Dienstag, 29. November 2011

Der Premium-Mülleimer

Zu den alltäglichen Ärgernissen des modernen Lebens gehört es, wenn man zwar einen "Keine Werbung!"-Aufkleber am Briefkasten hat, aber trotzdem regelmäßig mehr Werbung als alles andere darin vorfindet. Bei allem verständlichen Ärger über diese Flut unerwünschter Reklame mag es allerdings ein tröstlicher Gedanke sein, dass Werbung nun einmal leider notwendig ist. Für die Volkswirtschaft. Nicht nur, weil sich wohl kaum ein Unternehmen ohne Werbung auf dem Markt behaupten könnte - Experten empfehlen, mindestens 7% des angestrebten Jahresumsatzes in Werbung zu investieren -, sondern auch, weil die Werbebranche selbst ein großer und umsatzstarker Wirtschaftszweig ist. Der allzeit rege Bedarf an Reklame schafft Arbeitsplätze und Steuereinnahmen und nützt somit - wie zumindest die liberale Wirtschaftsideologie, ehrfürchtig des alten Adam Smith Lehre von der "Unsichtbaren Hand" nachbetend, nicht müde wird uns einzutrichtern - letzten Endes uns allen.

Dass aber jedes Unternehmen mindestens 7% seines Umsatzes in Werbung investieren soll, gilt natürlich auch für die Werbebranche selbst; folgerichtig gibt es auch Werbung für Werbung, und nicht zu knapp. Das ist noch einigermaßen unschwer einzusehen; aber damit endet es noch nicht. Es ist noch mindestens eine weitere Potenzierung dieses Prinzips möglich: Werbung für Werbung für Werbung. Wer's nicht glaubt, dem sei eine Broschüre ans Herz gelegt, die ich unlängst durch Zufall in die Hände bekam.

Die Rede ist von der Werbebroschüre eines Messeveranstalters; die Veranstaltung bzw. Veranstaltungsreihe,  die in dem Faltblatt beworben wird und die im Jahre 2012 viermal in verschiedenen deutschen Städten stattfinden soll, heißt "MICE Marketplace" und wird beschrieben als "Die Trendmesse für den deutschen MICE-Markt". MICE? Klingt komisch, ist aber, wie Darth Vader sagen würde, "ei absolut machtvolles Werbeinschtrument, von dem Sie koi Ahnung hann". Die Abkürzung MICE steht für Meetings, Incentives (zu diesem Wort des Grauens möge weiter unten ein eigener Abchnitt folgen), Conventions und Events, und obendrein ist sie ein Akronym - also eine Abkürzung, derern einzelne Buchstaben zusammen wiederum ein sinnvolles Wort bilden. "Mice" heißt schließlich "Mäuse", und auch wenn dieses Wort im Englischen nicht dieselbe Doppelbedeutung hat wie im Deutschen, kann man "aus deutscher Sicht" (um mal eine gängige Sportreporter-Formulierung zu verwenden) doch sein klammheimliches Vergnügen daran haben, dass die Branche so freiwillig-unfreiwillig ausplaudert, worum es ihr im Grunde geht: um Mäuse, Mücken, Moos, Kies, Knete, Kohle. - Den Einwand "Aber gilt das nicht für jedes Business?" vorausahnend, erwidere ich: Na ja. Von irgendwas leben müssen wir alle, und "'s ist einem Menschen nicht zu verargen, dass er in seinem Beruf arbeitet" (Shakespeare, Heinrich IV., Erster Teil, I/2). Aber einen gewissen Unterschied macht es ja wohl doch, ob ein Wirtschaftszweig auch noch anderen - wenn man so will: "höheren" - Zwecken dient als nur dem des reinen Profits, oder eben nicht. Selbst wenndie ob'erwähnte Lehre von der "Unsichtbaren Hand" stimmen sollte, derzufolge das an sich egoistische Gewinnstreben des Einzelnen letztlich doch dem Allgemeinwohl dient, so geschähe das ja letztlich doch nur aus Versehen; und auch mit dem Verslein von der "Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft", lasse ich mich nicht einwickeln - das sind zwar schöne Worte, aber dahinter verbirgt sich ein moralischer Relativismus, mit dem man zur Not auch ein KZ leiten könnte.

Aber wohin reißt's mich fort? Ich wollte doch über die in Wort und Bild bestechende "MICE Marketplace"-Werbebroschüre schreiben. Also zurück zum Thema!

Beginnen wir mal ganz simpel:  Was ist und tut ein Messeveranstalter? - Er bietet anderen Unternehme(r)n ein Forum, um ihr Geschäft zu präsentieren. Die Kunden des Messeveranstalters - und somit die Adressaten der besagten Werbebroschüre - sind somit weniger die potentiellen Messebesucher als vielmehr die potentiellen Aussteller. Da es sich hier nun um eine Fachmesse für die MICE-Branche handelt, sind diese Aussteller nun aber selbst Veranstalter von Kongressen, Tagungen und sonstigen Marketing- bzw. Promotion-Events; und deren Zielgruppe, das angepeilte Publikum der Messe, gehört im Wesentlichen derselben Branche an. Ob das nun noch Werbung für Werbung für Werbung ist oder doch schon die vierte oder fünfte Potenz, darüber ließe sich trefflich philosophieren.

