Also hat die renommierte Berliner Tageszeitung die Jungjournalistin Julia Kopatzki -
eine Art Valerie in dunkelhaarig, die u.a. auch für
bento schreibt - losgeschickt, um in dieser Szene zu recherchieren. Der Valerie-Methode scheint es übrigens zu entsprechen, möglichst
nichts zu recherchieren,
bevor man sich zu den Objekten der Reportage auf den Weg macht. Um sich den "fremden Blick" auf den Reportagegegenstand zu bewahren. So schreibt die junge Dame also über "Evangelikale", ohne sich recht im Klaren darüber zu sein, was dieser Begriff eigentlich
bezeichnet. Sie meint, es mit "einer relativ neuen christlichen Bewegung im
Protestantismus" zu tun zu haben; na sicher, das 18. Jahrhundert war ja praktisch vorgestern. -- Ich gebe an dieser Stelle gern zu, dass meine Kenntnisse über die Geschichte der evangelikalen Bewegung weder besonders umfangreich noch besonders detailliert sind, aber wenn ich über das Thema
schreiben sollte -
professionell -, dann würde ich doch erst mal ein paar Grundbegriffe nachschlagen. Und mich beispielsweise ein bisschen über das
Great Awakening belesen. Nicht so Julia Kopatzki. Sie operiert lieber mit einer Arbeitsdefinition, die ich in meinen eigenen Worten etwa so umschreiben würde:
'Evangelikal' sind Christen, die sich in kleinen, aber stark wachstumsorientierten Gemeinden ohne staatskirchenrechtlichen Körperschaftsstatus organisieren und deren Gottesdienste nicht so aussehen, wie man es aus den Großkirchen kennt, sondern eher nach Disco u./o. Rockkonzert. Wobei das wahrscheinlich noch nicht mal eine Arbeitsdefinition
a priori war, sondern einfach das, was sie im Laufe ihrer Vor-Ort-Recherche zu sehen bekommen hat.
In ihrer Reportage stellt sie drei boomende Gemeindegründungen in Berlin vor:
Hillsong Berlin, die ihre Gottesdienste im
Kino in der Kulturbrauerei feiern (in einem "Saal mit 450 Plätzen", und das "drei Mal am Sonntag");
Saddleback Berlin, deren Gottesdienste in der
Kalkscheune stattfinden, und die
ICF Friedrichshain. Es fällt auf, dass es sich bei allen drei Fallbeispielen um "Ableger" internationaler
Megachurches handelt:
- "Hillsong Berlin, die bis Juli noch Berlin Connect
hießen, gehören zur Hillsong Church aus Australien. Eine sogenannte
Megakirche, deren Gottesdienste allein in Australien mehr als 40 000
Menschen besuchen, weltweit sind es gut 100 000. Vier Ableger gibt es
in Deutschland, seit 2008 hält die Berliner Gemeinde Gottesdienste
ab."
- "Saddleback Berlin hat vor allem aus den USA gelernt,
wie man eine Kirche groß macht. Die Gemeinde ist, wenn man so will,
eine Franchise-Kirche der kalifornischen Saddleback Church, einer
weiteren Megakirche. Mehr als 20 000 Menschen kommen wöchentlich zu
einem der 15 Gottesdienste in Kalifornien. […] Neben Kalifornien
gibt es vier internationale Ableger: In Buenos Aires, Hong Kong,
Manila – und seit Oktober 2013 auch in Berlin."
- Und ICF Friedrichshain schließlich ist ein "Ableger der ICF-Kirche aus Zürich, die 15 000 Menschen in
ihre Gottesdienste zieht".
