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Mittwoch, 29. November 2023

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 18

Salvete, liebwerte Freunde der antiklerikalen Schund- und Schauerliteratur der Kulturkampfzeit! Ich fürchte, es droht allmählich redundant zu werden, wenn ich die Fortsetzung dieser Artikelserie schon wieder mit Entschuldigungen dafür beginne, dass seit der letzten Episode so viel Zeit ins Land gegangen ist; daher will ich mich damit lieber nicht länger als nötig aufhalten, sondern lieber direkt in die Materie einsteigen. In der Besprechung des Romans "Barbara Ubryk oder Die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau" waren wir zuletzt bis zu Kapitel LX gekommen; während die Protagonistin Jovita von den Engeln (alias Barbara Ubryk) mit einer schweren Kopfverletzung darniederlag, ist es dem schurkischen Pater Gratian und der Priorin Zitta mittels fingierter Briefe gelungen, ihrem Orden das üppige Erbe Barbaras zu sichern und überdies dafür zu sorgen, dass ihre Verwandten sich nicht weiter um sie kümmern; als kleinen Lichtblick hat Jovita einen neuen Beichtvater zugewiesen bekommen, der es, sehr im Unterschied zu dem schurkischen Gratian, gut mit ihr meint. Währenddessen haben wir in dem im Interesse der Kontrastwirkung zum Vergleich herangezogenen "anderen Roman", Sir John Retcliffes "Biarritz", den Freischärler-Offizier Chevigné in der Klause eines geheimnisvollen Eremiten zurückgelassen, der im von schaurigen Gerüchten umrankten "Kloster der Verdammten" das Amt des Beichtvaters versieht. Nachdem der Einsiedler plötzlich aus seiner Klause verschwunden zu sein scheint, entdeckt Chevigné einen Geheimgang, der offenbar zum Kloster führt – lässt sich durch diese Entdeckung jedoch nicht davon abhalten, sich erst einmal schlafen zu legen. 

Wo machen wir also weiter – in Polen oder in den Abruzzen, mit Jovita von den Engeln oder Kapitän Chevigné? – Ich kann nicht leugnen, dass ich auf Letzteres, auf Retcliffes Kloster der Verdammten, erheblich mehr Lust habe, aber gerade im Interesse der Spannungssteigerung erscheint es ratsam, mit dem erzählerisch schwächeren Text anzufangen. Zumal es der ist, von dem die Fans dieser Artikelserie zweifellos in erster Linie erfahren wollen, wie er weitergeht. 

Die Überschriften der beiden nächsten Kapitel scheinen jedenfalls vielversprechend: "Geister, Kobolde, Dämone, Teufel, Belzebuben, Satanas" ist das LXI. Kapitel betitelt, das LXII. "Die Teufelsbeschwörung". Das erstgenannte dieser beiden Kapitel beginnt damit, dass die gerade so einigermaßen genesene Jovita an der Tür ihrer Zelle einen mit Kreide gezeichneten Totenkopf entdeckt; ihr Beichtvater Pater Alfons, dem sie dies berichtet, erklärt ihr, es sei "klösterlicher Gebrauch, daß man Personen, die man aus irgend einem Grunde haßt, durch Zeichnung eines Todtenkopfes immerwährende Feindschaft ankündigt und sogar den Tod androht" (S. 904). Wenig später wird sie beinahe von einem herabfallenden Blumentopf erschlagen, der sie nur verfehlt, weil sie mit dem Ärmel an einem Wandkruzifix hängen geblieben ist. Hinter diesem Anschlag steckt Pater Gratians neue Geliebte Schwester Euphrosina, die eifersüchtig auf Jovita ist; Gratian selbst ersinnt derweil ein anderes Mittel, um Jovita endgültig loszuwerden: Als Jovita durch die emotionale Erschütterung angesichts der Erkenntnis, dass man ihr ernsthaft nach dem Leben trachtet, erneut aufs Krankenlager geworfen wird, rät Gratian der Priorin, Jovita ein Medikament zu verabreichen, dessen Wirkung angeblich erweisen soll, ob sie ernsthaft krank ist oder lediglich simuliert. In Wirklichkeit handelt es sich bei diesem sogenannten "Prokrustespulver" (S. 918) um "geriebene Wurzeln vom Schlafapfel, gemischt mit [...] Thymian" (ebd.); vom Schlafapfelpulver heißt es, es sei zwar "kein Gift", aber doch "schädlich in seinen Wirkungen; es zerrüttet das Gehirn des Menschen" (ebd.). 

Nachdem Jovita dieses vermeintliche Medikament verabreicht bekommen hat, fällt sie zunächst in einen tagelangen Schlaf, aus dem sie "[n]ur auf kurze Zeit" erwacht, um "über schreckliche Kopfschmerzen und beängstigende Träume" zu klagen, "in denen sie von schwarzen Männern verfolgt würde, sich bald am Rande eines tiefen Abgrundes schwindelnd stehen, bald auf einem zerbrochenen Boote von den Wellen des Meeres im Kreise herumgewirbelt fühle" (S. 220). Als am vierten Tag jedoch Pater Gratian im Beisein der Priorin die Kranke in ihrer Zelle besucht, erwacht diese, richtet sich im Bett auf und bricht "in ein gellendes Gelächter aus" (S. 221); dann schreit sie Gratian an: 

"Ha, Verfluchter! Wenn der Tod nicht bald kommt..... unvermeidlich verrathen!..... Ich werde... verflucht sein... excommunicirt... Geh fort, Verfluchter! Sprich mir nicht vom Himmel, nicht von der Jungfrau... Wenn die Madonna den Unglücklichen beisteht, warum kommt sie nicht zu Hilfe ... mir und dem armen Geschöpfe, das ich unter meinem Herzen fühle?" (ebd.). 

Ihre boshafte Krankenpflegerin Schwester Cordula will Jovita daraufhin verprügeln, aber Gratian gebietet ihr Einhalt: "Sehen Sie nicht, daß die Unglückliche wahnsinnig ist?" (S. 222). Als Jovita jedoch in ihrem Monolog fortfährt – "Dieser Ort ist von Dämonen unsicher gemacht... da sind sie... ich sehe sie... einen nach dem andern... Holla ! Du da unten im Winkel... warum machst Du solche Grimmassen?... Und Du, in jenem dort... warum rüttelst Du an den Mauern und stößest an den Plafond mit Deinen Hörnern?... Ha, siehst Du ihn, wie er Dir zur Kutte hineinfährt?... Er hat Dich, flieh, flieh!" (ebd.) –, korrigiert er seine Einschätzung: Sie sei nicht wahnsinnig, sondern besessen

Johann Heinrich Füssli: Der Nachtmahr (Fassung von 1781; gemeinfrei)

An diese Diagnose schließt sich ein längerer, als Vortrag Pater Gratians vor den beunruhigten Nonnen präsentierter Exkurs über verschiedene Formen der Besessenheit an, der dem Verfasser einmal mehr Gelegenheit gibt, seitenweise aus anderen Werken zu zitieren. Dabei macht er, wie auch schon früher bei ähnlichen Exkursen, sogar Quellenangaben – so verweist er auf das 1668 erschienene "Alexiacon" des italienischen Exorzisten Candido Brognolo, das 1779 erschienene Werk "De daemonum existentia et operibus" des Dämonologen G.P. Verpoorten sowie das wohl um 1220 entstandene Buch "De confessione" des Zisterziensermönchs Caesarius von Heisterbach; was er dabei nicht verrät, ist, dass er diese Passagen mitsamt den dazugehörigen Quellenangaben nahezu wortwörtlich aus dem IV. Band der "Christlichen Mystik" von Joseph Görres abgeschrieben hat. Tatsächlich stellt dieses 1842, also keine 30 Jahre vor dem "Barbara Ubryk"-Roman, erschienene Buch – wie ich mit Hilfe von Google Books ermitteln konnte – die Hauptquelle für diesen Exkurs dar, der sich von S. 924-949 des Romans erstreckt; nur einige wenige Passagen hat der Romanautor anderen Quellen entnommen oder zum Teil womöglich auch selbst erfunden. 

Kaum jedoch hat Pater Gratian seinen Vortrag beendet, da tritt Pater Alfons – Jovitas Beichtvater – auf und erbittet von der Priorin die Erlaubnis, "den lieben Schwestern auch einige freiere Ansichten vorlegen zu dürfen" (S. 951). Obgleich er beteuert, es handle sich "hier nicht um dogmatische Glaubenssätze" (ebd.), erweist Pater Alfons sich mit seiner engagierten Gegenrede als Modernist reinsten Wassers; und es ist recht bezeichnend, dass der Autor ihn gegenüber Gratian (der während seines Vortrags reichlich "Carmelitergeist" genossen hat und entsprechend erhitzt ist) als überlegenen Denker darzustellen versucht, ihm dabei aber allerlei logische Fehlschlüsse ("Gleiche Wirkungen haben gleiche Ursachen", S. 950) und Scheinargumente ("Ist nun der Zustand, in dem sich ein angeblich Besessener befindet, ein derartiger, daß man ihn zu den Geheimnissen rechnen muß, so ist damit gesagt, daß man sich denselben nicht erklären kann, denn Geheimniß bleibt immer Räthsel", S. 951) in den Mund legt – was darauf schließen lässt, dass der Autor selbst nicht zu unterscheiden vermag, was ein valides Argument ist und was nicht. 

Mindestens dem heutigen Leser stößt zudem der Antijudaismus übel auf, den Pater Alfons an den Tag legt, indem er "die Ueberreste des Judenthums" in der christlichen Glaubenslehre tadelt: Während die Aussage, es sei "nicht zu läugnen, daß viele heidnische und jüdische Anschauungen ins Christenthum übergegangen sind" (S. 951f.), noch recht sachlich-neutral anmutet, wirft Pater Alfons kurz darauf die rhetorische Frage auf, ob "die heidnische Weltanschauung" etwa "eine gesündere" gewesen sei "als die der Juden, welche selbst ein goldenes Kalb anbeteten und Christus kreuzigten, weil er sich für den Sohn Gottes ausgab" (S. 952). Mehr noch: "Was die Heiden für unvernünftig hielten, glauben die Christen" (ebd.). 