Manch einer mag nun meinen: Ist doch schön, wenn die Werbebranche so sehr mit sch selbst beschäftigt ist - dann muss sie mir wenigstens nicht den Briefkasten zumüllen. Ich fürchte jedoch, das ist zu kurz gedacht. Die Windungen der Schlange sind kompliziert, und so mag es am Ende so aussehen, als beiße sie sich in den eigenen Schwanz; aber letztlich kann kein Tier des Dschungels sich von sich selbst ernähren. Mit anderen Worten: Das Geld, das die Werbebranche innerhalb ihrer eigenen Reihen ausgibt - und wir reden hier, wie sich noch zeigen wird, von nicht gerade wenig Geld - muss halt irgendwie auch wieder 'reinkommen. Und wo soll es herkommen? In letzter Instanz: von dir, von mir und von meinem Nachbarn, der zwar auch über Werbe-Postwurfsendungen schimpft, sich aber freut, wenn mal Gutscheine von Burger King dabei sind. Und Burger King freut sich auch bzw. erst recht, denn die Gutscheine sind nur vier Wochen gültig, und um sie voll auszureizen, muss mein Nachbar an mindestens fünf Tagen in der Woche bei der Bulettenschmiede essen gehen. Am Ende hat er ca. 80 Euro ausgegeben und glaubt ernsthaft, er hätte was gespart.

Es sieht vielleicht so aus, als würde ich mich hier schon wieder in Abschweifungen ergehen, aber keine Sorge, ich bin noch ganz beim Thema. Dem Kunden durch Sonderangebote bzw. Ermäßigungsgutscheine zu suggerieren, er könne, indem er Geld ausgibt, Geld sparen, ist ja nun keine neue Erfindung; früher gab es dafür die Redewendung "mit der Wurst nach der Speckseite werfen". Heute drückt man sich vornehmer aus und spricht davon, "Kaufanreize zu schaffen". Man könnte diese Anreize auch - und nun komme ich auf einen weiter oben schon angekündigten Punkt - als Incentives bezeichnen, wäre dieser Begriff nicht bereits anderweitig besetzt. Incentive heißt zwar im Grunde nichts anderes als Anreiz, aber gemeint sind damit im Marketing-Sprech nicht Kaufanreize für die Kunden, sondern Leistungsanreize für ndie Mitarbeiter. Der Sachverhalt war mir durchaus bekannt, lange bevor ich den Begriff kannte oder auch nur ahnte, dass es einen speziellen Begriff dafür gibt. Die Grundidee des Incentive ist schließlich ganz simpel: Wenn ein Unternehmer seinen Mitarbeitern im Sommer ein Grillfest und im Winter eine Weihnachtsfeier mit Gänsebraten und anschließendem Tanz spendiert, dann könnte man denken, er will seinen Mitarbeitern einfach eine Freude machen; und es ist ja auch nicht auszuschließen, dass ein Unternehmer ein netter Mensch ist und seine Mitarbeiter mag - aber das wäre seine Privatsache. Die Kosten für Betriebsfeste hingegen sind Betriebsausgaben und unterliegen folglich einem betriebswirtschaftlichen Zweck - nämlich dem, die Mitarbeiter emotional an das Unternehmen zu binden und zu noch besseren Leistungen anzuspornen. Der Witz daran ist, dass, wenn die Rechnung aufgeht, der Mitarbeiter die vermeintlichen Geschenke, die ihm gemacht werden, am Ende doch selbst bezahlt - durch seine Arbeitsleistung, von der, wie wir jederzeit bei Marx nachlesen können, der Unternehmer bzw. das Unternehmen allemal mehr profitiert als der Mitarbeiter selbst.

Dabei sind Grillpartys im Kollegenkreis noch die harmloseste und netteste Art von "Incentive". In Unternehmen, die mehr auf die beflügelnde Wirkung interner Konkurrenz als auf ein harmonisches Betriebsklima setzen, geht es noch ganz anders zu. So genannte "Strukturvertriebe", wie sie vor allem in der Finanzdienstleistungsbranche verbreitet sind, bilden oft ein ausgeklügeltes Belohnungssystem für besonders fleißige und erfolgreiche Mitarbeiter aus. Wer in einem Monate oder einem Quartal eine besonders üppige Abschlussbilanz vorweisen kann, der darf schon mal auf Firmenkosten ein Wochenende lang einen Ferrari fahren oder wird zu einem Segeltörn auf der Yacht von Flavio Briatore eingeladen (beides übrigens keine ausgedachten Beispiele). Damit zieht er nicht nur den Neid seiner Kollegen auf sich, sondern, noch raffinierter, auch sein eigener Neid wird angestachelt: Nachdem er einmal kurz in die Welt der Reichen und Schönen 'reinschnuppern durfte, wird es ihn umso mehr nach einem eigenen Ferrari und einer eigenen Luxusyacht verlangen, und um diese Ziele zu erreichen, wird er noch härter arbeiten.