Dieses
"Franchise"-Prinzip - die Freikirche als "Marke", die sich von anderen, ähnlichen Angeboten nicht so sehr hinsichtlich ihrer Positionen zu bestimmten
Glaubensfragen unterscheidet, sondern vielmehr durch ein bestimmtes
Image, einen bestimmten
Stil und eine spezifische
Zielgruppenorientierung ("Während Hillsong die jungen Wilden anspricht,
richtet sich Saddleback eher an Familien: der Großteil der
Mitglieder ist über 30, verheiratet, hat Kinder. In der
freikirchlichen Szene heißt es, Saddleback richte sich an 'High
Professionals' – Menschen, die auf der Karriereleiter sehr weit
oben stehen"), könnte man kritisch sehen, aber anscheinend versteht Julia Kopatzki einfach zu wenig von der Materie, um auch nur auf die
Idee zu kommen, dass es auch
anders sein könnte. Zumal sie als Vergleichsgröße nur die Evangelische Landeskirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (EKBO) zur Verfügung hat, und die ist als Alternative nun mal nicht sonderlich attraktiv -- darauf komme ich noch zurück. Jedenfalls spöttelt Fräulein Kopatzki zwar ein bisschen über das Prinzip
'Religion als Start-Up', aber im Ganzen ist ihr die Vorstellung fremd, dass eine Gemeindegründung etwas
anderes sein könnte als ein
Geschäftsmodell. Als Beleg hierfür mag es dienen, wie sie sich und ihren Lesern das ausgeprägte Wachstumsstreben evangelikaler Gemeinden zu erklären versucht:
"Warum wollen die Gemeinden nicht einfach klein und
beschaulich bleiben? Anders als die Landeskirchen werden Freikirchen
nicht durch Steuergelder finanziert, sondern über freiwillige
Spenden ihrer Mitglieder. Jeder Neuzugang ist auch immer die Aussicht
auf mehr Geld für die Gemeinde."
Klar, worum sollte es auch
sonst gehen? Im Umkehrschluss meint Julia Kopatzki, "die Landeskirchen" seien "nicht darauf angewiesen,
dass jemand bei ihnen Mitglied wird". Na gut, bei der EKBO könnte man
wirklich diesen Eindruck haben. Aber wie gesagt, darauf komme ich noch.
Auch in anderer Hinsicht macht es sich bemerkbar, dass eine etwas größere Vertrautheit der Verfasserin mit dem Phänomen Religion und insbesondere mit dem christlichen Glauben gerade für eine
kritische Auseinandersetzung mit den wachsenden Freikirchen hilfreich gewesen wäre. So bemerkt Julia Kopatzki etwa:
"Die Bibel wird bei den Evangelikalen alltagsnah,
fast schon profan. Es geht nicht um die großen Fragen, um Himmel und
Hölle, Sünde und Vergebung, sondern darum, wie man es schafft, eine
gesunde Beziehung zu führen, oder wie man weniger ausgelaugt durch
den Tag kommt. Die Antwort: durch eine Beziehung zu Jesus."
Den Begriff
"profan" benutzt sie hier vermutlich eher im alltagssprachlichen, nicht im spezifisch religiösen Sinne; aber davon mal abgesehen: An der hier beschriebenen Glaubensauffassung gäbe es allerlei kritisch zu betrachten, so beispielsweise den individualistischen und letztlich auf eine verschrobene Art sogar hedonistischen Ansatz, die quasi-therapeutische Verengung, fast möchte man sagen:
Verzweckung des Glaubens im Dienste des persönlichen Wohlergehens, garniert mit mehr als nur einer Prise
prosperity gospel. Das alles findet Julia Kopatzki zwar erkennbar irgendwie
skurril, aber man hat nicht den Eindruck, dass sie das ernsthaft
kritisieren möchte. Wahrscheinlich, weil sie - wie gesagt - keine klare Vorstellung davon hat, dass es auch
anders sein könnte. An anderer Stelle zitiert sie die Leitstelle für Sektenfragen in Berlin mit der Einschätzung, in manchen evangelikalen Gruppen würden "Gläubige psychisch belastet, wenn vermittelt wird, Armut,
Misserfolg, Krankheit und Leid würden in Verbindung stehen mit einer
dämonischen Besessenheit, mangelndem Glauben oder Homosexualität"; aber dass das bloß die logische Kehrseite des weiter oben skizzierten Glaubensverständnisses dieser Gemeinden ist, sieht sie anscheinend nicht, sonst hätte sie wohl kaum darauf verzichtet, darauf hinzuweisen.
Was die Autorin an den von ihr beschriebenen Gemeinden hingegen
wirklich entschieden kritisiert, ist, dass sie eben
christliche Glaubensgemeinschaften sind. Dass
das das eigentlich Problematische an ihnen sei, sagt sie ganz explizit: "Modern, hilfsbereit, alltagsnah muten die
Evangelikalen an, man vergisst fast, was sie alle zusammenhält: der
christliche Glaube." Und was Julia Kopatzki an diesem auszusetzen hat, verrät sie uns sogleich: "Abtreibung: Sünde. Homosexualität: Sünde. Sex vor
der Ehe: Sünde. Scheidung: Sünde. Positionen, die weder in das 21.
Jahrhundert passen, noch zu einer Stadt wie Berlin".
Nun ja: Die Annahme, bestimmte Überzeugungen seien schon allein
deshalb abzulehnen, weil sie angeblich nicht "in das 21. Jahrhundert passen", ist zweifellos eine der dümmsten in der Geschichte der Menschheit - dicht gefolgt von der Annahme, bestimmte Überzeugungen passten nicht ins
20. Jahrhundert, und dazu hat G.K. Chesterton schon ziemlich zu Beginn jenes Jahrhunderts alles Nötige gesagt:
"Genausogut
könnte man sagen, eine bestimmte Ansicht sei am Montag vertretbar,
am Dienstag dagegen nicht. Ebensogut könnte man von einer bestimmten
These über die Welt sagen, sie sei um halb vier angebracht, um
halb fünf indes fehl am Platze. Was einem Menschen glaubwürdig
erscheint, hängt von seiner Grundeinstellung ab, nicht von der
Uhrzeit oder dem Jahrhundert."
Man muss allerdings zugeben, dass die Gewohnheit, Überzeugungen danach zu beurteilen, ob sie als
"zeitgemäß" gelten oder nicht, der perfekte
shortcut für Leute ist, die entweder zu faul zum Denken sind oder einfach keine Übung darin haben. Und, seien wir ehrlich: Solche Leute produziert unser Bildungssystem am laufenden Band. Ärgerlich ist freilich, dass allzu viele davon Journalisten werden.
Okay. Genug der Polemik und zurück zum Inhaltlichen. Indem die Verfasserin es als Tatsache darstellt, dass bestimmte Überzeugungen im aktuellen Jahrhundert, und in Berlin erst recht, nichts zu suchen haben, und gleichzeitig zu erkennen gibt, dass sie
genau diese Überzeugungen als
kennzeichnend für den christlichen Glauben betrachtet, sagt sie letztlich in beeindruckender Deutlichkeit, dass es im Berlin des 21. Jahrhunderts keinen Platz für Christen gibt oder geben
sollte. (Man versuche so etwas mal über irgendeine
andere Religion zu sagen, beispielsweise eine, die zu Themen wie Abtreibung oder Homosexualität
ähnliche Positionen vertritt wie die hier gescholtenen. Tatsächlich trifft das nämlich auf bemerkenswert
viele Religionsgemeinschaften zu. Man könnte dies zum Anlass für einen Exkurs über Naturrecht nehmen, aber das spare ich mir an dieser Stelle.)
Überhaupt ist es einigermaßen bezeichnend, dass
dies die Themen sind, die der Reporterin zum Stichwort "christlicher Glaube"
als erstes einfallen (und dann auch im weiteren Verlauf des Artikels eine prominente Rolle spielen). Interessant ist dieser Umstand nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass sie eine der drei geschilderten Gemeinden, nämlich die
ICF Friedrichshain, in Hinblick auf diese Themen als überraschend liberal darstellt (was mich zu der Frage veranlasst: Kann jemand, der - wie ICF-Gemeindeleiter Tino Dross - Sätze sagt wie "Nur weil etwas in der Bibel steht, glaube ich es
nicht einfach" und bekräftigt, "[i]n der Bibel stehe so viel absurdes Zeug, das könne
man nicht unhinterfragt glauben", noch als
"evangelikal" bezeichnet werden? Aber das wäre mal ein Thema für sich...) -- sowie auch der Tatsache, dass sie, wie weiter oben bereits angemerkt, den Evangelikalen die in diesen Fragen ja nun wirklich
ausgesprochen liberale Landeskirche EKBO quasi als den
"Normalfall" des Christseins gegenüberstellt.
Warum eigentlich? Weil die EKBO die
größte Religionsgemeinschaft in Berlin ist? Nun ja, hinsichtlich der absoluten Mitgliederzahl
ist sie das: Laut Stand vom Jahreswechsel 2013/2014 hatte diese Landeskirche innerhalb der Stadtgrenzen Berlins 614 355 Mitglieder, die katholische Kirche 326 197 (diese Zahlen stammen aus
einem anderen Artikel des Tagesspiegels). Hinsichtlich der praktizierenden Gläubigen sieht das jedoch ganz anders aus:
"Die Landeskirchen haben zwar nach wie vor deutlich
mehr Mitglieder als die Freikirchen, aber die wenigsten sind in ihren
Gemeinden aktiv. In Berlin besuchen nur 2,5 Prozent der Mitglieder
regelmäßig einen evangelischen Gottesdienst, bei den Katholiken
sind es immerhin fast zehn Prozent. Der Bund
evangelisch-freikirchlicher Gemeinden vermeldet hingegen, dass
durchschnittlich 88 Prozent der Mitglieder regelmäßig im
Gottesdienst sitzen."
Wenn das so stimmt, dann heißt das, dass katholische Messen in Berlin allsonntäglich rund doppelt so viele Teilnehmer anlocken wie evangelisch-landeskirchliche Gottesdienste; und was die Freikirchen angeht, fehlen zwar konkrete Angaben zur Mitgliederzahl, aber bei einer Gottesdienstbesuchsquote von 88% würde es mich nicht wundern, wenn der Evangelikalismus tatsächlich die "meist-praktizierte" christliche Glaubensrichtung Berlins wäre.
Diese Zahlenverhältnisse geben natürlich auch der EKBO zu denken. "Man beobachte die neuen Gemeinden interessiert", erfährt man in der
Tagesspiegel-Reportage; schließlich "will die evangelische Landeskirche nicht untätig
zuschauen, wie sie immer mehr Mitglieder verliert".
Der Religionswissenschaftler Martin Radermacher von
der Ruhr-Universität Bochum und Mitherausgeber eines
"Handbuchs
Evangelikalismus" wird mit der Aussage zitiert: "Entscheidend ist gar nicht so sehr, was
vermittelt wird, sondern wie". "Denn", so führt die Reporterin diesen Gedanken in eigenen Worten näher aus: "Es ist der
selbe Gott, an den die Christen glauben, an das selbe Buch, ob
landeskirchlich oder frei. Der Unterschied liegt also nicht im
Inhalt, sondern in der Verpackung." -- Und das ist ja nun
so falsch, dass ich beim Lesen beinahe laut lachen musste. Bemühen wir abermals Chesterton:
"Was
unsere Progressiven vor riesigen Zuhörermassen mit ruhiger Gewißheit
erklären, ist meistens das Gegenteil der Tatsachen; gerade unsere
Binsenwahrheiten sind unwahr. Hier ein Beispiel. In jeder 'Ethischen
Gesellschaft' und jedem 'Religionsparlament' hört man die bequeme
liberale Phrase: 'Die Religionen unserer Erde unterscheiden sich zwar
in Riten und Formen, aber in dem, was sie lehren, stimmen sie
überein.' Diese Aussage ist falsch; sie widerstreitet den Tatsachen.
In Riten und Formen unterscheiden sich die Religionen unserer Erde
gar nicht erheblich; erheblich unterscheiden sie sich in dem, was sie
lehren."
Was Chesterton hier über verschiedene Religionen sagt (im weiteren Verlauf seiner Ausführungen stellt er Christentum und Buddhismus einander gegenüber), ist natürlich etwas zu relativieren, wenn es um den Vergleich zwischen Frei- und Landeskirchlern geht, die sich ja beide als Christen (und sogar beide als evangelische Christen) verstehen. Natürlich ist der Gott der Evangelikalen dem Namen nach derselbe wie der der landeskirchlichen Protestanten, und hier wie dort wird auch dieselbe Bibel (wenn auch in unterschiedlichen Übersetzungen) benutzt; aber verglichen mit den Unterschieden, ja Gegensätzen in der Lehre sind das Äußerlichkeiten.
Einige Vertreter der EKBO, mit denen Julia Kopatzki für ihre Reportage gesprochen hat, scheinen indes tatsächlich zu glauben, sie bräuchten den Freikirchen nur darin zu folgen, die "Verpackung" ein bisschen hipper zu machen, um an ihrem Erfolg zu partizipieren. "Social Media Profile werden eingerichtet, andere
Musik im Gottesdienst diskutiert, in manchen Gemeinden gibt es jetzt
Tauffeste für Alleinerziehende." Hammer, wie innovativ. "Die Landeskirche hat dabei aber ein Problem: Die
Hälfte der Mitglieder ist über fünfzig, und wünscht sich in der
Regel keinen jungen, modernen Gottesdienst, keine Änderungen. Es
droht die Gefahr, im Bemühen um neue Mitglieder alte zu vergraulen."
Also, Entschuldigung:
Wen genau fürchtet man denn bitte zu
"vergraulen"?
