem vagen "Seid nett zueinander"

Wenn die Essenz des Christlichen in solcher Weise simplifiziert wird, denke ich mir immer, Nicht- und Andersgläubige dürften zu Recht beleidigt sein, für was für verkommene Kreaturen man sie demnach wohl halten müsse. Das eigentliche Problem, das ich mit der Rede von "christlichen Werten in Politik und Gesellschaft" habe, ist jedoch: Die Erfahrung zeigt, dass "christliche Werte", sobald sie aus ihrem Begründungszusammenhang im christlichen Glauben herausgelöst werden, praktisch nach Belieben umgedeutet und sogar ins Gegenteil ihrer eigentlichen Bedeutung verkehrt werden können. Dieser Prozess ist in der westlichen Welt im Prinzip seit der Aufklärung im Gange; das hat Chesterton schon vor über 100 Jahren sehr scharfsichtig dargestellt, und der Philosoph Alasdair MacIntyre beschreibt es in "Der Verlust der Tugend" (1987) ähnlich. Ganz schlicht ausgedrückt: "Christliche Werte" sind eine Abstraktion; die Kirche aber hat keine Abstraktionen zu verkünden, sondern den ganz konkreten Christus.

Um aber auch mal etwas Positives zu sagen: Das - von einem anderen Geistlichen zelebrierte - Hochamt am Weihnachtstag war, abgesehen von einigen Längen in der Predigt und der bizarren Entgleisung, zum Agnus Dei den Kirchentagsschlager "Wenn Menschen sich verschätzen..." zu spielen, sehr schön. Später am Tag machte mich meine Twitter-App auf einen Tweet des eingangs schon am Rande erwähnten Ulf Poschardt aufmerksam:
"Wer soll eigentlich noch freiwillig in eine Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den #Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht?" 
Nun, die Predigt in "meiner" Christmette war zwar durchaus nicht so eindeutig links oder grün orientiert gewesen, aber trotzdem konnte ich mit Poschardts Aussage etwas anfangen. Allerdings warfen die Reaktionen, die er für diesen Tweet erntete - soweit ich sie zur Kenntnis genommen habe -, (wieder einmal) kein besonders gutes Licht auf den Geisteszustand des "Kommentariats". Zunächst einmal zeigte sich, dass die Stellungnahmen sich ziemlich strikt entlang politischer Gräben sortierten: Von "rechts" kam Beifall, von "links" Hohn und Häme. Sodann stellte ich fest, dass ein Großteil der zustimmenden Kommentare Poschardts Äußerung offenbar auf die Positionierung der Kirchen zur Flüchtlingspolitik bezogen. Ob er sie selbst so gemeint hatte, sei mal dahingestellt und ist mir im Grunde auch egal; mir jedenfalls geht es um diesen Punkt gar nicht. (Das mögen bitte auch diejenigen Leser meines Artikels beherzigen, die mit einem Kommentar schwanger gehen.) Die Frage, wie auf politischer Ebene mit der Flüchtlingssituation umzugehen ist, ist zweifellos komplexer und vielschichtiger, als es in der öffentlichen Debatte darüber vielfach den Anschein hat, und es mag schon sein, dass manche Kirchenvertreter dieser Komplexität in ihren Stellungnahmen nicht gerecht werden. Wenn Priester und Bischöfe jedoch die Flüchtlingsproblematik zum Anlass nehmen, darauf hinzuweisen, dass Fremde aufnehmen eines jener Werke der Barmherzigkeit ist, die Jesus Christus explizit von Seinen Jüngern verlangt, und dass wir als Christen dazu aufgerufen sind, in den Ärmsten unserer Mitmenschen Christus zu erkennen, dann ist das grundsätzlich völlig korrekt. Das ist aber im Kern keine politische Aussage, sondern eine, die sich an jeden einzelnen Christen persönlich richtet.

Demgegenüber geht der Tenor der negativen Reaktionen auf Poschardts Tweet überwiegend dahin, wenn Poschardt in einem christlichen Gottesdienst das Gefühl bekomme, er wäre bei einer Veranstaltung der Jusos gelandet, dann beweise das doch nur, dass christliche Werte heutzutage bei der politischen Linken eher zu Hause seien als weiter rechts im politischen Spektrum. Ich gehe davon aus, dass die Leute das ernst meinen. Und das sagt nicht nur etwas darüber aus, was sie sich unter christlichen Werten vorstellen (was ja in dem einen oder anderen Fall diskutabel sein mag), sondern mehr noch darüber, dass sie überhaupt nicht auf die Idee kommen, eine Predigt in einem christlichen Gottesdienst könnte eine prinzipiell andere Aufgabe haben als eine Politikerrede. Möglicherweise liegt es zu einem gewissen Grad in der Natur einer demokratischen Gesellschaft, dass die Leute, weil ihnen beigebracht wird, alles sei irgendwie politisch, daraus den Umkehrschluss ziehen, Politik sei Alles. Die Vorstellung, im christlichen Gottesdienst könne es um Größeres und, horribile dictu, Wichtigeres gehen als um Politik, ist offenkundig vielen Menschen, sogar innerhalb der Kirchen, völlig fremd - was darauf schließen lässt, dass sie überhaupt keine Vorstellung davon haben, was dieses Größere und Wichtigere sein könnte. Exemplarisch deutlich wird das in einem Tweet folgenden Wortlauts:
"Interessant an der Geschichte mit dem #PoschardtEvangelium ist m.E., wie selbstverständlich er den Weihnachsgottesdienst anscheinend als unpolitische Besinnlichkeitsdiensleistung betrachtet hat. Die Ware hat nicht den Ansprüchen genügt, nu wird gemeckert." 
Wenn ein Gottesdienst nicht politisch ist - so wird hier offenkundig unterstellt -, dann ist er bloß "Besinnungsdienstleistung" (und somit irrelevant). Tertium non datur. Priester, die in ihren Predigten lieber über Politik reden als über die Basics des christlichen Glaubens, tragen zweifellos zu diesem Missverständnis bei. -- Sicherlich bietet das Weihnachtsevangelium nach Lukas einigen Stoff, um in der Predigt am Heiligen Abend den Bogen von der Geburt Jesu im Stall von Betlehem zu einer "Take-Home-Message" für die Messbesucher zu schlagen, die sie etwas über Nächstenliebe, Werke der Barmherzigkeit und "Friede auf Erden" lehrt. Das kann man machen, und man KANN es sogar GUT machen (wenn man es kann). Aber in erster Linie ist das Festgeheimnis von Weihnachten - die Menschwerdung Gottes in der Geburt Jesu Christi - kein Symbol für irgendetwas, sondern eine Realität; und zwar eine mit existentieller Bedeutung für die ganze Menschheit, ja für die ganze Schöpfung. Wenn unsere lieben Geistlichen DAS nicht rüberbringen, dann sollen sie ihren Laden bitte dichtmachen. Dann können die Leute nächstes Jahr Heiligabend im Einkaufszentrum feiern, mit einem Zelebranten im Weihnachtsmannkostüm. Why not? Der Weihnachtsmann steht schließlich auch für Werte. Man frage nur mal die Einzelhandelsverbände. 



Mittwoch, 20. Dezember 2017

Das Canisius-Kopftuch und der Parallelgesellschaftsneid

Unpopular Opinion Time: Das Islamisierungs-Gejammere deutscher Konservativer - insbesondere solcher, die sich als christliche Konservative verstehen - geht mir auf den Kranz. Ich meine nicht die (zu einem gewissen Grad zweifellos berechtigte) Angst vor radikal-islamistischen Terroranschlägen, und ich will auch nicht zwingend auf die Flüchtlingsproblematik hinaus. Was ich meine, ist das ewige Barmen über eine angebliche schleichende Islamisierung des Alltags - womit ja zumeist nichts anderes gemeint ist, als dass Muslime in Deutschland mit dem Wachsen ihres Bevölkerungsanteils auch wachsenden gesellschaftlichen und politischen Einfluss ausüben bzw. einfordern. Das, liebe Freunde, ist in einer Demokratie völlig normal. 

Aber à propos "wachsender Bevölkerungsanteil": Derzeit machen Muslime in Deutschland meines Wissens ungefähr 5% der Bevölkerung aus. Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung lassen erwarten, dass daraus noch innerhalb unserer Lebenszeit 10% oder mehr werden könnten. Wird das dieses Land verändern? Sicherlich. Ist das schlimm? Ansichtssache. Aber wenn man diese Aussicht mit Unbehagen sieht, stellt sich die Frage, was man dagegen tun könnte -- genauer: welche Mittel zur Eindämmung eines wachsenden Einflusses des Islam legitim und welche überzogen wären. Wer sich darüber ärgert, dass im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung Deutschlands die Muslime überdurchschnittlich viele Kinder bekommen, könnte zum Beispiel mal damit anfangen, selber mehr Kinder zu bekommen. Nur mal so als Vorschlag. 

Im Ernst: Ich lebe in Berlin und weiß daher aus eigener Anschauung, dass die gegenwärtig ca. 5% und zukünftig vielleicht 10% Muslime sich nicht so gleichmäßig über ganz Deutschland verteilen, dass sie überall eine überschaubare Minderheit bilden würden. Es gibt Wohngegenden, da sind sie schon jetzt zumindest gefühlt in der Mehrheit. Ich habe einige Jahre in unmittelbarer Nachbarschaft einer Grundschule gearbeitet, die dem äußeren Anschein nach nahezu ausschließlich von Schülern mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund besucht wurde. Es ist kaum zu bestreiten, dass solche Konstellationen die Entstehung sogenannter "Parallelgesellschaften" begünstigen, innerhalb derer Anschauungen gedeihen können, die mit den Wertvorstellungen der säkularen Gesellschaft nicht in Einklang stehen. 