Weiterhin meint Pater Alfons: "Der Teufel ist eine Erfindung, so alt, wie die Menschen" (ebd.). Den Glauben an dämonische Besessenheit erklärt er rundheraus für "Unsinn und Hirngespinnst" und vergleicht ihn wiederholt mit dem Glauben an Hexerei, den die Kirche inzwischen selbst als Aberglauben erkannt habe: Auf Pater Gratians Einwurf, er habe in seinem Vortrag lediglich "die christliche Mystik [...] behandelt" (S. 950) – ein kaum verhüllter Hinweis auf den Titel des Buches von Görres, das die Hauptquelle für diesen Vortrag darstellt –, entgegnet Pater Alfons, "der Hexenglaube" gehöre "ebenso gut in die christliche Mystik wie die Besessenheit: (ebd.), und als Pater Gratian betont, die Kirche habe doch wohl nicht ohne Grund "ein eigenes Rituale von Exorcismen" (S. 954), erwidert sein Debattengegner ungerührt: "Die Kirche glaubt eben heute ebensofest an die Besessenheit durch Dämone, wie gestern an das Hexenwesen" (ebd.). 

Pater Alfons' zentrales Argument lautet, der Glaube an Besessenheit sei durch den wissenschaftlichen Fortschritt überholt. "Warum gibt es heute keinen Besessenen mehr?", fragt er (S. 953) – eine etwas sonderbare Ausgangsfrage, wenn man bedenkt, dass der Anlass für die ganze Disputation doch ein aktueller Fall angeblicher Besessenheit ist. Aber wie dem auch sei: Pater Alfons verweist darauf, dass "die Aerzte die Krankheiten als einen Ausfluß der natürlichen Gebrechlichkeit behandeln und nicht als Ausfluß einer außernatürlichen Macht, als Ausfluß von Dämonen" (ebd.): "Die Mystik hört also auf, wenn das Räthsel gelöst ist. Und gelöst ist es von der freien Wissenschaft!" (ebd.) Die "Tobsüchtigen", deren Zustand man früher durch Besessenheit erklärt hätte, sperre man heute "in die Irrenhäuser und bannt ihre Dämone durch die Zwangsjacke" (S.  954). Der Ordensmann geht in seinem Lob des Fortschritts so weit, dass er "die große französische Revolution" rühmt, sie habe dafür gesorgt, dass "den Menschen keine Zeit mehr" bliebe, "Besessene zu spielen" (S. 953): "Gleichzeitig schwand das Zauber- und Hexenwesen, nachdem einige Jahre zuvor der Jesuitenorden aufgehoben worden war. Andere Dämone jagen heute durch unsere Länder – der Dampf und der elektrische Funke, und die sündige Welt fährt wahrlich besser dabei" (ebd.). 

Letzten Endes, so argumentiert er, laufe vermeintliche Besessenheit "immer auf eine Krankheit hinaus, welche die 'gute alte Zeit' nicht terminiren noch heilen konnte, und darum alle Schuld auf den Teufel schob" (S. 954); als solche Krankheiten nennt er insbesondere "die Epilepsie, die Hysterie, die Hämorrhoiden" (S. 953): "Ja, wir hätten genug Besessene, wenn diese drei Krankheiten nicht anders erklärt werden könnten, denn als Werk innewohnender Dämonen" (ebd.). Bemerkenswert erscheint es, dass Pater Alfons, um "[s]eine Behauptung, die Besessenheit bestehe in einer der drei vorgenannten Krankheiten" (S. 955), zu untermauern, seinerseits ebenso wie sein Vorredner auf Fallbeispiele verweist, die dem IV. Band von Görres' "Christlicher Mystik" entnommen sind, und es dem Autor somit ermöglicht, nochmals fast drei Seiten seines Romans mit nahezu wörtlichen Zitaten aus dieser Quelle zu füllen. 

Zum Abschluss seiner Ausführungen tadelt Pater Alfons es als "[u]nbegreifliche Saumseligkeit", Jovitas "Zustand [...] nicht vom Arzte untersuchen [zu] lassen", und hält der Priorin vor: "Sie belasten Ihr Gewissen , wenn sie der Schwerkranken noch länger die ärztliche Hilfe verweigern. Als Beichtvater Jovitas werde ich eine solche Vernachlässigung nicht dulden" (S. 958). Das Kapitel endet mit einer zünftigen Prügelei zwischen Gratian und Alfons. 

Das sehr viel kürzere Kapitel LXII,  "Die Teufelsbeschwörung", beginnt damit, dass Pater Gratian sich beim Prior seines Klosters St. Josef über Pater Alfons beschwert: "Wissen Sie schon, Pater Prior, daß einer unserer Brüder als ein ausgebildeter Häretiker sich entpuppt hat? [...] Pater Alfons, der Irländer, trägt den Schwestern von St. Theresia die schauderhaftesten Ketzereien vor" (S. 962). – Aha, ein "Irländer" ist er also; und was seine "ketzerischen Ansichten" angeht, bräuchte der Prior eigentlich gar nicht so überrascht zu sein, schließlich sagt er ihm selbst auf den Kopf zu, schon früher wegen solcher Äußerungen "von einem Kloster ins andere versetzt" worden zu sein (S. 964). Da Pater Alfons seine lästerlichen Anschauungen aber "auch hier noch nicht aufgeben" mag, lässt der Prior ihn "[k]raft des klösterlichen Gehorsams" kurzerhand in "'Zelle Nro. 13' – so heißen die Klösterlichen Kerker –" einsperren. 

Sodann wird der Leser darüber aufgeklärt, warum Pater Gratian solchen Wert darauf legt, die Priorin des Frauenklosters und die übrigen Nonnen zu überzeugen, dass Jovita nicht "nur wahnsinnig" sei, sondern "daß ihr wahrhaftig ein böser Dämon innewohne": Würde sie nämlich für wahnsinnig gehalten, "konnte sie möglicherweise in eine Irrenanstalt verbracht und damit der Sphäre seiner rachsüchtigen Pläne entrückt werden. Als Besessene jedoch durfte er sie nach Herzenslust quälen und martern, weil er dann sagen konnte, er quäle nur den Teufel, der sie bewohne" (S. 965). – Derweil kehren "[d]ie wilden Ausbrüche Jovitas [...] von Tag zu Tag wieder, und sie wüthete oft in einer Weise , daß ihre beiden Wärterinnen entsetzt die Flucht ergriffen" (ebd.) und selbst die Priorin meint, man solle "den Arzt ihren Zustand untersuchen lassen" (ebd.). Pater Gratian weist dieses Ansinnen scharf zurück: "Nur keinen Arzt zur Beurtheilung solcher Krankheiten herbeiziehen, Zitta! Was versteht Dr. Kochanowski von Besessenheit?" (ebd.). Stattdessen schlägt er vor, höchstpersönlich einen Exorzismus an Jovita vorzunehmen. Vorsorglich macht er die Priorin aber darauf aufmerksam, "daß nicht Alles, was der Dämon spricht, Wahrheit ist, denn er ist ja der Geist der Lüge, und daß er oft lange, sogar Jahre hindurch, beschworen werden muß, bis er weicht. Ich kann mich also nicht verbindlich machen, ihn binnen heute und morgen auszutreiben" (S. 966). Dem Leser ist natürlich klar, dass Gratian sich mit diesen Hinweisen dagegen absichern will, dass Jovita in ihrem unzurechnungsfähigen Zustand etwas über ihr früheres Verhältnis zu ihm verraten könnte – und gegen das unvermeidliche Ausbleiben eines Erfolgs seiner "Behandlung". 

Es folgt eine recht ausführliche Schilderung der vorbereitenden Riten für einen Exorzismus, angefangen mit der Weihe des Wassers; dann spricht Pater Gratian die vermeintlich Besessene direkt an: 

"Schwester Jovita, erkennst Du mich?" – 

worauf diese "lachend" antwortet: 

"Ob ich Dich kenne? Wer hat mir so süße Küsse gegeben? Wer hat sich mit mir trauen lassen? Komm, gib mir einen Kuß, lieber Mann!" (S. 969) 

Die Peinlichkeit dieses Moments überspielt der Pater ohne große Mühe, indem er den anwesenden Nonnen versichert, es spreche "bereits der Dämon aus ihr" (S. 970), und sich mit seinen weiteren Fragen an diesen richtet: 

Was suchst Du hier ? 

– Lucifer hat mir befohlen, in diesem Gefässe [sic] zu wohnen, bis ich von einem mir Heiligen daraus vertrieben werde. 

So sage mir zuvor: wie heißt Du ?

– Jovita von den Engeln. 

Du lügst , o Dämon. So heißt die Schwester, die Du bewohnst. Nenne Deinen Namen, oder ich werde Dich dazu zwingen. 

– Ich heiße Zoophyt, das ist Schlangengeburt des Abgrundes. 

Bist Du allein oder mit andern Geistern ? 

– Ich, Zoophyt, bin Legionsführer und eine Unzahl Dämonen ist mir unterthan. In bin Einheit und Vielheit . 

Wie viele Dämonen führst Du an? 

– Legion ist ihr Name, der in Zahlen nicht ausgedrückt werden kann." (ebd.) 

Läuft die Beschwörung für Pater Gratian bis hierher also durchaus nach Wunsch, wird es erneut peinlich für ihn, als er den vermeintlichen Dämon befragt: 

"Durch wen kannst Du vertrieben werden? Was muß geschehen , damit Du weichest?

– Wenn ein heiliger Mann meinen Mund wie zum Kusse berührt, werde ich ausfahren. 

Wer ist dieser heilige Mann? fragte der Pater gespannt . 

– Ich werde mich hüten, es zu sagen. 

Du mußt, o Dämon! 

Bin ich es? 

– Seit wann bist Du ein heiliger Mann?!" (S. 972) 

Ergrimmt über diese höhnische Antwort, lässt sich der Pater dazu hinreißen, Jovita ins Gesicht zu schlagen. Auf weiteres Befragen hin erklärt diese, der Mann, der sie von ihrer Besessenheit erlösen könne, sei "Woicech Zarski, der ehemalige Kirchendiener" (S. 973), von dem man bei dieser Gelegenheit erfährt, "daß er schon längere Zeit Warschau verlassen hat" (ebd.). – Es wäre dem geneigten Leser wohl kaum zu verübeln, wenn er sich momentan nicht daran erinnern könnte, wer denn dieser Woicech war, dessen bislang letzter Auftritt in der Romanhandlung bereits rund 80 Seiten zurückliegt; daher hier eine kleine Gedächtnis-Auffrischung: Woicech Zarski war ein berückend schöner Student, den Jovita zunächst als Kunden in der Klosterapotheke kennenlernte und zu dem sie dann, als er Kirchendiener an der Klosterkirche wurde, eine heimliche Liebesbeziehung unterhielt, bis er infolge einer Intrige von Jovitas Mitschwestern zusammen mit drei anderen Kirchendienern entlassen wurde. Seine Erwähnung an dieser Stelle lässt vermuten, dass er im weiteren Verlauf der Romanhandlung noch einmal eine Rolle zu spielen haben wird. 

