Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Sonntag, 15. Juli 2018

Alternative, Esoteriker, Impfgegner, konservative Christen

Die Berliner Zeitung versüßt uns das Wochenende mit einer brisanten Enthüllungsreportage über einen schockierenden subkulturellen Trend: Eltern, insbesondere Mütter, die Wert darauf legen, ihre Kinder selbst zu betreuen. Ob man's glaubt oder nicht: Die gibt es wirklich! Im 21. Jahrhundert, in (Ost-)Berlin! Und viele davon sehen auf den ersten Blick total normal aus! So zum Beispiel "Melanie Wittwer, 36 Jahre alt". Sie ist "seit vier Jahren Hausfrau. Und das, weil sie ihre Kinder nicht in die Kita geben will." Schockierend, oder? Und vor allem so undankbar gegenüber den Errungenschaften der Frauenbewegung! So jedenfalls scheint Reporterin Sabine Rennefanz es zu sehen: 
"Während die Politik sich seit Jahren dafür einsetzt, dass Frauen die gleichen beruflichen Chancen wie Männer bekommen, Beruf und Familie besser vereinbaren können, und deshalb Millionen in den Kitaplatz-Ausbau steckt, geht Melanie Wittwer einen anderen Weg. Sie will die Wohltaten der Politik gar nicht."  
"Kitafrei mag den Kindern gefallen, aber was macht es mit den Frauen, wenn sie jahrelang aus dem Beruf aussteigen? Ist Kitafrei nicht sogar antifeministisch?"  
"Es klingt, als sei der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz keine Errungenschaft der Frauenbewegung, sondern Zwang." 
Wenn die anderen Kinder alle in der KiTa sind, hat man den Spielplatz für sich allein.
(Foto: Omar Chatriwala, Al Jazeera English; Bildquelle und Lizenz hier.)
Tja, was soll man sagen. Solche Leute, die die "Wohltaten der Politik" nicht zu schätzen wissen, die gab es wohl schon immer und wird es vermutlich auch immer geben. Solche Leute wie John Savage in Brave New World zum Beispiel. Sabine Rennefanz hat dafür offenkundig kein Verständnis. "Melanie Wittwer wirkt zart", stellt sie fest, "sagte aber harte Sätze wie: 'Ich kann mir nicht vorstellen, meine Kinder anderen, fremden Menschen anzuvertrauen.'" Krass, was für ein harter Satz. Die bittere Wahrheit: Melanie Wittwer "gehört zu einer kleinen, aber wachsenden Gruppe von Frauen in Deutschland, die ihr Kind in den ersten sechs Jahren nicht in die Kita geben […]. Amtliche Zahlen, wie groß die Anti-Kita-Bewegung ist, gibt es nicht." Ja, Moment mal: Wieso sollte es darüber auch "amtliche Zahlen" geben? Ist Frau Rennefanz der Meinung, Eltern, die ihre Kinder nicht in die KiTa geben wollen, sollten vom Verfassungsschutz überwacht werden? Ehrlich gesagt finde ich es ja schon skurril, hier überhaupt von einer "Bewegung" zu sprechen. Aber Frau Rennefanz weiß es besser, denn sie hat nicht nur Mütter auf ansonsten verlassenen Spielplätzen interviewt, sondern auch im Netz recherchiert: 
"Man findet ihre Anhänger auf Blogs wie '2KindChaos', 'Blogprinzessin' oder 'Berufung Mami'. Andere haben sich bei Facebook vernetzt. Die größte Gruppe nennt sich Kindergartenfrei.org mit eigener Website und regionalen Ortsgruppen in ganz Deutschland. Bei Kindergartenfrei.org haben sich nach eigenen Angaben 1400 Mitglieder registriert." 
Und was sind das so für Leute? 
"Die Bewegung hat Anhänger in Ost und West, auf dem Land und in der Großstadt, sie gilt als Sammelbecken für Alternative, Esoteriker, Impfgegner, konservative Christen." 
Na, das klingt ja nach einer bunten Mischung! Ich schätze, in diese Szene sollten meine Liebste und ich mal reinschnuppern. Vielleicht findet man da ja Untergruppen, in denen die Esoteriker und Impfgegner nicht ganz so dominant sind. Jedenfalls schon mal danke für die Linktipps, Frau Rennefanz! 