Der Punkt ist nur: Wer oder was mit den Wertvorstellungen der säkularen Gesellschaft in Einklang steht oder nicht, ist nicht unser Problem - bzw. sollte es nicht sein. Und mit "uns" meine ich uns Christen. Unser Problem ist nicht, dass die Muslime - oder einige von ihnen - "Parallelgesellschaften" bilden, sondern dass wir selber keine haben. Das erzeugt Neid, oder zumindest etwas Ähnliches. Zum Beispiel, wenn Kantinen aus Rücksicht auf Muslime Gerichte mit Schweinefleisch von ihrer Speisekarte verbannen, Katholiken dort aber freitags keinen Fisch bekommen. Oder wenn Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens über sämtliche medialen Kanäle Grußbotschaften zum Ramadan verbreiten, nicht aber zur christlichen Fastenzeit. Oder wenn irgendeine Werbeagentur auf die "lustige" Idee kommt, Sophia Thomalla leichtbekleidet ans Kreuz zu schlagen. Da heißt es dann: "Mit uns kann man's ja machen - gegenüber dem Islam hätten die sich das nicht getraut!" --- Ja Moment. Erinnert sich noch jemand an "Charlie Hebdo"? Die Redakteure dieses Blattes haben sich dem Islam gegenüber so einiges getraut, und wir wissen, was dabei herausgekommen ist. Aber an dieser Methode, der eigenen Religion in der Öffentlichkeit Respekt zu verschaffen, wollen wir uns doch wohl bitte kein Beispiel nehmen. 

Nehmen wir lieber ein anderes Beispiel. Am Gymnasium Johanneum, einer städtischen Schule in Lüneburg, hat sich offenbar eine muslimische Schülerin darüber beschwert, dass sie im letzten Jahr an einer schulischen Weihnachtsfeier teilnehmen musste, die als Pflichtveranstaltung in die Unterrichtszeit gelegt worden war und bei der christliche Weihnachtslieder gesungen wurden. Als Konsequenz aus dieser Beschwerde hat sich die Schulleitung entschlossen, dieses Jahr lediglich eine Weihnachtsfeier außerhalb der Unterrichtszeit zu veranstalten und den Schülern die Teilnahme freizustellen. --- Und da regen sich jetzt Leute drüber auf? Leute, was ist los mit euch? Wenn meine Kinder auf eine Schule gingen, die auf die Idee käme, eine religiös oder weltanschaulich orientierte nichtchristliche Feier als Pflichtveranstaltung in die Unterrichtszeit zu legen, würde ich aber auch ganz entschieden darauf bestehen, dass meine Kinder davon freigestellt werden können! 

Ich ahne. dass ein Teil der Leute, die sich über den geschilderten Vorgang am Johanneum ereifern, der Meinung sein werden, Weihnachten zu feiern sei nun mal ein Teil unserer Kultur, und wer da nicht mitmachen wolle, zeige mangelnde Integrationsbereitschaft. You-know-what? Ich scheiße auf diese "cultural appropriation" von Weihnachten einen riesengroßen Haufen! Dass Weihnachten in der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit längst jeglichen Bezug zur christlichen Heilsbotschaft verloren hat, ist eine Realität, mit der wir Christen zwar leben müssen, aber wir müssen diese Entchristianisierung von Weihnachten nicht auch noch verteidigen, so als ginge es um unser Kulturgut. Wir sollten froh sein, wenn es Leute gibt, die Weihnachten noch als etwas so spezifisch Christliches erkennen, dass sie beschließen, als Nichtchristen könnten sie da nicht guten Gewissens mitmachen. Umgekehrt könnten wir eigentlich auch ganz zufrieden sein, wenn Weihnachtsmärkte, die nichts spezifisch Christliches an sich haben, sich in "Wintermärkte" umbenennen. 

Letztendlich läuft es auf das Dilemma hinaus, dass man nicht gleichzeitig den gesellschaftlichen Mainstream repräsentieren wollen und sich von ihm abgrenzen - sprich: eine abgrenzbare Gruppenidentität mit Wiedererkennungswert haben - kann. Es scheint, dass ein nicht geringer Teil der christlichen Konservativen in diesem Land schlicht nicht wahrhaben will, dass Christen die gesellschaftliche Deutungshoheit längst verloren haben - oder aber annimmt, man könne sie zurückgewinnen, indem man beispielsweise gegen wegretuschierte Kreuze auf Käsepackungen protestiert. Oder gar indem man die AfD wählt.

Symbolbild; Quelle hier.

In Berlin erregte das Canisius-Kolleg, eine vom Jesuitenorden betriebene Privatschule, jüngst beträchtliches Aufsehen, indem die Schulleitung eine kopftuchtragende Muslima als Lehrerin einstellte - und diese Entscheidung gegenüber der Öffentlichkeit recht offensiv vertrat. "Wir wissen, dass wir mit dieser Entscheidung einen Pflock eingeschlagen haben. Wir wollten es so", gab der Rektor des Canisius-Kollegs, Pater Tobias Zimmermann SJ, zu Protokoll. Wenn dies der Anfang einer offenen Debatte über Religion in unserem Land wäre, "dann wäre ich glücklich", fügte er hinzu.

Ich gestehe, dass ich diese mit so viel Stolz vertretene Personalentscheidung zunächst unverständlich und ein bisschen ärgerlich fand. Sollte eine katholische Schule nicht eher bestrebt sein, gezielt katholische Lehrkräfte zu beschäftigen? Zudem kannte ich Pater Zimmermann bisher nur als Moderator von Veranstaltungen der Katholischen Akademie, bei denen ergraute Linkskatholiken sich ihren Träumen von einer anderen Kirche hingaben, und war ihm gegenüber daher schon prinzipiell misstrauisch. Inzwischen haben mich allerdings gerade die zum Teil sehr ergrimmten Reaktionen, die das Canisius-Kolleg mit dieser Personalie auf sich gezogen hat, veranlasst, die Angelegenheit in einem anderen Licht zu sehen. In besonderem Maße gilt dies für einen Kommentar des ehemaligen Neuköllner Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky (SPD) in der Bildzeitung, auf den ich via Facebook aufmerksam gemacht wurde. Buschkowskys wütende Philippika gegen die Jesuitenschule, der er in bewährter - seinen Parteifreunden weitgehend abhanden gekommener - alt-sozialdemokratischer Manier wiederholt ihren "elitären" Charakter vorwirft, stellt nämlich eindrücklich heraus, worum es in dieser Sache eigentlich geht: Die Privatschule hat die Lehrerin mit dem Kopftuch nicht zuletzt deshalb eingestellt, weil sie eben aufgrund ihres Kopftuchs an einer öffentlichen Schule in Berlin schlechte Karten gehabt hätte. "Der Staat und damit auch die staatliche Schule haben die Lebensregeln unserer Gesellschaft glaubens- und anschauungsneutral, also für alle Bürger gleich, zu vermitteln", betont Buschkowsky; auf die philosophische Frage, wie das überhaupt möglich sein soll, ja, inwieweit "Lebensregeln" einer Gesellschaft überhaupt "glaubens- und anschauungsneutral" sein können, geht er vorsichtshalber nicht ein, sondern fährt fort: "Deshalb verbietet das Berliner Neutralitätsgesetz [...] Lehrern, Polizisten und Justizbediensteten das Tragen religiöser Symbole im Dienst. Und das ist auch richtig so." Vielleicht erinnert sich der eine oder andere Leser, dass aufgrund desselben Neutralitätsgesetzes einer evangelischen Lehrerin an einer Schule in Berlin-Wedding im vergangenen Frühjahr das Tragen eines Kreuzanhängers untersagt wurde. Für Schulen in freier Trägerschaft gilt dieses Neutralitätsgesetz hingegen nicht, weshalb im Canisius-Kolleg, wie Buschkowsky hervorhebt, "in den Klassenzimmern [...] ein Kreuz" hängt. Liegt es nur an mir, das ich da ein gar-nicht-mal-so-leises Bedauern darüber heraushöre, dassdiedasdürfen?

Kurz und gut, das Berliner Neutralitätsgesetz ist ein Paradebeispiel für die schleichende Umwandlung der wohlwollenden Neutralität des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften in eine aggressive Ausgrenzung von Religion aus dem öffentlichen Raum. Und dagegen setzt das Canisius-Kolleg ein Zeichen. Dass sie dies ausgerechnet zugunsten einer muslimischen Lehrerin tun, kann man gewagt finden, man kann aber auch gerade darin einen ausgesprochen cleveren Schachzug sehen. -- Selbstverständlich gibt es erhebliche Differenzen zwischen Christentum und Islam. Sicherlich können diese in der Praxis zu allerlei potentiell gravierenden Interessenkonflikten zwischen Christen und Muslimen führen. Daher liegt es auf der Hand, dass man, wenn man taktische Bündnisse mit Muslimen gegen den gesellschaftlichen Säkularisierungsdruck schließen will, mit Vorsicht und Augenmaß vorgehen muss. In vielen Bereichen können solche Bündnisse aber dennoch sinnvoll sein - und zwar besonders im Bereich der Schule (ich werfe nur mal das Stichwort "Sexualerziehung" in die Debatte). Jedenfalls halte ich diesen Ansatz im Großen und Ganzen für erheblich sinnvoller als den umgekehrten, taktische Bündnisse mit dem Säkularismus gegen den Islam einzugehen.

Warum? Weil Religionsfreiheit unteilbar ist. Wer Einschränkungen der Religionsfreiheit gutheißt oder aktiv unterstützt, weil diese sich gegen den Islam richten (wie zum Beispiel die Berliner CDU, die aus diesem Kalkül heraus das Neutralitätsgesetz mitgetragen hat!), der darf sich nicht wundern, wenn dieselben Einschränkungen sich morgen gegen das Christentum wenden. Wer sich bewusst macht, wie rapide und entschlossen der säkulare Mainstream der Gesellschaft sich von seinen christlichen Wurzeln entfernt bzw. aggressiv gegen diese wendet, dem müsste klar sein, dass er im eigenen Interesse die Religionsfreiheit im breitest möglichen Sinne verteidigen muss. Es geht dabei um nichts Geringeres als um die Freiheit, innerhalb des säkularen Staates unsere eigenen Parallelgesellschaften zu bilden.

Und die werden wir brauchen.


Donnerstag, 14. Dezember 2017

Oh Tannenbaum...

Ich hatte heute einen sehr aktivistischen Tag.