Die Beschwörung jedenfalls endet damit, dass Jovita von ihrer Krankenpflegerin Schwester Cordula mit einer Rute blutig geschlagen wird, bis ihrer Peinigerin die Arme lahm werden. Der Erzähler kommentiert: 

"Die Tochter eines Edelmannes, aus einer der ersten Familien Warschaus, war Jovita hier der zügellosen Rohheit und der empörenden Grausamkeit eines Schwarmes von Nonnen preisgegeben, die sich von einem rachsüchtigen Mönche leiten ließen. War das jenes Glück, eine Braut Christi sein zu dürfen?" (S. 274) 

Diese Betonung der "edlen" Herkunft Jovitas alias Barbaras steht offenkundig im Dienste eines Konzepts von tragischer Fallhöhe, das sich seinerzeit nicht nur, aber besonders in der Kolportageliteratur großer Beliebtheit erfreute; es sei jedoch daran erinnert, dass diese Passage nicht nur im Widerspruch zu den bekannten Fakten des realen Falles Barbara Ubryk steht, sondern auch innerhalb der Romanhandlung selbst einen Widerspruch darstellt: Die Barbara bzw. Jovita des Romans stammt zwar mütterlicherseits "aus einer der ersten Familien" des Landes, aber davon, dass ihr Vater ein "Edelmann" gewesen sei, kann keine Rede sein, vielmehr ist Kasimir Ubryk in einem "armselige[n] und schmutzige[n] Stadtviertel von Warschau aufgewachsen (S. 82). 

--- Und was gibt es derweil Neues in den Abruzzen, wo sich Kapitän Chevigné in der Klause des geheimnisvollen Einsiedlers Fra Gerardo schlafen gelegt hat? Zunächst nur soviel: Gerade als der Offizier träumt, "er sei in der großen Oper zu Paris und höre den Gesang des Chors" (S. 153), wacht er plötzlich auf und stellt fest, dass die Einsiedelei tatsächlich von Gesang erfüllt ist. Wie sich zeigt, dringen die Klänge aus dem Geheimgang, woraus Chevigné folgert, "daß der unterirdische Felsengang wahrscheinlich sich in das Schiff der Kirche öffnete und die eigenthümliche Beschaffenheit des Gesteins für die Resonnanz günstig, ja verstärkend sie bis auf die Höhe des Felsens trug" (S. 154). – "Eine unbezwingliche Neugier" (ebd.) veranlasst ihn daraufhin, in den Geheimgang hinabzusteigen – der an einem anderen Ende in eine Art Säulengang übergeht, von dem ais man auf der einen Seite "das Campo Santo des Klosters, de[n] Begräbnißplatz der geheimnißvollen Bewohnerinnen" (S. 156) sehen und auf der anderen in das Innere der Klosterkirche hineinblicken kann. Aus seinem Versteck sieht Chevigné "das [!] einfache Hochaltar mit dem Chor, das durch ein schweres Eisengitter von dem Schiff getrennt war" (S. 157): 

"Das Gitter war jetzt geöffnet und innerhalb desselben bemerkte der Offizier eine Reihe dunkler tief verhüllter Gestalten knien. 

Mitten im Chor, nur von vier Kerzen beleuchtet, stand ein offener Sarg, – in dem Sarg lag auf einem schwarzen Sergetuch ein Gerippe als furchtbare Mahnung an den Tod. 

Vor dem Altar kniete der Einsiedler, jetzt mit Stola und Scapulier geschmückt, hinter ihm eine in dunkle Nonnengewänder gehüllte Frau, während vor den Stufen des Altars eine Bahre mit einer geringen Matratze stand. Auf dieser lag, offenbar in den letzten Stadien der Krankheit, in der Agonie des Todes, eine Frau - eine Nonne, deren bleiches, eingefallenes Gesicht noch die Spuren der Jugend und Schönheit trug. In ihren abgemagerten Händen hielt sie ein Crucifix." (S. 157f.) 

Was der Offizier im Folgenden beobachtet und was sich daraus, wenn auch vom Autor offenbar bewusst in ein gewisses Zwielicht zwischen Traum und Wachen gehüllt, über den Inhalt der geheimen Botschaft erschließen lässt, die Chevigné dem Einsiedler überbracht hat, ohne sie selbst zu kennen, ist so spektakulär und dabei auch so komplex, dass ich denke, es gibt ausreichend Stoff für einen eigenständigen Artikel ab. Dazu also demnächst! 


Hinweis in eigener Sache: Dieser Artikel erschien zuerst am 22.11. auf der Patreon-Seite "Mittwochsklub". Gegen einen bescheidenen Beitrag von 5-15 € im Monat gibt es dort für Abonnenten neben der Möglichkeit, Blogartikel bis zu einer Woche früher zu lesen, auch allerlei exklusiven Content, und wenn das als Anreiz nicht ausreicht, dann seht es als solidarischen Akt: Jeder, der für die Patreon-Seite zahlt, leistet einen Beitrag dazu, dass dieser Blog für den Rest der Welt kostenlos bleibt! 


Sonntag, 26. November 2023

Sonntags-Impuls: Der Unbekannte Gott als schlafendes Kind

[Dieser kleine Impuls kam mir vorigen Sonntag auf dem Weg zur Kirche in den Sinn, und als ich aus der Kirche zurückkam, veröffentlichte ich ihn umgehend bei Patreon. Nun möchte ich ihn aber gern auch noch hier präsentieren, zumal ich finde, er passt auch zu Christkönig.] 

*

Neulich sah ich auf Facebook einen Cartoon mit dem Titel "Ways the World Might End". Neben mehr oder weniger "üblichen" Weltuntergangsszenarien wie "Wir jagen uns selbst in die Luft", "Zombie-Apokalypse" oder "Roboter übernehmen die Macht" fand sich da auch die Option "The child who's dreamt us into reality wakes up". – Es kam mir so vor, als hätte ich von der Vorstellung, die ganze Welt sei nur der Traum eines Kindes und werde enden, wenn das Kind erwacht, schon mal irgendwo gehört oder gelesen, und ich dachte mir: Schon interessant, dass Leute sich von solchen und ähnlichen Gedankenspielen angesprochen fühlen und davon fasziniert sind, gleichzeitig aber den Glauben an Gott für primitiven, "vorwissenschaftlichen" Aberglauben halten. – Aber dann fiel mir plötzlich auf, dass das schlafende Kind, das die Welt träumt, eigentlich ein bemerkenswertes Bild für Gott ist. Wohlgemerkt nicht für Gott, wie Ihn das Christentum lehrt; auch nicht, wie irgendeine andere mir bekannte Religion Ihn lehrt. Es ist, wenn man so will, eine nicht-religiöse Vorstellung von Gott


Religion hat, dem Wortsinne nach, mit Bindung, Anbindung zu tun. Das schlafende Kind, das die Welt träumt, ist ein Bild für einen Gott, zu dem man keine Bindung hat, auch gar keine Bindung haben kann, weil er außerhalb der von ihm erschaffenen Realität existiert und in ihr nicht vorkommt

Man kann wohl behaupten, dass das eine Minimaldefinition für "Gott" ist – also dafür, was ein Mensch, der selbst nicht religiös ist, sich unter dem Begriff "Gott" vorstellt: ein allmächtiges, jenseits von Raum, Zeit und Materie existierendes Wesen, das die Welt erschaffen hat und am Leben erhält, sie aber auch vernichten könnte. Unser Katechismus lehrt, dass Gott die Welt aus dem Nichts erschaffen habe, ohne Notwendigkeit, einfach aus Seinem freien Willen heraus. Wenn man darüber hinaus nichts über Gott weiß – ja, wenn man der Auffassung ist, man könne gar nichts über Ihn wissen, da Er außerhalb der Grenzen unser Realität existiere –, dann ist das eine durchaus erschreckende Vorstellung: ganz und gar der Willkür eines Wesens ausgeliefert zu sein, das man nicht kennt. Was, wenn dieses Wesen böse ist? Was, wenn Gut und Böse ihm schlichtweg gleichgültig sind? Was, wenn es ihm Spaß macht, uns in die Irre laufen zu lassen? 

Es ist daher nur folgerichtig, dass der Mensch, sobald er die Existenz eines Gottes als real annimmt, bestrebt ist, diesen Gott kennenzulernen, Kontakt zu Ihm aufzunehmen, eine Bindung zu Ihm herzustellen. Das ist es, was Religion im weitesten Sinne bedeutet. Deshalb bittet der Apostel Philippus im Johannesevangelium Jesus "Herr, zeig uns den Vater" (Joh 14,8), und deshalb ist es so sensationell, so großartig, dass Jesus sagt "Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen" (Joh 14,9) und "Ich und der Vater sind eins" (Joh 10,30)

Letztlich hängt alles davon ab, ob wir Jesus vertrauen, dass Er uns die Wahrheit über Gott sagt – und nicht nur sagt, sondern zeigt, vorlebt, erfahrbar macht. Wenn wir dieses Vertrauen nicht haben, dann ist es nur zu verständlich, wenn uns die Vorstellung lieber ist, es gäbe keinen Gott. 


Samstag, 25. November 2023

Creative Minority Report Nr. 5

Willkommen zu einem neuen Wochenbriefing, Leser! Das Kirchenjahr neigt sich dem Ende zu, schon bald wechseln wir vom grünen Stundenbuch zum blauen und zünden die erste Kerze am Adventskranz an... Aber noch ist es nicht ganz soweit, auch wenn uns schon von überall her die Weihnachtsdekoration entgegenlacht; daher ohne weitere Vorrede zu den Neuigkeiten der Woche! 

Ist Dir auch so kalt, Leser? 

Was bisher geschah 

Das dominierende Thema der zurückliegenden Woche war, dass die Magen-Darm-Grippe des Tochterkinds sich als langwieriger und hartnäckiger erwiesen hat, als ich es erwartet oder jedenfalls gehofft hätte. Zum Jubiläumswochenende im Baumhaus schafften wir es daher leider nicht, und zur Schule gehen konnte das Tochterkind die ganze Woche nicht. Zum JAM am Mittwoch ging die Liebste mit dem Jüngsten, während ich mit der Großen zu Hause blieb, Tee und Marmeladenbrote zubereitete und über YouTube "Anna auf der Alm" anschaute. 