Menschen, deren Beruf es ist, sich derart perfide Ausbeutungsstrategien auszudenken, repräsentieren also das I in MICE, und nun dürfte wohl auch deutlich geworden sein, warum ich "Incentives" weiter oben als ein "Wort des Grauens" bezeichnet habe. Es sei mir erlassen, mich den anderen drei Buchstaben in gleicher Ausführlichkeit zu widmen. - Wer sich nun allerdings den "MICE Marketplace", diese Messe der Messen, als eine Art innersten Kreis von Dantes Hölle vorstellt, dem vermittelt die Werbebroschüre ein gänzlich anderes Bild. Von zahlreichen Fotos strahlen dem Betrachter attraktive jung-dynamische Menschen beiderlei Geschlechts in adretten Anzügen und Kostümchen an; das mit Abstand fröhlichste Foto - ein veritables Knäuel ausgelassne in die Kamera grinsender und winkender Twentysomethings unterschiedlicher Ethnien, fast wie in den einschlägigen Broschüren der Zeugen Jehovas, nur erheblich aufgekratzter - ziert einen Textblock, der für die "MICE ansprechBAR" wirbt:

"Networken Sie in lockerer Atmosphäre mit Ihren Kunden an der ansprechBAR - und dies bei kostenfreiem Food & Beverage."

Eine bemerkenswerte Prosaminiatur, die vom ersten bis zum letzten Wort schlagend beweist, dass die MICE-Branche mit unserer Sprache nichts Gutes im Schilde führt. Zum Schmunzeln bringt mich der Text trotzdem, denn beim Stichwort "Networken in lockerer Atmosphäre" erscheint vor meinem geistigen Auge unwillkürlich eine Gruppe ost- oder meinetwegen auch nordfriesischer Fischersfrauen, die in der Guten Stube zusammensitzen, zu den Klängen des "Wunschkonzerts" Netze knüpfen und dabei den unvermeidlichen Dorfklatsch auf den neuesten Stand bringen. Und "Food & Beverage" gibt's dabei auch, wenngleich die Fischersfrauen es eher "Speis' und Trank" nennen - oder, op Platt"Freten un' Supen".

Ans Eingemachte geht's dann in der Beilage "Standvarianten und Preise Einzelaussteller": Hier kann der potentielle Messe-Aussteller wählen zwischen zwei verschiedenen "Eckständen", einem "Kopfstand" (!) und einem "Inselstand", und alle gibt es in drei Ausstattungsvarianten: "premium", "plus" und "basic". In dieser Reihenfolge sind die Standvarianten von links nach rechts auf einer Doppelseite angeordnet, mit dem psychologisch interessanten Effekt, dass, wenn man den Prospekt in gewohnter "westlicher" Leserichtung durchstudiert, die Ausstattung immer spartanischer statt opulenter wird. So richtig "basic" geht's demnach in der rechten unteren Ecke zu, denn die basic-Variante des "Inselstands" besteht aus nichts anderem als einem rechteckigen Stück Teppichboden (20 m² groß) - kostet aber knapp 8000 € Miete für einen Tag. Inklusive Strom, immerhin. Aber sollte man nicht denken, wenn jemand schon fast 8000 € für die Standmiete berappt, müsste er sich die zusätzlichen knapp 1200 € für das Premium-Paket auch noch leisten können? Das Premium-Paket umfasst nämlich zusätzlich zu Teppichboden und Strom eine beleuchtete Logosäule, ein abschließbares Counter-Modul, einen Hocker, einen Prospekthalter, einen Tisch-Cube mit vier Sitz-Cubes und sogar einen Mülleimer!

Meine Kollegin Conny warf in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob man denn, wenn man sich für die basic-Variante entscheide, wenigstens einen eigenen Mülleimer mitbringen dürfe. Tja, vermutlich kann man das tun. Alternativ könnte man sich aber auch die Standmiete sparen und nur den Mülleimer nehmen. Und da kann man dann auch gleich diese lachhafte Werbebroschüre enstorgen.

Mittwoch, 16. November 2011

Kein Geistlicher hat ihn begleitet

So lautet der letzte Satz von Goethes Die Leiden des jungen Werthers, und kürzlich musste ich an diese Worte denken - und zwar, wie man sich denken kann, anlässlich einer Beerdigung. Ich war seit mindestens zehn Jahren auf keiner Beerdigung gewesen, und in Berlin überhaupt noch nicht.

Neu für mich war an dieser Beerdigung auch noch manches andere. Zum Beispiel, dass es hier kein Familienmitglied war, das zu Grabe getragen wurde, sondern ein Freund; und zwar einer, der nur wenig älter gewesen war als ich selbst.

Earl König - so sein Künstlername - war, neben allerlei anderen Beschäftigungen, vor allem Discjockey und Cartoonzeichner; und schon bei meiner ersten Begegnung mit ihm, vor rund zweieinhalb Jahren, hatte ich das Vergnügen, ihn in beiden Eigenschaften kennenzulernen. Ein gemeinsamer Bekannter - nennen wir ihn mal Elvis - hatte mich in einen Club in der Oranienburger Straße verschleppt, in dem Earl König an diesem Abend Platten auflegte; die Musik war ausgezeichnet, aber der eigentliche Grund für unseren Besuch in diesem Club war, dass Elvis mit Earl über eine Geschäftsidee zur Vermarktung von dessen Cartoons sprechen wollte. Da der Club ohnehin bedauerlich schwach besucht war, legte Earl am DJ-Pult eine Pause ein, spendierte Elvis und auch mir einen Cocktail und zeigte uns einige seiner Cartoons. Aus Elvis' Geschäftsidee wurde, soweit ich weiß, dann doch nichts, aber es wurde noch ein sehr lustiger Abend, der irgendwann im Morgengrauen in einer typisch "altberliner" Eckkneipe im berühmt-berüchtigten Stadtteil Wedding endete; Earl wohnte da um die Ecke, die Wirte kannten ihn alle und gaben ihm Kredit.