Vor ein paar Tagen hatten wir Besuch von einem befreundeten Priester, und bei Kaffee und via Foodsaving organisiertem Gebäck sprachen wir über allerlei Themen, von denen die meisten "irgendwas mit Kirche" zu tun hatten. Im Zuge dessen kamen wir irgendwann auf die Beobachtung zu sprechen, dass sich in einer durchschnittlichen Pfarrei kaum aktive Gemeindemitglieder finden, die "von ihrer Hände Arbeit leben". Sondern praktisch nur Leute aus im weitesten Sinne "intellektuellen" Berufen. Vermutlich, darin waren wir uns einig, rührt das daher, dass ein Großteil der typischen Aktivitäten, die im Rahmen einer Pfarrei veranstaltet werden, für eher handfest-zupackend veranlagte und interessierte Leute nicht sehr ansprechend ist. "Wenn es überall nur noch Stuhlkreise mit gestalteter Mitte und Bildmeditationen gibt und man dauernd darüber reden soll, wie man sich fühlt, dann ist das ja kein Wunder." -- "Und was ist das Ende vom Lied?", warf ich ein. "Am Ende muss der Küster einen Germanisten anheuern, um einen Weihnachtsbaum zu fällen und zur Kirche zu transportieren." 

Das war kein Witz. Also, in diesem Moment war es natürlich schon einer, aber er hatte einen ernsten Hintergrund: Kurz zuvor hatte ich mich bereit erklärt, in meiner Ortspfarrei beim Weihnachtsbaum- und Krippenaufbau mitzuhelfen. Der erste Schritt zu diesem hehren Ziel bestand darin, zusammen mit drei anderen Freiwilligen nach Heiligensee zu fahren, dort einen Baum zu fällen (ursprünglich war von drei Bäumen die Rede, aber aus organisatorischen Gründen konnte zunächst doch nur einer geholt werden - immerhin der größte der drei) und zur Kirche zu transportieren. Und diese Aktion stand heute Vormittag an. 

Ein Weihnachtsbaum aus Heiligen(!)see. Da muss ja wohl Segen drauf liegen. 

Und so sah das gute Stück im lebenden Zustand aus. 
Unter den vier Freiwilligen für diese Aktion war ich übrigens, wenn ich mich nicht irre, der einzige, der (noch) nicht zum ehrenamtlichen Küsterkreis der Pfarrei gehört. Bzw. jetzt wahrscheinlich doch. Ich hatte mir vorgestellt, der Baum, den wir holen sollten, stünde irgendwo im Wald herum, aber das erwies sich schon mal als Irrtum: Es handelte sich um eine private Spende an die Pfarrei, und folgerichtig stand der Baum in einem privaten Garten. Einem ziemlich kleinen Garten für so einen großen Baum. 

Übrigens, mein Lieblings-Dialog des Vormittags: 
"Na, hat sich jemand von euch ein YouTube-Tutorial darüber angesehen, wie man einen Baum fällt?" 
"Ja." 

Ich war es wohlgemerkt nicht, der diese Frage bejahte. Aber wenigstens einer. 





Tatsächlich erwies sich das Fällen des Baums vergleichsweise als das geringste Problem. Viel  schwieriger war es, ihn an Gartenhaus, Wäscheleine, Hollywoodschaukel, Hundeskulptur und anderen Bäumen vorbei aus dem Garten und ins Auto zu schaffen. Ich erspare Dir die Details, Leser. Jedenfalls waren wir wiederholt drauf und dran, aufzugeben. Was aber keine Option war, denn wir konnten den gefällten Baum ja schlecht mitten im Garten oder gar zwischen Gartentor und Haustür liegen lassen und uns aus dem Staub machen. 


Schließlich aber doch: Geschafft! 
Vermutlich wäre es erheblich einfacher gewesen, wenn wir angemessen mit Hilfsmitteln wie z.B. Seilen ausgestattet gewesen wären -- und erst recht, wenn wir zwei oder drei Mann mehr gewesen wären. Der Organisator der ganzen Aktion beteuerte allerdings, er habe alles versucht und nur mit erheblicher Mühe überhaupt vier Leute zusammenbekommen; und das glaube ich ihm durchaus. Zu den Gründen siehe oben. Während wir uns mit dem Baum abquälten, wurden unter uns Stimmen laut, die Pfarrei hätte lieber einfach mal 300-450 € in die Hand nehmen und einen Baum kaufen und liefern lassen sollen. Nächstes Jahr wolle man sich diesen Stress jedenfalls nicht noch einmal geben. -- Zu meiner eigenen Überraschung war ich anderer Ansicht. Geld ausgeben kann ja jeder. Es geht heutzutage an Weihnachten ohnehin schon viel zuviel um Konsum. Ist doch viel schöner, den Baum selbst zu fällen. Und viel benediktinischer. Körperliche Arbeit hat so etwas Befreiendes, wenn man sonst immer nur vor dem Bildschirm sitzt. Im Grunde könnte man so etwas als Exerzitien anbieten. 


Get Your Hands Dirty! 
Im Ernst: Ich würde es für eine gute Idee halten, wenn Pfarreien ihren aktiven Mitgliedern öfter mal Gelegenheit gäben, sich in ihrem Auftrag die Hände schmutzig zu machen. Vielleicht könnte man dadurch auf mittlere Sicht auch Leute anlocken, die das nicht nur gern tun, sondern sogar können

Aber mein aktivistischer Tag war noch nicht zu Ende: Kaum hatten wir den Baum auf dem Kirchengelände deponiert (in der Kirche aufgestellt wird er erst zu einem späteren Zeitpunkt), da musste ich auch schon wieder los, um meine Liebste bei einer Foodsaving-Aktion in einem Biomarkt zu unterstützen. (Im Wesentlichen bestand mein Beitrag ehrlich gesagt darin, mich währenddessen um das Baby zu kümmern... und dann einen Rucksack voller Brote nach Hause zu transportieren.)

Man beachte die Jakobsmuschel am Kinderwagen! 

Mittlerweile sind wir eigentlich andere Mengen gewohnt. Aber okay. 
Einen Großteil der Ausbeute dieser Foodsaving-Aktion gaben wir an einen jungen Mann weiter, der uns später am Nachmittag zu diesem Zweck besuchte. Der Kontakt hatte sich über Facebook ergeben: Der junge Mann ist wohnungslos und in allerlei Social-Media-Gruppen für Hilfeleistungen auf Gegenseitigkeit aktiv, und abgesehen davon, dass er mit geschenkten Lebensmitteln durchaus selbst etwas anfangen kann, hat er auch seinerseits einen Kreis von weiteren Abnehmern. Was das Stichwort "Gegenseitigkeit" angeht, bot er uns an, wir könnten uns an ihn wenden, wenn mal kleinere Reparaturen in der Wohnung zu erledigen seien oder so. 

Wir unterhielten uns recht lange mit unserem neuen Bekannten, und das war ziemlich interessant -- durchaus auch im Sinne von "lehrreich". Ich machte mir ein paar mentale Notizen über Dinge, die man zugegebenermaßen - zumindest zum Teil - durchaus auch "von alleine" hätte wissen oder sich zumindest hätte denken können, wenn, ja wenn man sich überhaupt Gedanken über so was machen würde: 
a) Nicht jeder, der "o.W." (= ohne Wohnung) ist, lebt faktisch "auf der Straße".
b) Nicht jeder Obdachlose, selbst wenn er "auf der Straße" lebt, ist ein Drogenwrack.
c) Obdachlose, einige jedenfalls, haben ihre eigenen Netzwerke zur gegenseitigen Unterstützung. 
Solche Netzwerke dienen zum Beispiel auch dazu, Gelegenheitsarbeiten an Land zu ziehen. Gern Arbeiten, bei denen eine größere Zahl zupackender Hände benötigt wird, wie etwa Umzugshilfe. 

Und dann, als der junge Mann wieder weg war, machte es Klick bei mir, und in meinem Kopf schloss sich ein Kreis. 

Der Tannenbaum. Das Obdachlosennetzwerk. 

Halte mich ruhig für bekloppt, Leser, aber ich finde: Statt nächstes Jahr einen Weihnachtsbaum bei einem kommerziellen Anbieter zu kaufen und liefern zu lassen (böh, langweilig!), sollte die Pfarrei - vorausgesetzt, sie hat erneut das Glück, einen Baum gespendet zu bekommen - lieber eine Gruppe Obdachloser (oder anderer Leute aus einschlägigen Selbsthilfenetzwerken) mit dem Transport beauftragen. Als Gegenleistung könnte man sie beispielsweise zu einem schönen Essen im Pfarrsaal einladen, oder sie einfach fragen, was man ihnen sonst Gutes tun kann. Das könnte obendrein und nicht zuletzt auch noch einen missionarischen Effekt haben. 

Ich schätze, das werde ich meiner Pfarrei mal vorschlagen. 


--- Nebenbei bemerkt warte ich in einer anderen Angelegenheit seit nunmehr drei Tagen auf Antwort auf eine Mail, die ich den beiden Gemeindereferentinnen der örtlichen Pfarrei geschrieben habe. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein Andermal erzählt werden... 

Donnerstag, 7. Dezember 2017

Techno-Hippies head for the Hills

Unlängst stolperte ich auf Twitter über die folgende bemerkenswerte Miniatur
"Fellow Gentrifizier-Genervte: Idee nich neu, aber was spricht für _euch_ dagegen?: aufs Land (günstig, Raum für neue Struktur), Techno-Hippie-Kolonien gründen, notfalls Geld remote verdienen & Städte durch eigne Shuttle-Netze nah halten; könnten so auch Rechten Einfluss abgraben?"
Das erste, was mich daran stutzig machte, war der Begriff "Techno-Hippies": Ich hatte bisher immer gedacht, das wäre ein Widerspruch in sich. Was aber zugegebenermaßen vielleicht nur daran liegt, dass ich noch nie auf dem Fusion-Festival war. -- Im Ernst: Ich könnte meine Auffassung, die Techno- und die Hippie-Subkultur seien geradezu diametrale Gegensätze, durchaus erschöpfend begründen, nur finde ich sowohl den bei Reclam erschienenen Reader "but I like it - Jugendkultur und Popmusik" als auch die Lektürenotizen, die ich mir schon vor ein paar Jahren dazu gemacht habe, augenblicklich nicht wieder. Na, sei's drum. Womöglich sind meine Informationen zu diesem Thema einfach unvollständig oder veraltet, und es gibt Techno-Hippies. Wenn die sich nun auf dem Lande ansiedelten, im Brandenburgischen beispielsweise, müsste man sich das Ergebnis wohl so ähnlich vorstellen wie in dem Film "Sommer in Orange" -- über den ich, seit ich ihn im Sommerurlaub im Fernsehen gesehen habe, auch schon längst mal was schreiben wollte, aber da das nun eben schon rund ein halbes Jahr her ist und ich es seinerzeit versäumt habe, mir detaillierte Notizen zu machen, müsste ich mir den Film zum Zweck einer gründlichen Analyse wohl erst nochmals ansehen. Lust hätte ich schon. 

Doch zurück zum oben zitierten Tweet: Der Anti-Gentrifizierungs-Impuls, der dort geradezu den Ausgangspunkt der Überlegung bildet, scheint mir nicht recht durchdacht; präziser gesagt, er scheint ein mangelndes Bewusstsein davon zu verraten, dass die "Techno-Hippies" (so es sie denn gibt) selbst zur Vorhut der Gentrifizierung gehören, der sie entfliehen wollen; dazu habe ich vor über vier Jahren schon mal was geschrieben. Auch die Vorstellung, wie "Techno-Hippies" auf dem Lande "Rechten Einfluss abgraben" wollen - worunter man wohl "die Völkischen Siedler mit ihren eigenen Waffen schlagen" verstehen soll -, weckt bei mir eher tragikomische Assoziationen. Nicht nur, weil ich mir vorstelle, dass die Völkischen Siedler besser mit dem Baseballschläger umgehen können als die stadtflüchtenden Nerds; vor allem dürften die Völkischen Siedler deshalb einen Standortvorteil haben, weil sie nicht aufs Land ziehen, um "remote Geld zu verdienen", sondern vielmehr um das zu tun, was man auf dem Land eben so tut -- Ackerbau und ggf. Viehzucht betreiben nämlich. 

Fällt mir zu dem Tweet noch etwas ein? Ach ja: "eigne Shuttle-Netze". Zu den Zeiten meines seligen Herrn Vaters hieß das noch "Fahrgemeinschaften bilden". Gerngeschehen. 

Aber jetzt mal im Ernst: Was mich an der ganzen Sache wirklich interessiert und weshalb ich hier darüber schreibe, werden regelmäßige Leser meines Blogs vielleicht schon ahnen. Ich verrat's trotzdem: 

Als ich Rod Drehers Benedict Option noch nicht aus eigener Lektüre, sondern nur aus Rezensionen kannte - und zwar in erster Linie aus Luma Simms' von Skepsis geprägter Rezension im Federalist -,  nahm ich zunächst an, das oder zumindest ein zentrales Thema des Buches wäre die Gründung christlicher Landkommunen. Das ist nicht der Fall - zwar heißt das 6. Kapitel des Buches "Die Idee eines christlichen Dorfes", aber das ist eher metaphorisch gemeint: Ein solches "christliches Dorf" kann, zumindest der Theorie nach, überall sein, auch innerhalb einer Großstadt. Schließlich geht es bei der Benedict Option - es scheint wichtig zu sein, darauf hinzuweisen, denn gerade dieser Punkt wird offenbar gern und oft missverstanden, sowohl von Leuten, die das Buch nicht, als auch von solchen, die es nur auszugsweise oder oberflächlich gelesen haben - nicht darum, jeglichen Kontakt zur nicht- oder gar antichristlichen Umwelt zu meiden; davor wird sogar ausdrücklich gewarnt, da es einerseits ungesunde sektiererische Tendenzen begünstigen würde und andererseits nicht missionarisch wäre. Sehr wohl aber geht es in der Benedict Option darum, Rückzugsräume zu schaffen, in denen Christen ihren Glauben und ihre Gemeinschaft untereinander stärken können. Und in diesem Zusammenhang lässt mich die Idee eines "christlichen Dorfes" im buchstäblichen Sinne nicht so ganz los. Auch wenn man ausgerechnet da, wo so etwas innerhalb Deutschlands wohl am ehesten zu verwirklichen wäre - in strukturschwachen Regionen der "Neuen Bundesländer" - wohl einerseits mit der unerfreulichen Nachbarschaft Völkischer Siedler rechnen müsste und andererseits womöglich mit ungebetenem Besuch von der Antifa, die zwischen christlichen und völkischen Siedlern nicht unterscheiden kann oder will. Und nun kommt schlimmstenfalls auch noch die Konkurrenz der Digital-Hipster alias "Techno-Hippies" dazu. 

Während ich noch darüber sinnierte, spülte mir Facebook auch schon einen Hinweis auf ein (vermeintlich) geeignetes Objekt in die Timeline: Im Süden Brandenburgs, so hieß es, stehe ein ganzes Dorf zum Verkauf - oder, wie Immobilienscout 24 es sachlich korrekter formuliert, eine "Siedlung mit Dorfcharakter": Die "Siedlung Alwine", sechs Häuser mit einer Gesamtwohnfläche von ca. 1.421,62 m² auf einer Grundstücksfläche von 16.871 m², idyllisch gelegen mitten in einem Waldgebiet im Landkreis Elbe-Elster. "Zwei Mehrfamilienhäuser, fünf Doppelhaushälften, ein Zweifamilienhaus, ein Einfamilienhaus, zehn Schuppen und Garagen", so beschreibt es ein Bericht im stern. "Es gibt sogar einen kleinen Dorfplatz mit einem halben Dutzend sauber gestutzten Sträuchern." Und diese ganze Siedlung soll am kommenden Samstag ab 12 Uhr beim Berliner Auktionshaus Karhausen unter den Hammer kommen -- zu einem Startgebot von schlappen 125.000 €. Ein Traum? 

Symbolbild - nicht aus der Siedlung Alwine, sondern aus Tossens
-- Wie man's nimmt. Der stern räumt ein: "[E]s gibt natürlich einen Haken". Und den beschreibt die Illustrierte wie folgt: 
"An den Häusern blättert der Putz ab, wenn er überhaupt noch vorhanden ist. Alte Fensterläden verdecken gähnende schwarze Löcher und überall, wo man hinschaut, sieht man eins: Verfall. [...] Es gibt zum Beispiel keine Heizungsanlagen in den Häusern [...]. Geheizt wird mit Kohle oder Holz im guten alten Kachelofen." 
Ja wie jetzt - das soll der Haken sein? Ich denke, genauso soll das, wenn man schon in die Brandenburger Wälder ziehen will! Eine Handvoll Leute mit handwerklichem Geschick, Enthusiasmus und niedrigen Ansprüchen in Sachen Komfort, und ruck-zuck, fertich ist die Landkommune! -- Als der eigentliche Haken erweist sich bei genauerer Lektüre des Artikels ein ganz anderer: Die Häuser sind vermietet. Und den "ungefähr 15 Mietern" mangelt es offenbar an Kommunarden-Pioniergeist und Sinn für asketische Idylle. "Der eine will vielleicht neue Fenster, der andere ein neues Bad oder eine Heizung." 

Da stellt sich nun natürlich die Frage, für wen das Objekt eigentlich interessant sein soll, wenn nicht für Landkommunengründer, seien es nun Digitale Hipster oder "BenOp"-Christen. Als Renditeobjekt scheint es jedenfalls nicht sonderlich attraktiv. Theoretisch, so heißt es, würde die ganze Siedlung 16.000 € Miete im Jahr (!) abwerfen, nur dass einige der Mieter derzeit wegen des Zustands der Gebäude gar keine Miete zahlen. "Mieteinnahmen bis zu 30.000 Euro jährlich wären durchaus möglich", meint der Auktionator; aber dafür müsste man offensichtlich erst mal ein Vielfaches des Kaufpreises in die Sanierung investieren -- und wann bitte soll das Ganze anfangen sich zu lohnen

Kurz und gut, ich halte es für eher fraglich, ob sich jemand findet, der für die "Siedlung Alwine" das Mindestgebot von 125.000 € zu zahlen bereit ist; ja, solange Mieter in den Gebäuden sitzen, wäre ich nicht mal sicher, ob irgendjemand die Siedlung geschenkt haben wollen würde. Die gute Nachricht lautet indessen: Der Auktionskatalog hat durchaus auch noch andere ähnlich abenteuerliche Objekte zu bieten; wahrscheinlich gibt es davon im Osten Deutschlands wesentlich mehr als man denkt. Aber schade ist es doch um die Siedlung Alwine. Die nächste katholische Kirche wäre übrigens nur sieben Kilometer entfernt. 



Freitag, 1. Dezember 2017

Wenn Kulturkatholiken sich radikalisieren

Irgendwie, keine Ahnung wieso, scheint der Herbst die Jahreszeit zu sein, in der die Presse ihr Herz für brave Christen entdeckt, die sich in der atheistischen Metropole Berlin nicht so richtig wertgeschätzt und anerkannt fühlen. Letztes Jahr Ende Oktober war es der Berliner Tagesspiegel, der sich des Themas annahm, und ich schrieb seinerzeit eine recht ungnädige Erwiderung auf den Artikel. Heuer hat es das Thema Ende November sogar in die FAZ geschafft. Meine spontane Reaktion auf den Artikel, der wie schon der letztjährige eifrig von christlichen Freunden auf Facebook geteilt wurde: Kopfschmerz. Gefolgt von unfassbarem Angeödetsein. Allein diese Überschrift: "Mama, das ist doch normal, dass wir beten, oder?" Nein, Kind, das ist NICHT "normal". Leb damit. 

Inzwischen hat sich das Angeödetsein allerdings einigermaßen gelegt. Ich finde nach wie vor Vieles, ja eigentlich das Meiste an diesem Artikel ärgerlich, aber einige interessante Denkanstöße enthält er doch. In gewissem Sinne lässt sich beides sogar kaum voneinander trennen. 

Seh'n Se, dit is Berlin. 
Fangen wir also mit dem Ärgerlichen an - der Artikel selbst tut es ja schließlich auch. "Die leidvollen Erfahrungen einer katholischen Mutter" - "[a]ufgezeichnet von Julia Schaaf", wie man am Ende erfährt, also nicht wortwörtlich so von der Betroffenen selbst verfasst, was wir zu ihren Gunsten im Hinterkopf behalten wollen - heben an mit der Versicherung: "Ich bin nicht strenggläubig in dem Sinne, dass ich Wort für Wort glaube, was der Pfarrer sonntags predigt. Es ist wichtig, kritisch zu sein. Aber ich komme aus Bayern" - und das erklärt natürlich so ziemlich alles. (Es erklärt tatsächlich einiges, aber nicht in einem Sinne, dass meine bayerischen Leser sich jetzt auf den Schlips getreten fühlen müssten. Ich erkläre das gleich, vorerst wollte ich nur einen wohlfeilen Brüller "mitnehmen".) Im Ernst: Ob es ein Kriterium für "Strenggläubigkeit" ist, "Wort für Wort" zu glauben, "was der Pfarrer sonntags predigt", hängt ja wohl sehr stark vom Pfarrer und seiner Art zu predigen ab. Aber so weit differenziert die hier zu Wort kommende katholische Mutter gar nicht erst - weil es ihr lediglich darum geht, den Verdacht der Strenggläubigkeit von vornherein nicht aufkommen zu lassen und weil sie zudem ohnehin nicht so genau weiß, was das ist bzw. wäre. Weil, wie im weiteren Verlauf deutlich wird, die inhaltliche Seite des Glaubens sie herzlich wenig interessiert. 
"Ist da eine Kraft in uns, die aktiviert wird, oder gibt es wirklich eine höhere Macht? Eigentlich ist das egal. Glauben macht ein gutes Gefühl."
"In stressigen Zeiten schicke ich manchmal ein 'Danke' los, weil ich das Gefühl habe, da hat jemand seine schützende Hand über mich gehalten."
"Ich habe festgestellt, dass der Glaube Menschen Halt und Orientierung gibt. Und ich mag die Traditionen, die damit verbunden sind."
"Ich komme aus Bayern." 
Darum geht's. So ein bisschen Religion ist doch nett fürs Gemüt, besonders wenn man Kinder hat. Das könnten die doofen Berliner ruhig auch einsehen. Außerdem ist sie das von zu Hause her so gewohnt, dass man in die Kirche geht und dass es ganz viel religiös geprägtes Brauchtum gibt, das ist eben auch ein Stück Heimat, das ihr in Berlin einfach fehlt

Das, worum es hier geht, kann man in einem Wort als "Kulturkatholizismus" bezeichnen. Und es ist gewiss kein Zufall, dass gerade ein solcher Fall als Beispiel herangezogen wurde, um den sonst so toleranten Berlinern ("Wir sind tolerant gegenüber Frauen, die Kopftücher tragen. Endlich [!] dürfen gleichgeschlechtliche Paare heiraten. Im Berliner Alltag sieht man buddhistische Mönche und trifft auf totale Freizügigkeit") ihre religiöse Intoleranz um die Ohren zu hauen; denn das war letztes Jahr im Tagesspiegel auch schon so ähnlich. Die offenkundige Botschaft lautet: Kommt schon, Leute, so was könntet ihr aber echt tolerieren, das ist doch harmlos. Toleranz gegenüber Katholiken einzufordern, die die Lehren ihrer Kirche ernst nehmen - sogar da, wo sie womöglich nicht völlig deckungsgleich mit dem sind, "was der Pfarrer sonntags predigt" -, wäre eine erheblich größere Zumutung. 

Hier berührt sich das Ärgerliche an diesem Artikel nun allerdings eng mit dem, was dennoch interessant daran ist. Der Erfahrungsbericht der katholischen Mutter zeigt nämlich, dass auch "Kulturkatholiken" und "Halbgläubige" nicht davor gefeit sind, in einer säkularistischen Umgebung auf feindselige Reaktionen zu stoßen. Diese mögen im Vergleich dazu, dass Christen anderswo auf der Welt für ihren Glauben lebendig verbrannt werden, ein eher unspektakuläres Ausmaß annehmen, aber dennoch steckt darin eine Lehre für die Betroffenen: nämlich, dass die Strategie, sich mit einer "Ich bin zwar Christ, aber trotzdem ganz normal"-Haltung durch den unvermeidlichen Konflikt zwischen christlichem Glauben und glaubensfeindlicher Umwelt "durchzumogeln", nicht aufgeht. Daraus folgt, dass in einer Atmosphäre zunehmend radikaler Glaubensfeindlichkeit - und man kann wohl davon ausgehen, dass Berlin in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle innerhalb Deutschlands zukommt - ein reiner Kulturkatholizismus (oder auch ein angepasster, "liberaler" Glaube, was nicht zwingend dasselbe ist) keine besonders rosigen Zukunftsaussichten hat. Denn es liegt auf der Hand, dass man für einen Glauben, von dem man selbst nicht richtig überzeugt ist, den man lediglich als "nice to have" ansieht und vor allem für seine folkloristisch-dekorativen Elemente schätzt, kaum bereit sein wird, Nachteile in Kauf zu nehmen, selbst wenn es "nur" soziale sind. 

Und an genau diesem Punkt nimmt der Bericht der katholischen Mutter in der FAZ eine bemerkenswerte Wendung. Statt nämlich angesichts des Gegenwinds ganz vom Glauben abzufallen, verspürt die Mutter bei sich eine "Trotzreaktion": "Ich möchte meinen Glauben und die damit verbundenen Traditionen ausleben und an meine Kinder weitergeben. Diese Haltung ist in Berlin sogar stärker geworden. Weil ich hier auf diese gefühlte Intoleranz gestoßen bin, sage ich: Jetzt erst recht." Was wir hier sehen, ist, dass ein religions- und insbesondere christentumsfeindliches Klima die mehr-oder-weniger-Gläubigen zu einer Entscheidung drängt: dem Druck nachzugeben und sich vom Glauben abzuwenden oder ihn im Gegenteil umso ernsthafter und bewusster zu praktizieren und zu bekennen. Die Frau im FAZ-Artikel hat sich für den letzteren Weg entschieden: "Man könnte fast von Radikalisierung sprechen", meint sie. Die Früchte dieser gefühlten Radikalisierung muten zwar bis auf Weiteres recht bescheiden an, aber Ansätze sind da. 

Die Geschichte endet übrigens damit, dass die Mutter mit ihrer Familie zurück nach Bayern zieht. Das ist durchaus eine "radikale" Entscheidung -  allerdings könnte man vermuten, dass damit die Radikalisierung dann auch schon wieder ein Ende hat, denn nun lebt sie ja wieder in einem Umfeld, in dem das Maß an religiöser Praxis, das ihr erstrebenswert erscheint, als "normal" gilt. Das muss jedoch nicht das Ende der Geschichte sein. Immerhin sagt sie, sie habe durch ihre Erfahrungen in Berlin "feinere Antennen bekommen". Möglicherweise wird sie feststellen, dass es auch in einem vermeintlich unproblematischen Milieu ein höheres Maß an Unverständnis und Intoleranz gegenüber gläubigen Christen gibt, als sie bisher angenommen hat. 

Nicht zuletzt verweist diese "Flucht" nach Bayern auf einen Umstand, der gar keine besonders originelle Erkenntnis darstellt, aber trotzdem nicht oft genug betont werden kann: Christsein funktioniert - wenn man nicht gerade die sehr seltene Berufung zum Eremiten hat - auf Dauer nur in Gemeinschaft. Die hat diese Frau in Berlin nicht gefunden. Warum nicht? Was hätte anders sein müssen, damit sie es hier "ausgehalten" hätte? 

"Die Leute aus der Nachbarschaft, die Eltern aus der Schule trifft man im Supermarkt, beim Bäcker, auf dem Schulweg, auf dem Wochenmarkt. Nur in der Kirche sehe ich die nie", berichtet die katholische Mutter. "Ich habe mich schon gefragt, woran das liegt." Nun, diese Frage kann ich ihr zumindest ansatzweise beantworten. In Berlin sind 9,3% der Bevölkerung katholisch; davon wiederum gehen laut Statistik der Deutschen Bischofskonferenz (Stand: 2016) 9,9% regelmäßig in die Kirche. Die statistische Wahrscheinlichkeit, jemanden, den man in seinem Berliner Wohnumfeld in einem nicht-kirchlichen Zusammenhang kennenlernt, in der katholischen Sonntagsmesse anzutreffen, liegt somit bei unter einem Prozent. Anders sieht es natürlich aus, wenn man gezielt Kontakte innerhalb der Pfarrgemeinde knüpft. Ich jedenfalls begegne beim Einkaufen oder bei sonstigen Gängen durch meinen "Kiez" ständig Leuten, die ich aus der Kirche kenne. 

Hier wäre also Eigeninitiative gefragt, und an der mangelt es häufig, wenn man ein Umfeld gewohnt ist, in dem sie nicht nötig ist. Weil alles irgendwie von alleine funktioniert. Das spricht auch aus der indignierten Verwunderung der Mutter darüber, dass an den Berliner Schulen "Religion [...] überhaupt nicht unterstützt" wird. Sicherlich wäre es aus Sicht christlicher Eltern wünschenswert, dass dies der Fall wäre; ich wäre aber nicht auf die Idee gekommen, das von einer staatlichen Schule zu erwarten. Vielleicht liegt das daran, dass ich schon länger in Berlin lebe. -- Wie dem auch sei: Immerhin hat die Mutter in diesem Fall die richtige Konsequenz aus ihrer Beobachtung gezogen. Mit Blick auf die Vermittlung von Kenntnissen über christliche Traditionen ("Die Bedeutung von Weihnachten oder von Ostern zum Beispiel. Christi Himmelfahrt, das heute nur noch Vatertag ist.") sagt sie: "Hier in Berlin, wo die Schule das kaum unterstützt, übernehme zunehmend ich die Vermittlung." Was doch eigentlich prima ist. So haben nicht nur ihre Kinder etwas davon, sondern sie selbst auch. 

Aber Eigeninitiative hin oder her: Woran es offenkundig fehlt, sind Netzwerke für das Christsein im Alltag. Und der Bedarf für solche Netzwerke wird desto dringlicher, je schlechter es um die Akzeptanz des christlichen Glaubens in der Mehrheitsgesellschaft bestellt ist. Der Begriff klingt vielleicht ein bisschen hochtrabend, aber zunächst einmal geht es dabei um nicht mehr und nicht weniger als darum, ein soziales Umfeld zu schaffen, in dem Christen das Bewusstsein vermittelt wird, mit ihrem Glauben nicht allein zu sein. Man könnte nun einwenden, ein solches Netzwerk gebe es doch bereits, nämlich in Gestalt der Ortspfarreien. Zu einem gewissen Grad stimmt das auch. Aber obwohl es in vielen Pfarreien eine große Bandbreite von Kreisen und Gruppen für unterschiedlichste Interessengebiete gibt, gibt es offenkundig immer noch eine signifikante Zahl von Menschen, die da keinen Anschluss finden - obwohl sie es wollen. Eine Patent-Antwort auf die Frage "Wie kommt das?" habe ich nicht anzubieten; umso wichtiger erscheint es mir, die Frage erst einmal zu stellen. Sind Gemeindekreise und -gruppen offen für Außenstehende, oder neigen sie dazu, sich zu geschlossenen Zirkeln zu entwickeln? Welche Angebote fehlen womöglich in unseren Pfarreien? Was tue ich persönlich dafür, Menschen einzubinden, die in der Kirchengemeinde Anschluss suchen, aber vielleicht zu schüchtern sind, dabei selbst die Initiative zu ergreifen? 

Die für mich vielleicht überraschendste Erkenntnis aus diesem FAZ-Artikel war, dass solche "Netzwerke für das Christsein im Alltag" auch und gerade für die lediglich "mehr-oder-weniger-Gläubigen" wichtig sind. Wenn man die nicht einbindet, wird man sie ganz verlieren; wenn man sie aber einbindet, gibt es eine ganz passable Chance, dass ihr Glaube wächst. Möglicherweise braucht es dafür Gruppen, die nicht in einem solchen Maße ostentativ fromm sind, dass eher mäßig religiöse Menschen sofort denken würden "da gehöre ich nicht hin". Und schließlich - und das meine ich nun wirklich vor allem als Ermahnung an mich selbst - ist davon abzuraten, allzu auffällig genervt mit den Augen zu rollen, wenn in solchen Kreisen mal jemand etwas Doofes sagt wie "Ich nenne Jesus nicht gern 'Herr', das klingt so autoritär und patriarchalisch" oder "Anselm Grün ist ja sooo spirituell!" (Diese Beispiele sind, wohlgemerkt, frei erfunden). Wenn man verhindern will, dass die Leute entweder wasserscheu bleiben oder ertrinken, dann braucht man wohl auch ein Nichtschwimmerbecken. 

Und somit habe ich aus diesem Artikel, der mich anfangs so angeödet hat, zu guter Letzt also doch noch etwas gelernt... 



Donnerstag, 30. November 2017

No Daubt - Eine Pfarrerin dreht am Rad

Hast Du, lieber Leser, den ZEIT-Artikel mit den Bekenntnissen einer sündigen Pfarrerin gelesen? Ich bin mir gerade nicht sicher, ob ich ihn guten Gewissens empfehlen kann. Zu sagen "Die Lektüre lohnt sich", wäre vielleicht ein bisschen morbide; sagen wir also lieber: Der Artikel ist aufschlussreich. Hinzufügen möchte ich: So richtig aufschlussreich finde ich ihn erst dann, wenn man ihn gründlich gegen den Strich liest. Was ich hiermit zu tun beabsichtige. 

Zunächst einmal fällt es auf, wie sehr der Artikel seine angebliche Brisanz vor sich her posaunt: Da prangt im Teaser-Absatz  groß das Wort "Skandalös", dem Leser wird "[e]ine Predigt, die ich nie halten könnte" versprochen, und garniert wird das Ganze mit einem Foto, das eine junge Frau in SM-Maske zeigt. Auch dass die Verfasserin unter Pseudonym schreibt, unterstreicht dieses Behaupten von Brisanz. Und was für ein Pseudonym die Verfasserin gewählt hat: Laura Daubt - unverkennbar abgeleitet von "doubt", also "Zweifel". Wir kennen ihn alle - den Zweifel, den cooleren zweieiigen Zwillingsbruder des Glaubens. Also, der coolere der beiden Brüder ist er eigentlich erst in jüngerer Zeit geworden, so in etwa seit der Aufklärung, und auch dann erst nach und nach. Heute jedenfalls ist er everybody's darling und damit fast schon wieder ein bisschen langweilig. Aber das (vorerst) nur am Rande. Tatsächlich geht es in dem Text nämlich gar nicht so sehr um Glaubens- oder sonstige Zweifel, sondern vielmehr um die Rebellion der Autorin gegen bestimmte Erwartungen, die an die soziale Rolle einer Pfarrerin gestellt werden. In der Leidenschaft ihrer Abweisung dieser Erwartungen wirkt die Verfasserin sehr authentisch und zu einem gewissen Grad gar nicht mal unsympathisch -- auf mich jedenfalls. 

Symbolbild, Quelle: Pixnio
Zu den bemerkenswerteren Aspekten dieser Selbstoffenbarung gehört es, dass die Verfasserin Pastorentochter ist und stets mit der sozialen Rolle gehadert hat, die ihr dadurch zufiel -- dass sie von sich sagt "Mir war klar: Pfarrerin werde ich nie", dann aber eben doch diesen Berufsweg eingeschlagen hat. Da erweist sich die Biographie der "Laura Daubt" also von vornherein als zutiefst gebrochen, und das meine ich uneingeschränkt positiv: Leute ohne Brüche in der Biographie sind, falls es sie überhaupt gibt, langweilig. Ich könnte mir die sündige Pfarrerin gut als Romanfigur vorstellen -- eine Art Gösta Berling des 21. Jahrhunderts. Obwohl, vielleicht auch nicht. Wenn ihre Vorstellung von Rebellentum darin besteht, Shopping Queen, Germany's Next Top Model und Netflix-Serien zu binge-watchen, ist das für einen Roman vielleicht doch ein bisschen öde, oder bestenfalls käme dabei etwas heraus wie Ildikó von Kürthys "Mondscheintarif". Das eigentliche Problem ist aber: "Laura Daubt" ist keine Romanfigur, sondern eine echte Seelsorgerin in einer ungenannten evangelischen Landeskirche. Und wie soll sie für die Seelen Anderer sorgen, wenn sie nicht einmal auf ihre eigene aufpassen kann? 

Hier drängt sich die Frage auf: Was bringt mich zu der Einschätzung, dass sie das nicht kann? Es ist nicht so sehr das, was sie als ihren verruchten Lebenswandel betrachtet und beschreibt; mit dem ist es nämlich, wie bereits angedeutet, gar nicht so weit her. 
"[M]eine Predigten entstehen nicht [...] in einer kleinen Arbeitskammer unter dem Kreuz. Ich schreibe sie in den Cafés und Bars meiner Stadt. Ich gehe im Supermarkt spazieren, liege im Bett [...]. Ich liebe es, zu schreiben, wenn der Bass meiner elektronischen Lieblingsmusik um mich wummert.
Und dann mache ich Feierabend. Ich gehe raus in die Kneipe nebenan. Treffe Freunde, von denen ein Großteil nicht in der Kirche ist, und lerne fremde Menschen kennen. Ich fahre auf Festivals, gehe in Clubs und streune durch die Stadt." 
So what? Dass sie diese wenig spektakulären Tatsachen überhaupt für erwähnenswert hält, lässt zunächst einmal darauf schließen, dass die Vorstellungen darüber, wie ein Pfarrer oder eine Pfarrerin sein müsse oder nicht sein dürfe -- die Vorstellungen, gegen die sie rebelliert --, zu einem gewissen Grad ihre eigenen sind. Was mich daran erinnert, was ich an anderer Stelle mit Blick auf die prominente Pastorin Nadia Bolz-Weber - "die mit den Tattoos" - geschrieben habe; der Einfachheit halber zitiere ich mich mal selbst: 
"Man kann sich allerdings gut vorstellen, wie eine tatöwierte Nadia Bolz-Weber bei denjenigen Christen ankommt, in deren Herkunftsmilieu die Frage, wie man gottgefällig leben könne und solle, sich auch auf Kleidung und Frisur erstreckte, Christsein also auf schier unentwirrbare Weise mit Spießertum verquickt war. Um dieser Form von 'Enge' zu entkommen, verfällt man gern ins gegenteilige Extrem". 
Wobei es, ich wiederhole mich, gar so extrem bei "Laura Daubt" ja gar nicht wird. Selbst da, wo das, was sie über sich selbst verrät, nicht ganz so harmlos ist wie in den oben zitierten Beispielen, liegt das Ausmaß der Verworfenheit nicht unbedingt über dem Niveau von Otto Normalsünder. Was hier problematisch erscheint, ist eher die Haltung, aus der heraus sie sich zu diesen Verhaltensweisen bekennt - eine Haltung, die offenkundig sehr wesentlich in dem Bedürfnis wurzelt, sich von ihrem spießigen Herkunftsmilieu abzugrenzen, wo es nicht genügte, die hochnäsige Nachbarin lediglich zu grüßen, sondern man sie dabei zwingend mit ihrem Namen anreden musste. Ich erwähnte bereits, dass die Verfasserin dieser Selbstoffenbarung auf mich nicht unsympathisch wirkt, und das hat durchaus auch damit zu tun, dass ich dieses Abgrenzungsbedürfnis sehr wohl nachvollziehen kann. Aber gerade deshalb sind mir auch die Risiken und Nebenwirkungen bekannt und bewusst. Wer, um es mal in den Bildern des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn auszudrücken, sein väterliches Erbe mit Dirnen durchbringt, in der Annahme, dass sei Rock'n'Roll, der landet eben früher oder später bei den Schweinen. Been there, done that. Aber an dem Punkt, zur Besinnung zu kommen und reumütig zum Vater zurückzukehren, ist "Laura Daubt" offenkundig noch nicht. Trotzdem arbeitet sie als Seelsorgerin. Finde den Fehler.

-- Ich sag mal so: Angenommen, eine Lehrerin wäre der Meinung, man solle die Ergebnisse von Rechenaufgaben nicht danach bewerten, ob sie richtig oder falsch seien; viel wichtiger sei es doch, dass die Schüler mit ihrer jeweils individuellen Lösung zufrieden seien. Kann sein, dass ich diese Lehrerin menschlich durchaus sympathisch fände; trotzdem würde ich nicht wollen, dass sie meine Tochter in Mathematik unterrichtet. Und dieselben Bedenken habe ich gegenüber einer Seelsorgerin, die Sätze schreibt wie: "Einige meiner Freunde nehmen Drogen. Ich nicht, denn hier ist meine Grenze, aber es ist meine ganz persönliche, nicht die, die ich anderen vorschreibe." Schon klar: Who am I to judge?  "Ich bin ein guter Mensch, ich würde niemals meine Frau betrügen, aber Züge ausrauben ist ganz was anderes." Okay, das gehört jetzt nicht direkt hierher - oder vielleicht doch? Wie dem auch sei: "Und wenn ich meinen Talar aufhängen will, stoße ich auf drei Männer, die sich in meinem Schlafzimmer lieben", schreibt Pastorin "Laura Daubt"; und da muss ich sagen: Wenn sie den hier gemeinten Vorgang mit "sich lieben" bezeichnet, bin ich raus. Das hat nichts mit "Homophobie" zu tun: Wäre hier nicht von drei Männern die Rede, sondern von einem Mann und zwei Frauen, einer Frau und zwei Männern oder einem Mann, einer Frau und einem Schäferhund, fände ich die Wortwahl genauso unangemessen.

Aber einer "Laura Daubt" fehlen schlechterdings die Kriterien, um zu Dingen wie Drogenkonsum oder Gruppensex eine klare Haltung finden zu können. Dass in Hinblick auf ethische Kategorien bei ihr so eine heillose Verwirrung herrscht, ist selbstverständlich nicht ihre Schuld; das ist vielmehr ein allgemeines Zeitsymptom und als solches auch nicht mehr ganz neu. Ich lese gerade Alasdair MacIntyres "Der Verlust der Tugend", ein Buch, das ich uneingeschränkt und nachdrücklich empfehle; und darin stellt der schottische Philosoph, vereinfacht ausgedrückt, die These auf, dass schon die Moralphilosophen der Aufklärung nicht mehr wussten oder nicht mehr verstanden, was Ethik eigentlich ist, mit der Folge, dass die von den Aufklärern propagierte Moral im Grunde nur ein schlechtes Imitat wirklicher Tugend war -- das in den folgenden Jahrhunderten mehr und mehr auseinanderfiel. Wenn ich sage, dass dieser Zustand ethischer Verwirrung heute allgemein verbreitet ist, muss ich einschränkend anmerken, dass ich durchaus Leute kenne - darunter auch solche, die überhaupt nicht religiös sind -, die, ohne dafür eine theoretische Begründung zu benötigen, ein geradezu archaisches Empfinden für Ethik haben. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss, eine Frau muss tun, was eine Frau tun muss, und ein kleines pelziges Wesen von Alpha Centauri muss tun, was ein kleines pelziges Wesen von Alpha Centauri tun muss. Basta, badabäm, end of discussion. Das ist natürlich völlig unvereinbar mit dem postmodernen Credo "Jeder soll tun, worauf er Lust hat" -- einer Maxime, die allenfalls noch eingeschränkt wird durch den Zusatz "solange er damit niemandem schadet". Aber woher weiß man überhaupt, was jemandem schadet? Diese Frage ist letztlich nur die Kehrseite der unbeantwortbaren Grundfrage der Metaethik: Woher weiß ich, was "gut" ist? Nun sind die meisten Menschen keine Metaethiker und, Gott sei Dank, auch keine Amoralisten in der Nachfolge Nietzsches, und deshalb leben sie so, als wüssten sie die Antwort auf diese Frage. Das heißt, sie operieren mit moralischen Begriffen, die sie selbst nicht definieren können -- oder wollen, denn "definieren" heißt "begrenzen", und Grenzen sind dem postmodernen Menschen zuwider. Was bleibt, ist eine Weltsicht, die MacIntyre "emotivistisch" nennt: Was moralisch gut oder schlecht, richtig oder falsch ist, entscheide ich auf der Basis dessen, was für Gefühle es in mir auslöst. Und somit ist es natürlich nicht verallgemeinerbar: Ich kann schließlich nicht von jemand anderem verlangen, genauso zu fühlen wie ich.

Vollends verwirrend und verworren wird es, wenn die pseudonyme Pfarrerin mit dem Begriff der Sünde operiert. Das geht ja schon in der Überschrift los: "Ja, auch ich sündige". Im Anschluss an die Schilderung ihrer ach so skandalösen Saufgeschichten wird das wieder aufgegriffen: "Ja, ich bin eine Sünderin. Eine, die Fehler macht im Leben und im Glauben." Aber: "Aber Partys, Alkohol, Drogen sind an sich keine Fehler. [...] Ich bin keine Sünderin, weil ich gegen eine von Menschen festgelegte Moral verstoße." Und nochmals weiter unten: "Ich lebe auch nicht keusch, bis ich verheiratet bin [...]. Ich bete nicht zehn Mal am Tag." Das sind alles Dinge, die sie an sich selber total okay findet. Moral ist überhaupt uninteressant, denn die ist ja nur "von Menschen festgelegt". Aber was ist Sünde dann?  "Es macht mich zur Sünderin, wenn ich mich von Gott entferne, von meinen Mitmenschen und mir selbst". Man beachte die Reihenfolge: Die letzte und höchste Instanz ist das eigene Selbst. Dem muss man vor allem treu bleiben, deshalb betont "Laura Daubt" ja so stolz: "Ich bin nicht so, wie ihr mich haben wollt." Weil, wäre sie das, wäre sie ja sich selbst untreu. Die eine unverzeihliche Sünde.

Und Gott? Keine Bange, Gott interessiert sich auch nicht für "von Menschen festgelegte Moral" und findet uns gut so, wie wir sind. Das versucht die Verfasserin mit einer Bibelstelle zu untermauern, die wir alle kennen, weil sie in solchen Diskussionen immer kommt, mit einer so vorhersehbaren Zwangsläufigkeit, dass man bei manchen Leuten den Eindruck haben kann, sie kennen keine andere. (Spoiler: Es handelt sich um Matthäus 7,1-4.) Ihr Fazit lautet:
"Denn ich bin überzeugt: Gott ist da für die Unperfekten, die Zweifler, ja auch für diejenigen, die bei Sonnenaufgang betrunken nach Hause kommen oder die gar keine Beziehung mit ihm wollen. Das ist mein Glaube." 
Und siehe da: Das ist natürlich richtig. Und zwar so unstrittig richtig, dass man geneigt ist, zu fragen: Und was weiter? 
"Deshalb bin ich Pfarrerin und das möchte ich den Menschen, und zwar allen Menschen, im Glauben und im Leben mitgeben." 
Äh - was genau jetzt? Dass es egal ist, wie wir unser Leben leben, weil Gott uns ja trotzdem und auf jeden Fall liebt? Zugegeben, das sagt sie in diesem letzten Absatz nicht, aber ungefähr das ist der Gesamteindruck, der von ihrem Text übrig bleibt. Es ist anzunehmen, dass nicht wenige Leser der "ZEIT Campus"-Beilage, in der der Text erschienen ist, das ziemlich prima finden werden, weil so schön offen, tolerant und non-judgmental. Aber das täuscht. Nachsichtig ist die Verfasserin nur gegenüber Leuten, die so sind wie sie, bzw. gegenüber Fehlern wie ihren eigenen. Seien wir ehrlich: Das geht vielen, vielleicht den meisten Menschen so. Meinem Stammleser Imrahil verdanke ich den Hinweis auf eine Einsicht Chestertons, die dieser dem Sinn nach in mehreren seiner Werke angesprochen hat: dass wir dazu neigen, nur solche Sünden für verzeihlich zu halten, die wir eigentlich gar nicht als Sünden ansehen. Das christliche Gebot der Nächstenliebe, das "wie auch wir vergeben unseren Schuldigern" des Vaterunser, verlangt uns aber weit Größeres ab: auch und gerade das zu verzeihen, was wir für unverzeihlich halten. Umgekehrt verlangt das christliche Verständnis von Vergebung aber auch dem Sünder etwas ab - nämlich Reue. Hören wir hierzu Alisdair MacIntyre:
"Was ist die Voraussetzung für Vergebung? Sie verlangt, daß der Übeltäter das Urteil des Gesetzes über sein Handeln bereits als gerecht hinnimmt und sich wie jemand verhält, der die Gerechtigkeit der entsprechenden Strafe anerkennt [...]. Die Anwendung von Vergebung setzt die Anwendung von Gerechtigkeit voraus[.]" 
Anders ausgedrückt: Vergebung im christlichen Sinne bedeutet nicht, die Sünde zu leugnen, sondern sie als Sünde zu erkennen und zu benennen und trotzdem zu vergeben. Nun frage ich mich: Ist "Laura Daubt" in der Lage, den Mitgliedern ihrer Gemeinde, über die sie in der ZEIT spricht, weil sie es nicht wagt, mit ihnen zu sprechen, ihre Engstirnigkeit, ihre Vorurteile und ihre gehässige Klatschsucht zu vergeben? Oder noch anders gefragt: Wäre sie bereit, diese Gemeindemitglieder um Vergebung dafür zu bitten, dass sie sie für engstirnige, vorurteilsbeladene und gehässige Klatschmäuler hält

Die Antwort auf diese Fragen wird man wohl nicht in der ZEIT lesen. Aber hoffen wir mal das Beste.



Freitag, 24. November 2017

(K)ein Grund zur Aufregung

Ich habe es neulich schon mal angedeutet, und wer mit mir auf Facebook befreundet ist oder mein privates Profil abonniert hat, der hat es ohnehin mitgekriegt: Vor ein paar Wochen habe ich mich virtuell mit dem ehrenamtlichen Team einer katholischen Jugendseelsorgeeinrichtung in Berlin angelegt, weil dieses für einen - wie ich es jüngst ausdrückte - "moralisch nicht ganz einwandfreien Film" warb; was wiederum damit zusammenhing, dass mindestens eine Sequenz des Films in den Räumlichkeiten dieser Einrichtung gedreht worden war. Die Auseinandersetzung auf FB eskalierte schnell in einem Ausmaß, das zum konkreten Anlass eigentlich in gar keinem vernünftigen Verhältnis stand, und das war einer der Gründe, weshalb ich die Angelegenheit erst einmal habe ruhen lassen. Ich wollte (und will) nicht den Eindruck erwecken, es handle sich um eine persönliche Vendetta. Ein anderer Grund war der durchaus überzeugende Hinweis, die Sache an die große Glocke zu hängen würde dem betreffenden Film doch nur Publicity verschaffen, und das könne doch wohl nicht in meinem Interesse sein. 

Andererseits denke ich, die hier skizzierte Angelegenheit verweist auf grundsätzliche Probleme, die in ihrer Bedeutung weit über den konkreten Einzelfall hinausgehen, und dazu möchte ich eigentlich doch noch etwas sagen. Wie löse ich das Dilemma? Indem ich auf den konkreten Einzelfall nur so weit eingehe wie unbedingt nötig und mich so weit wie möglich auf die verallgemeinerbaren Aspekte konzentriere. Ich gedenke daher weder den Film noch die Jugendseelsorgeeinrichtung namentlich zu erwähnen, auch wenn mich das Klicks kostet. 

Symbolbild, Quelle: Flickr
Zum Film nur so viel: Es geht darin um einen abgehalfterten ehemaligen Frauenhelden, der damit konfrontiert wird, einen (halbwegs) erwachsenen Sohn zu haben. Und dieser will von ihm nun lernen, wie man Frauen aufreißt. 

Ein Spitzenthema für katholische Jugendseelsorge? -- Kommt drauf an. Nach allem, was ich über den Film gelesen habe, und den Ausschnitten, die ich gesehen habe, erscheint es einigermaßen offensichtlich, dass der abgedankte Aufreißerkönig und sein Möchtegern-Thronfolger als eher tragikomische Figuren in Szene gesetzt werden; und demnach kann man wohl davon ausgehen, dass der Ansatz, die Jagd nach unverbindlichen Sexualkontakten quasi als Sport zu betreiben, durch die Filmhandlung eher ironisiert wird. Andererseits setzt der Film aber die Existenz einer "Hookup Culture" als etwas Selbstverständliches und Normales voraus, und die (Tragi-)Komik entsteht nur dadurch, dass die Protagonisten sich dabei so plump anstellen. Wären sie charmanter und vor allem attraktiver, gäbe es überhaupt keinen Konflikt. 

Zum Vergleich will ich mal einen anderen Film heranziehen, der den Vorteil hat, dass ich ihn tatsächlich gesehen habe - und durchaus unterhaltsam fand: die Komödie "Verliebte Jungs" aus dem Jahr 2001. Darin geht es um einen Wettstreit zwischen den Mitarbeitern eines Münchner Biergartens - darum, wer im Laufe des Sommers mit den meisten Frauen schläft. Zur Komödie wird dieser Stoff auch hier erst dadurch, dass die beiden Sympathieträger sich zunächst recht tollpatschig anstellen und ihnen allerlei Missgeschicke widerfahren. Im Laufe der Filmhandlung verlieben sie sich dann natürlich. Als Bösewicht fungiert der Biergarten-Geschäftsführer, der selbst ebenfalls am Wettbewerb teilnimmt, sich dabei aber unfairer Mittel bedient -- was im Umkehrschluss offenbar bedeuten soll, dass es am Vorgehen der anderen Wettbewerbsteilnehmer, bzw. an dem Wettbewerb selbst, grundsätzlich nichts auszusetzen gibt. Am Ende stellt sich heraus, dass unter den Mitarbeiterinnen des Biergartens ebenfalls ein entsprechender Wettstreit lief, sodass schließlich auch die Geschlechtergerechtigkeit wiederhergestellt ist. So gelingt es dem Film mit leichter Hand, emotionale Manipulation und sexuelle Ausbeutung zu de-problematisieren

Ginge es um die Frage, ob es legitim wäre, einen Film wie diesen oder eben den hier ungenannten etwa in einem katechetischen Kurs für Jugendliche zu zeigen und anschließend darüber zu diskutieren, würde ich sagen: Kann man machen, kommt halt drauf an, wie die Diskussion geführt (i.S.v. "geleitet") wird. Man könnte hier einwenden, mit dieser Aussage impliziere ich, dass ich es katholischen Jugendlichen nicht zutraue, ohne geeignete Anleitung die richtigen Lehren aus solchen Filmen zu ziehen. Und da muss ich leider sagen: Ja, das tue ich tatsächlich. Und ich glaube gute Gründe dafür zu haben. 

In einem insgesamt äußerst lesenswerten Doppel-Interview der Tagespost mit dem Leiter des Gebetshauses Augsburg, Johannes Hartl, und dem Präses des BDKJ, Dirk Bingener, erklärt der Letztere mit Blick auf die Haltung katholischer Jugendlicher zur Sexualmoral: "Die Umfrage, die der BDKJ zur Vorbereitung der Familiensynode in Auftrag gegeben hatte, spricht eine klare Sprache. Da haben Sie immer das Verhältnis 90 : 10 zu Ungunsten der kirchlichen Lehre". In den USA haben Studien des Soziologen Christian Smith (von der katholischen Universität Notre Dame in Indiana) ergeben, dass katholische Jugendliche in ihrer Haltung zu Fragen der Sexualität sogar liberaler sind als der Durchschnitt ihrer Altersgenossen. Letzterer Befund dürfte sich auf Deutschland wohl eher nicht übertragen lassen, da der Durchschnittswert in der US-Bevölkerung signifikant durch die recht hohe Zahl konservativer Evangelikaler beeinflusst sein dürfte, die in Deutschland zahlenmäßig kaum eine Rolle spielen. Dennoch deutet wenig darauf hin, dass katholische Jugendliche hierzulande entschieden weniger liberal über sexualethische Fragen urteilen als nicht-katholische Gleichaltrige. Und wen sollte das wundern? Schließlich konsumieren sie dieselben Medien und besuchen (weitgehend) dieselben Schulen, und hier wie dort wird ihnen eingetrichtert, promiskuitives Verhalten von Teenagern sei völlig normal - und auch gar kein Problem, solange sie dabei vernünftig verhüten. Was setzt die kirchliche Jugendarbeit dieser Indoktrinierung entgegen? Mein Eindruck ist: nicht viel. Man weicht dem Thema lieber aus, um die Jugendlichen nicht zu "verprellen". Wenn überhaupt, werden kirchliche Lehraussagen zur menschlichen Sexualität in einer verwässerten und relativierenden Form präsentiert und dann den Jugendlichen zur eigenen Beurteilung überlassen. Wie diese "eigene Beurteilung" dann ausfällt, kann man sich ja vorstellen. Den Jugendlichen ein positives Verständnis für die katholische Sicht auf die menschliche Sexualität zu vermitteln, würde angesichts der allgegenwärtigen Glorifizierung sexueller Freizügigkeit ein erhebliches Maß an Sorgfalt und Mühe erfordern; bringt man dieses nicht auf, dann erscheint diese Lehre bloß als eine Ansammlung von Verboten und Miesepetrigkeit, und wenn einem dann noch suggeriert wird, man müsse diese Lehre ja nicht annehmen, dann -- Entschuldigung -- scheißt man eben drauf.

So gesehen stellt der oben erwähnte Umstand, dass laut BDKJ-Präses Bingener zehn Prozent der katholischen Jugendlichen - sofern man die BDKJ-Umfrage als repräsentativ betrachtet, aber das setzt Bingener ja implizit voraus - der kirchlichen Lehre zum Thema Sexualität zustimmen, eigentlich gar keine so schlechte Quote dar; eine bessere jedenfalls, als man hätte erwarten können. Aber auch diese zehn Prozent haben einen schweren Stand, wenn sie mit dieser Einstellung selbst in ihren eigenen Kreisen in einer Außenseiterposition sind, als sonderbar oder "verklemmt" gelten -- und niemanden haben, der sie in ihrer Haltung bestärkt. Wer sollte es den jungen Leuten schließlich verübeln, wenn sie sich irgendwann doch fragen, welchen Sinn es eigentlich hat, sich strengeren Regeln zu unterwerfen als ihre Altersgenossen, wenn selbst ihre Seelsorger ihnen den Eindruck vermitteln, diese Regeln seien nicht wirklich verbindlich, sondern stünden in ihrem eigenen Ermessen? Dies gilt umso mehr, als in ihrem Alltag die Versuchungen genauso allgegenwärtig sind wie in dem der anderen und die Hormone in der Adoleszenz gern mal Achterbahn fahren.

Was also ist zu tun? Ich meine, wenn man den Jugendlichen nicht nur theoretisch, sondern erfahrbar vermitteln will, dass Keuschheit - ein unpopulärer Begriff, ich weiß, aber er trifft nun mal den Sachverhalt genauer als jeder andere - ein positiver Wert ist und nicht bloß Verzicht, dann braucht man dafür Räume (im wörtlichen wie auch im erweiterten Sinne), in denen unmissverständlich andere Wertmaßstäbe herrschen als in der "säkularen" Umwelt. Wenn solche in diesem Sinne "geschützten Räume" nun in kirchlichen Jugendseelsorgeeinrichtungen nicht zu finden sind, wo denn dann?

Kurz gesagt, wenn eine Jugendseelsorge-Initiative beschließt, ihre Räumlichkeiten für Dreharbeiten zu einem Film wie dem hier in Frage stehenden zur Verfügung zu stellen (und dann, einigermaßen folgerichtig, auch für den Film wirbt), ist dieser Vorgang nicht das eigentliche Problem, sondern nur ein Symptom, ein Detail, ja, fast schon eine Lappalie. Insofern muss ich zugeben, dass ich in meiner impulsiven Kritik an diesem Filmdreh einen Fehler gemacht habe - nein, eigentlich sogar zwei: Zunächst einmal habe ich den hier skizzierten Gesamtzusammenhang fälschlich als selbsterklärend vorausgesetzt, und dann habe ich allzu angepisst reagiert, als ich eine lediglich flapsige Reaktion erntete. Der Eindruck eines mangelnden Problembewusstseins - nicht nur auf Seiten der jungen Ehrenamtlichen, sondern auch auf Seiten der Verantwortlichen beim Erzbischöflichen Ordinariat - bleibt dennoch bestehen.