Wobei, ich vergaß: Nazis sind es offenbar obendrein auch noch. Jedenfalls meint Sabine Rennefanz, beim Konzept "Selbstbetreuung" gehe es um "Kontrolle" und "Abgrenzung vom Fremden". "Auf der Facebook-Seite von Kindergartenfrei.org wird das Hausfrauendasein in einem Eintrag als 'schönster Job' der Welt bezeichnet", ja, das ist natürlich ganz, ganz schlimm. "Viele Einträge lesen sich dogmatisch, fast hetzerisch" -- ganz im Gegensatz zu diesem Artikel der Berliner Zeitung, versteht sich. "Kitabetreuung wird darin abgewertet". Was vielleicht auch mit "Bericht[en] über Probleme, Erzieherinnenmangel, schlechte Betreuungsqualität" zu tun haben könnte, durch die "sich die Kitafrei-Mütter in ihrer Entscheidung bestätigt" fühlen. Auch dafür kein Verständnis? Von wegen, wo kämen wir denn da hin. 

Letztendlich geht es, wie es ja allen Arten von nonkonformistischen Gruppierungen gern nachgesagt wird, um "Ängste", die den Müttern eingeredet worden sind: 
"Bevor die Friedrichshainerin Melanie Wittwer zur Selbstbetreuerin wurde, plagten auch sie viele Ängste. Sie hatte Studien gelesen, wie stressig es für Kinder sein kann, wenn sie von ihrer Mutter getrennt werden. […] Auch aus ihrer Kindheit hat Melanie Wittwer nur wenige gute Erinnerungen. […] Ihren Eltern macht sie keine Vorwürfe, aber sie selbst will es besser machen." 
Und zwar orientiert sich ihre Vorstellung vom Besseren, ebenso wie die anderer Kitafrei-Mütter, an  den Prinzipien der "bedürfnisorientierten Erziehung [...], dem wichtigsten pädagogischen Trend der letzten Jahre": 
"Dieses Konzept beruft sich auf die Bindungstheorie: Demnach bringt die Erziehung von Kindern am meisten Erfolg, wenn die Eltern früh eine starke Bindung zu den Kindern aufbauen, indem sich komplett nach deren Bedürfnissen richten.
Melanie Wittwer […] hält sich bis heute an alle Regeln, stillt nach Bedarf, schläft mit den Kindern im großen Bett, trägt sie eng am Körper. Sie lässt ihre Söhne nie schreien, selbst wenn das heißt, dass sie Verabredungen mit Freundinnen absagen muss, weil die Kinder zu Hause weinen und der Partner es nicht vermag, sie zu trösten." 
Aha. Ob es nun "radikal" und/oder irgendwie plemplem ist, mal eine Verabredung zum Kaffeeklatsch sausen zu lassen, weil das Kind gerade ganz schlimm weint, darüber wird man vielleicht geteilter Meinung sein dürfen. Im Großen und Ganzen finde ich es aber arg befremdlich, wie die bedürfnisorientierte Erziehung hier zwischen den Zeilen abgewertet und lächerlich gemacht wird. Nehmen wir nur mal das Stichwort "Stillen nach Bedarf". Nach nunmehr achteinhalb Monaten praktischer Erfahrung mit Elternschaft kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, wie man das Kind denn anders stillen sollte als "nach Bedarf". Okay, ich weiß: Die Werke der Nazi-Galionsfigur in Sachen Säuglings- und Kleinkindererziehung, Johanna Haarer, haben bis weit in die Nachkriegszeit hinein weite Verbreitung gefunden, und da werden feste Fütterzeiten und Erziehungsmaßregeln wie "das Kind auf keinen Fall trösten, wenn es grundlos schreit" sehr groß geschrieben. Und dass bei dem heutigen, von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen geforderten und geförderten Trend zur möglichst frühen und möglichst umfassenden Krippenbetreuung eine intensive emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind eher ein Problem als ein positiver Wert ist, leuchtet auch irgendwie ein. Da kommt man dann offenbar gern wieder auf die Rezepte der Nazi-Pädagogik zurück -- hat ja schließlich schon mal funktioniert. 