Etwa ein halbes Jahr zuvor hatte ich begonnen, in einer Bar im Stadtteil Prenzlauer Berg als DJ zu arbeiten - "arbeiten" ist eigentlich zuviel gesagt, es war eher ein Hobby, verbunden mit einem kleinen Nebenverdienst. Als Elvis mich nun an besagtem Abend Earl König vorstellte, tat er dies jedenfalls mit den Worten "der DJ aus dem ****"; und Earl fielen fast die Augen aus dem Kopf: Er kannte die Wirtin von früher und hatte bereits mit ihr vereinbart, zukünftig ebenfalls dort aufzulegen. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft - wenn auch nicht immer ohne persönliche und "künstlerische" Differenzen. Was letztere anging, glaubte Earl, da ich Anfänger und er schon seit 19 Jahren "im Geschäft" sei, könne ich eine Menge von ihm lernen; die Chefin sah das anfangs genauso, und zum Teil stimmte es sicherlich auch, aber ganz ehrlich gesagt wollte ich manches von dem, was er mir beizubringen gedachte, gar nicht lernen. Wenn Earl mir daraufhin Mangel an Professionalität vorwarf, hatte er womöglich Recht, aber ich betrachtete das Auflegen eben eher als Hobby, und da war der Spaß an der Sache mir dann doch erheblich wichtiger als der Anspruch auf Professionalität.

Trotz solcher Meinungsverschiedenheiten schätzten wir einander aber grundsätzlich sehr und verbrachten so manchen denkwürdigen Abend miteinander; zuletzt sah ich ihn an meinem Geburtstag, wo er sich auf meine Bitte hin um die Musikauswahl kümmerte und mir so nebenbei erzählte, er sei kürzlich im Krankenhaus gewesen, wegen Magenproblemen. Wegen seines Magens dürfe er auch keinen Alkohol trinken - was ihm, wie ich ihn kannte, vermutlich ziemlich schwer fiel.

In der Folgezeit telefonierten wir noch ein paarmal, es schien ihm gut zu gehen, von gesundheitlichen Beschwerden war keine Rede mehr. Unser letztes Gespräch drehte sich um DJ-Termine, ich sollte ihn vertreten, weil er eine Anfrage für einen gut bezahlten "Gig" in Leipzig hatte. Ein paar Wochen später erfuhr ich von seinem Tod.

Die Beerdigung sollte, so wurde mir gesagt, auf dem "Friedhof an der Müllerstraße" stattfinden. Das war allerdings insofern eine etwas unzureichende Information, als es an der Müllerstraße im Wedding mehrere Friedhöfe gibt. Instinktiv steuerte ich den Städtischen Urnenfriedhof an, erhielt aber gerade noch rechtzeitig einen Anruf von einem Bekannten, der ebenfalls auf dem Weg zu Earl Königs Beerdigung war und mir verriet, dass sie auf dem Domfriedhof II stattfand. Das überraschte mich, denn das schien ja darauf hinzudeuten, dass es ein kirchliches Begräbnis werden würde. Ich hatte nicht gewusst und auch nicht vermutet, dass Earl Kirchenmitglied war. Besonders religiös war er mir nie vorgekommen - obwohl wir uns mal auf seine Anregung hin Adams Äpfel angesehen haben, einen trotz seines ausgeprägt satirischen Tonfalls zutiefst religiösen Film, der auch gern in kirchlichen Gesprächskreisen gezeigt und diskutiert wird.

Die Trauergemeinde bestand aus rund 80 Personen, die meisten davon kannte ich nicht einmal vom Sehen. Zunächst versammelten wir uns in der kleinen Friedhofskapelle; im Vorbeigehen warf ich einen Blick auf die dort arrangierten Trauerkränze. Auf einer Kranzschleife stand "Uns fehlen die Worte", auf einer anderen "In Hamburg sagt man Tschüss" (Earl war gebürtiger Hamburger). Nachdem die Trauergäste ihre Plätze eingenommen hatten, begann die Orgel zu spielen...: "My Way". Auf der Kirchenorgel gespielt hatte ich den Song nun wirklich noch nie gehört, aber man kann sagen, was man will: Das hatte was. Im Anschluss hätte ich eigentlich eine Ansprache erwartet, es kam aber keine. Stattdessen folgte, nach einer besinnlichen Pause, mehr Orgelmusik. "Go, tell it on the Mountain". Unschwer zu erkennen als Aufforderung, nach draußen zu gehen, auch wenn da keine Berge waren und wir nichts zu Verkünden hatten. Ein ältlicher, untersetzter Friedhofsdiener nahm die Urne, die ich erst in diesem Moment als solche erkannte, an sich und trug sie mit den etwas mürrisch klingenden Worten "In Gottes Namen!" hinaus; dann setzte die Gemeinde sich gemessenen Schrittes in Bewegung zur Grabstelle, einem kleinen quadratischen Loch mit einem kleinen Becken voll Erde daneben. Der Friedhofsdiener raunzte erneut "In Gottes Namen!", ehe er die Urne in die Grube hinabließ. Ich nehme mal an, diese Worte sollten, wenn es schon keine Ansprache, kein Gebet, keinen geistlichen Trost etwelcher Art gab, wenigstens pro forma den christlichen Charakter des Begräbnisses dokumentieren; aber ich fand's sonderbar. In alten Zeiten, als es noch üblicher war als heutzutage, den Namen des HERRN unnütz im Munde zu führen, bedeutete die Redewendung "in Gottes Namen" ja auch so etwas wie "meinetwegen" oder "wenn's denn sein muss"; und der grantige Friedhofsdiener sah, als er diese Worte sprach, auch so aus, als meine er sie genau so.

"Kein Geistlicher hat ihn begleitet": In Goethes Werther verweist dieser Satz darauf, dass der Titelheld als Selbstmörder keinen Anspruch auf ein christliches Begräbnis hat. Man kann das als Kritik an der Kirche lesen, als Aufruf zu mehr Barmherzigkeit im Umgang mit Selbstmördern; aber ich hatte schon immer das Gefühl, aus dem Satz "Kein Geistlicher hat ihn begleitet", spreche auch so etwas wie trotziger Stolz: Im Leben hat Werther den Beistand der Kirche nicht gebraucht, im Tode braucht er ihn nun auch nicht. Mein Freund Earl König hat zwar - wie ich annehme, auch wenn ich es nicht mit Sicherheit weiß - nicht Selbstmord begangen, aber man könnte wohl behaupten, dieser trotzige Stolz passe zu ihm. Dennoch empfand ich es als befremdlich, wie die religiösen Züge des Beerdigungsrituals an diesem Donnerstagvormittag auf dem Domfriedhof II auf ein Minimum reduziert wurden.

Ich glaube, ich muss hier ein wenig ausholen. Hartgesottene Materialisten, die jedwede Art von Religion, Kultus oder überhaupt des Glaubens an etwas "Übersinnliches" als Relikt aus primitiven Entwicklungsstadien der Menschheit ansehen - einst sinnvoll oder notwendig, um das soziale Verhalten der Menschen zu regulieren, deren Vernunft einfach noch nicht weit genug entwickelt war, um ohne solche Krücken auszukommen; heute aber obsolet und nur noch peinlich - könnten argumentieren, Begräbnisrituale dienten einzig dazu, der geordneten "Entsorgung" von Leichen, die ansonsten unter freiem Himmel verwesen und somit die Umgebung verpesten würden, ein feierliches Mäntelchen umzuhängen. Ob die Anhänger dieser in sich ja durchaus schlüssigen Auffassung damit einverstanden wären, die Entsorgung ihrer sterblichen Überreste, oder auch derjenigen ihrer Angehörigen, schnell, sicher, sauber und kostengünstig von der Stadtreinigung abwickeln zu lassen, mag indes eine zweite Frage sein. -- Wenn sich an dieser Stelle bei meinen Lesern emotionaler Widerstand, ja Empörung regt, dann hat dieser Exkurs seinen Zweck erfüllt. Wem die Vorstellung, das Bestattungswesen kurzerhand der Müllabfuhr zu überlassen, Unbehagen bereitet, der gesteht damit, bewusst oder nicht, dem menschlichen Leichnam eine gewisse Würde zu. Diese Würde aber rührt offenkundig von der Überzeugung her, dass "etwas" vom Menschen "weiterlebt"; oder gerade heraus gesagt: Ohne den - wie auch immer diffusen - Glauben an irgendeine Form von "Leben nach dem Tod", irgendeine Art von "Jenseits" wären Begräbnisrituale schlicht sinnlos.

Dabei verweist die Verschiedenheit der Bestattungsrituale diverser Kulturen deutlich auf die Verschiedenheit der Jenseitsvorstellungen. In manchen alten Kulturen wurden die Toten gefesselt ins Grab gelegt, damit sie bloß nicht zurückkehren; in anderen gab man ihnen Waffen, Schmuck, gar Nahrungsmittel mit ins Grab, in wieder anderen legte man ihnen Münzen in den Mund oder auf die Augen, mit denen sie die Reise ins Totenreich bezahlen sollten. Die christlichen Kirchen lehnten bis ins 20. Jh. hinein die Einäscherung Verstorbener ab, weil sie vermeintlich der Lehre von der leiblichen Auferstehung widersprach - wogegen sich aus naturwissenschaftlicher Sicht einwenden ließe, dass auch die Verwesung, chemisch betrachtet, ein Verbrennungsprozess ist, nur ein sehr langsamer und "unsauberer".

- - Kaum habe ich diese Sätze über die Verschiedenheit der Jenseitsvorstellungen, die eine ebenso große Verschiedenheit von Bestattungsritualen bedingt, niedergeschrieben, da tritt das doch sehr gemischte Publikum bei der Beerdigung meines Freundes Earl König vor mein geistiges Auge, wie da die Trauergäste nacheinander vortraten und jeweils eine Handvoll Erde ins offene Grab rieseln ließen. Die meisten blieben dann noch einen Moment dort stehen, in stiller Besinnung oder in stillem Gebet - wer möchte es unterscheiden? Und plötzlich kommt mir in den Sinn, dass ein so reduziertes Begräbnisritual, in dem - abgesehen von der zweimaligen Nennung des ja durchaus unterschiedlichsten Deutungen zugänglichen Begriffs "GOTT" - keine verbindlichen religiösen Aussagen gemacht werden, in einer in religiöser Hinsicht so heterogenen Gesellschaft wie der unseren womöglich die besten Voraussetzungen dafür bietet, dass Menschen mit unterschiedlichsten oder auch gar keinen religiösen Vorstellungen zusammenkommen und gemeinsam von einem Verstorbenen Abschied nehmen können, den sie alle, jeder auf seine Weise, geliebt haben und vermissen.

Dann wiederum kommt mir der Gedanke, dass "gemeinsam" hier wohl nicht das richtige Wort ist. Wir waren alle zur selben Zeit am selben Ort, aber von Gemeinschaft war wenig zu spüren, auch wenn ich weiter oben den Begriff "Trauergemeinde" verwendet habe. Wo es keine Verbindlichkeit gibt, da gibt es auch nichts Verbindendes, und so ist es wohl kein Zufall, dass die Trauergäste, sofern sie sich nicht schon vorher gekannt hatten, einander fremd blieben. Am Schluss der Beerdigung dankte Earls Bruder in kurzen Worten allen Anwesenden für ihre Anteilnahme, und dann ging jeder seiner Wege.

Mein Bekannter, dessen Anruf mich gerade noch rechtzeitig zum richtigen Friedhof gelotst hatte, nahm mich auf dem Rückweg noch ein Stück mit dem Auto mit. Im Autoradio lief "Thriller", gefolgt von einem kurzen Bericht über den Prozess gegen Michael Jacksons Arzt; woraufhin mein Bekannter darüber phantasierte, wie Earl König im Jenseits, das er sich wie eine Bar vorstellte, Michael Jackson trifft, jovial auf ihn zugeht und ihn mit den Worten "Na, alte Schwuchtel?!" begrüßt.

Ich glaube, so oder so ähnlich dürfte sich auch Earl König selbst das Jenseits vorgestellt haben.

Freitag, 4. November 2011

Durchs wilde Feuilletonistan

Durch die Wüste, unter Geiern /
Musst du gurken, must du eiern.
Axel Sanjosé

Am 30.03.1912 starb in Radebeul bei Dresden der große Abenteuerschriftsteller Karl May; dieses Datum jährt sich demnächst zum 100. Mal. Und natürlich lassen Fachwelt und Medien es sich nicht nehmen, einen Künstler, dessen Schöpfungen sich tief ins kollektive (Unter-)Bewusstsein der Deutschen eingeprägt haben, anlässlich dieses runden Todestages nach Verdienst zu würdigen. Ebenso natürlich ist es, dass dabei niemand der Letzte sein will, sodass die besagten Würdigungen schon heuer ihren Anfang nehmen. So sind im laufenden Jahr bereits einige neue Biographien des "Maysters" erschienen, und von einer dieser Neuerscheinungen habe ich jüngst ein Rezensionsexemplar zugeschickt bekommen. Das heißt dann wohl, dass ich das Buch jetzt rezensieren muss. Wohlan denn! - Vorerst beschränke ich mich aber darauf, meine Lektüreerlebnisse nur meinem Blog anzuvertrauen. Autor und Verlag werden es mir, so hoffe ich, danken.


"Karl May - Untertan, Hochstapler, Übermensch" heißt das im Siedler-Verlag erschienene Buch von Rüdiger Schaper; der Titel entlockt mir schon mal ein Stirnrunzeln. Neugierig macht jedoch die Verlagswerbung, die verspricht, der Autor wage "einen völlig neuen Blick" auf Karl May.
- - - Nun gut. Lesern, für die der Name Karl May eine ferne Erinnerung an eine einst heiß geliebte Kindheits- und Jugendlektüre bedeutet oder die ihn womöglich nur durch die populären, aber wenig werkgetreuen 60er-Jahre-Verfilmungen mit Lex Barker und Pierre Brice (und/oder Michael "Bully" Herbigs durchaus kongeniale Parodie Der Schuh des Manitu) kennen, dürfte das Buch tatsächlich manch neue Perspektive eröffnen, und für genau solche Leser ist es offenbar in erster Linie geschrieben. Wer sich hingegen in Leben und Werk Karl Mays einigermaßen auskennt und womöglich auch schon mal in die wissenschaftliche Sekundärliteratur über den "Mayster" 'reingeschnuppert hat, dem wird Schapers Biographie inhaltlich nicht viel Neues bieten können. Aber Inhalt ist ja nicht alles - zumal der, im unmittelbaren Vorfeld des anstehenden "May-Jahres", ohnehin kein Alleinstellungsmerkmal sein kann. Lassen wir den Inhalt also vorerst beiseite und fragen lieber: Wie sieht's mit dem Stil aus?