Ein anderes Thema, das die zurückliegende Woche stark geprägt hat, war der Amtsantritt eines neuen Priesters in der Pfarrei St. Willehad in meinem Heimatstädtchen Nordenham und die Berichterstattung darüber – sowohl meine eigene als auch die anderer Medien; Näheres dazu weiter unten in der Rubrik "Währenddessen in der Wesermarsch". Auch sonst hat dieses Wochenbriefing, wie das vorige, wieder mehr Beobachtungen und Reflexionen zu bieten als Erlebnisberichte; aber das wird sicher auch mal wieder anders... 


Was ansteht 

Heute Abend hätten wir die Wahl zwischen diversen Aktivitäten bzw. Veranstaltungen –eine "Laternendemo" in Kreuzberg, Nightfever ebenfalls in Kreuzberg, Community Networking Night im Baumhaus; möglicherweise ließen sich auch zwei oder mehr dieser Optionen miteinander kombinieren –, aber ich bin noch nicht völlig sicher, ob wir nicht doch einfach zu Hause bleiben. Morgen ist Christkönig, da gibt es in St. Joseph Siemensstadt wieder einen Kinderwortgottesdienst; aktiv daran beteiligt bin ich diesmal nicht, bin aber trotzdem gespannt darauf. Für die darauffolgenden Tage steht dann erst mal nichts Besonderes auf dem Terminkalender, allerdings rückt der 1. Advent und damit der Familiengottesdienst näher, und da wird es zweifellos noch Manches vorzubereiten und zu planen geben. Zudem ist am nächsten Samstag wieder Wichtelgruppentreffen. Langweilig wird es also sicher nicht! 


NGL- und Predigtnotizen 

Zur Messe am 33. Sonntag im Jahreskreis ging ich allein, da das Tochterkind sich weiterhin kränklich fühlte, meine Liebste folglich mit ihr zu Hause blieb und der Jüngste bei seiner Mami bleiben wollte; um möglichst bald wieder bei meiner Familie zu sein, gab ich der früheren und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln schneller und leichter erreichbaren Messe in St. Stephanus Haselhorst den Vorzug. – Kurz vor Beginn der Messe kam von irgendwoher die Ansage "Wir singen heute aus den blauen Liederheften" – womit eine vor schätzungsweise zwanzig Jahren für den Bedarf dieser Gemeinde kompilierte NGL-Sammlung gemeint war: 

Tatsächlich kam dieses Liederheft jedoch nur ein einziges Mal, nämlich beim Sanctus, zum Einsatz. Zuvor waren zum Kyrie ("Meine engen Grenzen") und zur Gabenbereitung ("Wenn das Brot, das wir teilen") Lieder gesungen worden, die sowohl im blauen Liederheft als auch im Gotteslob stehen, zur Vermeidung von Verwirrung waren aber die Liednummern aus dem Gotteslob angezeigt worden; und als Danklied nach der Kommunion sowie zum Auszug gab es zwei Lieder des NGL-Genres, die im Gotteslob, aber nicht im blauen Liederheft stehen. Das erstere Lied – "Lass uns in deinem Namen, Herr" von Kurt Rommel, einem Pionier der "musikalischen Gottesdienstarbeit" mit Jazzelementen – kannte ich bisher gar nicht, finde es aber vom Sprachduktus her ("die nötigen Schritte tun", "heute und morgen zu handeln", "heute die Wahrheit zu leben"...) ausgesprochen charakteristisch für das NGL der 60er Jahre als, wenn man das so sagen kann, musikalischen Arm einer progressiven, sozial-politisch ausgerichteten Pastoraltheologie. Das Schlusslied war "Komm, Herr, segne uns" von Dieter Trautwein, einem weiteren NGL-Pionier; das Stück darf man wohl als bekannt voraussetzen. 

Mit dem Lied zur Gabenbereitung hatte es an diesem Sonntag indes eine besondere Bewandtnis, denn sein Text verweist auf Legenden um die Hl. Elisabeth von Thüringen, zu deren 750. Todestag im Jahr 1981 es geschrieben wurde – und der Gedenktag dieser populären Heiligen, nach der im Spandauer Ortsteil Hakenfelde ein Seniorenstift benannt ist, fiel heuer just auf diesen Sonntag. Im Erzbistum Berlin, wie übrigens auch in den Bistümern Erfurt und Fulda, wird dieser Gedenktag als Fest gefeiert; damit steht er im liturgischen Rang eigentlich immer noch unter einem "normalen" Sonntag, aber das hielt den leitenden Pfarrer der Großpfarrei Heilige Familie, der diese Messe zelebrierte, nicht davon ab, die Tagesheilige ausgiebig zu würdigen, vom Tagesgebet bis hin zum Entlassungssegen, den der Pfarrer mit einer Reliquie der Hl. Elisabeth spendete. Auch die Predigt war im Wesentlichen eine Nacherzählung der Vita der Heiligen, wobei der Pfarrer sich um einen kindgerechten Stil bemühte, da in der ersten Reihe ca. sechs angehende Erstkommunionkinder saßen, die tags zuvor zur Erstbeichte gegangen waren. Besonders interessant fand ich an der Predigt, dass der Pfarrer die asketische Frömmigkeit der Elisabeth von Thüringen in den Kontext der zeitgenössischen franziskanischen Armutsbewegung einordnete; ein Wermutstropfen war es aus meiner Sicht hingegen, dass er auf das Evangelium dieses Sonntags – Mt 25,14-30, das Gleichnis von den anvertrauten Talenten – nur mit wenigen knappen Sätzen einging. Die Kernbotschaft, so meinte er, lasse sich wie folgt zusammenfassen: "Sei klug und beachte das, was du bekommen hast in deinem Leben an Talenten, an Möglichkeiten. Mach das Beste daraus und lass es nicht einfach so liegen." Ebendies habe die Hl. Elisabeth beispielhaft verwirklicht: Sie habe "mit dem, was sie hatte, das Allerbeste gemacht und den Menschen gedient, war für die Menschen da." – Schon bei der Verlesung des Evangeliums hatte sich der Pfarrer auf die Kurzfassung (V. 14-15.19-21) beschränkt, die gerade den "schwierigen" Aspekt der Perikope – die Passage über den Diener, der sein eines Talent aus Angst, es zu verlieren, vergräbt, statt damit zu wirtschaften, und dafür von seinem Herrn getadelt und bestraft wird – unter den Tisch fallen lässt. Ehrlich hätte ich gern gehört, was der normalerweise für Siemensstadt und Haselhorst "zuständige" Pfarrvikar zu diesem Evangelium zu sagen gehabt hätte, aber der hielt an diesem Sonntag wohl woanders die Messe. Man kann sich's nicht immer aussuchen. 


Wenn der Vater mit dem Sohne 

In der Zeit, in der das Tochterkind krank zu Hause, die Liebste jedoch bei der Arbeit war, war der Aktionsradius für den Jüngsten und mich naturgemäß eingeschränkt, aber am Dienstag – dem Gedenktag Unserer Lieben Frau in Jerusalem – konnte ich am frühen Nachmittag beide Kinder überreden, wenigstens mal ein bisschen mit mir nach draußen zu gehen, damit uns drinnen nicht die Decke auf den Kopf fällt. Vor die Wahl gestellt, entweder über die Schneckenbrücke und dann zur Hundewiese zu gehen oder zur Kirche zu gehen und dort eine Kerze anzuzünden, entschieden die Kinder sich bemerkenswert einmütig für die Kirche (es war allerdings auch, zugegebenermaßen, nicht so richtig Hundewiesenwetter). In der Pfarrkirche Herz Jesu angekommen, ließ ich beide Kinder je eine Opferkerze anzünden und das Geld dafür einwerfen und erneuerte auch die heruntergebrannten Lichter vor den Statuen des Hl. Josef und des Hl. Antonius, dem Totengedenkblatt, der Pietà und dem Bild des Barmherzigen Jesus; dann fragte ich die Kinder, ob wir uns ein Weilchen in eine Bank setzen sollten, und sie bejahten. Der Jüngste schlug vor, ich solle Musik anmachen – das war nicht unbedingt überraschend, aber ich teilte ihm wahrheitsgemäß mit, ich hätte die Lautsprecherbox gar nicht dabei. Bemerkenswert beharrlich erwiderte der Junior, ich könne die Musik doch auch einfach auf meinem Handy anmachen. "Ja, aber wir sind schließlich nicht allein hier ubd wollen niemanden stören", wandte ich ein und schlug den Kindern stattdessen vor, ich könnte ihnen zeigen, wie man den Rosenkranz betet. Damit waren beide einverstanden und zeigten sich auch durchaus aufmerksam und interessiert (allerdings beschränkte ich mich zunächst auf die Eröffnung des Rosenkranzes, bis zu den ersten drei Ave Marias samt anschließendem Ehre sei dem Vater und Fatima-Gebet und versprach, wie es weitergeht, würde ich ihnen ein andermal zeigen). Dann hatten die Kinder noch allerlei Fragen zu den bildlichen Darstellungen auf den Buntglasfenstern der Kirche, zu den Stationen des Kreuzwegs, den Heiligenfiguren usw., und ich beantwortete sie, so gut ich konnte. Ich würde mal sagen, das war alles in allem eine recht ertragreiche katechetische Lektion... 


Ganz heißes Eisen 

Heute ist der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen, und zumindest in Berlin ist dieses Datum von Alters her ein Anlass für einen Ökumenischen Frauengottesdienst, verantwortet von der Abteilung Evangelische Frauenarbeit im Amt für kirchliche Dienste der EKBO, der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd), dem Ökumenischen Frauenzentrum Evas Arche e.V. und last not least dem Erzbistum Berlin. Vor nunmehr sieben Jahren war ich einmsl bei einem solchen Frauengottesdienst samt anschließender Podiumsdiskussion und habe ausführlich darüber berichtet, aber heuer wird's offenbar noch bizarrer, jedenfalls dem Flyer nach zu urteilen, den ich in Herz Jesu Tegel habe ausliegen sehen. "Gottes Körper ist die Welt – Klimagerechtigkeit aus Frauenperspektive" lautet das diesjährige Motto. Ich denke mir das nicht aus! 


