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Dienstag, 5. Juni 2018

Kahlschlag in der Oldenburgischen Landeskirche


„Die evangelische Kirche steht im Oldenburger Land vor einem Einschnitt“, berichtet „Die Norddeutsche“, eine Regionalausgabe des Bremer Weser-Kuriers:
„Bis zum Jahr 2030 will die Landeskirche ein Drittel der Pfarrstellen streichen. Das hat die Synode jetzt beschlossen. Die Veränderung zeichnet sich bereits seit Monaten ab. Die Synode hat als oberstes Gremium der Oldenburger Kirche diesen Beschluss mit großer Mehrheit gefasst. Diese Entscheidung wird auch die Zahl der Pastorenstellen in der Wesermarsch reduzieren.“
Dass die nun beschlossenen Streichungen von Pfarrstellen schon länger im Gespräch waren, kann ich bestätigen: Gerüchteweise habe ich schon letzten Sommer davon gehört, als ich im Urlaub in Butjadingen war. Aber erst mal weiter im Text: 
„Die oldenburgische Kirche reagiert mit der Reduzierung der Anzahl der Pfarrer auf den steten Mitgliederschwund. [...] So zählte die evangelische Kirche im Landkreis Wesermarsch im Jahr 1990 noch 65 304 Mitglieder. Aktuell sind es 46 069, also rund ein Drittel weniger.“ 
Was übrigens nicht mehr und nicht weniger bedeutet als dass es, wenn der Mitgliederschwund sich in etwa demselben Tempo weiter fortsetzt, noch - ich hab das mal schnell durchgerechnet - 43 Jahre dauert, bis in der Wesermarsch überhaupt niemand mehr evangelisch-lutherisch ist. Wenn sich das jetzt nach Schadenfreude anhört, möchte ich mich umgehend dafür entschuldigen. Darauf, warum ich diesen Impuls zur Schadenfreude verspüre und ihn gleichzeitig selbst unangebracht finde, werde ich später noch eingehen. 
Der Artikel der "Norddeutschen" geht im weiteren Verlauf detaillierter auf die kirchliche Situation in den einzelnen Gemeinden der Wesermarsch ein, und da interessiert mich natürlich besonders die Gegend, in der ich aufgewachsen bin.  
„In Butjadingen gibt es sechs Kirchengemeinden mit insgesamt 3411 Mitgliedern. Um die kümmern sich Pastoren auf insgesamt 3,25 Stellen. [...] Nach dem neuen Schlüssel stünden Butjadingen, ausgehend von der aktuellen Mitgliederzahl, nur noch 1,75 Stellen zu. In der Küstengemeinde mit ihren kleinen Kirchengemeinden Burhave (1199 Mitglieder), Stollhamm (726), Langwarden (462), Tossens (365), Eckwarden (352) und Waddens (307) hat sich die Struktur der pastoralen Betreuung bereits in den vergangenen Jahren stark verändert. Noch bis in die 1990er-Jahre hinein hatte jede Gemeinde ihren eigenen Pfarrer.“ 
Der Winter unseres Missvergnügens.
(St.-Lamberti-Kirche im Butjadinger Ortsteil Eckwarden, fotografiert von Helmut Behrends. Quelle hier.) 

Dazu übrigens eine persönliche Erinnerung. Ich bin von der 1. bis zur 6. Klasse in Butjadingen zur Schule gegangen, danach kam ich aufs Gymnasium in Nordenham. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, gab es während meiner Schulzeit in Butjadingen in meiner Jahrgangsstufe – wohlgemerkt nicht nur in meiner Klasse, sondern in der ganzen Jahrgangsstufe – ein konfessionsloses, ein neuapostolisches und zwei katholische Kinder (von denen eines ich war); ALLE anderen waren evangelisch. Das war in den 80er Jahren; heute dürften die Zahlenverhältnisse anders aussehen. 

Allerdings gewann ich während meiner Grundschulzeit in Butjadingen auch den Eindruck, dass es unter meinen evangelischen Schulkameraden und -innen nicht sonderlich verbreitet war, sonntags in die Kirche zu gehen. Das mag nach keiner besonders überraschenden Erkenntnis aussehen, aber für mich war das damals unverständlich. Ich nahm am evangelischen Religionsunterricht teil, weil es an dieser Grundschule keinen katholischen gab (was angesichts der erwähnten Schülerzahlen wohl nicht verwunderlich ist), und sofern es in diesem Fach nicht einfach nur um kindgerechte Alltagsethik, sondern tatsächlich um spezifisch religiöse Inhalte ging, schien es mir, dass außer meiner katholischen Klassenkameradin und mir niemand irgendwelche Vorkenntnisse von außerhalb der Schule mitbrachte, geschweige denn irgendwie daran interessiert war.
Warum erwähne ich das? -- Wenn ich als Kind und Jugendlicher den Eindruck gewonnen habe, "die Evangelen" seien im Großen und Ganzen bloß getaufte Heiden, die brav ihren Konfirmandenunterricht absolvieren, um horrende Mengen an Geld und sonstigen Geschenken einzusacken, sich aber vorher wie nachher keinen Deut für den ganzen Glaubenskram interessieren, dann ist dieser punktuelle und aus der Perspektive des religiösen Außenseiters sicherlich sehr subjektiv gefärbte Eindruck zweifellos mit Vorsicht zu betrachten und nicht ohne Weiteres verallgemeinerbar, aber ganz falsch wird dieser Eindruck auch nicht gewesen sein.

Worauf ich mit diesen Feststellungen hinaus will, dürfte sich mehr oder weniger von selbst erklären: Die Grundlagen dafür, dass der Evangelischen Landeskirche Oldenburgs auf dem platten Lande die Mitglieder abhanden kommen, wurden bereits vor Jahrzehnten gelegt. Geht eine Generation nur noch aus Gewohnheit und Konvention zur Kirche, geht die nächste überhaupt nicht mehr. Darüber gibt es Studien, und auch in der "Benedikt-Option" kann man allerlei zu diesem Thema lesen; aber in einem überschaubaren Landstrich wie der Wesermarsch sieht man dieses Problem quasi wie durch ein Vergrößerungsglas. Ich will auch - und damit komme ich zum Punkt "Schadenfreude ist unangebracht" - durchaus nicht behaupten, dass das nur oder in erster Linie an der Konfession liegt. Der katholischen Kirche dürfte es dort, wo sie traditionell die Bevölkerungsmehrheit stellt bzw. gestellt hat, nicht grundsätzlich anders gehen; demgegenüber schaffen es lokale religiöse Minderheiten zwar tendenziell oft besser, ihre Mitglieder an sich zu binden, aber verschont bleiben sie von Nachwuchsproblemen dennoch nicht. 
Wie geht man nun mit dieser Situation um? Die Streichung von Pfarrstellen mag aus finanziellen Erwägungen unvermeidlich sein, aber gleichzeitig verschärft sie das Problem noch weiter. Gerade in einer dünn besiedelten ländlichen Region wie Butjadingen, wo man ohne eigenes Auto kaum von einem Dorf ins andere kommt. Dass 1,75 Pastoren kaum in der Lage sein werden, sechs Kirchen zu "bespielen", liegt auf der Hand; wird man also einige Standorte ganz aufgeben oder zwischen ihnen "rotieren"? Wird man Fahrdienste anbieten für diejenigen Leute, die gern zum Gottesdienst gehen möchten, in deren Dorf aber keiner stattfindet? So oder so, die Hürden für den regelmäßigen Gottesdienstbesuch werden höher, und damit wird es für die Kirche noch schwieriger, ihre Mitglieder an sich zu binden. Was sie ja, wie wir bereits festgestellt haben, in den vergangenen Jahrzehnten trotz erheblich günstigerer Bedingungen herzlich schlecht hingekriegt hat. 

Somit erscheint es alles in allem keineswegs ausgeschlossen, dass es, wenn sich nicht etwas ganz Grundlegendes ändert, nicht mal mehr 43 Jahre dauert, bis der letzte evangelische Pastor der Wesermarsch seine Kirche endgültig zusperrt.  Und was ist nun dieses ganz Grundlegende, das sich ändern müsste? Ein Patentrezept habe ich nicht in der Schublade, aber ich denke, das Ziel müsste sein, "den Leuten" von neuem beizubringen, dass christlicher Glaube und die dazugehörige Glaubenspraxis nicht bloß ein "nice to have" sind - etwas, das auf alles andere, was im Leben wichtig ist, obendrauf kommt wie ein Sahnehäubchen, auf das man aber im Grunde auch ganz gut verzichten kann -, sondern von absolut zentraler Bedeutung für das gesamte Leben. Das ist allerdings etwas, was man den Leuten nicht einfach nur predigen kann; man muss es ihnen zeigen, das heißt: vorleben. Schon allein deshalb kann das nicht allein eine Aufgabe für die bisher noch 3,25 und zukünftig 1,75 Pastoren Butjadingens sein, sondern es ist eine Aufgabe für alle Gläubigen. Woraus natürlich wiederum folgt, dass diese erst einmal bei sich selbst anfangen müssen.

Wie das gehen könnte, dazu bietet Rod Drehers "Benedikt-Option" eine Reihe von Anregungen, und deshalb freue ich mich sehr darauf, dieses Buch Ende Juni an zwei Terminen in Butjadingen und Nordenham vorstellen zu dürfen. Genauere Informationen zu Ort und Zeit werde ich noch bekannt geben; es wird dann aber auch in der Lokalpresse stehen...




1 Kommentar:

  1. "Woraus natürlich wiederum folgt, dass diese erst einmal bei sich selbst anfangen müssen."

    Da haben wir es ja: Das Patentrezept.

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