"Stil", so schrieb Karl May anno 1899 in einer polemischen Auseinandersetzung mit seinen Kritikern, "ist die literarische Schnurrbartbinde, die sorgfältig und mit vieler Mühe eingeplättete Kavalierfalte an der Schriftstellerhose. Es gibt Schriftsteller, welche weder Geist noch Kenntnisse noch sonst etwas haben als nur den Stil." Autoren, wie May sie hier beschreibt, wurden schon damals gern Feuilletonisten; deshalb hatte May es so schwer mit ihnen. Blättert man heute in den Feuilletons namhafter deutscher Zeitungen, so hat man den Eindruck, dort wird unter "Stil" die Technik verstanden, nur mäßig originelle oder tiefgründige Aussagen mit Hilfe von überflüssigen Imponierwörtern aus dem Lateinischen oder Französischen (vice versa, avant la lettre, ad libitum, comme il faut, nolens volens), lahmen Wortspielen, verfremdeten Zitaten, völlig kontextferner Bildungsprotzerei und genialisch-elliptischem Satzbau so weit aufzublasen, dass der Leser darüber die Dürftigkeit des Inhalts aus den Augen verliert. Das Fatale daran ist: Dieser Stil ist ansteckend. Ich habe mal eine Germanistik-Dozentin den schönen Satz sagen hören: "Wenn man Goethes Hermann und Dorothea gelesen hat, kann man anschließend auch sein Abendessen in Hexametern bestellen - aber Kunst ist das deswegen noch lange nicht." Mit dem Feuilletonstil ist es noch schlimmer: Er ist nicht nur leicht nachzuahmen, sondern es ist schwer, ihn nicht nachzuahmen. Liest man so etwas regelmäßig, muss man sich sehr zusammenreißen, nicht selbst so zu schreiben; gerade hier in meinem Blog spüre ich das am eigenen Leibe. May-Biograph Schaper aber leitet im Hauptberuf das Kulturressort des Berliner Tagesspiegels; wie sollte man ihm da verübeln, dass er nicht anders kann als Feuilletonstil schreiben?


Das eigentlich Ärgerliche am gängigen Feuilletonstil ist aber, dass er nicht einfach nur eine zur Konvention gewordene sprachliche Form ist, sondern auch eine bestimmte Haltung gegenüber dem behandelten Gegenstand ausdrückt: die Haltung des geistigen Flaneurs. Gepflegtes Desinteresse, joviale Herablassung, olympische Langeweile. Der Feuilletonist, der diese Pose gründlich studiert hat, kann über alles schreiben, was ihm vor die Flinte kommt - in Wirklichkeit schreibt er dabei immer nur über sich selbst. Ein Großmeister dieser eitlen Selbstbespiegelung ist der jetzt hauptamtlich bei der Frankfurter Rundschau, daneben aber auch immer mal wieder für die Berliner Zeitung tätige Arno Widmann; dem Herrn Schaper von der Westberliner Konkurrenz darf man attestieren, dass er es gar so arg wie jener nun doch nicht treibt. Die May-Biographie war, wie man hört, eine Auftragsarbeit seitens des Verlags; aber der Autor gibt sich erkennbar Mühe, sein Thema interessant zu finden und somit auch für den Leser interessant zu machen. Leider jedoch ist ein Feuilletonist an Abwechslung gewöhnt; 233 Seiten nur über Karl May zu schreiben, wird da schnell langweilig, wenn man sich nicht nebenbei noch über Christoph Schlingensiefs Wagner-Inszenierungen, Helene Hegemanns Axolotl Roadkill, Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab und Günter Grass' Memoiren auslassen darf. Doch keine Sorge, die Kunst der Abschweifung gehört zum Handwerk, und so lässt Rüdiger Schaper es sich nicht nehmen, all diese Namen und Themen (und noch viele mehr) in seinem Karl-May-Buch gleich mit abzuhandeln oder zumindest kurz anzureißen. Zu beobachten, auf welchen abenteuerlichen assoziativen Pfaden er dabei von einem Thema zum anderen kommt, macht beinahe Spaß.


Aber eben nur beinahe. Denn auch hier beschleicht den Leser immer wieder der Verdacht, der Autor spiegle in allem, was und worüber er schreibt, letztlich nur sich selbst. Er kann sich nicht hinter sein Thema zurücknehmen, er macht es umgekehrt. Schon nach einer sechseinhalb Seiten langen Einleitung geht ihm zum ersten Mal die Luft aus, und er schildert erst einmal seitenlang eine (selbstverständlich dienstliche) Reise nach Burkina Faso, um dann auf allerlei Um-, Ab- und Schleichwegen überraschend doch wieder auf Karl May zurückzukommen. Im weiteren Verlauf reflektiert Schaper dann über Kindheits- und Pubertätserfahrungen - nein, "reflektiert" ist hier schon zu viel gesagt: Er beschwört sie, zitiert sie herbei, die Geister der Vergangenheit: sein jüngeres Ich, sein "Inneres Kind", wie manche Psychologen sagen. Zwar bindet er diese Kindheitsimpressionen immer wieder zurück an Karl-May-Erlebnisse, im Kino oder lesend unter der Bettdecke, aber der Firnis ist zu dünn, die Konstruktion zu wacklig: Allzu deutlich spürt der Leser, dass Schaper das vorgebliche Thema seines Buches nur als Erzählanlass benutzt, als Ausgangspunkt für immer neue, frei flottierende Assoziationen. - Man muss freilich gestehen, dass diese Arbeitsweise durchaus Ähnlichkeit mit der Erzähltechnik Karl Mays hat: Auch bei diesem wird die Handlung, der "Plot" des jeweiligen Romans immer wieder überwuchert und in den Hintergrund gedrängt durch Episoden, Exkurse, autobiographische Einsprengsel. Aber Rüdiger Schaper ist nun mal nicht Karl May - auch wenn er es vielleicht gern wäre. (Vergleicht man das vordere Umschlagbild des Buches - Karl May im Old-Shatterhand-Kostüm - mit dem kleinen Porträtfoto Schapers auf der hinteren Umschlagklappe, dann stellt man allerdings eine irritierende Ähnlichkeit fest. Wüsste man nicht, dass das Titelbild authentisch ist - es erschien 1896 als Illustration zu Mays selbstironischer Glosse Freuden und Leiden eines Vielgelesenen in der Zeitschrift Deutscher Hausschatz und wurde auch als Autogrammkarte verbreitet -, dann könnte man auf die Idee kommen, Schaper hätte sich selbst ins westmännische Superheldendress geworfen.)


Im Zusammenhang mit dem viel diskutierten Paradox des "Reiseschriftstellers", der tatsächlich nur mit dem Finger auf der Landkarte reist, erwähnt Schaper das 1795 erschienene Buch Voyage autour de ma chambre von Xavier de Maistre, einem savoyischen Offizier, der einen 42tägigen Hausarrest dazu nutzte, das Innere seiner vier Wände im Stil eines Reiseberichts zu beschreiben. Dieser Exkurs verrät dem Leser mehr, als Schaper beabsichtigt haben dürfte: Unversehens erkennt man seine vermeintliche Karl-May-Biographie als 233 Seiten lange Reise des Autors durch seinen eigenen Brägen.
(Für Dialekt-Unkundige: ndt. "Brägen" = "Kopf, Gehirn"; vgl. engl. "brain".)


Den Schaden davon hat in erster Linie Karl May. Zwar bezeichnet Schaper ihn wiederholt als "Genie", das hundert Jahre nach seinem Tode endlich als solches anerkannt werden solle; aber im Grunde weiß er mit einem "Genie" gar nichts anzufangen, also holt er May schnell wieder von diesem Sockel herunter und bespricht Leben, Werk und Wirkung des "Maysters" in einem so Feuilleton-typisch saloppen Tonfall, dass man schon von Banalisierung sprechen muss. Dabei scheint es Schaper nicht im geringsten bewusst zu sein, wie sehr er der "Gefahr, die ohnehin flache Karl-May-Rezeption fortzuschreiben" - vor der er auf S. 123 warnt - selbst erliegt. Da hilft es auch nichts, dass er premanent assoziative - aber eben nur assoziative - Querverbindungen zwischen May und anerkannten Größen der Hochkultur (wie Büchner, Thomas Mann, Kafka und immer wieder Wagner und Nietzsche) zieht. Dass sein Buch wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt - schon deshalb nicht, weil er die zahlreichen, zum Teil sehr umfangreichen Zitate, die er bringt, nirgends belegt und nicht einmal ein Literaturverzeichnis angelegt hat -, dürfte Schaper kaum bekümmern; dass er aber die wissenschaftliche Sekundärliteratur zu Karl May in Bausch und Bogen abqualifiziert, die Forschungen der 1969 gegründeten Karl-May-Gesellschaft als Bemühungen von "kleingärtnerischen, kaninchenzüchtenden Hobby-Exegeten" (S. 176) bespöttelt und - wie Alfred Polgar sagen würde - "von unten herab" über die intellektuell anspruchsvollen Karl-May-Studien Arno Schmidts und Hans Wollschlägers herzieht, gereicht ihm nicht gerade zur Empfehlung.


Steht Rüdiger Schaper demnach mit der Fachwissenschaft auf Kriegsfuß, so ist er umso mehr in seinem Element, wenn er die "popkulturelle" Seite des Phänomens Karl May in den Fokus nimmt. Originell ist, dass er besonders das vielschichtige, symbolbeladene Alterswerk Mays unter diesem Aspekt beleuchtet. Wenn er eine Szene aus Mays letztem Roman Winnetou IV (1910), in der ein Gemälde Sascha Schneiders, Winnetous Himmelfahrt darstellend, effektvoll auf einen Wasserfall projiziert wird, assoziativ mit Leuchtreklame in Las Vegas oder gar mit Disneyland in Verbindung bringt oder wenn er Parallelen zwischen Mays vorletztem Roman Ardistan und Dschinnistan (1909) und James Camerons Hollywood-Blockbuster Avatar (2009) aufzeigt, gerät ihm das zwar - bedingt durch die unbezwingbare Oberflächlichkeit seiner Schreibe - nur teilweise überzeugend; immerhin gelingt es ihm damit aber, Berührungsängste gegenüber dem von Teilen der May-Forschung, allen voran von Hans Wollschläger, in den Olymp der "Großen Dichtung" erhobenen "Spätwerk" Mays abzubauen, indem er aufzeigt, dass auch die vermeintlich so anspruchsvollen späten May-Romane einfach Spaß machen können. Dies ist die eigentlich originäre Leistung von Schapers May-Biographie, und in diesem einen Punkt ist auch die Verlagswerbung, der zu Folge Schaper einen "völlig neuen Blick" auf Karl May wage, nicht übertrieben. Schade, dass er sich nicht stärker auf diesen Aspekt konzentriert hat. Dem Buch hätte es gut getan.