Die 2,5% der Mitglieder, die regelmäßig in den Gottesdienst kommen? Die übrigen 97,5% würden von etwaigen Veränderungen schließlich kaum etwas mitbekommen. Fast versteht man, wie Reinhard Hempelmann, der Vorsitzende, der
Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, zu der Einschätzung kommt, die "neuen Freikirchen" seien "ein Protestphänomen gegen die fehlende
Flexibilität" der Landeskirchen. Nun kann ich mir zwar vorstellen, dass der Befund der 'fehlenden Flexibilität' auf die institutionellen Strukturen landeskirchlicher Gemeinden und vielerorts womöglich auch auf die Gottesdienstpraxis durchaus
zutrifft (und über die katholische Kirche könnte man dasselbe sagen); aber den Fokus allein
darauf zu legen, lenkt wieder einmal von
inhaltlichen Fragen ab. Und da, möchte ich mal behaupten, kranken die evangelischen Landeskirchen eher an
zu viel Flexibilität; will sagen: an einem
Mangel an festen Standpunkten. Christian Stäblein, Propst (Julia K. schreibt allerdings
"Probst") in der EKBO, grenzt sich explizit ab von "manchen Gemeinden im evangelikalen Spektrum", in denen "bisweilen eng definiert" werde, "was christlich ist und was nicht". Also bitte, Freunde:
Was christlich ist und was nicht, das ist doch wohl eine Frage, auf die Menschen, die im Zuge ihrer Suche nach Sinn und Wahrheit auf das Christentum stoßen, zu Recht eine
Antwort haben wollen. Und bei der EKBO bekommen sie diese Antwort nicht -- denn das würde, so Propst Stäblein, "nicht mit unserem auf Freiheit ausgerichteten
Begriff von Frömmigkeit zusammen gehen". Zu dieser
"Freiheit" gehört es auch, keinen "überhohe[n] Druck von Bindungserwartung" aufkommen zu lassen:
"Das Wesen der Landeskirche [...] sei [...] gerade, dass
die Mitglieder ihr Verhältnis von Nähe und Distanz frei bestimmen
könnten. 'Da gibt es Leute, die kommen einmal im Jahr zum
Gottesdienst, dreimal oder auch 52 Mal.'"
Das, geschätzter Leser, ist
straight from the book -- nämlich aus dem EKD-Impulspapier
"Kirche der Freiheit" von 2006. Darin spielt die "distanzierte Kirchenmitgliedschaft" als Ausdrucksform der in der Überschrift beschworenen
"Freiheit" eine wichtige Rolle -- und geistert seither beharrlich als "die
Kirche stabilisierende[r] Faktor" (
D. Pollack) durch kirchliche Mitgliedschaftsstudien. Ja, sie wird sogar - etwa durch
Jan Hermelink - "theologisch
gewürdigt [...] als eine legitime Form, den Kontakt mit Gott nicht
im Alltag der lebensweltlichen Interaktion zu suchen, sondern an den
sozialen Grenzen (und Abgründen) dieses Alltags" und mit Vokabeln wie "Teilhabe
ohne Teilnahme" (
R. Schieder) bekränzt. Wer so redet und das ernst meint, dem sollte man meiner Einschätzung zufolge schnell zwei bis drei Ohrfeigen verabreichen und schauen, ob er wieder zu sich kommt.
Stellen wir uns zum besseren Verständnis mal vor, jemand erhält eine
Einladung zu einer Hochzeit, und auf der Rückseite der Einladungskarte entdeckt er ein P.S., das besagt:
"Ob du kommst oder nicht, ist uns eigentlich egal." Wie
wertgeschätzt wird der sich wohl fühlen? Kein Wunder, wenn Leute, die auf der Suche nach spiritueller Orientierung sind, lieber in eine Gemeinde gehen, in der man ihnen das Gefühl gibt,
willkommen zu sein. Auch wenn diese Gemeinde höhere
Anforderungen stellt, ja möglicherweise
gerade dann: Wenn man ihnen nicht nur sagt "Toll, dass du da bist", sondern zugleich auch zu verstehen gibt: "Wir können dich
gebrauchen, wir haben eine
Aufgabe für dich." Die Volkskirchen haben eher das Problem, dass sie, selbst wenn plötzlich von irgendwoher Scharen neuer Mitglieder in ihre Gemeinden kämen, gar nicht wüssten, was sie mit ihnen anfangen sollten. (Man könnte sogar argwöhnen, dass sie deswegen mehr oder weniger unbewusst darauf hinarbeiten, dass gar nicht erst welche kommen.)
Damit wären wir nun also wieder beim vor einiger Zeit bereits behandelten Thema
"Wie viel Gemeinschaft darf's denn sein?" angekommen, und tatsächlich findet sich dazu eine ganze Menge Material in Julia Kopatzkis
Tagesspiegel-Reportage. Deswegen werde ich wohl in einem künftigen Artikel nochmals darauf zurückkommen. Für jetzt mache ich aber mal einen Punkt. Schließlich muss ich mich zwischendurch, sofern ich Zeit dafür finde, auch noch um die Fährnisse einer gewissen
eingekerkerten Nonne kümmern...