Neben Melanie Wittwer stellt Sabine Rennefanz in ihrem Artikel noch eine weitere Mutter vor: "Juliane Scheel, 33, fällt [...] auf dem Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg nicht groß auf" -- was einmal mehr beweist: SIE sind unter uns. Und auf den ersten Blick kaum von normalen Menschen zu unterscheiden: "[S]ie trägt schwarze Hosen, ein gestreiftes Shirt, die blonden Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden." Und tatsächlich war Juliane Scheel auch mal ganz normal: 
"Sie studierte Sprachen und Kommunikation, arbeitete als Texterin in einem Start-up und für ein Theater in Brandenburg. Im Oktober 2013 wurde ihr Sohn Janosch geboren, zwei Jahre später ihre Tochter Jahmila." 
Und dann geschah das Entsetzliche. 
"Aus Juliane Scheel wurde eine typische Prenzlauer-Berg-Mutter: mit Dauerstillen, Tragetuch, Familienbett und anthroposophischem Kinderarzt. Aufträge nimmt sie nur noch wenige an, um Kinder und Haushalt nicht zu vernachlässigen. […] Sie sitzt mit gekreuzten Beinen am Rande des Sandkastens. Ihre Kinder toben nackt auf der anderen Seite des Spielplatzes." 
Barbaren. Ganz klar.

"Man kommt schnell mit Juliane Scheel ins Gespräch". Aha: Die investigative Journalistin hat ein "Leck" in der Front der Selbstbetreuungs-Sekte aufgetan. 
"Sie wohnen schon lange am Platz [...], in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit zwei Kindern. Das Geld ist knapp, ihr Mann, ein Fahrradmechaniker, verdient nicht viel. Sie kaufen bio, verzichten sonst aber auf vieles, Urlaub, Auto, teure Klamotten. Trotzdem, sagt sie, fühle sie sich so frei wie nie zuvor in ihrem Leben. Frei, sich treiben zu lassen, jede Entwicklung der Kinder mitzubekommen, die ersten Schritte, das erste Wort." 
Man merkt, was Sabine Rennefanz den geneigten Lesern hier mitteilen will: Dass diese Mutter sich "so frei wie nie zuvor in ihrem Leben" fühlt, na klar, sowas sagen Leute doch immer, die in die Fänge einer obskuren Sekte geraten sind. "So sieht der Fortschritt manchmal aus", spöttelt die Journalistin: "Früher entschied der Ehemann, dass eine Frau zu Hause blieb, heute offenbar die Kinder. Das eine war reaktionär, das andere gilt heute als emanzipatorisch". Gleich darauf täuscht sie dann aber doch so etwas ähnliches wie Verständnis an: 
"Wer passt sich wem an? Wie viel Freiheit gibt man auf? Das sind Fragen, die sich alle Eltern am Anfang stellen. Alle suchen, experimentieren. Die Kitafrei-Mütter sind dabei nur radikaler als andere, sie sind noch mehr als andere bereit, für die eigenen Kinder Opfer zu bringen [...]. Immer in der Hoffnung, dass sie damit dem großen Glück ein wenig näher rücken." 
Das ist, wie man gestehen muss, rhetorisch nicht ungeschickt: Die Bereitschaft, "für die eigenen Kinder Opfer zu bringen", ist, so wird hier suggeriert, letztlich doch nur eine Form von Egoismus. "Wer zu lange aussteigt, handelt unverantwortlich", wird die Bloggerin Eva Dorothee Schmid zitiert, während die Lüneburger Finanzexpertin Annette Mücke "vor allem bei jungen Frauen eine Sehnsucht nach der traditionellen Mutterrolle" diagnostiziert. Susanne Viernickel, Professorin an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Uni Leipzig und "eine der renommiertesten Kita-Forscherinnen", die "zahlreiche empirische Studien durchgeführt" hat, wird befragt, ob KiTa-Erziehung womöglich tatsächlich schädlich für Kinder sei. Das verneint die Expertin zwar, aber dass KiTa-Betreuung besser für die Kinder sei als die Betreuung durch die eigenen Eltern, will sie nun so direkt auch nicht behaupten. "Im sprachlich-kognitiven und sozial-emotionalen Bereich kann ein Besuch einer guten Kita sogar von Vorteil sein", erklärt sie; was allerdings, wenn man diese Aussage beim Wort nimmt, offenbar bedeutet, dass das selbst bei einer guten KiTa keinesfalls sicher ist, von einer nicht so guten ganz zu schweigen. "Außerdem hilft eine gute Kita den Kindern dabei, die Trennung von den Eltern zu verkraften" -- die Trennung von den Eltern, die es ohne die KiTa gar nicht gäbe? Ah ja, herzlichen Dank. 

"Ich kann mir allerdings vorstellen, dass Kinder, die keine Kita besucht haben, in den ersten Schuljahren größere Anpassungsleistungen vollbringen müssen, um sich in die Gruppe einzufügen", gibt Frau Professor Viernickel weiterhin zu bedenken. Mag wohl sein -- aber heißt das nicht letztlich nur, dass die KiTa-Kinder dazu gezwungen werden, diese Anpassungsleistung erheblich früher zu vollbringen? 

