Holdrio, Leser: Das Update zu meinem umfangreichen Lektüreprogramm für das laufende Kirchenjahr ist schon wieder überfällig! Hundert Bücher in einem Jahr zu lesen ist ja an sich schon eine Herausforderung ("Challenge"), aber dann auch noch darüber zu schreiben...! Na, ich will mein Bestes tun. Die folgenden Bücher habe ich jedenfalls unlängst ausgelesen:
- Martin Klein: Lene und die Pappelplatztiger
In erster Linie ein flott geschriebenes und sympathisches Jugendbuch über ein Mädchen, das leidenschaftlich Fußball spielt, in eine ansonsten nur aus Jungs bestehende Bolzplatz-Mannschaft aufgenommen wird und nicht nur auf dem Platz zur Führungsspielerin avanciert. Das allein würde schon genügen, um dem Buch einen Platz im Regal der Pfarrbücherei einzuräumen; auf den zweiten Blick steckt aber noch mehr drin in diesem Buch.
Das beginnt schon damit, dass Titelheldin Lene zu Beginn der Handlungszeit gerade mit ihrer Familie aus einer ländlichen Kleinstadt in eine großstädtische Neubausiedlung umgezogen ist, wo die Häuser "wie große Schuhkartons mit rechteckigen Luftlöchern aussahen" (S. 15):
Das beginnt schon damit, dass Titelheldin Lene zu Beginn der Handlungszeit gerade mit ihrer Familie aus einer ländlichen Kleinstadt in eine großstädtische Neubausiedlung umgezogen ist, wo die Häuser "wie große Schuhkartons mit rechteckigen Luftlöchern aussahen" (S. 15):
"Lene hätte [...] gern einige Verbesserungsvorschläge gemacht. Zunächst den Vorschlag, kleinere Häuser zu bauen, mit schrägen Dächern, wie es sich für Häuser gehört. Wie in Kirchhofen.
Sie hätte vorgeschlagen, die Häuser so zu bauen, daß gleich hinter ihnen ein Wald anfängt. Denn dann kann man, wenn man abends aus dem Wohnzimmerfenster guckt, manchmal Rehe sehen.
Außerdem hätte sie vorgeschlagen, so kleine Städte zu bauen, daß die Schule, egal, wo in der Stadt man wohnt, immer in der Nähe ist. Denn dann hätten die Jungen aus ihrer Klasse automatisch alle in der Nähe gewohnt, und Lene hätte mit ihnen nachmittags Fußball spielen können. Wie in Kirchhofen.
'Wäre die Neustadtsiedlung wie Kirchhofen'. dachte Lene, 'hätte ich sogar wieder eine Freundin.' Denn überall, wo gleich hinter den Häusern Wald und Felder anfangen, dort gibt es Mädchen, die Pferde mögen und reiten. Die sind als Freundin geeignet." (S. 17)
Hier werden also Überlegungen dazu, wie unterschiedliche Siedlungsformen sich auf das Sozialverhalten ihrer Bewohner auswirken - Überlegungen, wie sie sich etwa auch in Rod Drehers "Crunchy Cons" oder in Haley Stewarts "The Grace of Enough" finden -, auf einem dem Stil des Buches und dem Altersspektrum der Zielgruppe angemessenen Niveau verhandelt, und das scheint mir doch sehr beachtlich. Dass übrigens das im Rückblick als recht idyllisch dargestellte Kleinstädtchen, aus dem Lene kommt, ausgerechnet "Kirch[!]hofen" heißt, möchte man ja fast subversiv finden; ebenso auch die Tatsache, dass die Schule, die Lenes Mutter für sie ausgesucht hat, an der sie aber nicht recht glücklich ist, den Namen "Kant-Gymnasium" trägt. Überhaupt ist es ein durchaus #BenOp-relevantes Thema, dass Lenes (zunächst als recht unsympathisch dargestellte) Mutter meint, "[e]ine gute Schulbildung" sei "das Allerwichtigste", und damit ein offenkundig an gesellschaftlichen Konformitäts- und Nützlichkeitskriterien orientiertes Bildungskonzept vertritt ("Später wirst du's mir noch mal danken", ebd.) -- was der Roman implizit kritisiert.
Was mir - als "Islamversteher", der ich zum Ärger und Unverständnis eines Teils meiner Zielgruppe nun mal bin - ebenfalls gut gefällt, ist, dass über die zur Bolzplatz-Mannschaft der Pappelplatztiger gehörenden türkischstämmigen Brüder Achmed und Erdal gesagt wird, dass sie "einmal in der Woche zur Koranschule" müssen und "zwei ältere Schwestern" haben, "die immer Röcke und Kopftücher trugen" (S. 39) -- und dass das zwar erwähnt, aber nicht weiter kommentiert oder gar problematisiert wird. Soviel also zum Islam; und wie sieht es demgegenüber mit dem Christentum aus? Lenes Vater, der "gern von den guten, alten Fußballzeiten" (S. 29) erzählt, erwähnt einmal die Redensart "An Jesus kommt keiner vorbei. Außer Libuda!" (ebd.). Die Hintergrundgeschichte zu diesem tatsächlich legendären Spruch ist übrigens ganz interessant, denn "An Jesus kommt keiner vorbei" war in den 60ern das Motto einer Tournee des bekannten Evangelisten Werner Heukelbach, und irgendwann versah dann ein Fußballfan ein Plakat für diese Evangelisationsveranstaltung mit dem besagten handschriftlichen Zusatz. -- Als Lene einmal ihrer Mutter gegenüber zu einer Notlüge Zuflucht nimmt, rechtfertigt sie das in Gedanken mit dem Satz "Kleine Lügen verzeiht der liebe Gott sofort" (S. 113). Man könnte jetzt natürlich lang und breit darüber debattieren, ob in dieser Aussage ein mehr oder weniger fragwürdiges Gottesbild zum Ausdruck kommt als in der sprichwörtlichen Redensart, die damit verballhornt wird, nämlich "kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort"; man kann es aber auch schlicht bemerkenswert finden, dass Romanheldin Lene (oder ihr Autor, for that matter) in diesem Zusammenhang überhaupt an den "lieben Gott" denkt.
Kritisch muss man anmerken, dass solche interessanten Details sich schwerpunktmäßig im ersten Drittel des Bandes finden und danach deutlich nachlassen. Schon um die Mitte des Buches herum hatte ich den Eindruck, in den ersten Kapiteln hätten - um eine bildhafte Formulierung von Tschechow aufzugreifen - allzu viele Gewehre über dem Kamin gehangen, die dann nicht losgehen. Zum Ende hin verstärkt sich dieser Eindruck; und dann endet das Buch sehr abrupt und unbefriedigend. Zieht man in Betracht, dass es eine Fortsetzung mit dem Titel "Lene gegen die Kornfeldkobras" gibt, in der die Handlung, soweit man es aus online auffindbaren Inhaltsangaben schließen kann, praktisch nahtlos weitergeht, dann liegt die Vermutung nahe, dass der Autor beide Teile ursprünglich als ein Buch konzipiert hat und der Verlag lediglich aus geschäftlichem Interesse zwei daraus gemacht hat. Trotzdem würde ich es jetzt nicht direkt als ein Muss betrachten, auch den zweiten Teil irgendwie in die Finger zu kriegen. Wie dem auch sei: Der Gesamteindruck bleibt positiv, und das Buch schafft (was durchaus nicht vo vornherein zu erwarten war) die Qualifikation für die Rangliste der #BenOp-relevanten Lesefrüchte, auch wenn es dort den vorerst letzten Rang einnimmt. Am Ende wird es wahrscheinlich auf eine "lobende Erwähnung" hinauslaufen.
Was mir - als "Islamversteher", der ich zum Ärger und Unverständnis eines Teils meiner Zielgruppe nun mal bin - ebenfalls gut gefällt, ist, dass über die zur Bolzplatz-Mannschaft der Pappelplatztiger gehörenden türkischstämmigen Brüder Achmed und Erdal gesagt wird, dass sie "einmal in der Woche zur Koranschule" müssen und "zwei ältere Schwestern" haben, "die immer Röcke und Kopftücher trugen" (S. 39) -- und dass das zwar erwähnt, aber nicht weiter kommentiert oder gar problematisiert wird. Soviel also zum Islam; und wie sieht es demgegenüber mit dem Christentum aus? Lenes Vater, der "gern von den guten, alten Fußballzeiten" (S. 29) erzählt, erwähnt einmal die Redensart "An Jesus kommt keiner vorbei. Außer Libuda!" (ebd.). Die Hintergrundgeschichte zu diesem tatsächlich legendären Spruch ist übrigens ganz interessant, denn "An Jesus kommt keiner vorbei" war in den 60ern das Motto einer Tournee des bekannten Evangelisten Werner Heukelbach, und irgendwann versah dann ein Fußballfan ein Plakat für diese Evangelisationsveranstaltung mit dem besagten handschriftlichen Zusatz. -- Als Lene einmal ihrer Mutter gegenüber zu einer Notlüge Zuflucht nimmt, rechtfertigt sie das in Gedanken mit dem Satz "Kleine Lügen verzeiht der liebe Gott sofort" (S. 113). Man könnte jetzt natürlich lang und breit darüber debattieren, ob in dieser Aussage ein mehr oder weniger fragwürdiges Gottesbild zum Ausdruck kommt als in der sprichwörtlichen Redensart, die damit verballhornt wird, nämlich "kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort"; man kann es aber auch schlicht bemerkenswert finden, dass Romanheldin Lene (oder ihr Autor, for that matter) in diesem Zusammenhang überhaupt an den "lieben Gott" denkt.
Kritisch muss man anmerken, dass solche interessanten Details sich schwerpunktmäßig im ersten Drittel des Bandes finden und danach deutlich nachlassen. Schon um die Mitte des Buches herum hatte ich den Eindruck, in den ersten Kapiteln hätten - um eine bildhafte Formulierung von Tschechow aufzugreifen - allzu viele Gewehre über dem Kamin gehangen, die dann nicht losgehen. Zum Ende hin verstärkt sich dieser Eindruck; und dann endet das Buch sehr abrupt und unbefriedigend. Zieht man in Betracht, dass es eine Fortsetzung mit dem Titel "Lene gegen die Kornfeldkobras" gibt, in der die Handlung, soweit man es aus online auffindbaren Inhaltsangaben schließen kann, praktisch nahtlos weitergeht, dann liegt die Vermutung nahe, dass der Autor beide Teile ursprünglich als ein Buch konzipiert hat und der Verlag lediglich aus geschäftlichem Interesse zwei daraus gemacht hat. Trotzdem würde ich es jetzt nicht direkt als ein Muss betrachten, auch den zweiten Teil irgendwie in die Finger zu kriegen. Wie dem auch sei: Der Gesamteindruck bleibt positiv, und das Buch schafft (was durchaus nicht vo vornherein zu erwarten war) die Qualifikation für die Rangliste der #BenOp-relevanten Lesefrüchte, auch wenn es dort den vorerst letzten Rang einnimmt. Am Ende wird es wahrscheinlich auf eine "lobende Erwähnung" hinauslaufen.
- Mikkjel Fønhus: Wölfe
Wie in "Die Wölfe kommen" von Heinz Kloss, das ich vor mehreren Monaten gelesen habe, geht es hier nicht um metaphorische, sondern um ganz buchstäbliche Wölfe; im direkten Vergleich wirkt das Buch von Fønhus allerdings erheblich härter und grausamer, was wohl nicht zuletzt dadurch bedingt ist, dass "Die Wölfe kommen" von Kloss ein Jugendbuch ist. Dass die Wölfe bei Fønhus als erheblich bösartiger dargestellt werden als bei Kloss, hat wohl auch damit zu tun, dass der sein Buch weitgehend aus der Perspektive der Wölfe selbst erzählt, während Fønhus der Perspektive der Ansiedler und Rentierhirten in Lappland breiteren Raum gibt, deren Existenz durch die Überfälle der Wölfe auf ihr Vieh bedroht wird.
Ein gewisses Maß an #BenOp-Relevanz hatte ich mir von der Schilderung des Lebens und Arbeitens in abgeschiedenen Siedlungen inmitten der Wildnis Lapplands erhofft, aber der Ertrag in dieser Hinsicht ist über weite Strecken eher schmal. -- Der Roman beginnt mit einer Szene auf einem großstädtischen Bahnhof, ein Bahnreisender liest in der Zeitung vom grassierenden Wolfsproblem im hohen Norden des Landes; irgendwie hatte ich daraufhin die Erwartung, der auf diese Weise in Szene gesetzte Kontrast zwischen Zivilisation und Wildnis würde im weiteren Verlauf noch eine größere Rolle spielen, aber das erwies sich als Irrtum. Erst nach 80 Seiten nahm mein Interesse an der Handlung des Buches wieder zu, nämlich mit dem Auftritt der Ansiedlerfamilie Udden. Geschildert wird nämlich, wie Albert Udden und seine Frau Gertrud ihr erst eineinhalb Jahre altes Töchterchen mehrere Stunden lang allein zu Hause lassen müssen, um - im tiefsten Winter - ihre Kuh zum Decken zu bringen, weil sie nämlich die Milch brauchen. Gerade für das Kind. Dieses Dilemma wird - vor allem aus Sicht der Mutter - eindringlich geschildert:
Ein gewisses Maß an #BenOp-Relevanz hatte ich mir von der Schilderung des Lebens und Arbeitens in abgeschiedenen Siedlungen inmitten der Wildnis Lapplands erhofft, aber der Ertrag in dieser Hinsicht ist über weite Strecken eher schmal. -- Der Roman beginnt mit einer Szene auf einem großstädtischen Bahnhof, ein Bahnreisender liest in der Zeitung vom grassierenden Wolfsproblem im hohen Norden des Landes; irgendwie hatte ich daraufhin die Erwartung, der auf diese Weise in Szene gesetzte Kontrast zwischen Zivilisation und Wildnis würde im weiteren Verlauf noch eine größere Rolle spielen, aber das erwies sich als Irrtum. Erst nach 80 Seiten nahm mein Interesse an der Handlung des Buches wieder zu, nämlich mit dem Auftritt der Ansiedlerfamilie Udden. Geschildert wird nämlich, wie Albert Udden und seine Frau Gertrud ihr erst eineinhalb Jahre altes Töchterchen mehrere Stunden lang allein zu Hause lassen müssen, um - im tiefsten Winter - ihre Kuh zum Decken zu bringen, weil sie nämlich die Milch brauchen. Gerade für das Kind. Dieses Dilemma wird - vor allem aus Sicht der Mutter - eindringlich geschildert:
"O ja, es ging wohl, weil es gehen mußte. So verhielt es sich mit vielen Dingen hier." (S. 84)
"[E]ine Neusiedlersfrau in den Lapplandwäldern muß sich sich manchmal hart machen können [...]. Man konnte es sich hier nicht leisten, ein allzu weiches und leicht gerührtes Herz zu haben. Allzu zarte Gefühle kamen einen hier teuer zu stehen, waren eine Art Zierblumen, die man hier nicht pflegen konnte." (S. 86)
"Willst du mir bis in die wilden Wolfsgegenden folgen? hatte Albert gefragt. Und sie hatte die Arme um seinen Hals gelegt. [...] Aber vielleicht war die Ehe etwas, das den Mut in einem auf die Probe stellte..." (S. 88)
Dem letzten Satz würde ein Carlo Carretto wohl zugestimmt haben. Allerdings bleibt dieser Handlungsstrang episodisch, ebenso wie, wenn man es recht bedenkt, alle anderen Handlungsstränge des Buches, soweit sie Menschen und nicht Wölfe betreffen. Eine Reihe unterschiedlicher Charaktere und ihre jeweiligen Geschichten tauchen in der Handlung des Buches mehr oder weniger kurz auf und verschwinden dann wieder daraus, verbunden werden diese episodischen Stränge allein durch die herumstreifende Wolfssippe, die nach und nach dezimiert wird. Genau wie bei Kloss (der sich womöglich nicht nur dies bei Fønhus abgeschaut hat) bleibt die Leitwölfin als letzte übrig, und ihr Tod markiert den Schlusspunkt der Handlung.
Leicht vorstellen kann man sich, dass die Betonung der Notwendigkeit, hart zu sein, dazu beigetragen hat, dass Fønhus bei den Nazis so beliebt war. Ebenso mögen auch die diversen Erwähnungem von Relikten des Heidentums dafür eine Rolle gespielt haben. Umgekehrt ausgedrückt, wirkt die lappländische Halbwildnis nahezu unbeleckt vom Christentum: Zwar ist an einer Stelle von "den Zeiten" die Rede, "da die Pilgerzüge auf dem Weg nach Nidaros hier über das Gebirge kamen" (S. 210) - der Pilgerweg zum Nidarosdom war in vorreformatorischer Zeit gewissermaßen das nordische Pendant zum Jakobsweg -, aber diese Zeiten sind lange vorbei, sehr viel länger offenbar als die Zeiten, "als der Lappe noch mächtigen Wesen aus Stein seine Opfer brachte" (S. 68). Von einrm solchen steinernen Götzen wird berichtet:
"Noch zu Lebzeiten des Großvaters stand das Götzenbild aufrecht. Wenn die Jäger vorbeikamen, pflegten sie ihm irgendetwas hinzulegen - und wenn's nichts anderes war als ein Stück Kautabak -, um Glück auf der Jagd zu haben.
Aber dann kam ein verrückter Mann von Savona, er hatte sich an der Bibel um dem Verstand gelesen, sagten die Leute, und der stürzte den Steingötzen in den Fluß." (S. 137)
An anderen Stellen deutet sich eine gewisse volkstümliche Vermengung von Christentum und Heidentum an; dass etwa zwischen Gebeten und Zaubersprüchen nicht klar unterschieden wird, zeigt etwa die Erzählung vom "Klomsegebet", mit dem das Vieh davor geschützt werden soll, von Wölfen gerissen zu werden: Einer alten Frau wird nachgesagt, "daß sie 'klomse'könne, das heißt den Raubtieren das Maul durch Zaubersprüche binden, daß sie nicht reißen können" (S. 206), und sie vollzieht ein Ritual, das wie folgt beschrieben wird:
"Sie nahm eine Tüte mit Salz und ging damit für eine Weile in ihre Kammer; dort drinnen sprach sie wahrscheinlich das Klomsegebet über der Tüte. Dann gab sie mit bebender Hand jeder der Ziegen etwas von dem Salz und sagte, jetzt könnten sie die Tiere ohne Hüterjungen in den Wald hinaus lassen [...]. Kein Raubtier dürfe jetzt ihr Blut verspritzen." (S. 206f.)
Der Zauber wirkt allerdings nicht: "Sieben Ziegen waren es, die auszogen, und zwei, die wiederkamen." (S. 207)
Interessant ist unter dem Religonsaspekt auch eine Passage, in der ein alternder Landstreicher infolge einer Knieverletzung hilflos in einer Schutzhütte liegt -- und währenddessen reflektiert:
“Eigentlich mußte Gerrat dem Herrgott wohl dankbar [...] sein [...]; der Herrgott war ihm kaum irgendwelche besondere Aufmerksamkeit schuldig, so schauderhaft wie Gerrat oft zu fluchen pflegte. Aber gerade jetzt konnte er sich nicht zu einer Bußstunde aufraffen; er wollte erst einmal abwarten, wie das weiterging, bevor er sich ernstlich mit religiösen Dingen abgab.” (S. 212f.)
Etwas später denkt er:
"Es war vielleicht nicht so ganz verkehrt, wenn er allmählich anfing, sich doch mit dem Herrgott ein klein wenig anzufreunden. Er hatte in dieser Beziehung noch manches auszugleichen." (S. 215)
Solche Überlegungen halten ihn indes nicht davon ab, den draußen tobenden Sturm einem "Wettergott" zuzuschreiben, der "in Zorn geraten war und über das Land hinfuhr, um alles hinwegzufegen" (S. 219). Man mag hier den Eindruck haben, der christliche "Herrgott" sei im Volksglauben einem weiterhin bestehenden heidnischen Pantheon lediglich hinzugefügt worden -- wie es bei nur oberflächlich christianisierten Völkern in "wilden" Regionen der Erde wohl tatsächlich gelegentlich der Fall war oder ist. Pachamama lässt von ferne grüßen. -- Kurz und gut, das Buch ist interessant, lesenswert, gut geschrieben; ins Büchereiregal kann man es bis auf Weiteres wohl ruhig aufnehmen; für die #BenOp-relevante Lektüre-Rangliste qualifiziert es sich hingegen nicht.
- Georg Friedrich Rebmann: Ideen über Revolutionen in Deutschland
Kann man die neunzehn in diesem Band versammelten, in den Jahren 1795-98 in verschiedenen meist kurzlebigen Journalen veröffentlichten Essays des späteren Richters Georg Friedrich Rebmann zusammenfassend als Revolutionspropaganda bezeichnen? Ich denke, man kann -- auch wenn Rebmann sich, wie der Herausgeber und Vorwort-Autor Werner Greiling betont, lange Zeit sehr zurückhielt, eine bewaffnete Revolution in Deutschland zu fordern oder zu befürworten, nur um dann 1797 festzustellen: "Zu einer förmlichen Revolution ist es jetzt zu spät" (S. 170). Nachdem er jahrelang darauf gesetzt hat, den Fürsten insbesondere der kleineren süd- und westdeutschen Staaten zuzureden, es liege angesichts der in der Luft liegenden Revolutionsgefahr in ihrem eigenen Interesse, "gut" (d.h. "aufgeklärt" und "vernünftig") zu regieren, bekennt er sich 1798 doch zum "schöne[n] Traum, Deutschland zu einer Republik und die Deutschen zu einer Nation werden zu sehen", meint aber zugleich, dieser müsse - zumindest bis auf Weiteres - "aufgegeben werden" (S. 200).
Ich würde es dennoch für einen Irrtum halten, Rebmann aufgrund dieser Haltung als "gemäßigt" einzuschätzen. In gewissem Sinne, möchte ich behaupten, ist das Gegenteil der Fall: Rebmann ist derart überzeugt von der Ideologie der Aufklärung, dass er lange Zeit darauf baut, diese müsse sich zwangsläufig früher oder später durchsetzen, auch ohne Revolution und Krieg. Das bedeutet aber zugleich auch, dass er aufklärerische Gesinnung für schlechthin identisch mit dem Guten und Wahren hält und somit jedem, der seine Anschauungen nicht teilt, bösen Willen unterstellt. Das macht ihn zu einem frühen Vorläufer von Leuten wie, sagen wir mal beispielsweise, Mario Sixtus, und genau das macht seine Texte so lehrreich: Man kann an ihnen exemplarisch studieren, wie ein gläubiger Anhänger einer totalitären Ideologie "tickt".
Dazu gehört natürlich, damals wie heute, eine kompromisslose Feindschaft gegen den christlichen Glauben, insbesondere gegen die katholische Kirche. "Überhaupt muß die Herrschaft der katholischen Religion gänzlich untergraben werden, wenn die Ruhe wieder hergestellt werden soll", fordert er 1796 in der ersten Nummer der "Schildwache". Warum? In einem ebenfalls 1796 (in Heft 5 der Zeitschrift "Das neue graue Ungeheuer") erschienenen Artikel über aus dem revolutionären Frankreich vertriebene Priester in Deutschland erklärt er es:
"Der Ordensgeist erstickt jeden Funken des Gemeingeistes. Das Zölibat trennt sie von dem süßesten vertraulichen Familienverein. Das Vaterland wird ihnen fremder, je wichtiger und größer der Einfluß der Kirche wird. Sie betrachten sich als Glieder einer geistlichen, allherrschenden Monarchie, deren Erhaltung durch jede Maßregel gesucht werden muß, weil der Zweck die Mittel heiligt, und in Wahrheit sind sie auch alle Teilnehmer und Mitglieder einer großen Verschwörung gegen die Herrschaft der Vernunft." (S. 70f.)
Im selben Beitrag macht Rebmann den Priestern ausdrücklich ihren "festen Glauben an die abgeschmacktesten Dogmen ihrer Kirche" (S. 66) zum Vorwurf; allein über die Verwendung des Ausdrucks "abgeschmackt" in diesem Zusammenhang könnte ich aus dem Stand eine längere Abhandlung schreiben, aber lassen wir das hier und jetzt mal bleiben, ich will schließlich von der Stelle kommen. -- In einem früheren Artikel (von 1795) beteuert Rebmann zwar en passant, nichts gegen "Religion" an sich zu haben, sondern lediglich gegen "Inquisitionen und Pfaffenregiment" (S. 42); aber man kennt solche rhetorischen Tricks. Was der Verfasser sich im positiven Sinne unter Religion an sich vorstellt, wird an anderer Stelle - nämlich im schon zitierten Beitrag in der ersten Nummer der "Schildwache" - unmissverständlich deutlich: "Das Volk fand allmählich Geschmack an dem reinen, deistischen Gottesdienst und würde in der Folge noch mehr daran gefunden haben", schreibt er mit Blick auf die Situation in Frankreich; das heißt, als "reine" Religion betrachtet er den aufklärerischen Deismus, wohingegen das, was die Kirche lehrt, Aberglaube, Obskurantismus und, wir hörten es schon, "abgeschmackt" ist. In einer Randbemerkung in einem offenen Brief an den vergleichsweise aufklärerisch gesonnenen Koadjutor des Erzbistums Mainz, Karl Theodor von Dalberg, aus dem Jahr 1796 bezeichnet Rebmann die Jesuiten als "eine Gesellschaft [...], die, sonderbar genug, sich nach dem aufgeklärtesten und duldendsten Menschen seines Jahrhunderts benennt" (S. 182); mit diesem Menschen meint er demnach Jesus. Kommt uns derlei irgendwie bekannt vor? In der 1797 verfassten, aber erst ein Jahr später erschienenen "Fortsetzung der Ideen über Revolutionen in Deutschland" legt Rebmann recht ausführlich dar, wie er sich die Zukunft der christlichen Konfessionen in einem nach aufklärerischen Idealen eingerichteten Staatswesen vorstellt:
"Der protestantische Klerus hat der Natur der Sache nach wenig bei unsrer Revolution zu verlieren. Lehrer des Volkes brauchen wir unter der neuen Regierungsform so gut als unter der alten. Unsre im letzten Jahrzehnt gebildeten Theologen (meist sogenannte Neologen und Aufklärer) werden sicher nicht nur keinen Widerstand leisten, sondern sogar die tätigsten Stützen der neuen, bessern Ordnung der Dinge sein, und sicherlich wird mancher dieser aufgeklärten Volksfreunde durch das Zutrauen des Volks für seine lobenswürdigen Bemühungen belohnt und zum Stellvertreter der Nation berufen werden. [...]
Der katholische Klerus muß natürlicherweise seiner Natur nach mehrere Veränderungen erleiden. Allein auch hier hat uns der Geist der Zeit vorgearbeitet, und die in den letzten Jahren gebildete katholische Geistlichkeit möchte ebenfalls eine Veränderung ihrer und unsrer Lage eher wünschen als fürchten. Wir werden freilich unsre Stifter, unsre Klöster etc. nicht auf dem jetzigen Fuß bestehen lassen, aber wir werden die Individuen weder töten noch verringern, sondern [...] die Alten zu Tode füttern und von den Jungen verlangen, daß sie Volkslehrer werden. Ob sie übrigens Lust haben, ihre Messe ferner zu lesen oder nicht, ob sie zur Bestätigung der Moral anführen, daß Propheten und Apostel sie auch schon vorgetragen hätten, oder nicht, das kann uns gleich gelten.” (S. 151f.)
Das kommentiere ich jetzt mal nicht, sondern lasse diese Ausführungen einfach für sich selbst sprechen. Übrigens beteuerte Rebmann bereits 1797 in seiner "Laterne für die mittlere Klasse des deutschen Volks": "Ihr könnt Messen hören, wenn ihr Lust habt, wie bisher" (S. 140). Wie tolerant! Ein Jahr zuvor meinte er mit Blick auf die Situation in Frankreich: "Einigen alten Betschwestern konnte man immer erlauben, noch zuweilen Messe zu hören, solange keine öffentlichen Unruhen daraus erfolgten" (S. 86). Ein bisschen wehmütig wird mir ja schon bei dem Gedanken, dass man damals offenbar befürchten konnte, die Zelebration einer katholischen Messe werde öffentliche Unruhen auslösen...
Indes verschweigt Rebmann auch nicht, dass die katholische Kirche letztlich gestärkt aus der Französischen Revolution hervorging:
"'Seit den Zeiten der Reformation', schreibt ein in Frankreich reisender Deutscher, 'waren die Diener der katholischen Kirche nie geschäftiger, die Ausbreitung des Reichs Christi zu befördern, als in den letzten fünf Jahren. Denn ihre zeitliche Glückseligkeit war mit dem Seelenheil ihrer Beichtkinder unzertrennlich verbunden. Sie arbeiteten aber in keiner Epoche der Revolution mit solchem Eifer und - in der Sprache der Kirche zu reden - niemals mit so vielem Segen wie in dem gegenwärtigen Zeitpunkte. Seit der Herrschaft der gemäßigten Partei sind sie in ganzen Zügen wieder nach Frankreich gegangen und haben das Land allenthalben wie Heuschrecken überströmt. Sie verdunkeln, wie diese, durch ihre Streifereien das Licht der Sonne und zerstören alles Gute, was die Philosophie in Frankreich seit 1789 aussäete und das allenthalben so glücklich aufzukeimen begann.'" (S. 70)Doch auch jenseits von Rebmanns rasendem Antiklerikalismus findet sich in seinen Schriften noch manches Bemerkenswerte. So eröffnet er die Erstausgabe der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Das neue graue Ungeheuer" (1795) mit einem Nachruf auf den 1792 verstorbenen aufklärerischen Publizisten Wilhelm Ludwig Wekhrlin (zu dessen Leistungen übrigens die kritische Berichterstattung über den letzten Hexenprozess Mitteleuropas, 1782 im schweizerischen Glarus gegen Anna Göldi, gehörte); und dieser Nachruf beginnt mit den Worten:
"Die Schwärmer aller Religionssekten feiern Feste zu Ehren der Märtyrer, die für ihren Glauben bluteten. Sollte nicht die Menschheit auch zuweilen sich an diejenigen ihrer Brüder erinnern, welche Opfer der laut gepredigten Wahrheit wurden?" (S. 33)Man beachte, wie hier das weltanschauliche Programm der Aufklärung kurzerhand mit der "Wahrheit" identifiziert und gegen die "Religion" abgegrenzt wird; aber so richtig überraschend ist das natürlich nicht. Indes musste ich bei Rebmanns Forderung, der christlichen Heiligenverehrung eine eigene Gedenkkultur entgegenzusetzen, spontan an den links-alternativen Berliner Terminkalender "Stressfaktor" denken; dessen Printausgabe enthält neben aktuellen Veranstaltungen nämlich auch "Gedenktage", wobei nicht nur an "Märtyrer der Bewegung" - von Sacco und Vanzetti über diverse gefallene Helden des Spanischen Bürgerkriegs bis hin zu Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim - erinnert wird, sondern auch an allerlei große und kleine "revolutionäre" Ereignisse aus aller Welt. Aber zurück zu Rebmann: Was er am Beispiel Wekhrlins über das Schicksal derer sagt, die ihrer Zeit voraus sind, ist bei allem Pathos durchaus bemerkenswert -- und in Teilen durchaus dazu angetan, dass auch der geneigte BenOpper sie sich ins Poesiealbum schreibt. Nicht nur wegen der biblischen Sprachbilder, deren der Verfasser sich hier und da bedient und damit seine Absicht unterstreicht, das christliche Märtyriums-Konzept für die von ihm vertretene ideologische Agenda zu okkupieren. Anders gesagt: Der "Berufsrevolutionär" ist eine säkularisierte Version des christlichen Heiligen, und es gilt, dieses Konzept für das Projekt einer christlichen Graswurzelrevolution "zurückzuklauen"! -- Hier einige schöne Zitate aus Rebmanns Nachruf auf Wekhrlin:
"Oh, das Los des Mannes, der für die Menschheit zu kämpfen, gegen ihre Unterdrücker aufzutreten wagt, ist wahrlich nicht so lockend! Er steht da wie eine einzelne Eiche, an der jeder Sturmwind seine Kräfte versucht! Jede seiner Schwächen wird ausgespäht, jeder menschliche Fehler ist an ihm ein Verbrechen [...]. Ruht er, so nennt man ihn träge, arbeitet er, so schimpft man über seine Tollkühnheit, winzige Geisterchen witzeln über das Werk seiner schlaflosen Nächte [...], und endlich wenn ein Stärkerer auftritt oder irgendein anderer sich auf seine Schultern stützt und nun freilich höher steht als der erste, dann -- vergißt man ihn." (S. 33)
"Es ist noch ein Glück für ihn, wenn er endlich soviel wirkt, um zertreten zu werden, sonst wird ihm nicht einmal das traurige Schicksal, als Märtyrer, sondern das, als verlachter Narr zu sterben". (S. 34)
"Der Kämpfer für die Menschheit ist längst vermodert, wenn der Baum gedeiht, den er gepflanzt hat, und dann sitzen die Enkel unter dem Schatten, ohne zu wissen, ob die Natur oder eine freundliche Hand des Baums gewartet habe." (ebd.)
"Aber der Gärtner streuet den Samen aus, ohne zu fragen, ob ein Sturmwind die zarte Pflanze entblättern oder ob sie im Strahl der milden Sonne reifen werde." (S. 35)
Ausgesprochen interessant ist auch Rebmanns polemischer Artikel “Über den deutschen Clootismus”, ebenfalls erschienen in der ersten Nummer des "Neuen grauen Ungeheuers". Darin zieht der Verfasser Parallelen zwischen Vertretern der extremen Linken der Französischen Revolution wie Anacharsis Cloots und Jacques-René Hébert einerseits und zeitgenössischen reaktionären Publizisten in Deutschland andererseits, indem er argumentiert, beide würden mit ihren überzogenen Positionen tatsächlich nur der jeweiligen Gegenseite in die Hände zu spielen. Der Herausgeber des 1988 in der DDR erschienenen Auswahlbandes, Werner Greiling, ist not amused darüber, dass Rebmann so ungeniert "Progressive" und "Reaktionäre" über einen Kamm schert, und wird daher nicht müde, Rebmann völlige Verkennung oder aber Verzerrung der “historischen Tatsachen" vorzuwerfen (so im Vorwort, S. 13, und erneut in den Anmerkungen, S. 209f.). Mit anderen Worten, Greiling hat schlichtweg die Intention hinter Rebmanns Argumentation nicht verstanden: Es geht ihm vor allem darum, gemäßigte Konservative davon zu überzeugen, dass die Vertreter der extremen Rechten nicht, wie diese vorgeben, ihre Verbündeten, sondern vielmehr ihre gefährlichsten Gegner seien. Diese Argumentation ist in Teilen durchaus bestechend und mutatis mutandis auch auf heutige politische Konstellationen anwendbar; allerdings überreizt Rebmann sein Blatt, indem er sowohl den französischen Linken als auch den deutschen Reaktionären unterstellt, agents provocateurs im Sold der Gegenseite zu sein und die Sache, die sie jeweils zu verfechten vorgeben, bewusst und absichtlich zu sabotieren. Das erinnert dann schon ein wenig an die von Orwell (siehe unten) ausführlich geschilderte Strategie der Stalinisten, Abweichler von der Parteilinie, Trotzkisten, Anarchisten etc. als Fünfte Kolonne des Faschismus zu diffamieren.
Kurz und gut, dieser Rebmann ist zwar eine ziemlich üble Type, aber eingedenk des Mottos "Know Your Enemy" ist diese 1988 bei Reclam Leipzig erschienene Auswahl aus seinem publizistischen Schaffen schlechthin unbezahlbar! Ich bin daher sehr froh, dieses Büchlein entdeckt zu haben, und zögere nicht, ihm eine hohe Platzierung auf der Rangliste der #BenOp-relevanten Literatur einzuräumen.
- Reinhold Schneider: Las Casas vor Karl V.
Ich gebe es zu: Anfangs war meine Lektüre dieses Buches etwas überschattet von meinem Unmut gegen den Autor, oder genauer gesagt: meinem Unmut über sein allzu hymnisch geratenes Vorwort zu den Tagebüchern seines Freundes Jochen Klepper sowie insbesondere darüber, wie er darin Kleppers Selbstmord glorifiziert. Aber okay, den "Las Casas" hatte Schneider schließlich fast zwei Jahrzehnte vor dem Erscheinen von Kleppers Tagebüchern (und mehrere Jahre vor Kleppers Tod) geschrieben, und tatsächlich gelang es mir von der ersten Seite an nicht, das Buch wirklich schlecht zu finden -- auch wenn ich mir sagte, Alfred Döblins thematisch verwandte und annähernd gleichzeitig entstandene Amazonas-Romantrilogie (die ich im Zuge meines Studiums gelesen habe, ehrlich gesagt allerdings nur die ersten zwei der drei Bände) sei besser.
Mit Blick auf den Buchtitel und so ziemlich alles, was ich im Vorfeld über den Inhalt des Buches zu wissen glaubte, war ich überrascht, festzustellen, dass die historische Disputation von Vallodolid zwischen Bartolomé de Las Casas und Ginés de Sepúlveda über den rechten Umgang mit der amerikanischen Urbevölkerung rein quantitativ gar nicht so großen Raum in Schneiders Erzählung einnimmt. Voel präsenter ist, vor allem in der ersten Hälfte, die Lebensgeschichte des (wohl fiktiven) Conquistadors Bernardino de Lares, der zusammen mit Las Casas aus der Neuen Welt nach Spanien reist, an den Spätfolgen einer alten Giftpfeilverletzung dahinsiecht, von Reue über seine zahlreichen Sünden gepeinigt wird und mit Las Casas' Hilfe einen Weg zur Buße sucht. Das ist sehr eindringlich geschildert und auch theologisch gehaltvoll; dennoch war ich zunächst nicht restlos überzeugt, dass das für eine Platzierung in der Rangliste der #BenOp-relevanten Lesefrüchte reichen würde. Der Teil des Buches, der sich dann tatsächlich um die Disputation von Valladolid dreht, interessierte mich auf den ersten Blick noch weniger; aber dann eröffnete mir der Kommentar einer Leserin eine neue Perspektive. Die Kommentatorin verglich Schneiders Darstellung der Disputation von Valladolid mit --- nun, sagen wir mal ganz allgemein: damit, wie es gläubigen Katholiken heutzutage und hierzulande in der Auseinandersetzung mit den institutionellen Strukturen der Kirche ergehen kann: "Die historischen Gegebenheiten haben sich doch sehr geändert, aber die Grundkonstruktion hat sich nicht geändert, gerade in der Kirche. Man verwechselt Materielles mit Spirituellem". Insbesondere weist sie darauf hin,
Mit Blick auf den Buchtitel und so ziemlich alles, was ich im Vorfeld über den Inhalt des Buches zu wissen glaubte, war ich überrascht, festzustellen, dass die historische Disputation von Vallodolid zwischen Bartolomé de Las Casas und Ginés de Sepúlveda über den rechten Umgang mit der amerikanischen Urbevölkerung rein quantitativ gar nicht so großen Raum in Schneiders Erzählung einnimmt. Voel präsenter ist, vor allem in der ersten Hälfte, die Lebensgeschichte des (wohl fiktiven) Conquistadors Bernardino de Lares, der zusammen mit Las Casas aus der Neuen Welt nach Spanien reist, an den Spätfolgen einer alten Giftpfeilverletzung dahinsiecht, von Reue über seine zahlreichen Sünden gepeinigt wird und mit Las Casas' Hilfe einen Weg zur Buße sucht. Das ist sehr eindringlich geschildert und auch theologisch gehaltvoll; dennoch war ich zunächst nicht restlos überzeugt, dass das für eine Platzierung in der Rangliste der #BenOp-relevanten Lesefrüchte reichen würde. Der Teil des Buches, der sich dann tatsächlich um die Disputation von Valladolid dreht, interessierte mich auf den ersten Blick noch weniger; aber dann eröffnete mir der Kommentar einer Leserin eine neue Perspektive. Die Kommentatorin verglich Schneiders Darstellung der Disputation von Valladolid mit --- nun, sagen wir mal ganz allgemein: damit, wie es gläubigen Katholiken heutzutage und hierzulande in der Auseinandersetzung mit den institutionellen Strukturen der Kirche ergehen kann: "Die historischen Gegebenheiten haben sich doch sehr geändert, aber die Grundkonstruktion hat sich nicht geändert, gerade in der Kirche. Man verwechselt Materielles mit Spirituellem". Insbesondere weist sie darauf hin,
"wie sich die Gegner des Las Casas alle eigentlich als gläubig, nett und ganz besonders menschenfreundlich vorkommen, auch in Bezug auf die Ureinwohner Südamerikas, aber dennoch sind sie massive Gegner des Las Casas, hintertreiben all seine Aktionen mit den irrsten Verrenkungen, bis dahin, dass sie plötzlich dem Las Casa vorwerfen, auch mal einer der ihren (der üblen Conquistadores) gewesen zu sein."
Eine bemerkenswerte und ausgesprochen #BenOp-relevante Lesart! Ganz nebenbei zeigt das übrigens auch, wie unterschiedlich dasselbe Buch von verschiedenen Lesern wahrgenommen werden kann und dass womöglich jeder Leser eines Buches etwas darin entdeckt, was anderen schlichtweg entgeht. Was man natürlich als Ermutigung verstehen kann, auch denjenigen Büchern eine Chance zu geben, die von mir eine eher schlechte Bewertung erfahren.
Davon abgesehen habe ich mir ein paar Zitate herausgeschrieben, die mir auch unabhängig vom konkreten Kontext bemerkenswert, inspirierend und potentiell #BenOp-relevant erscheinen:
"Denn die größte aller Veränderungen bringe der Wandel des Geistes hervor; und auf den Eingang einer neuen Idee in die geschichtliche Wirklichkeit ziele die Forderung des Las Casas." (S. 137)
"Aber wir sind da, um uns über das Einfachste zu verständigen: darüber wie das Gebot unseres Herrn und Heilands, der für alle Menschen gestorben ist, befolgt werden soll und auf welche Weise wir alle, ohne die Folgen unseres Tuns für zu groß und Gottes Wirkung für zu gering anzusehen, arbeiten sollen an der Verbreitung seines Reiches.
Der Herr hat seine Apostel ausgesandt, die Völker zu taufen; und die Apostel gehen noch über die Erde und werden Arbeit haben, bis er sie abruft." (S. 139)
"daß ich täglich fühle, wie Gottes Welt verdorben wird, weil falsche Gedanken in den Menschen wohnen und sie zu unfrommen Taten zwingen." (S. 185)
"Im Gebet erkennen wir den gottesfürchtigen Mann, und dem sollen wir folgen." (S. 188)
- George Orwell: Mein Katalonien
Ungefähr ein halbes Jahr, von Dezember 1936 bis Juni 1937, dauerte Orwells Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg, und innerhalb eines weiteren halben Jahres danach schrieb er dieses Buch, das somit bei seinem Erscheinen noch hochaktuell war. Ich zögere nicht zu sagen: ein sehr lesenswertes, historisch-politisch hochinteressantes und davon abgesehen einfach gut geschriebenes Buch; von der "allgemeinen Qualität" her (falls es so etwas gibt) sicherlich das beste, das ich in dieser Etappe gelesen habe, aber es geht bei dieser 100-Bücher-Challenge nun mal nicht um die "allgemeine Qualität". Wie sieht es also mit der spezifischen #BenOp-Relevanz aus?
Zunächst einmal habe ich ja neulich schon einmal angemerkt, dass ich den Spanischen Bürgerkrieg für ein in ideologiegeschichtlicher Hinsicht äußerst bedeutsames Kapitel der Historie halte, über das ich bislang viel zu wenig wusste; und tatsächlich hat mir die Orwell-Lektüre die Augen darüber geöffnet, wie wenig ich bislang darüber wusste bzw. wie viel von dem Wenigen, was ich zu wissen meinte, ungenau oder falsch war. Zum Beispiel wäre ich im Leben nicht darauf gekommen, dass die Sowjetunion und die von ihr unterstützten bzw. kontrollierten Kräfte innerhalb Spaniens die Strategie verfolgten, eine linksgerichtete Revolution in Spanien zu verhindern. Aber vielleicht muss ich erst mal einen Schritt zurückgehen und erklären, warum ich den Spanischen Bürgerkrieg als ein #BenOp-relevantes Thema ansehe. Ein Verweis darauf, was Rod Dreher auf seinem Blog über den Spanischen Bürgerkrieg geschrieben hat, mag hier hilfreich sein, allerdings ist die Benedikt-Option ja, auch wenn Freund Rod diese Bezeichnung geprägt und das gleichnamige Buch geschrieben hat, nicht schlichtweg gleichbedeutend mit "allem, was Rod Dreher sagt oder meint" (und umgekehrt); ich zweifle nicht, dass er selbst das auch so sieht. Mein persönlicher Zugang zum Thema hat zu tun mit einer Gedenktafel, die ich an der Außenwand der Kirche des 200-Seelen-Dorfes Azofra in der Region La Rioja sah, als ich im Sommer 2016 mit meiner Liebsten auf dem Jakobsweg pilgerte: eine Gedenktafel für die Gefallenen "im Heiligen Krieg gegen den Kommunismus". Ich war verblüfft, denn nach den Maßstäben des deutschen Konzepts von "Vergangenheitsbewältigung" hätte ich erwartet, dass derartige Inschriften nach dem Ende der Franco-Diktatur getilgt worden wären. -- Die spiegelbildliche Kehrseite einer solchen Lesart des Spanischen Bürgerkriegs ist natürlich der Vorwurf, die katholische Kirche habe in diesem Konflikt (und nicht nur da) auf der Seite der Faschisten gestanden; so wird z.B. das Opus Dei zuweilen schon allein deshalb als faschistoide Organisation verdächtigt, weil sein Gründer, der Hl. Josefmaria Escrivá, Ende 1937 aus dem republikanischen Madrid flüchtete und sich in Francos temporärer Hauptstadt Burgos niederließ. Insgesamt scheint es mir, dass die Rolle der katholischen Kirche im Spanischen Bürgerkrieg bzw. die verbreitete historische Wahrnehmung dieser Rolle bis heute erhebliche Auswirkungen in Bezug darauf hat, dass die katholische Kirche als Ganze, zumindest aber theologisch und liturgisch "konservative" Strömungen innerhalb der Kirche als politisch "rechts" eingeordnet werden. Das ist natürlich ein vielschichtiges Thema. Was habe ich nun bei Orwell darüber gelernt?
Orwells Katalonien-Buch beginnt damit, dass der Autor im Dezember 1936 in Barcelona in die Miliz der linkssozialistischen POUM eintritt, um, wie er meint, den Faschismus zu bekämpfen, und endet damit, dass er ein halbes Jahr später vor den Säuberungen der Kommunisten aus Spanien flieht. Diese Erfahrung immunisiert ihn gründlich gegen ideologische Schwarzweißmalerei. Tatsächlich widerspricht er in seiner Darstellung des Spanischen Bürgerkriegs explizit sowohl der "Version der Rechtsgerichteten, wonach christliche Patrioten gegen bluttriefende Bolschewisten kämpften", als auch der "Version der Linksgerichteten, wonach republikanische Gentlemen eine militärische Revolte unterdrückten" (S. 65), und klagt:
"Es ist einer der scheußlichsten Züge des Krieges, daß alle Kriegspropaganda, alles Geschrei, alle Lügen und aller Haß ständig von Leuten kommen, die nicht mitkämpfen. [...] Die Leute, die Broschüren gegen uns schrieben und uns in den Zeitungen beschimpften, blieben wohlbehütet zu Hause. [...]
Kaum hatten die Kämpfe begonnen, tauchten die Zeitungen der Rechten und der Linken gleichzeitig in dieselbe Senkgrube von Beschimpfungen. [...] Leute, die solche Geschichten schreiben, beteiligen sich nie am Kampf. Vielleicht glauben sie, so zu schreiben sei ein Ersatz für das Kämpfen. Das ist in allen Kriegen immer das gleiche." (S. 82f.)
Und ich lese das und denke: Rebmann! (siehe oben.)
Zur Einordnung Francos und seiner Anhänger als "Faschisten" merkt Orwell an, dass man "Franco strenggenommen nicht mit Hitler oder Mussolini vergleichen" könne:
"Sein Aufstieg war eine militärische Meuterei, die von der Aristokratie und der Kirche unterstützt wurde, und vor allem war es besonders am Anfang weniger ein Versuch, den Faschismus durchzusetzen, als den Feudalismus wiederherzustellen" (S. 62).
Gleichwohl bezeichnet Orwell in seinen Frontberichten die Kämpfer der Gegenseite durchweg und gewohnheitsmäßig als "die Faschisten"; während der "Mai-Unruhen" 1937 in Barcelona, in denen sich verschiedene linksgerichtete Fraktionen gegenseitig bekämpften, stellt er sogar fest: "Manchmal erwischte ich mich dabei, wie ich aus Gewohnheit von den Zivilgardisten als 'den Faschisten' sprach" (S. 165).
Was nun die Rolle der Kirche betrifft, kritisiert Orwell es scharf, dass "[e]inige der ausländischen antifaschistischen Zeitungen [...] zu der erbarmungswürdigen Lüge" griffen, "daß Kirchen nur dann angegriffen wurden, wenn sie als faschistische Befestigungen dienten": "Tatsächlich wurden die Kirchen überall geplündert" (S. 66). Mit "überall" meint er natürlich: im von den Linken beherrschten Teil Spaniens.
"Im Verlauf von sechs Monaten sah ich in Spanien nur zwei unzerstörte Kirchen. Bis zum Juli 1937 erlaubte man nicht, daß eine Kirche geöffnet und Gottesdienste abgehalten wurden, außer ein oder zwei protestantischen Kirchen in Madrid" (S. 67).
Schon bei seiner Ankunft in Barcelona Ende 1936 beobachtet er: "Fast jede Kirche hatte man ausgeräumt und ihre Bilder verbrannt. Hier und dort zerstörten Arbeitstrupps systematisch die Kirchen" (S. 9). An anderer Stelle merkt er an, das Ausmaß, in dem im republikanischen Spanien "Kirchen [...] zerstört und die Priester weggetrieben oder getötet" wurden, habe es der rechtsgerichteten Presse ermöglicht, "[u]nter dem Beifall des katholischen Klerus [...] Franco als einen Patrioten dar[zu]stellen, der sein Land von einer Horde teuflischer 'Roter' befreite" (S. 62). Ein interessantes Detail berichtet er von seinem Einsatz an der aragonesischen Front: "Wir waren vor allem angewiesen worden, über das Läuten der Kirchenglocken zu berichten. Es schien, daß die Faschisten jedesmal zur Messe gingen, ehe sie in die Schlacht zogen" (S. 93). Als Orwells Truppeneinheit auf einem "La Granja" genannten Landgut einquartiert ist, von dem er meint, es sei "möglicherweise früher einmal ein Konvent gewesen", äußert er sogar "eine gewisse schleichende Sympathie für die ehemaligen faschistischen Besitzer, wenn ich sah, wie die Miliz die eroberten Gebäude behandelte":
"In La Granja war jeder unbenutzte Raum in eine Latrine verwandelt worden - ein scheußliches Schlachtfeld zerschlagener Möbel und Exkremente. In der kleinen Kirche daneben waren die Wände von Granatlöchern durchbohrt und der Boden fußhoch unter Mist begraben." (S. 98f.)
In der Nähe gibt es einen "kleinen, von Mauern eingefaßten Kirchhof", auf dem "die Toten des Dorfes" liegen (S. 101); ein Spaziergang auf diesem Friedhof veranlasst Orwell zu einer längeren Reflexion, die für mich zu den interessantesten Passagen des Buches zählt:
"Das Überraschende [...] war, daß religiöse Inschriften auf den Grabsteinen fast vollständig fehlten, obwohl sie [102] alle aus der Zeit vor der Revolution stammten. Ich glaube, ich sah nur einmal ein 'Bete für die Seele des Soundso', wie es auf katholischen Gräbern üblich ist. Die meisten Inschriften waren recht weltlich mit komischen Gedichten auf die Tugenden der Verstorbenen. Auf vielleicht einem unter vier oder fünf Gräbern stand ein kleines Kreuz oder eine formhafte Ehrerbietung für den Himmel, die dann von einem fleißigen Atheisten mit einem Meißel weggeschlagen worden war.
Es fiel mir auf, daß die Einwohner dieser Gegend Spaniens wirklich ohne religiöse Gefühle sein mußten - ich meine religiöses Gefühl im strenggläubigen Sinne. Es ist merkwürdig, daß ich während der ganzen Zeit meines Aufenthaltes in Spanien niemals einen Menschen sah, der sich bekreuzigte, obwohl man doch annehmen sollte, daß eine derartige Bewegung, ob mit oder ohne Revolution, zur Gewohnheit wird. Sicherlich wird die spanische Kirche zurückkommen - nach dem Sprichwort: die Nacht und die Jesuiten kommen immer wieder -, aber es besteht kein Zweifel daran, daß sie beim Ausbruch der Revolution zusammenbrach und in einem solchen Ausmaß zerschlagen wurde, wie es unter ähnlichen Umständen selbst für die todgeweihte Kirche von England undenkbar wäre. Für die spanischen Menschen, jedenfalls in Katalonien und Aragonien, war die Kirche schlicht und einfach Schwindel. Möglicherweise wurde der christliche Glaube in gewissem Umfange vom Anarchismus verdrängt, dessen Einfluß sehr weit reicht und der ohne Zweifel eine religiöse Färbung hat." (S. 101f.)
Bleibt es hier in der Schwebe, was Orwell persönlich von diesem (Ver-)Schwinden des Christentums hält, macht er an anderer Stelle deutlich, dass er zumindest aus politischer Sicht den in der spanischen Republik grassierenden Antiklerikalismus gutheißt. So reflektiert er gegen Ende des Buches darüber, wie eine spanische Regierung nach einem Sieg über Franco (an den er zu diesem Zeitpunkt noch glaubt und den er erhofft: "Möglicherweise war die Volksfront ein Betrug, aber Franco war ein Anachronismus. Nur Millionäre oder Romantiker konnten sich seinen Sieg wünschen", S. 226) aussehen könnte und sollte, und meint, in jedem Fall müsse diese Regierung "antiklerikal und antifeudal sein" (S. 225); sie müsse,
"zumindest für eine gewisse Zeit, die Kirche unter Kontrolle halten und das Land modernisieren [...], zum Beispiel Straßen bauen, die Erziehung und die öffentliche Gesundheit fördern" (S. 225f.).
Wie eine ironische Fußnote zu der Einschätzung, für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse in Spanien sei es notwendig, den Einfluss der Kirche zurückzudrängen, mutet es an, dass Orwell, als er mit einer Schusswunde im Hals im Lazarett liegt, am eigenen Leibe den "Mangel an guten Krankenschwestern" erfährt:
"Anscheinend gab es nicht genug ausgebildete Schwestern in Spanien, vielleicht weil diese Arbeit vor dem Krieg hauptsächlich von Nonnen getan wurde" (S. 236).
Ach. -- Kurz bevor er Barcelona verlässt, sieht Orwell sich erstmals "die Kathedrale" an, womit er aber tatsächlich nicht die gotische Bischofskirche Barcelonas meint, sondern Antoni Gaudís unvollendete Sagrada Familia. Er nennt sie "eines der häßlichsten Gebäude der Welt" und äußert die Ansicht, "daß die Anarchisten schlechten Geschmack bewiesen, als sie die Kirche nicht in die Luft sprengten, solange sie die Gelegenheit dazu hatten” (S. 278).
Man tut bei alledem gut daran, im Auge zu behalten, dass Orwell bei all seiner Opposition zum Stalinismus immer noch Sozialist ist; ja, zu einem gewissen Grad kritisiert er den Stalinismus gerade aus sozialistischer Sicht. Bezeichnend dafür ist die folgende Passage:
"Ich weiß sehr genau, wie es heute zum guten Ton gehört zu verleugnen, daß der Sozialismus etwas mit Gleichheit zu tun hat. In jedem Land der Welt ist ein ungeheurer Schwarm Parteibonzen und schlauer, kleiner Professoren beschäftigt zu 'beweisen', daß Sozialismus nichts anderes bedeutet als planwirtschaftlichen Staatskapitalismus [...]. Aber zum Glück gibt es daneben auch eine Vision des Sozialismus, die sich hiervon gewaltig unterscheidet. Die Idee der Gleichheit zieht den normalen Menschen zum Sozialismus hin. Diese 'Mystik' des Sozialismus läßt ihn sogar seine Haut dafür riskieren. Für die große Mehrheit der Menschen bedeutet der Sozialismus die klassenlose Gesellschaft, oder er bedeutet ihnen überhaupt nichts. Unter diesem Gesichtspunkt aber waren die wenigen Monate in der Miliz wertvoll für mich. Denn solange die spanischen Milizen sich hielten, waren sie gewissermaßen der Mikrokosmos einer klassenlosen Gesellschaft." (S. 133)
Verstehen wir uns nicht falsch: Auch an einem solchen eher "idealistischen" oder "utopischen" Sozialismus, wie Orwell ihn hier vertritt, kann man natürlich Kritik üben, muss es vielleicht auch, etwa aus der Perspektive der katholischen Soziallehre, wie sie Papst Leo XIII. in seiner bahnbrechenden Enzyklika Rerum Novarum (1891) vorgelegt hat. Aber ich erlebe es ein bisschen zu oft, dass Apologeten des Kapitalismus kurzerhand alles, was sich "Sozialismus" nennt, mit jenem System identifizieren, das Orwell als "planwirtschaftlichen Staatskapitalismus" bezeichnet, und ich denke, damit machen sie es sich zu einfach.
Interessant ist auch, was Orwell über "die demokratisch-'revolutionäre' Art der Disziplin" (S. 37) sagt, die in den linksgerichteten Milizen herrschte. Zusammenfassend und vereinfacht gesagt basierte diese Art von Disziplin nicht auf der Pflicht zum Gehorsam gegenüber Vorgesetzten (Offiziersränge gab es in den Milizen nicht), sondern auf der gemeinsamen Verantwortung für die Sache, für die man kämpfte:
"Zynische Menschen [...] werden sofort sagen, daß es so niemals 'geht', aber tatsächlich 'geht' es auf die Dauer. [...] 'Revolutionäre' Disziplin ist vom politischen Bewußtsein abhängig - von dem Verständnis dafür, warum Befehle befolgt werden müssen. Es dauert einige Zeit, bis sich diese Einsicht verbreitet, aber es dauert auch einige Zeit, einen Mann auf dem Kasernenhof zu einem Automaten zu drillen" (S. 37f.).
Das könnte für die Organisation von Benedikt-Options-Initiativen ein durchaus richtungsweisender Gedanke sein. -- Und abschließend noch ein Zitat, das sich ganz unabhängig vom Kontext gut fürs Poesiealbum des ambitionierten BenOppers eignet:
"Es gibt Gelegenheiten, bei denen es sich besser bezahlt macht, zu kämpfen und geschlagen zu werden, als überhaupt nicht zu kämpfen." (S. 190)
1. (1) Carlo Carretto: Wir sind Kirche
2. (2) Norbert Baumert (Hg.): Jesus ist der Herr
3. (NE) Georg Friedrich Rebmann: Ideen über Revolutionen in Deutschland
4. (3) Sr. M. Lucia OCD: Umkehr - Heiligung - Freude in Gott
5. (NE) Reinhold Schneider: Las Casas vor Karl V.
6. (4) Karl May: "Weihnacht!"
7. (NE) George Orwell: Mein Katalonien
8. (NE) Martin Klein: Lene und die PappelplatztigerDrei der elf bisher gelesenen Bücher haben sich nicht für die Rangliste qualifiziert. -- Da nun also Carlo Carrettos "Wir sind Kirche" weiterhin die Spitzenposition hält und dies aller Voraussicht nach auch noch eine Weile so bleiben wird, muss ich an dieser Stelle noch eine kleine Anekdote zu diesem Buchtitel loswerden: Neulich auf der MEHR traf ich einen Freund und Verbündeten, der mir verriet, er habe meinen Artikel über die erste Etappe meiner 100-Bücher-Challenge hauptsäch deshalb gelesen, weil er sich über den Buchtitel "Wir sind Kirche" auf dem Vorschaubild gewundert habe; denn natürlich habe er da sofort an die berüchtigte gleichnamige "Kirchenvolksbewegung" gedacht (die es allerdings noch gar nicht gab, als das Buch herauskam). Allerdings, so fügte er hinzu, habe er spontan ähnlich irritiert, als ihm kürzlich bei einer Essenseinladung Wirsing-Quiche aufgetischt worden sei...
So, nun aber die Vorschau zur dritten Etappe:
- Alexander Oetker: Winteraustern
- Andreas Schlüter: Level 4 - Die Stadt der Kinder
Ein Fundstück aus einer Büchertelefonzelle -- ich glaube, aus derjenigen in der Osloer Straße, kann aber auch eine andere gewesen sein, kommt ja nicht so genau drauf an. Jedenfalls handelt es sich um ein Jugendbuch aus dem Jahr 1994, dessen Klappentext erwarten lässt, dass da Computerspiele und "virtual reality" zum Ausgangspunkt für eine dystopisch-phantastische Science-Fiction-Handlung genommen werden. Das könnte ziemlich interessant sein oder auch totaler Schrott, ja, womöglich sogar beides. Lassen wir uns mal überraschen.
- Maxim Gorki: Wanderungen durch Russland
Entdeckt in der Büchertelefonzelle auf dem Edeka-Parkplatz am Eichborndamm; und ich fühlte mich spontan an Debogory-Mokriewitsch und seine "Erinnerungen eines Nihilisten" erinnert, die es in der vorigen Jahreswertung auf einen sehr beachtlichen 15. Platz geschafft haben. Bei Gorkis "Wanderungen" handelt es sich, wie man dem Klappentext und dem Anhang entnehmen kann, um eine Sammlung von Erzählungen mit teilweise autobiographischem Hintergrund, die zwischen 1912 und 1917 entstanden, inhaltlich aber in den 1880er- und 1890er-Jahren angesiedelt sind; da sind wir chronologisch also tatsächlich gar nicht so weit von Debogory-Mokriewitsch entfernt. -- Ich habe, soweit ich mich erinnere, bisher noch nie eine Zeile von Gorki gelesen und auch keins seiner Theaterstücke gesehen, aber er scheint mir eine interessante Figur zu sein, nicht zuletzt dank seiner (trotz persönlicher Freundschaft mit Lenin) zwiespältigen und nicht selten widersprüchlichen Haltung zum Kommunismus und zum Sowjetregime -- und erst recht dank seiner kaum weniger komplizierten Haltung zum Christentum und zur Religion allgemein. Inwieweit das als #BenOp-relevant zu bewerten sein wird, bleibt freilich abzuwarten, aber ich denke mal, eine interessante Lektüre wird es allemal sein.
- G. K. Chesterton: Thomas und Franz
Ein Highlight aus einer umfangreicheren Bücherspende für das Pfarrbücherei-Projekt, wahrscheinlich aus dem Nachlass des im vergangenen Frühjahr verstorbenen Pfarrers Dimter. Dem Werbetext auf dem hinteren Buchdeckel zufolge handelt es sich um die "[e]rste vollständige deutsche Textfassung" von Chestertons biographischen Essays über Thomas von Aquin und Franz von Assisi. Von Chesterton habe ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, abgesehen von einzelnen, im Internet kursierenden Zitaten bislang nur "Orthodoxie" gelesen, das dafür aber mehrmals und mit wachsender Begeisterung; ich bin also durchaus bereit, davon auszugehen, dass auch dieses Buch ausgesprochen großartig wird. Übrigens erwähnte ich ja neulich schon, dass ich in jeder Leseetappe einen "Slot" für ein "mutmaßlich rechtgläubiges" Buch vorgesehen habe, und es ist wohl keine große Überraschung, wenn ich sage, dass in der kommenden Etappe dieses Buch diese Position einnimmt. Allerdings ist weder die zu erwartende Rechtgläubigkeit noch die bekannte Brillanz des Autors ein unfehlbarer Garant für #BenOp-Relevanz; in dieser Hinsicht wage ich vorläufig noch keine Prognose.
- Matt Ruff: Fool on the Hill
Wie an anderer Stelle bereits erwähnt, handelt es sich hierbei um ein Beutestück einer besonders ergiebigen "Büchertour" im vergangenen Oktober -- ein Buch, dass ich eher aus einer Laune heraus mitnahm, weil ich die vage Ahnung hegte, es könne sich als unterhaltsam und originell erweisen, auch wenn ich keine klare Vorstellung hatte (und habe), was mich da nun im Einzelnen erwartet. Allem Anschein nach handelt es sich um eine Art College-Satire mit Phantastik-Elementen. Alles Weitere wird sich zeigen.
Im Großen und Ganzen könnte man nun den Eindruck haben, dass dies in Hinblick auf die #BenOp-Relevanz die bislang schwächste Leseetappe des laufenden Kirchenjahres wird (was freilich, da es ja insgesamt erst die dritte ist, so viel nun auch nicht zu besagen hätte), aber andererseits traue ich es jedem einzelnen dieser fünf Bücher zu, mich positiv zu überraschen. Sei also gespannt, Leser -- ich bin es auch!
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