Lass das bitte mal auf dich wirken, Leser. Gottes Körper ist die Welt – und darum weiblich. Folglich ist klimaschädigendes Verhalten irgendwie auch Gewalt gegen Frauen, und so klappt's dann auch mit der Integration der Begriffe Frau und Umwelt in den Gottesgedanken. Oder doch eher umgekehrt? 

Jedenfalls erscheint es mir auf eigentümliche Weise passend, dass dieses Event in einer baufälligen Betonkirche, St. Ansgar im Hansaviertel, stattfindet. 


Jugendpastoral in Tegel 

Da ich bekanntlich recht häufig, ob mit den Kindern oder allein, an den katholischen Kirchen von Tegel und den angrenzenden Ortsteilen (wie Heiligensee, Borsigwalde, Alt-Reinickendorf...) vorbeikomme und nach Möglichkeit auch mal hineingehe, konnte es nicht ausbleiben, dass mir in den Schaukästen usw. dieser Kirchen gewisse Anzeichen für eine Offensive in Sachen Jugendarbeit aufgefallen sind. Das fand ich erst mal überraschend, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen, weil ich es dieser Pfarrei aus Erfahrung eigentlich nicht zugetraut hätte, überhaupt irgendwelche nennenswerte Anstrengungen zu unternehmen, um neue Zielgruppen anzusprechen. Mein Eindruck in meiner dortigen "aktiven Zeit" war, es wird zwar viel geklagt, dass alles immer weniger wird, dass es an Nachwuchs und Engagement fehlt, aber im Grunde möchte man trotzdem nicht, dass sich etwas ändert. Und nun gerade Jugendliche? Wo sollen die wohl plötzlich herkommen? – Das ist natürlich eine Frage, die nicht nur und speziell diese Pfarrei betrifft. Mit Erwägungen zu der Frage "Wie erreicht der post-volkskirchliche Mainstream die Jugend bzw. warum erreicht er sie für gewöhnlich eben nicht?" könnte man ganze Bände füllen. Aber bleiben wir mal – pars pro toto, versteht sich – bei der konkreten Situation vor Ort. Das erste neue Angebot für Jugendliche in der Großpfarrei St. Klara, von dem ich per Aushang erfahren habe, sieht so aus: 

Abgesehen vom trendig tönen wollenden Motto (merke: Schlechtes Englisch ist die meistgesprochene Sprache der Welt!) fallen hier vor allem die Standorte ins Auge – oder zumindest einer der beiden monatlich wechselnden Standorte, nämlich St. Joseph Tegel. Es ist noch gar nicht so lange her, da galt dieser Gemeindestandort als akut vom Aussterben bedroht. In den Gremien war seinerzeit viel die Rede davon, eine Neubelebung der Gemeinde durch Zusammenarbeit mit der benachbarten KiTa anzustreben, und diesbezüglich hat sich in den letzten Jahren, dank einiger engagierter KiTa-Eltern, offenbar einiges getan: Es gibt, wie ich schon ein paarmal erwähnt habe, regelmäßige Familienandachten, und das Patronatsfest am 1. Mai konnte sich ebenfalls sehen lassen. Nun will man mit den regelmäßigen Jugendgottesdiensten offenbar noch weiter zur Aufwertung und Profilschärfung des Standorts beitragen. – Ansonsten ist zu sagen: "Jugendmessen" gab es in meiner aktiven Zeit in dieser Pfarrei auch schon, einmal im Monat sonntags abends in Herz Jesu Tegel. "Vor Corona" bin ich da ein paarmal hingegangen, wenn auch nicht regelmäßig. Soweit ich mich erinnere, wurden diese Messen vom jeweils aktuellen Firmkurs unter der Leitung der damaligen Gemeindereferentin und/oder des damaligen Diakons mitgestaltet, und wenn es gerade keinen aktuellen Firmkurs gab, dann kamen auch keine Jugendlichen in die Jugendmesse, oder allenfalls ein paar vereinzelte. Ansonsten bestand das Kern-"Publikum" der Jugendmessen aus Gemeindemitgliedern um die 60, die sich freuten, dass im Gottesdienst die Musik gespielt wurde, die sie aus ihrer eigenen Jugend kennen. – Ich hatte schon damals den Verdacht, ein wesentlicher, mehr oder weniger bewusst beabsichtigter Effekt dieser monatlichen Jugendmessen sei es, den Firmlingen zu ermöglichen, die geringen Anforderungen in puncto Gottesdienstbesuch, die an sie gestellt werden, zur Gänze in einem eigens auf sie zugeschnittenen Format zu erfüllen, und sie so aus den "normalen" Gemeindegottesdiensten fernzuhalten. Was meiner Auffassung nach so ziemlich das Gegenteil einer nachhaltigen Jugendarbeit in der Pfarrei ist. Ich habe den Verdacht, dass das bei dem neuen Jugendgottesdienst-Format ähnlich sein wird, aber neugierig bin ich schon, mir das mal anzusehen. Wenn auch nicht unbedingt schon nächsten Samstag. 

Am selben Tag, an dem dieses neue Jugendgottesdienst-Format startet, feuert die Jugendpastoral-Offensive der Pfarrei auch noch aus einem anderen Rohr: Ein "outdoor-escape"-Jugendtag wird da angeboten, worunter man sich wohl so etwas wie eine digitale Schnitzeljagd vorstellen muss. Genauer hätte man's nur bei Anmeldung erfahren; auf den Plakaten war als Anmeldeschluss der 15. November genannt worden, in den am 18. November ausgehängten Vermeldungen der Pfarrei dann der 20. November, was womöglich darauf schließen lässt, dass bis zum 15. noch nicht viele Anmeldungen eingegangen waren. Was man dem Plakat sonst noch darüber entnehmen kann, um was für eine Art von Veranstaltung es sich da handelt, ergibt zwar kein klares Bild, veranlasste mich aber dennoch, zu denken: Was für ein Heckmeck


In gewisser Hinsicht bin ich wohl einfach altmodisch, aber ich würde es ganz grundsätzlich besser finden, Jugendliche zu Freizeitaktivitäten zu motivieren und anzuleiten, für die sie kein Smartphone brauchen. (Nicht umsonst leite ich eine, sagen wir mal, "pfadfinder-nahe" Kindergruppe, aber das mal nur als Randbemerkung.) Insgesamt erscheint mir das Ganze jedenfalls allzu gewollt trendy, hip und clever. Ich vermute fast, dass es jetzt Leute geben wird, die sagen, genau solche Mittel brauche es aber heutzutage, um kirchenferne Jugendliche anzusprechen, aber da muss ich sagen: Sorry, genau darauf ist diese Veranstaltung offenkundig nicht ausgerichtet. Das sieht man schon daran, dass sie schließlich nur über die internen Informationskanäle der Pfarrei (Schaukasten, Vermeldungen, Pfarrbrief) beworben wird. Ich würde gern sagen, das sei ein generelles Problem der Öffentlichkeitsarbeit von Pfarreien, aber Tatsache ist, dass es weithin gar nicht als Problem gesehen wird: Man will es gar nicht anders, davon hat mich nicht zuletzt das Pfarrbrief-Krisengespräch in Herz Jesu vor ein paar Wochen einmal mehr überzeugt. Und wenn zufällig doch ein Außenstehender von diesem Veranstaltungsangebot erführe: Wieso sollte er sich davon angesprochen fühlen? Mag ja sein, dass solche digitalen Schnitzeljagden gerade der totale Hype bei den jungen Leuten sind, aber wenn das so ist, gibt es bestimmt Alternativen dazu, ausgerechnet im Rahmen eines kirchlichen Jugendtages an so etwas teilzunehmen, wenn man mit der Kirche sonst nichts am Hut hat. – 

Fragt man nun, womit man kirchenferne Jugendliche denn dann erreichen könne, dann kann ich aus Erfahrung sagen: mit Nightfever zum Beispiel. Das zu sagen ist natürlich gewagt, weil es einer Kernüberzeugung der modernen Pastoraltheologie, nicht nur im Jugendbereich, widerspricht: der Überzeugung, man müsse es vermeiden, offen und explizit religiöse Angebote zu machen, weil das abschreckend wirke oder zumindest langweilig sei. Wozu ich wiederum die Überzeugung hege, diese Ansicht werde hauptsächlich von Leuten vertreten, die selbst nicht besonders viel mit Religion am Hut haben. Dass es davon gerade unter (haupt- wie ehrenamtlichen) Kirchenmitarbeitern so viele gibt, müsste man eigentlich verwunderlich finden; aber wenn diese Leute sagen "Für religiöse Angebote interessiert sich doch niemand", ist das natürlich eine Art self-fulfilling prophecy, denn wovon man selbst nicht überzeugt und begeistert ist, davon wird man auch keinen anderen überzeugen und begeistern können, und letztlich wollen sie es ja auch gar nicht anders haben. 

Dazu noch eine Erinnerung aus meiner "aktiven Zeit" in der Tegeler Pfarrei: Im Sommer 2021 nahmen meine Liebste und ich einmal am Treffen einer Arbeitsgruppe für die Einrichtung und Gestaltung eines Instagram-Accounts für den damaligen Pastoralen Raum Reinickendorf-Süd teil. Abgesehen von uns bestand diese Arbeitsgruppe aus einem Jugendlichen, der die Idee gehabt hatte und das Projekt voranbringen wollte, und dreien, die bremsten. Wenig überraschend war der Ideengeber neu in der Gemeinde und unerfahren in kirchlicher Gremienarbeit, während die drei "Bremser" fest in der institutionellen Jugendarbeit der Pfarrei verwurzelt schienen. Ein zweites Treffen der Arbeitsgruppe hätte acht Wochen später (!) stattfinden sollen, wurde aber zunächst um einen weiteren Monat verschoben und kam dann gar nicht mehr zustande, nachdem eine der vier Jugendlichen aus der Arbeitsgruppe ausgestiegen war und in ihrer diesbezüglichen Mail alle Register gezogen hatte, um auch den anderen jede womöglich noch verbliebene Motivation zu rauben. Das fällt mir vor allem deshalb jetzt wieder ein, weil dies dieselbe Person war, die jetzt auf dem Jugendtag-Plakat als Ansprechpartnerin genannt wird; und die beiden anderen damaligen "Bremser" sind laut Pfarrbrief heute für den Bereich "Ministranten/Jugendarbeit" im Gemeindeteil St. Rita zuständig. Da wundert einen gar nichts mehr. 


Währenddessen in der Wesermarsch 

In meinem Heimatstädtchen Nordenham gibt es Wirbel um einen Priester, der der Pfarrei St. Willehad als Subsidiar zugeteilt worden ist. Am Montag veröffentlichte ich einen ersten Artikel zu diesem Thema, der auch prompt auf große Resonanz stieß: In weniger als 48 Stunden preschte der Artikel unter die Top 3 meiner meistgelesenen Artikel seit meinem "Comeback" Mitte März vor, und schon am vierten Tag, Donnerstag, setzte er sich an die Spitze; am selben Tag wurde aufgrund neuer Erkenntnisse auch schon ein Update fällig. Die Pressemitteilung des Bischöflich Münsterschen Offizialats, auf der dieser Update-Artikel größtenteils basierte, hatte natürlich nicht nur ich erhalten, und so erschienen in Laufe des Tages auch in den Online-Ausgaben der Bistumszeitung Kirche + Leben, der Nordwest-Zeitung und der Kreiszeitung Wesermarsch Artikel entsprechenden Inhalts. Die beiden ersteren beschränkten sich weitgehend darauf, die Pressemitteilung des Offizialats annähernd wortwörtlich wiederzugeben; der Artikel von Horst Lohe (selbst Gemeindemitglied von St. Willehad) in der Kreiszeitung ist ein bisschen sensationeller aufgemacht und weist gleich im einleitenden Absatz explizit darauf hin, dass beim Pressetermin zur Vorstellung des neuen Aushilfsgeistlichen am 17. November wohl nicht so ganz die Wahrheit gesagt worden ist. Das wäre aufmerksamen Lesern zwar wohl auch ohnedies aufgefallen, aber wir wissen ja, wie das oft so ist mit den Lesern und ihrer Aufmerksamkeit. – Eine Stellungnahme der Pfarrei St. Willehad ließ derweil auf sich warten, aber als erste Reaktion auf den Umschwung der Berichterstattung "verschwand" von der Facebook-Seite der Pfarrei ein Beitrag, der mit einem Foto von P. Kenkels erster Messe in der Filialkirche Herz Mariae Burhave illustriert gewesen war. -- 

Nicht so viel Neues gibt es aus der benachbarten Pfarrei St. Marien Brake, deren Pfarrer Wolfgang Schmitz derzeit – wie regelmäßige "Huhn meets Ei"-Leser wissen – wegen einer umstrittenen Erbschaftsangelegenheit suspendiert ist. In der am 11.11. erschienenen Ausgabe des Mitteilungsblatts "Anker" wird der Name von Pfarrer Schmidt nicht genannt, unter der Überschrift "Pastoralteam" werden lediglich die beiden Pastoralreferenten aufgeführt. Inzwischen war jedoch zu erfahren, dass der leitende Pfarrer von St. Willehad, Karl Jasbinschek, ab dem 18. September kommissarisch auch die Verwaltung der Braker Pfarrei übernommen hat Die Position eines Pfarrverwalters hatte Jasbinschek dort auch schon 2021, vor Pfarrer Schmitz' Amtsantritt, knapp zwei Monate lang inne; diesmal könnte es länger dauern. 


Aus der Kinder- und Jugendbuchabteilung 

Solange der 3. "Ruby Fairygale"-Band in der Bibliothek unseres Vertrauens nicht verfügbar ist, werden bei uns derzeit erst einmal dienigen Bücher "abgearbeitet", deren Anfangssätze ich schon vor drei Wochen im Wochenbriefing präsentiert habe. Allzu ausführlich will ich mich dazu hier und jetzt nicht äußern, aber ein paar Bemerkungen seien doch festgehalten: Wenn ich sage, dass ich den Schluss von "Bibi und Tina – Der fliegende Sattel" etwas unbefriedigend fand, dann muss ich fairerweise hinzufügen, dass ich einem "Bibi und Tina"-Buch eigentlich von vorneherein keine Handlung zugetraut hätte, die mich ausreichend interessiert, um mir eine Meinung über die Qualität des Schlusses zu bilden. So gesehen war das Buch also erheblich besser als erwartet. Auf die Frage, welches der aktuell aus der Bücherei entliehenen Bücher wir als nächstes lesen sollten, votierten beide Kinder einhellig für "Ella und ihre Freunde außer Rand und Band". Wie ich erst jetzt festgestellt habe, enthält dieser 10. Band von Timo Parvelas "Ella"-Reihe drei einzelne Geschichten, "Pekka muss bleiben!", "Die Schatzsuche" und "So ein Zirkus!". Dass es sich also trotz des schmalen Umfangs von gerade mal 130 Seiten um einen Sammelband handelt, erklärt übrigens auch den etwas nichtssagenden Buchtitel. Gleichzeitig bedingt es die Kürze der einzelnen Geschichten, dass die Handlung simpler gestrickt und das Erzähltempo schneller ist. Im Detail kommt die für diese Buchreihe charakteristische surreal-überkandidelte Komik immer noch zur Geltung, aber vom Gesamteindruck her bleibt dieser Band doch etwas hinter den beiden anderen "Ella"-Büchern, die wir bisher gelesen haben, zurück. In einem erstaunlichen Detail knüpft "Ella und ihre Freunde außer Rand und Band" aber doch erfolgreich an die beiden zuvor gelesenen "Ella"-Romane an: In allen drei Büchern ist an jeweils mindestens einer Stelle von Wichteln die Rede. Im vorliegenden Fall wird über den Lehrer gesagt "Er musste mit den Weihnachtswichteln verwandt sein, so heimlich, still und leise, wie er es immer wieder schaffte, sich an uns heranzuschleichen" (S. 91). Was übrigens auf bemerkenswerte Weise mit dem Band "Ella auf Klassenfahrt" korrespondiert, wo die Kinder glauben, ihr Lehrer sei der Sohn des Weihnachtsmanns


Geistlicher Impuls der Woche 
Das ist der Weg, auf dem wir unser Heil finden: Jesus Christus, der Hohepriester unserer Opfergaben, unser Schützer und Helfer in der Schwachheit. Männer, Brüder, lasst uns mit aller Ausdauer unter seinen lauteren Weisungen Kriegsdienst tun! Die Großen können nicht ohne die Kleinen sein und die Kleinen nicht ohne die Großen. Nehmen wir unseren Leib als Beispiel: Der Kopf ist nichts ohne die Füße, und die Füße sind nichts ohne den Kopf. Die geringsten Glieder unseres Leibes sind für den ganzen Leib notwendig und gut. Alle sind wohl zusammengefügt und beugen sich einer Ordnung, damit der ganze Leib erhalten bleibt. 
Möge unser ganzer Leib in Christus Jesus erhalten bleiben, und ein jeder ordne sich seinen Nächsten unter, wie es seinen Gnadengaben entspricht. Der Starke sorge für den Schwachen, der Schwache ehre den Starken; der Reiche unterstütze den Armen, der Arme danke Gott, dass er dem Reichen die Mittel gab, seinem Mangel aufzuhelfen. Der Weise zeige seine Weisheit nicht in Worten, sondern in guten Taten. Der Demütige lege nicht für sich selbst Zeugnis ab, sondern überlasse es anderen, sein Zeuge zu sein. Da wir also das alles von ihm haben, müssen wir ihm für alles danken. Ihm sei die Ehre in Ewigkeit. Amen. 
(Papst Clemens I., Brief an die Korinther) 

Ohrwurm der Woche 

Cock Robin: The Promise You Made 

Ich will ganz ehrlich sein: Ich rechne durchaus damit, dass neun von zehn Lesern jetzt denken werden "Na toll, ein mittelprächtiger 80er-Jahre-Popsong, so what?". Oberflächlich betrachtet gehört "The Promise You Made" tatsächlich zu einer Kategorie von Songs, die ich gern als "Radioklassiker" bezeichne: Songs, die einfach angenehm klangen, nicht zu hart und nicht zu weich, nicht zu langsam und nicht zu schnell, nicht zu fröhlich und nicht zu ernst, und die sich aufgrund dieser Qualität, unabhängig von ihrem kurzfristigen Chsrt-Erfolg, jahrelang im Radioprogramm hielten. Auf Sendern, deren Programmschema dem 80er-Jahre-Pop nicht gänzlich abhold ist, werden sie bis heute gern gespielt. Just dieser Umstand macht es mir allerdings schwer, mich daran zu erinnern, ob ich diese Songs schon kannte, als sie gerade aktuell waren, oder ob ich sie erst später kennengelernt habe. Für mich persönlich zeichnen sich die Songs, die ich in diese Kategorie einordnen möchte, auch dadurch aus, dass ich sie jahrelang "vom Hören" kannte, ohne zu wissen, von welcher Band sie sind. Aus heutiger Sicht möchte ich jedoch behaupten, dass "The Promise You Made" – das 1986 bis auf Platz 6 der deutschen Single-Charts kam – aus der breiten Masse der dieser Kategorie zugehörigen Songs durchaus herausragt. Ich persönlich empfinde die Nummer als ein Juwel – fast könnte man denken, es handle sich um eine unter falschem Namen veröffentlichte Vorab-Single zum im folgenden Jahr erschienenen Album "Tango in the Night" von Fleetwood Mac. Ohne Scheiß. 


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Donnerstag, 23. November 2023

Eine Klarstellung aus Vechta

Davon, wie kontrovers die Reaktionen auf meinen am vergangenen Montag veröffentlichten Artikel über den Neuzugang im Seelsorgeteam der Pfarrei St. Willehad in meinem Heimatstädtchen Nordenham ausfallen würden, bekam ich schon einen Vorgeschmack, bevor der Artikel überhaupt online ging; denn schon mit der Ankündigung in meinem jüngsten Wochenbriefing, ich würde mir diesen Fall "etwas genauer ansehen", handelte ich mir einen anonymen Kommentar ein, der es in sich hatte. "Schmutzkampagnen wo man hinschaut", lautete die Diagnose des Kommentarschreibers: "So geht aktive Christenverfolgung, innerhalb der Kirche wohlgemerkt". Er (oder sie?) zog gar Parallelen zur Absetzung des texanischen Bischofs Strickland, warf die Frage auf, ob etwa "Blogwarte" (clevere Wortschöpfung, doch doch) "die persönlichen Kontakte von M. Kenkel überwachen und ihn bei 'Verstößen' an den Bischof verpfeifen" wollten, und zeigte sich im Übrigen überzeugt: "Die Vorwürfe gegen M. Kenkel, waren und sind nicht zutreffend." 

Nun haben solche Abwehrreaktionen – besonders wenn sie schon laut werden, bevor ich mich überhaupt inhaltlich zur Sache geäußert habe – es so an sich, dass sie mich eher in der Vermutung bestärken, auf der richtigen Spur zu sein. Gerade beim Stichwort "Schmutzkampagne" kommt mir immer der Satz Tucholskys in den Sinn, in Deutschland gelte "derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht"; nicht selten drängt sich mir der Eindruck auf, das gelte im kirchlichen Milieu in besonderem Maße. 

– Und in Nordenham erst recht, möchte ich hinzufügen. In diesem Städtchen kennt ja bekanntlich jeder jeden, und so war ich nicht übermäßig überrascht, dass sich in einer Nordenham-Gruppe auf Facebook, in der ich meinen Blogartikel verlinkt hatte, eine frühere Schulfreundin meiner Schwester zu Wort meldete. "[W]as möchtest du damit erreichen?", wollte sie von mir wissen. "Hattest du Akteneinsicht? Kennst du die Fakten oder vermutest du nur?" – Also sorry, ich habe lediglich öffentlich zugängliche Informationen zusammengetragen; meine Quellen habe ich benannt und im Interesse der Überprüfbarkeit verlinkt. Das kleine Einmaleins der Recherche. Kurz gesagt, ich habe die Hausaufgaben gemacht, die eigentlich die lokale Presse hätte machen sollen. Aber die fühlt sich offenbar nicht zuständig. 

St. Willehad mit Pfarrzentrum, von hinten gesehen (Aufnahme von 2018)

Aus diesem Grund stellte ich am Dienstag – was ich, selbstkritisch angemerkt, vielleicht schon ein, zwei Tage früher hätte tun können, aber im Ergebnis hätte das wohl keinen wesentlichen Unterschied gemacht – per E-Mail eine Anfrage an die Abteilung Seelsorge-Pastoral des Bischöflich Münsterschen Offizialats in Vechta, nämlich zu der Frage, ob die Auflagen, unter denen Bischof Genn Pfarrer Kenkel die Weiterbeschäftigung als Pfarrer in Lindern gestattet hätte, wenn er auf diese Amt nicht verzichtet hätte, auch für seine neue Tätigkeit in Nordenham, Butjadingen und Stadland gelten – und wenn nein, warum nicht. Mit der Informationspolitik des BMO Vechta hatte ich schon bei früherer Gelegenheit – konkret: im Zuge der Auseinandersetzungen um den Amtsverzicht von Pfarrer Torsten Jortzick Ende 2015 –  durchaus positive Erfahrungen gemacht: Der damalige Leiter der Abteilung Seelsorge-Pastoral, Monsignore Bernd Winter, hat seinerzeit sogar persönlich und namentlich Kommentare auf meinem Blog hinterlassen. Auch diesmal wurde ich nicht enttäuscht: Am Mittwoch, also gestern, erhielt ich eine Antwort vom Pressesprecher des BMO Vechta, Philipp Ebert (der dieses Amt übrigens seit ca. eineinhalb Jahren innehat und zuvor Redakteur bei der OM-Mediengruppe in Cloppenburg und Vechta war): Als Reaktion auf verschiedene Presseberichte zur Personalie Kenkel sei eine Pressemitteilung des BMO in Vorbereitung, und er werde mich auf die Empfängerliste setzen. 

Tatsächlich ist diese Pressemitteilung heute Mittag bei mir eingegangen; sie beginnt mit der Feststellung, in "verschiedenen Veröffentlichungen" seien "Darstellungen und Behauptungen bezüglich eines kirchenrechtlichen Verfahrens gegen Pfr. K. zitiert und referiert worden [...], die so nicht unwidersprochen stehen bleiben können". So erklärt der Interventionsbeauftragte des Bistums Münster, Peter Frings

"dass Pfr. K. entgegen anderslautenden Behauptungen weiterhin nur unter klaren Verhaltensanforderungen als Seelsorger tätig ist. Die in den Dekreten von Bischof Felix formulierten Auflagen hat Offizial und Weihbischof Theising für den weiteren Einsatz von Pfr. K. uneingeschränkt übernommen. Demnach darf Pfr. K. bis Ende 2026 keine weiblichen Einzelpersonen unter 27 Jahren in seiner Wohnung empfangen oder im Rahmen anderer Verabredungen (Essenseinladungen, Ausflüge etc.) treffen. Auch eine Begleitung von Pilgerreisen und sonstigen religiösen Veranstaltungen ist nur zusammen mit anderen erwachsenen Personen möglich. Außerdem muss Pfr. K. weiterhin eine Beratung aufsuchen. Die regelmäßige Teilnahme wird durch die Interventionsstelle des Bistums Münster nachgehalten." 

Dass es sowohl in den Pfarrnachrichten von St. Willehad als auch in der Nordwest-Zeitung (den Bericht der Kreiszeitung Wesermarsch habe ich, wie ich gestehen muss, nicht gelesen) hieß, der Bischof von Münster habe "alle Dekrete gegenüber Pfarrer Kenkel zurückgenommen", muss man somit als mindestens irreführend bezeichnen. "Die Berichterstattung der vergangenen Tage hat den Eindruck erweckt, die Auflagen seien aufgehoben und alle Verfahren seien abgeschlossen", merkt auch Peter Frings an. "Das ist nicht richtig." 

Aus der Pressemitteilung des BMO Vechta geht auch hervor, dass das Bistum Münster "[n]ach Abschluss der kirchenrechtlichen Voruntersuchung [...] den Sachverhalt im Mai 2023 an die zuständige Kommission im Vatikan weitergeleitet" hat und das diese erst kürzlich entschieden hat, 

"dass gegenüber dem Priester in der Angelegenheit ein Strafdekret zu erlassen sei. Der Inhalt dieses Dekrets wird derzeit erarbeitet. Pfr. K. wurde darüber noch nicht unterrichtet. Dies erfolgt umgehend. Aber aufgrund der Presseberichterstattung wird auf diesen aktuellen Sachstand hingewiesen." 

Ein anderer wichtiger Aspekt der Pressemitteilung ist die Klarstellung, dass "im Zusammenhang mit der Beurlaubung von Pfr. K. im Jahr 2022 und 2023" keineswegs vom "Vorwurf des sexuellen Missbrauchs" die Rede gewesen sei, sondern stets ausschließlich "von Vorwürfen grenzverletzenden Verhaltens". Zu dieser Differenzierung möchte ich noch einmal zitieren, was ich bereits in meinem Artikel vom Montag schrieb: 

"Da ich [...] erst kürzlich an einer Schulung zur Prävention sexualisierter Gewalt teilgenommen habe, ist mir sehr bewusst, dass es einen erheblichen Unterschied zwischen "grenzverletzendem Verhalten" und strafrechtlich relevantem Missbrauch gibt." 

Einige Leserreaktionen auf Facebook haben allerdings deutlich gemacht, dass dieser Unterschied durchaus nicht von allen Lesern gesehen und verstanden wird. Aus diesem Grund bemängelte die weiter oben schon einmal zitierte Kommentarschreiberin: 

"Die Kommentare der Menschen zeigen, dass viele gar nicht richtig verstehen, was du schreibst. Du stellst es aber nicht richtig." 

Nun, das ist ein offenkundig unlogischer Vorwurf. Wenn ich etwas Falsches geschrieben hätte, dann müsste ich das richtigstellen. Wenn Leute das, was ich geschrieben habe, falsch verstehen, dann könnte ich lediglich darauf verweisen, dass ich das, was sie verstanden zu haben meinen, gar nicht geschrieben habe – aber wenn sie das beim ersten Mal nicht verstanden haben, warum sollten sie es dann beim zweiten Mal tun? Tatsächlich habe ich in der einen oder anderen Facebook-Gruppendiskussion sehr wohl versucht, die gröbsten Missverständnisse richtigzustellen – und prompt Dresche dafür bezogen. Konkretes Beispiel: Als jemand meinte, man müsse dafür Sorge tragen, diesen Geistlichen von Kindern fernzuhalten, wandte ich ein, in Bezug auf Kinder werde ihm gar nichts vorgeworfen, es gehe vielmehr um grenzverletzendes Verhalten gegenüber jungen Frauen. Prompt wurde mir vorgeworfen, ich fände übergriffiges Verhalten gegenüber jungen Frauen "okay". – Es ist hoffnungslos, Leute. Die Sozialen Medien sind voll von Leuten, die nicht in der Lage sind, sinnerfassend zu lesen. Wollte man stets darauf Rücksicht nehmen, dass die womöglich etwas in den falschen Hals kriegen könnten, könnte man überhaupt nichts mehr schreiben

Bei alledem, und in dem festen Bewusstsein, dass alles Weitere, was ich in dieser Angelegenheit schreibe, ebenfalls missverstanden werden kann und wird, muss ich doch sagen, dass ich – wie Matthias Claudius es formuliert haben würde"begehre, nicht schuld daran zu sein", wenn man P. Kenkel nun weitaus schlimmerer Vergehen verdächtigt oder bezichtigt, als er tatsächlich begangen hat. Ich will ihm persönlich überhaupt nichts Böses; ich kenne den Mann schließlich gar nicht, und darüber, was ihm nun konkret vorgeworfen wurde oder wird, weiß ich nicht mehr und nichts Genaueres als das, was aus den von mir zitierten Quellen hervorgeht. Nebenbei bemerkt dokumentieren die Kommentare meines Stammlesers Imrahil unter meinem Artikel vom Montag, dass man auf der Basis der dort zusammengetragenen Fakten sehr wohl auch zu einem wohlwollenden Urteil über Pfarrer Kenkel gelangen kann. Über einen Punkt müssen dann aber doch noch ein paar kritische Worte verloren werden, nämlich dazu, was P. Kenkel dem Bericht der NWZ zufolge über seine "Beziehung mit einer Frau" gesagt hat, mit der er "gegen das Zölibat verstoßen" habe. Sollte sich diese Bemerkung auf denselben Vorgang beziehen, der zu der Anzeige gegen ihn geführt hat? Versucht er demnach, das, was ihm als grenzverletzendes Verhalten vorgeworfen wird, als einvernehmliche Beziehung darzustellen? Das fragt sich auch der Interventionsbeauftragte Frings und merkt dazu an, sollte diese "Behauptung von Pfr. K. [...] tatsächlich von ihm so getätigt worden sein", sei dies "ein Unding" und "für die betroffene Frau eine Zumutung": Von Einvernehmlichkeit könne nach der ihm bekannten Faktenlage "keine Rede sein", so Frings. 


Mittwoch, 22. November 2023

Wutbürger beim Bäcker

Neulich bekam ich auf Facebook, von der unergründlichen Weisheit des Algorithmus für mich ausgewählt, einen abfotografierten Ausschnitt aus der "Westfalenpost" oder "Westfalenrundschau" zu Gesicht, einen Text von jener in der Tagespresse recht verbreiteten Art, die als Glosse beginnt und als Kommentar endet. "Die Kruste, aber dalli", ist der Text überschrieben, und im Mittelpunkt der Erzählung steht das unverschämte Verhalten eines Kunden in einer Bäckerei. Eine Bäckerei war es auch – die Stadtbäckerei Kamp aus Hagen nämlich –, die diesen Zeitungsartikel auf Facebook teilte und zustimmend kommentierte; in gewissem Sinne halte ich das allerdings für ein Missverständnis, denn im Grunde, so möchte ich behaupten, geht's der Verfasserin um ganz was Anderes, und die Szene in der Bäckerei ist dafür lediglich der Aufhänger. – 

Aber dazu später. Zunächst einmal sind wir wie gesagt in der Bäckerei – in "unserer kleinen Bäckereifiliale", wo "der Umgangston [...] an und für sich gut" ist: "Wir nehmen Rücksicht aufeinander. Die Jüngeren warten, bis die Älteren ihre Centstücke aus dem Portemonnaie gepfriemelt haben. Für quengelnde Kinder gibt es Spiele. Kennt sich mal eine neue Mitarbeiterin nicht aus, wird ihr geholfen. So wollen wir das." 

Die da "wir" sagt, ist Dr. Monika Willer, seit fast 30 Jahren Redakteurin bei der "Westfalenpost". Zu dem, was man so alles findet, wenn man ihren Namen googelt, gehört zum Beispiel, dass sie vor gut vier Jahren auf der Website des Erzbistums Paderborn nach ihrer Meinung zum diözesanen "Zukunftsbild" befragt wurde. Und auch wenn mir das, was sie dazu zu sagen hatte, (nicht allzu überraschend) ein wenig zu sehr von einem dienstleistungsorientierten Kirchenverständnis geprägt zu sein scheint und sie bei den Stichworten "Zölibat" und "Diakoninnen" entschlossen mit dem Mainstream schwimmt, finde ich ihre Kernaussage, die Kirche müss "vor Ort präsent bleiben" – "Wer Evangelisierung will, darf sich nicht aus der Fläche zurückziehen"; "Wenn Kirche es nicht schafft, existentielle kirchliche Aufgaben zu übernehmen, also die Basisseelsorge aufgibt, dann scheitert sie" –, durchaus nicht verkehrt. Und Ähnliches kann man auch über ihre Beobachtungen zum Gebaren mancher Kunden in ihrer sonst so harmonischen Lieblingsbäckerei sagen. 

Leute wie der "Kunde vor [ihr]" gefährden diese Harmonie nämlich: Er kommandiert die Verkäuferin herum, "blafft" und "blökt" und beschuldigt schließlich die Verkäuferin – die angesichts dieses Verhaltens bald "den Tränen so nahe" ist, "dass ihre Backen nass werden" – fälschlicherweise, ihm für eine Kornstange zu viel berechnet zu haben. – Bis hierher kann ich mit dem Text recht gut mitgehen; ich finde zwar den Tonfall der Autorin etwas unangenehm, aber doch nicht so unangenehm wie den des geschilderten Bäckereikunden. Ich teile auch die Einschätzung, dass ein solches aggressiv-forderndes, maßlos egoistisches Verhalten neuerdings verstärkt um sich greift – und zwar nicht nur beim Bäcker. Allein damit, was ich an Rücksichtslosigkeit und Feindseligkeit erlebe, wenn ich mit dem Kinderwagen in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs bin, könnte ich wahrscheinlich eine wöchentliche Kolumne bestreiten. Auch bei solchen Begegnungen lässt sich beobachten, dass die Leute, die sich am ruppigsten aufführen, oft auch die sind, die sich am entschiedensten im Recht wähnen; die überzeugt zu sein scheinen, sie müssten auf niemanden Rücksicht nehmen,  aber alle anderen müssten Rücksicht auf sie nehmen. "Solche Leute", so meint Monika Willer –Leute also, die "[n]ur schreien, fordern, ohne Gegenleistung Extras beanspruchen und dafür nicht einmal 'Bitte' oder 'Danke' sagen" –, scheinen "neuerdings wie Pilze aus dem Boden" zu schießen. "Wo kommen die eigentlich alle her? Gab es die früher schon und sind uns nur nicht aufgefallen? Das sind Fragen, über die sich das Nachdenken lohnt" – ja, gewiss, da kann und will ich ihr nicht widersprechen. 

Die Frage ist halt immer, was bei diesem Nachdenken 'rauskommt. Denn wenngleich der Reihentitel "Kultiviert" vermuten lässt, es handle sich um eine Benimm-Kolumne, kann die Verfasserin es nicht lassen, ihre These, "Typen wie dieser" seien "ein Grund dafür, warum das Land den Bach runtergeht", ins Politische zu wenden – und da wird's dann bizarr. Da wird der nörgelnde Bäckereikunde nämlich unversehens zum Sinnbild jener "Schreihälse, die der Regierung und besonders den Grünen die Schuld an der komplizierten Weltlage geben, laut, fordernd, aggressiv und, ehrlich gesagt, nicht klug". – Ist das eine stimmige Analogie? Sicherlich hat es einen gewissen Reiz, sich in der Rolle der jungen, unerfahrenen Bäckereifachverkäuferin, die "weder Abläufe noch Preise" kennt", beispielsweise Annalena Baerbock vorzustellen. Aber ist das eine sinnvolle Art, Politik zu betrachten – wo es ja nun doch um mehr geht als um Kuchenreste oder um ein paar Cent mehr oder weniger für eine Kornstange? "Ja meine Güte, die Grünen sind nun mal jung und unerfahren und die Weltlage ist so kompliziert, natürlich machen die mal Fehler; da muss man mal ein Auge zudrücken, denn wenn man zu viel meckert, will den Job am Ende niemand mehr machen"? 

Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Wir haben in Deutschland nicht das Problem, dass die Bevölkerung der Regierung zu kritisch gegenüberstünde. Wir haben vielmehr das Problem, dass die Deutschen, statistisch nachweisbar, von jeher dazu neigen, der Regierung nicht kritisch genug gegenüberzustehen. Die herrschenden Verhältnisse zu hinterfragen, ist dem Deutschen prinzipiell zuwider und suspekt, und sind die Verhältnisse schlecht, gibt er daran lieber den Kritikern der Regierung die Schuld als der Regierung selbst. Frau Willer ist dafür selbst das beste Beispiel: Früher war sie Pro-Merkel, heute nimmt sie die Grünen in Schutz. 

Ich schätze, es wird Zeit, die "Hufeisentheorie" bezüglich des politischen Spektrums durch die "Brezeltheorie" zu ersetzen. Auch wenn ich selbst nicht genau weiß, wie die lauten sollte.

Letzteres wirkt umso überraschender, wenn man bedenkt, dass es doch eigentlich ausgesprochen konservative Werte sind, die Frau Willer so demonstrativ hochhält: Bitte und Danke sagen, sich in die Reihe stellen und warten bis man dran ist, keine übertriebenen Ansprüche stellen. Wenn sie sich über die "Gestalten" aufregt, "die demonstrieren, weil sie denken, der Staat schuldet ihnen ein gutes Leben", dann mag man der Meinung sein, sie habe da nicht ganz Unrecht; aber ist diese von Anspruchshaltung gegenüber dem Staat nicht gerade ein charakteristisches Erbe der Baby-Boomer-Generation – der die Autorin, nebenbei bemerkt, ja wohl selbst angehört –, und haben nicht gerade die Grünen als Partei ihre Wurzeln in ebenjenen politisch-sozialen Bewegungen der 1960er- und 70er-Jahre, die vom Staat das vermeintliche Recht auf ein gutes Leben einforderten? 

Aber über solche Fragen reflektiert die Verfasserin offenkundig gar nicht, denn ihr geht es – jedenfalls ihrer eigenen Wahrnehmung zufolge – nicht um politisch-ideologische Inhalte, sondern um Fragen von Anstand und Sitte: Die Regierung verdient Respekt, weil sie die Regierung ist; man soll ihr dankbar sein und sie nicht mit Forderungen behelligen. Wie man somit aus spießbürgerlich-konservativem Untertanengeist dazu getrieben werden kann, eine Regierung zu unterstützen, die konservativen Werten dezidiert feindlich gesonnen ist, erscheint ebenso bizarr wie illustrativ. 

Zur Abrundung des Gesamteindrucks sei erwähnt, dass dieselbe Monika Willer in einer Kolumne vom November 2021, während der soundsovielten Welle der Corona-Pandemie, die "Wut der Geimpften" heraufbeschwor. Wut auf wen? Auf die Ungeimpften natürlich, auf den "Esoteriker Jupp Kaputtnik" und auf "Willi Wichtig" aus Sachsen mit seiner "Diktatur-Nostalgie". Weil die schuld seien an den "tiefroten Coronainzidenzen", und weil sie nicht einsehen wollen oder können, "dass das Geld von der Arbeit kommt und von sonst nichts". Äh – aha. Der letztgenannte Punkt kommt etwas überraschend, aber aus Frau Willers Sicht passt das alles zweifellos bestens zusammen. Die Leute, die sich der Corona-Impfung verweigert haben, sind ja bestimmt auch dieselben Leute, die auch harmlose unerfahrene Bäckereifachverkäuferinnen anschnauzen. Man sieht hier, wie souverän die Westfalenpost-Redakteurin das "Wir gegen die"-Spiel beherrscht: Auf der einen Seite "wir", die sauberen, anständigen und selbstverständlich geimpften Bäckereikunden, auf der anderen Seite der pöbelnde Pöbel. Schön, wenn man so ein unerschütterlich fest gefügtes Weltbild hat. Dass es nur einer ganz leichten Drehung an der Gesinnungsschraube bedürfte, um in exakt demselben Tonfall beispielsweise gegen Migranten, Arbeits- oder Obdachlose zu hetzen, kommt ihr so natürlich nicht in den Sinn. 


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