Zudem ist es ja - zumindest in den vermutlich meisten Fällen - nicht so, dass die Kinder der KiTa-Verweigerinnen völlig isoliert von anderen Kindern aufwachsen würden. Wozu wohl vernetzen die Mütter sich untereinander? Zum Erfahrungsaustausch? Sicher, aber nicht nur zu diesem Zweck. Melanie Wittwer zum Beispiel hat 
"[m]it zwei, drei Freundinnen [...] Spielzimmer und Toberaum angemietet, alternativer Familiengarten nennen sie es. Dort treffen sie sich, dort können die Kinder zusammen spielen. Wie eine Art Kinderladen, nur ohne dass der Staat reinfunkt, ohne Morgenkreis, ohne feste Essenszeiten, Bildungsprogramm, Sprachlerntagebüchern und sonstigen Drangsalisierungen." 
Frau Rennefanz meint den letzten Satz vermutlich sarkastisch, aber für mich klingt das ziemlich gut. Wie schon gesagt: Ich schätze, meine Liebste und ich sollten uns diese Szene wohl mal etwas näher anschauen. Friedrichshain ist zwar für den täglichen Bedarf ein bisschen weit weg, aber ich könnte mir vorstellen, dass es von solchen selbstorganisierten Eltern-Kind-Gruppen noch mehr in Berlin gibt. Man könnte auch darüber nachdenken, so etwas selbst aufzuziehen. Womöglich sogar unter dem (nicht nur metaphorischen) Dach der Kirchengemeinde. Das wäre dann auch hochgradig #BenOp-relevant. Wenn man sowieso schon für "radikal" gehalten wird... Was soll's? 

Zum Schluss des Berliner Zeitungs-Artikels wird's noch mal spannend: 
"In wenigen Jahren kommen die Kinder ins Schulalter. Die Mütter haben sich so weit vom Mainstream entfernt, dass sie darüber nachdenken, ihre Kinder nicht in den staatlichen Schulen anzumelden. Dort würden sie nur drauf trainiert, Leistungsnachweise zu bringen, statt Bildung zu erwerben. Wenn Juliane Scheel und Melanie Wittwer von Schulen reden, fallen die Worte 'Anpassung', 'Unterwerfung', 'Unterdrückung'. Wittwer sucht nach einer Privatschule, in der sich ihr Sohn optimal entfalten kann. […] Und falls sie keine private Schule findet, kann sie sich vorstellen, Deutschland zu verlassen. Hauptsache, es ist das Beste fürs Kind." 
Falls man bis zu dieser Stelle aufgehört hat, den Kopf darüber zu schütteln, wie zutiefst gruselig Sabine Rennefanz es findet, dass es tatsächlich Leute gibt, die sich "so weit vom Mainstream entfernt" haben, dass ihnen das Wohlergehen ihrer Kinder über alles geht, dann kann man zu dem Schluss kommen: Hey, offenbar gibt es einen nicht zu unterschätzenden Bedarf an freien Schulen mit alternativen Unterrichtskonzepten! Oder nach Abschaffung bzw. Lockerung der Schulpflicht, wobei man es fraglich finden mag, ob letzteres ein in absehbarer Zukunft realisierbares Ansinnen ist. So oder so ist auch das ein ganz klares #BenOp-Thema. Wieso eigentlich sollte aus einem "alternativen Familiengarten" nicht mittelfristig auch eine alternative Schule wachsen können? Ich gebe zu, ich habe von den organisatorischen und bürokratischen Herausforderungen eines solchen Unterfangens keine allzu klaren Vorstellungen. Ich würde aber gern dazu ermutigen, diese Idee nicht vorschnell als "unmöglich" abzuhaken... 



Mittwoch, 4. Juli 2018

Live-Rollenspieler beten im Klostergarten Horen

Am vorletzten Montag unternahm ich am Vormittag mit Frau und Tochter (letztere im Kinderwagen) einen Spaziergang vom Haus meiner Mutter in Nordenham zum ehemaligen Kloster Atens. Vom Kloster als solchem ist allerdings nicht mehr viel übrig außer der (seit der Reformation evangelischen) St.-Marien-Kirche. In die kamen  wir nicht hinein, womit wir im Grunde auch nicht gerechnet hatten -- aber schade war es doch, denn sie hat einen durchaus sehenswerten Hochaltar.






Eigentlich wollten wir uns aber den Klostergarten ansehen. Im Rahmen einer kleinen Online-Recherche über ehemalige Klöster in der Wesermarsch war ich nämlich auf einen Artikel der Nordwest-Zeitung vom letzten Herbst - genauer: vom 23.09.2017 - gestoßen, in dem angekündigt wurde, der "ehemalige Klostergarten, der später traditioneller Pfarrgarten wurde", solle "einen neuen Charme bekommen": 
"Mit diesem Garten möchte die evangelische Kirchengemeinde Nordenham nach ihren Worten somit einen im Verborgenen schlummernden Schatz heben.
Bereits jetzt können Gläubige hier angesichts des satten Grüns, bunter Stauden und der Obstbäume Gottes Schöpfung bestaunen. Daran soll sich nichts ändern. Aber zusätzliche Impulse für die Sinne und Gedanken der Besucher sollen gegeben werden." 
Angelegt werden sollte dem Bericht zufolge ein "etwa 120 Meter langer Weg [...] in einem großen Bogen vom Gemeindehaus zum Gotteshaus" ("Am Gemeindehaus beginnt die Wegführung mit einem kleinen Kreuzgang in Anlehnung an ein Kloster"), und entlang dieses Weges "gestalterische Akzente [...], die Besucher zum Innehalten anregen" -- etwa "Neuanpflanzungen von Stauden oder Sträuchern" sowie "eine Steinstele als Blickfang". "Zudem sind zwei Leuchten geplant." Wie die NWZ zu berichten weiß, erhofften sich Pfarrer Christopher Iven und Johannes Rauhut, "der als Kirchenratsmitglied viele Ideen eingebracht hat", von dieser Gartengestaltung "auch eine spirituelle Note, eine Art 'Quelle der geistlichen Spurensuche nach Gott und nach sich selbst'." 

Das ist so typisch evangelisch, stöhnte ich innerlich auf, als ich das las. Aus dem Gottesdienst hat man die Spiritualität verbannt, jetzt spürt man plötzlich, dass einem was fehlt, und das sucht man dann aber woanders. Zum Beispiel eben im Garten. Seufz. Aber irgendwie neugierig waren wir da ja jetzt doch.  

"Mit Flatterbändern ist die Wegführung abgesteckt, so dass sich alle Interessierten vor Ort ein persönliches Bild machen können", hieß es gegen Ende des Zeitungsberichts. Und, guess what? Stolze acht Monate später ist das Flatterband immer noch da. Ansonsten hat sich exakt NICHTS getan. 



"Die Ruhe und der Zauber, die von diesem Garten und dem Anblick der Kirche ausgehen, lassen sich vielleicht jetzt schon spüren", hatte die Zeitung Pfarrer Christopher Iven und Kirchenratsmitglied Johannes Rauhut zitiert. Äh ja, DAS schon

Also, Freunde: Was ist da passiert, bzw. nicht passiert? Woran hat's gelegen? Am Geld? Gut möglich: "Das Vorhaben soll in zwei bis drei Bauabschnitten umgesetzt werden. Die Gesamtkosten lassen sich noch nicht beziffern. [...] Die Ausschreibung des Auftrages für interessierte Firmen ist jetzt erfolgt", hieß es im September. Na klar: Wenn man aus dem Garten partout ein Kunstprojekt machen will, dann wird's halt teuer. Man könnte natürlich auch mal auf die Idee kommen, die Gemeinde einzubinden. Über die "Resonanz in der evangelischen Gemeinde" heißt es in dem NWZ-Artikel: "Einige Christen haben Ideen und Tipps zur Umsetzung beigesteuert und sogar ihre Mithilfe angeboten". Das Wörtchen "sogar" spricht hier Bände. Ich mag das gar nicht weiter kommentieren. Nicht weniger bezeichnend ist der Satz "Eventuell sollen auch Beete angelegt [...] werden.". Eventuell? Es ist ein Garten, Herrgott nochmal! Ist es wirklich eine so exotische Idee, dass in einen Garten auch Beete gehören? Ich räume ein, dass in einer Kleinstadt, wo viele Leute sowieso ihren eigenen Garten haben, das Interesse an Urban-Gardening-Projekten wohl geringer sein dürfte als beispielsweise in Berlin. Aber auch in Nordenham gibt es Leute, die in Etagenwohnungen leben. Nun gut, vielleicht gehören die nicht zur Zielgruppe der evangelischen Kirchengemeinde. