Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Montag, 22. Mai 2023

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 17

Was ist eigentlich aus Jovita von den Engeln geworden? Es ist schon wieder recht viel Zeit ins Land gegangen, seit hier von den Schicksalen der eingekerkerten Nonne zu lesen war; was hauptsächlich daran liegt, dass die Arbeit an zwei Artikeln über die theo-ideologischen und kirchengeschichtlichen Wurzeln des Schismatischen Wegs mich ziemlich lange aufgehalten hat. Daher wird es nun aber höchste Zeit, dass ich mich dem LX. Kapitel des Romans "Barbara Ubryk oder Die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau" zuwende, das den ominösen Titel "Der Wink Gottes" trägt und das ich eigentlich schon in der vorigen Folge dieser Artikelserie hatte besprechen wollen, es dann aber aus Platzgründen auf später verschoben habe. Wohlan denn: Später ist jetzt

Das Kapitel beginnt mit Ausführungen über den schlechten Gesundheitszustand der Protagonistin: "Von Natur aus schwächlich und zart in ihrer Constitution, schwächte sie die harte klösterliche Lebensweise , die Entbehrung von Fleischspeisen und der Genuß süßlichen Backwerkes und von Fischen nur noch mehr" (S. 895); guck an, Ernährungsberatung kann der Autor also auch. "Jovita [...] wurde zusehends blässer und magerer. Ihre Wangen wurden hohl, die Augen sanken ein und die Haare fielen büschelweise aus" (ebd.). 

Damit aber noch nicht genug, ereignet sich "kurz nach Ostern" (S. 896) "des Jahres 1845" (S. 895) ein in der Kapitelüberschrift als "Wink Gottes" bezeichneter Unfall: "Beim Abstauben eines Altares" fällt "einer der großen Leuchter, welche neben dem Tabernakel stehen, in Folge eines Anstoßes" Jovita auf den Kopf, und zwar "so heftig , daß sie besinnungslos am Altare hinsank und erst nach längerer Zeit in diesem Zustande aufgefunden ward" (S. 896). Zu allem Übel trifft der schwere Leuchter auch noch ausgerechnet "den Theil des Hauptes [...], an dem sich die große Narbe [...] befand", die Jovita alias Barbara im Alter von 13 Jahren von den Barrikadenkämpfen in Warschau davongetragen hat (ebd.). Wie wir gesehen haben, hat der Autor den Leser und vermutlich auch sich selbst erst kürzlich an diese Episode aus dem Polnischen Aufstand von 1830/31 erinnert, und nun scheint er entschlossen, das Möglichste daraus zu machen. Die alte Wunde bricht wieder auf und entzündet sich, und das Ergebnis lautet: "Den Krankensaal sollte Jovita sobald nicht mehr verlassen" (ebd.). 

Alexander Zick, Illustration zu "Die zweite Frau" von E. Marlitt. Auch so ein klassischer Kulturkampfroman. 

Gerade in der Zeit, in der die Protagonistin solcherart außer Gefecht gesetzt ist, ereignen sich einige Dinge, die für den weiteren Handlungsverlauf bedeutsam zu sein versprechen. Zunächst stirbt Jovitas Mutter, "die verwittibte Frau Elka von Ubryk, geborne Gräfin Zolkiewicz, [...] in ihrem 74. Lebensjahre" (S. 898). Halten wir anlässlich dieser Altersangabe gleich mal fest, dass der Verfasser sich wieder einmal in der Chronologie der Romanhandlung verheddert hat: Die Todesanzeige ist auf den 13. März 1845 datiert (ebd.), demnach müsste Elka 1771 oder '72 geboren sein; aber obwohl der Beginn der Romanhandlung auf den Oktober "des letzten Jahres im vorigen Jahrhunderte", also 1799, datiert ist (S. 15), ist Elka bei ihrem ersten Auftritt, auf S. 67, erst "ungefähr dreizehn Jahre" alt. Bedeutsamer als die Altersangabe dürfte indes der Ort sein, an dem Elka das Zeitliche gesegnet hat: "Wie fiel es denn der Alten ein, in Krakau zu sterben?", fragt Pater Gratian nicht ohne Grund, als er die Todesanzeige liest. "War sie denn nicht mehr hier?" (S. 898). Die Antwort auf diese Frage geht aus einem Brief hervor, den Barbaras alias Jovitas Schwestern ihr zusammen mit der Todesanzeige geschickt haben, den die Priorin Zitta jedoch abgefangen hat: Aus diesem Brief erfährt man, dass Elka überraschend vom Tod ereilt wurde, während sie bei ihrer zweiten Tochter Therese und deren Ehemann, dem Kaufmann Paul Niemojowski, in Krakau zu Besuch war. Auf S. 704 hatte es zwar geheißen, Niemojowski sei in Warschau ansässig und Elkas anderer Schwiegersohn, der Privatgelehrte Ludwig Gorzkowski, in Krakau, aber das kann man ja mal verwechseln, oder das Ehepaar Niemojowski könnte in der Zwischenzeit umgezogen sein. Jedenfalls mehren sich die Indizien, dass Krakau als Handlungsschauplatz noch eine größere Rolle spielen wird als bisher. Die Priorin und Pater Gratian interessieren sich für Elkas Tod natürlich vorrangig wegen der damit verbundenen Erbschaft: "Dieses Vermögen muß uns zufallen. [...] Gott, unser Kloster würde das reichste in Warschau, welche Reliquien könnten wir in Rom ankaufen, welche Ablässe vom Papste erhalten, welche Begünstigungen vom hochwürdigsten Generale auswirken!" (S. 901). 

Um dieses Vermögens schnellstmöglich habhaft zu werden, fingiert die Priorin einen Brief "an die Schwestern Jovitas [...], worin sie – als Jovita – ihre tiefe Trauer wegen des Todesfalles der Mutter und endlich den lebhaften Wunsch aussprach, die Vermögensangelegenheiten umgehend erledigt zu sehen" (S. 901). Als "[k]urz darauf [...] der Gemahl Theresens von Krakau nach Warschau" kommt, "um Jovita persönlich das ganze Erbtheil hinauszubezahlen" (ebd.), verhindert die Priorin eine persönliche Begegnung, indem sie "dem Herrn Niemojowski" weismacht, "seine Schwägerin wäre auf ihr Ansuchen, um sich wegen des Ablebens der Mutter zerstreuen zu können, auf Bettel, das ist Einsammeln von Almosen für das Kloster, ausgeschickt worden, und also nicht zu Hause. Da sie erst in drei Wochen zurückkehren würde, so möge er das Geld einstweilen dem Klosterpriorate zur Verwahrung anvertrauen" (ebd.). Kaum hat sie das Geld in Empfang genommen, meldet die Priorin schon ihrem Ordensgeneral in Rom, "das ganze Vermögen der Nonne Barbara Ubryk, genannt Jovita von den Engeln, befinde sich jezt im Depot des Klosters und stehe zur Disposition. Sie bitte einen Theil desselben für das Kloster St. Theresia verwenden zu dürfen" (S. 902). Besonders frohlocken sie und Pater Gratian darüber, dass sie "den Jesuiten einen guten Bissen weggeschnappt" haben (ebd.) – was uns daran erinnert, dass es über weite Teile der Romanhandlung ja die Jesuiten waren, die mit allen Mitteln danach trachteten, das Vermögen der Familie Zolkiewicz an sich zu bringen; seit Barbaras Eintritt bei den Karmelitinnen ist davon aber nicht mehr die Rede gewesen. Sollte man diese beiläufige Bemerkung als Indiz dafür auffassen, dass die Jesuiten zukünftig nochmals in die Romanhandlung eingreifen werden? 

Im nächsten Schritt fassen Pater Gratian und die Priorin den Entschluss, Jovita endgültig ihrer Familie zu entfremden, "damit wir mit ihr nach Belieben schalten und walten können" (S. 903); sie erreichen dies durch einen weiteren fingierten Brief an Jovitas Schwestern, in dem es u.a. heißt: "Mein einziger Wunsch ist die baldige Heimkehr zur seligen Mutter. Ich habe nichts mehr auf dieser Welt zu suchen. [...] Unter solchen Umständen fühle ich keinerlei Bedürfniß mehr zu Berbindungen mit der Außenwelt. Bestrebt Euch daher, mich zu vergessen; betrachtet mich als Todte. [...] Ich will alle und jede Verbindung mit Euch abgebrochen wissen und werde mich bemühen, die Erinnerung an Geschwisterte und Verwandte meinem Gedächtniße auszutilgen, wie die Liebe zu Euch im Herzen längst erstorben ist , um einer reineren überirdischen Platz zu machen" (ebd.). – Man kann sich vorstellen, dass dieser Brief die "beabsichtigte Wirkung" nicht verfehlt: "Die Schwestern Jovitas fühlten sich tief gekränkt durch denselben und sagten sich, jetzt, nachdem ihre Schwester das Geld erhalten habe, fange sie an brutal zu werden" (ebd.). 

"Jovita lag unterdessen schwerkrank im Krankensaale und ahnte nicht, welch boshaftes Spiel hinter ihrem Rücken getrieben wurde" (S. 904). – "Ihr Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Die Entzündung der Narbe raubte ihr zeitweilig die Besinnung, und der Arzt fürchtete sehr für ihr Leben. Wäre sie damals gestorben – das Schauderhafteste wäre ihr erspart geblieben" (S. 905). Die Nachricht vom Tod ihrer Mutter überbringt Gratian ihr in grell überzeichneter Form: Während Elka tatsächlich friedlich im Bett gestorben ist, behauptet Gratian "Sie fiel über die Stiege herab und brach das Genick" (S. 907) – und fügt hinzu: "Die Eltern büßen auch die Sünden ihrer Kinder" (ebd.). Damit nicht genug, macht er der leidenden Jovita weis, "noch ein anderes Unglück" habe die Familie getroffen: "Eine Deiner Schwestern starb im Kindbette, die andere entfloh ihrem Manne und man weiß nicht, wohin" (ebd.). 

Gegen Ende des Kapitels gibt es dann aber doch einen Lichtblick für die arg gepeinigte Jovita: Sie bekommt einen neuen Beichtvater. Wie es dazu kommt, ist eine Geschichte für sich, und da lohnt es sich, ein bisschen auszuholen: 

"Der erzbischöfliche Generalvikar war in einer Nacht plötzlich aus dem Bette geholt und von Kosaken nach Sibirien transportirt worden", erfährt man auf S. 908. "Man munkelte in Warschau, die russische Regierung ginge damit um, die katholischen Geistlichen Polens zur griechischen Kirche hinüberzuziehen und habe den Generalvikar, der dieselben im Falle des Uebertrittes mit dem Banne bedrohte, deshalb verhaften und in die Verbannung abführen lassen." So so, "man munkelte". Da lehne ich mich mal ein Stück aus dem Fenster und sage, das ist ausgedachter Quatsch. Immerhin hat mich diese Passage aber veranlasst, ein bisschen zur Geschichte des Erzbistums Warschau im handlungsrelevanten Zeitraum zu recherchieren. Dabei habe ich festgestellt, dass der erzbischöfliche Stuhl von Warschau bereits seit 1838 vakant war; bis 1844 war Tomasz Chmielewski Kapitularvikar der Erzdiözese, nach dessen Tod dann Antoni Melchior Fijałkowski, der 1857 Erzbischof wurde und sich als spiritueller Führer der polnischen Nationalbewegung einen Namen machte. – Wenn man also bedenkt, dass ein bedeutender Wechsel in der Leitung der Diözese in der Realität ziemlich genau ein Jahr früher stattfand als in der Romanhandlung, könnte man meinen, der Autor hätte sich ruhig ein bisschen mehr Mühe geben können, seine Erzählung so zu konstruieren, dass sie zu den nachprüfbaren historischen Fakten passt; aber dass er sich diese Mühe gerade nicht gibt, unterstreicht einmal mehr den Gesamteindruck, dass er die Romanhandlung überhaupt nicht in nennenswertem Ausmaß vorausgeplant hat, sondern von Woche zu Woche aufs Geratewohl drauflosschreibt. Beachten wir übrigens, wie nah die Handlungszeit inzwischen an den Zeitpunkt des Erscheinens dieses Fortsetzungsromans herangerückt ist: Es liegen nur noch ungefähr 25 Jahre dazwischen. Zur Verdeutlichung: Das ist so, als würde ich heute einen Roman herausbringen, der 1998 spielt. Und wenn in diesem Roman dann Wolfgang Schäuble Bundeskanzler wäre und die DDR noch existierte, würden die Leser vielleicht sagen "Oh, ein Alternate History-Roman"; aber den Anspruch, die authentischen Hintergründe eines realen Kriminalfalls aufzudecken, würde man diesem Roman wohl eher nicht abkaufen. 

Nun aber mal weiter im Text: "Der betrübte Erzbischof" – von dem wir ja nun wissen, dass es einen solchen zu diesem Zeitpunkt realiter gar nicht gab – ernennt "sogleich in der Stille einen etwas vorsichtigeren Priester zum Generalvikar" (S. 908). Für die Handlung ist das deshalb von Belang, weil der schurkische Pater Gratian ein Protegé des bisherigen, nun nach Sibirien deportierten Generalvikars war, wohingegen der neue Generalvikar "ein vertrauter Freund und das Beichtkind des Carmeliterpaters Alfons" ist; und dieser "benützte sogleich seinen Einfluß auf ihn und ließ sich zum Beichtvater im Kloster St. Theresia designiren" (ebd.). So erhält Jovita "endlich einen Beichtvater [...], der es wirklich aufrichtig und gut mit ihr meinte", nämlich eben "den kleinen schmächtigen Pater Alfons" (ebd.), von dem ja bereits abzusehen war, dass er noch eine einigermaßen bedeutsame Rolle im Romangeschehen zu spielen haben würde. Obwohl nicht frei von menschlichen Schwächen, wird er als grundsätzlich sympathischer Charakter gezeichnet. "Pater Alfons hatte sich aus keinem selbstsüchtigen Grunde zu dem Amte eines Beichtvaters im Carmeliterinnenkloster gedrängt", heißt es auf S. 909: "Er wollte nur von dem ihm lästigen Chorgebete zur Nachtzeit befreit werden, eine Begünstigung, die den auswärtigen Beichtvätern zu Theil wird." (Das ist demnach also kein selbstsüchtiger Grund? Interessant.) "Er verlangte daher auch von seinen Beichtkindern weit größeren Ernst in der Befolgung der Ordensregeln, da ihm Pläne, wie sie von Pater Gratian gehegt wurden, gänzlich ferne lagen" (ebd.). Ein Seelsorgegespräch zwischen Alfons und Jovita dient dem Autor einmal mehr als Vorwand zu seitenlangen Exkursen über das Leben und die Schriften der Hl. Teresa von Àvila; während er bei früheren Gelegenheiten aber die Leidensmystik der großen Ordensreformerin als Beleg für den krankhaft masochistischen Charakter des kontemplativen Klosterwesens herangezogen haben würde, lautet sein Urteil hier: "Durch solche Belehrungen und Zusprüche richtete Pater Alfons die kranke Jovita auf. Auch Gratian hatte ihr viele Züge aus dem Leben der Heiligen vorgeführt, aber nicht in der frommen Absicht, sie zu erbauen und ihr Seelenheil zu befördern. Pater Alfons dagegen, dem stets eine höhere Pflicht vor Augen schwebte, erwies sich ihr als wirklicher geistlicher Vater" (S. 912). 

Nun, man wird sehen, wie sich das weiter entwickelt; das LXI. Kapitel trägt jedenfalls den Unheil verheißenden Titel "Geister, Kobolde, Dämone, Teufel, Belzebuben, Satanas". Aber bevor wir dazu kommen, bin ich den Fans dieser Artikelserie noch die Fortsetzung einer anderen gruseligen Klostergeschichte aus der Kolportageliteratur des späten 19. Jahrhunderts schuldig – nämlich des Kapitels "Die sieben Todsünden" aus Sir John Retcliffes Roman "Biarritz". Und sei es nur, um den qualitativen Abstand zwischen dem Großmeister des Genres und seinen Epigonen zu demonstrieren. – Gehen wir mal direkt rein in den Text:

"Dort, wo sich die Monti Quadri [...] erheben und die Scheidewand zwischen dem Flußgebiet des Sangro und des Garigliano bilden, von denen der erste östlich, der zweite westlich des Fuciner See's in den Gebirgen entspringen und der Sangro in die Adria, der Garigliano unterhalb Lanciano in das mittelländische Meer münden, [...] erhebt sich eine hohe Reihe von Felsgebirgen, deren Charakter an Rauhheit und Unzugänglichkeit zunimmt, je mehr sie sich dem hohen Bergriesen der Abruzzen nähern.
So zaudernd auch der Schritt der sonst so kühnen und nichts weniger als zaghaften Männer war, und mit so viel seltsamlichen und abenteuerlichen Geschichten auch der Aberglaube der eingebornen Gebirgsbewohner die Kameraden anderer Heimath über die Geheimnisse des Klosters unterhielt, – Niemand wagte doch, der Weisung des alten Banditenchefs ungehorsam zu sein, und der Marsch der Truppe endete in der That am späten Abend in der Nähe des verrufenen Klosters.
Einen gewissen Trost gewährte es freilich, daß man sich durch eine schroffe hohe Bergwand davon getrennt wußte." (S. 133f.) 

So viel zum Atmosphärischen! – Wir erinnern uns, dass der Brigantenhauptmann Tonelletto den Offizier Chevigné gebeten hatte, an seiner Stelle – da er wegen einer Fußverletzung nicht selbst gehen kann – einem Einsiedler, dessen Klause ganz in der Nähe des sogenannten "Klosters der Verdammten" liegt, eine geheime Botschaft zu überbringen. Nachdem die Freischärler ihr Lager aufgeschlagen haben, will Chevigné diesen Auftrag sogleich ausführen, obwohl es bereits dunkel geworden ist: "Die Nacht ist so schön, das Spiel des Mondlichts in diesen grotesken Felsen so malerisch, daß der Gang eher ein Vergnügen wäre, wenn ich nicht fürchten müßte, den Weg zu verfehlen" (S. 136). Wegen dieser Bedenken gibt Tonelletto ihm einen ortskundigen Führer mit: "Er hat früher schon den Weg bei Tage gemacht und ist der Einzige, der den Muth hat, ihn bei Nacht zu finden. Der Bursche war einmal Laienbruder in Rom, bis er eines schönen Abends bei irgend einer Hure einem Maler das Messer zwischen die Rippen stieß und deshalb in die Berge lief!" (S. 137f.). Selbst diesen ansonsten so unerschrockenen Burschen versetzt der Gedanke daran, "jetzt bei Nacht [...] nach dem verfluchten Kloster" gehen zu sollen, in erhebliche Unruhe, und er erklärt sich nur gegen eine großzügige Belohnung bereit, Chevigné zu begleiten – aber auch "nur so weit, daß der Signor nicht fehl gehen kann zur Klause des Eremiten" (S. 138). Unterwegs verrät er dem Offizier, dass "in dem Kloster der Verfluchten" nur die Mitternachtsmesse gelesen wird – "weil, wie das Volk erzählt, keine der Nonnen das Tageslicht wieder sehen darf" (S. 140). – Aber spulen wir noch einmal ein Stück zurück: Die Botschaft, die Chevigné dem Eremiten überbringen soll, besteht zu seiner Verwunderung lediglich aus einem scheinbar unbeschriebenen Blatt Papier. "Das fängt in der That an, ziemlich abenteuerlich zu werden", merkt er an. "Welcher Heiligen ist denn dieses geheimnißvolle Kloster gewidmet?", fragt er Tonelletto, und als dieser antwortet "Der Santa Maddalena!", ergibt sich der folgende bezeichnende Wortwechsel: 

"Parbleu - das klingt fast nach Meyerbeer und Robert dem Teufel. Ich würde Nichts dawider haben, wenn eine schöne Helena da wäre, um mich zu verlocken und wahrlich mich nicht so lange sträuben, wie der heilige Herr Robert von der Normandie." 

"Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen, Signor, aber kann Sie versichern, so furchtlos ich auch bin, es gäbe keinen Preis der Welt, für den ich eine Nacht in der Kirche der heiligen Maddalena zubringen möchte!" (S. 137). 

Die Anspielung auf Meyerbeers Oper "Robert le diable" (uraufgeführt 1831) bezieht sich offenbar auf eine Szene im dritten Akt, in der der Titelheld den Friedhof eines verfallenen Klosters aufsucht, wo die Geister verstorbener Nonnen auf ihren Gräbern tanzen: 

Dies bleibt indes nicht die einzige literarische Referenz: Den Einsiedler, dem Chevigné die Botschaft überbringen soll, stellt dieser sich zunächst in etwa so vor wie den "berühmten Bruder Tuck aus Walter Scott's 'Ivanhoe'" (S. 145) – und ist entsprechend überrascht, in der Klause einen etwa sechzigjährigen, großen, hageren Mann mit "abgezehrte[m] Gesicht" und "dunklen feurigen Augen" (S. 145f.) anzutreffen, der gerade dabei ist, sich zu geißeln. Chevigné schließt daraus, "daß er entweder einen jener Fanatiker des Glaubens vor sich hatte, die gleich den indischen Fakirs in der wüthendsten Selbstpeinigung den Dienst ihres Gottes suchen, oder einen Unglücklichen, der Sühnung für schwere Sünden darin findet" (S. 145). 

Auftragsgemäß übergibt Chevigné diesem düsteren Asketen das weiße Blatt Papier, das, wie man sich schon hat denken können, nicht wirklich unbeschrieben ist: 

"Der Klausner nahm einen alten Blechnapf aus dem Winkel, füllte ihn zur Hälfte mit klarem Wasser aus einem irdenen Krug und goß dann einige Tropfen aus der Phiole in den Napf.

Der Offizier bemerkte, daß sofort ein leichter Dampf aus der Schaale emporstieg. In diese Flüssigkeit tauchte der Eremit das erhaltene Blatt und zog es dann auf beiden Seiten über die Flamme der Lampe.

Das scharfe Auge des Offiziers bemerkte, daß sofort auf beiden Seiten des Papiers eine schwarze Schrift sichtbar wurde.

Nachdem der Klausner das Blatt getrocknet, begann er diese Schrift, die in Chiffern bestand, zu lesen" (S. 149f.). 

Den Inhalt der Nachricht erfährt der Leser an dieser Stelle nicht, wohl aber, dass sie den Einsiedler zu beunruhigen scheint: 

"'Der Wille Derer, die im Namen der Kirche zu gebieten haben, muß geschehen,' sagte er mit traurigem leisen Ton, 'wenn auch das schwache Auge des Dienenden seine Weisheit nicht zu erkennen vermag. Gott und die Heiligen mögen geben, daß es nicht selbst zum Schaden der Kirche ausschlage'" (S. 151). 

Gleich darauf erklärt der Einsiedler seinem Besucher, "eine dringende Pflicht" (ebd.) zwinge ihn zum sofortigen Aufbruch; er erlaubt Chevigné jedoch auf dessen Bitte hin, in seiner Klause zu übernachten – und ist plötzlich verschwunden, ohne dazu die Tür benutzt zu haben. Dieser Umstand veranlasst den allein zurückgebliebenen Offizier, sich in der Behausung des Eremiten genauer umzusehen – und dabei entdeckt er hinter dem Altar der Klause einen Geheimgang, der "in das Innere des Felsens" und somit offenbar in Richtung des Klosters führt, was Chevigné zu der bezeichnenden Bemerkung veranlasst: "[W]enn ich nicht Gelegenheit gehabt hätte, mich zu überzeugen, daß es diesem seltsamen Eremiten Ernst ist mit seiner Reue und Buße, würde mir dieser Weg zu seinen Beichttöchtern etwas verdächtig erscheinen" (S. 153). 

Die Entdeckung dieses Geheimgangs hält Chevigné allerdings nicht davon ab, sich erst einmal schlafen zu legen; erzähltechnisch ein ausgesprochen cleverer Schachzug, da es das darauffolgende Geschehen – ganz ähnlich wie im Fall des im ersten Band desselben Retcliffe-Romans enthaltenen Kapitels "Auf dem Judenkirchhof in Prag", das als literarische Vorlage für die berüchtigten "Protokolle der Weisen von Zion" gilt – in ein gewisses Zwielicht rückt: Zwar lautet der nächste Absatz "Der Offizier mochte etwas mehr als eine Stunde geschlafen haben, wobei es ihm träumte, er sei in der großen Oper zu Paris und höre den Gesang des Chors, als er erwachte" (ebd.); aber erwacht er wirklich? Könnte es nicht sein, dass auch die im Folgenden geschilderten Geschehnisse in Wirklichkeit nur ein Traum Chevignés sind? Mir scheint, das wird sehr bewusst in der Schwebe gehalten; und weiterhin scheint mir, dass dies eine Gelegenheit für einen Cliffhanger ist, die ich mir keinesfalls entgehen lassen darf. 

Fortsetzung folgt! 



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen