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Samstag, 8. April 2017

Die Stille neben dem pulsierenden Leben des Kreta-Grills

I. 

Unlängst war ich in einer Berliner Kirche, die hier ungenannt bleiben möge, zur Kreuzwegandacht, und die war ziemlich schlimm. Wobei, "schlimm" ist natürlich eine Frage der Einstellung. Man könnte auch sagen, sie war ziemlich illustrativ. Kurz zuvor hatte ich mich nämlich - für einen Wochenkommentar auf Radio Horeb - recht eingehend mit Kardinal Sarahs Eröffnungsreferat zur Liturgischen Tagung in Herzogenrath befasst, und nun fand ich, diese Kreuzwegandacht war geradezu ein Lehrbuchbeispiel für die Missstände, die Kardinal Sarah beklagt. In Stichworten: die Neigung, liturgische Formen lediglich als Material oder als Rahmen für "kreative" Eigenleistungen zu betrachten und zu benutzen; "Entsakralisierung und Banalisierung"; "rein soziale und horizontale Sicht der Mission der Kirche"; letztlich, als Wurzel allen Übels, der Befund, dass Gott nicht mehr im Mittelpunkt steht

Es ging damit los, dass der Pfarrer munter verkündete, er habe aus den 14 Stationen des Kreuzwegs fünf ausgewählt, "die alle etwas mit dem Thema 'Fallen' zu tun haben". Es sei doch mal eine "Abwechslung", meinte er, nicht den ganzen Kreuzweg zu beten, sondern nur ausgewählte Stationen, auf die man sich dafür dann umso intensiver einlassen könne. -- Na ja. Ich sag mal so: Unter Umständen mag es legitim sein, bei einer Kreuzwegandacht einzelne Stationen wegzulassen. Zum Beispiel, wenn man meint, sie würde sonst zu lange dauern oder 14 Kniebeugen seien zu anstrengend für die oft ja schon ziemlich bejahrten Teilnehmer(innen). Aber so zu tun, als hätte diese "Konzentration" auf einige ausgewählte Stationen eine positive Qualität? - Okay: Wenn die Meditationen zu diesen ausgewählten Stationen dann eine außergewöhnliche Tiefe und Intensität hätten, ja, dann vielleicht. 

Nun, glücklicherweise war nicht alles schlecht an diesem Kreuzweg. Die Schriftlesungen zu den einzelnen Stationen wurden aus dem Gotteslob (Nr. 683-684) übernommen und waren damit wirklich gut ausgewählt. Auch zwei oder drei der Lieder waren recht schön, nur dass sie zum falschen Zeitpunkt gesungen wurden: nämlich just an jenen Stellen, an denen in der Kreuzwegandacht im Gotteslob STILLE vorgesehen war. Für die "heilige Stille, ohne die man" - so Kardinal Sarah - "Gott nicht begegnen kann", war kein Platz bzw. keine Zeit. -- Die Meditationstexte wurden nicht aus dem Gotteslob übernommen; man muss ja auch zugeben, dass die ziemlich fußpilzauslösend sind. Aber schlimmer geht's eben immer. In den offenbar vom Pfarrer selbstgestrickten Texten zu den Stationen 2,3,7,9 und 14 wurde jeweils im ersten Satz einmal Jesus erwähnt, und im weiteren Verlauf ging es dann nur noch um "uns" - also um so ein unpersönliches pastorales "Uns", mit dem irgendwie die Menschheit als Ganze gemeint ist, oder besser gesagt: die conditio humana, das "wie-der-Mesch-nun-mal-so-ist". Zum Abschluss wurde dann auch noch die Hoffnung auf die Auferstehung zum Ewigen Leben in ein zaghaftes "vielleicht" eingekleidet. 

(Disclaimer: Die Kirche, in der dieses Foto aufgenommen wurde, ist nicht die Kirche, in der die hier geschilderte Anacht stattfand.) 

Fragen wir uns an dieser Stelle: Worum geht's eigentlich bei einer Kreuzwegandacht, oder genauer, worum sollte es dabei gehen? Warum wird der Kreuzweg in der Passionszeit gebetet? Die Antwort ist im Grunde simpel: um sich das heilbringende Leiden Jesu Christi zu vergegenwärtigen. Punkt. Und nun frage ich mich, was jemanden dazu veranlasst, zu einer Kreuzwegandacht Texte zu verfassen und vorzutragen, in denen es darum gerade nicht geht

Man mag vermuten, der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liege in dem eingangs erwähnten Stichwort "Abwechslung". Die Auffassung, gottesdienstliche Feiern (im weitesten Sinne) bräuchten heutzutage mehr "Abwechslung", um "attraktiv zu sein", ist ja tatsächlich weit verbreitet. Aber mal ganz davon abgesehen, dass diese Sichtweise die große Stärke und Schönheit verkennt, die gerade in der Konstanz liturgischer Formen liegt, bietet eine Kreuzwegandacht mit ihrem Wechsel aus Gebet, Schriftlesung, Meditation und Gesang eigentlich genug Raum für "Abwechslung". Gute Meditationstexte zum Kreuzweg, die man in einschlägigen Büchern oder im Internet finden kann, gibt es wahrhaftig genug, als dass man obendrein noch schlechte bräuchte. Vollends wird die Auffassung, man müsse "den Leuten" - wer auch immer damit konkret gemeint sein mag - "mal was Neues" bieten, fragwürdig, wenn dieses "Neue" lediglich aus banalen Wald-und-Wiesen-Moralismen besteht. -- Bei einer Kreuzwegandacht an einem Werktag in einer ganz normalen Pfarrkirche dürfte es zwar insgesamt eher unwahrscheinlich sein, dass da jemand hineingerät, der "nur mal gucken" will und nicht so genau weiß, was ihn erwartet; wäre dies bei der besagten Andacht aber doch der Fall gewesen, glaube ich nicht, dass der in diesen schalen und verwässerten Meditationstexten irgend etwas gefunden hätte, was ihn motiviert hätte, sich näher darauf einzulassen, was es mit dem Glauben der Kirche auf sich hat. 

II. 

In den Letzten Gesprächen Benedikts XVI. Goethes mit Peter Seewald Eckermann findet sich die folgende schöne Passage
"Shakespeare [...] gibt uns in silbernen Schalen goldene Äpfel. Wir bekommen nun wohl durch das Studium seiner Stücke die silberne Schale, allein wir haben nur Kartoffeln hineinzutun, das ist das Schlimme!" 

III. 

Nach diesem Kreuzweg-Desaster reagierte ich umso aufmerksamer und interessierter auf einen Zeitungsartikel mit dem Titel "Erst schweigen, dann beten", auf den ich wenig später beim Stöbern in der Online-Ausgabe der Nordwest-Zeitung stieß. "Im evangelischen Gemeindehaus begann die 'Reise' mit 14 Stationen", heißt es im Teaser-Absatz. "Die Teilnehmer genossen die ganz besondere Atmosphäre." Aufgemerkt: 14 Stationen? Sollte es etwa...? Und richtig: 
"Schirme oder Fackeln waren völlig überflüssig: Auf einen derart traumhaften lauen Abend hatte bei den Planungen des ersten ökumenischen Lemwerderaner Kreuzwegs niemand zu hoffen gewagt. Mehr als 20 Männer und Frauen fanden sich im evangelischen Gemeindehaus ein. Von dort begann die aus 14 Stationen bestehende 'Pilgerreise'."
Ort des Geschehens: Lemwerder, eine ländliche 7.000-Einwohner-Gemeinde nördlich von Bremen. Tiefste Diaspora also, aber immerhin gibt es dort zwei Werften sowie eine Firma, die Flügel für Windkraftanlagen herstellt, und früher obendrein ein Flugzeugwerk - und mithin Arbeitsmigration. Was wohl der Hauptgrund dafür sein dürfte, dass Lemwerder eine katholische Kirche (mit dem recht Ökumene-tauglichen Patrozinium Heilig Geist) hat. Bereits vor rund zwei Wochen erschien in der NWZ ein Vorbericht zum Ökumenischen Kreuzweg - unter dem bezeichnenden Titel "Ein alter Brauch wird wiederbelebt". Also alles Folklore?  

Ehe ich mit der Auswertung des neueren Berichts fortfahre, muss ich fairnesshalber einräumen, dass ich nicht einschätzen kann, zu welchem Grad oder Anteil der bizarre Eindruck, den diese Veranstaltung macht, auf das Konto der Berichterstatterin geht. Anders ausgedrückt, ich bin mir selbst nicht ganz sicher, ob die folgenden Zitate und meine Anmerkungen dazu eher in das Genre Liturgiekritik oder in das Genre "Perlen des Lokaljournalismus" fallen. 
"Von Macht, die auf Einschüchterung und Unterdrückung zielt, um die Angst vor dem Kaiser, Hass auf die jüdische Bevölkerung und von manipulierten Massen handelten die kurzen Texte, die die Lektoren unter dem schweren, aus rohem Holz gezimmerten Kreuz verlasen. [...] Neben den biblischen Texten von der Verurteilung Jesu bis zur Grablegung wurde an jeder Station ein Bezug zur aktuellen Lage hergestellt." 
Halten wir uns, liebe Leser, nicht unnötig bei dem holprigen Satzbau auf, sondern konzentrieren uns lieber darauf, wie gründlich die Passionsgeschichte hier durchpolitisiert wird. Der "Erfolg" dieser Lesart zeigt sich weiter unten: 
"Erschreckend fand eine andere Teilnehmerin, dass nichts aus den 2000 Jahre alten Fehlern gelernt wird. Alles wiederhole sich, man müsse sich nur umschauen, bedauerte sie." 
Na das habt ihr ja prima hingekriegt, liebe Lemwerderaner Kreuzweg-Gestalter: Schwuppdiwupp schrumpft der singuläre, Alles entscheidende Höhe- und Mittelpunkt der Heilsgeschichte zu einem Fallbeispiel für die Ewige Wiederkehr des immer Gleichen, für die Unbelehrbarkeit des Menschengeschlechts - ja gar zu einem "2000 Jahre alten Fehler", ungefähr auf einem Schreckenslevel mit Brexit und Trump. 

Aber erst mal weiter der Reihe nach. 
"Vom Eine-Welt-Laden über die Terrasse und durch den Jugendraum führten die 14 Stationen zur Heilig-Geist-Kirche, in der der Kreuzweg vor dem Altar und mit Worten von Pastor Norbert Steffen endete.
Im katholischen Gemeindehaus hatten die Mitglieder der evangelischen und katholischen Kirchenkreise für einen Imbiss gesorgt, bei dem der Kreuzweg bei angeregten Gesprächen ausklang." 
Ich kann's mir nur zu gut vorstellen, denn in so einem Milieu bin ich aufgewachsen. Mich schaudert's. [*]
"Für Gerda M[.], Mitglied der Heilig-Geist-Gemeinde, gehört der Kreuzweg zur österlichen Vorbereitung. Ihr Sohn Till, der mit 20 Jahren der jüngste Teilnehmer war, genoss besonders die Stille." 
Punkt für Kardinal Sarah! 
"Auch für Marion M[.] ist die katholische Tradition ein Bestandteil der Fastenzeit. Sie genoss die Ökumene und könnte sich vorstellen, den Kreuzweg vielleicht eines Tages über öffentliche Plätze in der Gemeinde auszudehnen."
Revolutionäre Idee: Kreuzweg in der Öffentlichkeit! "Eines Tages" jedenfalls "vielleicht". Why not? Mich allerdings treibt ein anderes Detail dieser Passage um: Kann man "Ökumene genießen"? Für mein Empfinden ist Ökumene eher etwas, was man ertragen muss, aber okay, das kann an mir liegen. Und ja, ich weiß schon: "Siehe, wie fein und wie lieblich ist's, wenn Brüder" undsoweiter. Also gut, sich an Ökumene erfreuen, das kann ich mir unter Umständen noch vorstellen. Aber "Genuss" ist vielleicht doch noch etwas Anderes. Na ja, geschenkt. 
"Weitgehend neu war die Teilnahme dagegen für die meisten Mitglieder der evangelischen Kirche. Warum wird Ostern gefeiert? Welches Opfer hat Jesus damals gebracht?" 
Klar: Woher soll man das auch wissen, wenn man evangelisch ist. (Sarkasmus off: Ich unterstelle mal gutwillig, dass die NWZ-Mitarbeiterin gar nicht gemerkt hat, was sie da geschrieben hat. Obwohl man andererseits auch Verständnis dafür haben kann, dass dieser Kreuzweg solche Fragen aufwirft. Huch, da ist der Sarkasmus wieder angegangen. Sorry-not-sorry.) 
"Viel geht im Alltag verloren, machte sich Christel K[.]-H[.] so ihre Gedanken. Sie würdigte den Mut, aus der Masse herauszutreten und nicht einfach Mitläufer zu sein. Für die vielfältig ehrenamtlich engagierte Lemwerderanerin war es der erste Kreuzweg, an dem sie teilnahm. Das Schweigen während des Marsches hat ihr gut gefallen."
Und noch ein Punkt für Kardinal Sarah! 
"Beim nächsten Kreuzweg wieder mitgehen wollte auch eine andere Dame, die ihre Gedanken während des Schweigemarsches überallhin schweifen ließ." 
Überallhin? Echt überallhin? Beeindruckend. Aber vielleicht hätte ein bisschen mehr Fokussierung auch gut tun können. 
"Mit wenig Aufwand wurde eine wunderschöne Atmosphäre geschaffen, so das Fazit von Pastor Jochen Dallas. Besonders beeindruckte ihn, dass das Schweigen direkt neben dem pulsierenden Leben des Kreta-Grills so gut klappte." 
Hm. Vielleicht sollte ich bei meinem nächsten Heimaturlaub doch mal in Lemwerder Station machen. Um das pulsierende Leben des Kreta-Grills zu bewundern. 

Der weiter oben erwähnte Vorbericht gibt aber immerhin einen Fingerzeig, auf was für Ideen man bezüglich der Frage kommen kann, welchen Sinn eigentlich eine Kreuzwegandacht habe, wenn nicht den, sich das heilbringende Leiden Christi zu vergegenwärtigen
"Den Teilnehmern wird bei diesem Brauch, der bis ins 14. Jahrhundert zurückreicht, Gelegenheit gegeben, die Leidenserfahrungen der eigenen Zeit bei Gebet und Meditation mit hineinzunehmen. Der Brauch, den Kreuzweg zu gehen, kann helfen, die Haltung des Mitleidens wiederzugewinnen, heißt es." 
Ach so. Na dann. Herzlichen Dank auch. Aber man kann sagen, was man will: Das klingt echt ökumenisch.

Wie dem auch sei: Ich schätze, im nächsten Jahr werden meine Liebste und ich wohl selbst mal eine Kreuzwegandacht gestalten müssen. Ob in der Kirche oder bei gutem Wetter am Ufer des Tegeler Sees entlang (oder so), wird sich zeigen. Oder vielleicht in Lemwerder...? (Unwahrscheinlich.) 

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[* Wer dieses Schaudern nicht intuitiv nachvollziehen kann, dem sei gesagt, dass Veranstaltungen wie diese eine erhebliche Mitschuld daran tragen, dass ich in meinen späten Teenagerjahren auf Distanz zur Kirche gegangen bin. Ich habe über ein Jahrzehnt gebraucht, um wieder zu ihr zurückzufinden.] 

1 Kommentar:

  1. Hier bei uns werden so gut wie keine öffentlichen Kreuzwegandachten mehr angeboten; Ausnahme: Karfreitag um 9.00 Uhr.

    Aber man kann den Kreuzweg auch für sich selbst beten, wobei ich den klassischen aus dem alten Gotteslob eindeutig dem im neuen Gotteslob vorziehe [wg. "Fußpilz" und so...].


    Hinzuweisen bleibt noch unbedingt auf die Fernsehübertragung des Kreuzwegs aus dem Kolosseum in Rom mit dem Papst am Karfreitag ab 21.10 Uhr im Bayerischen Fernsehen.

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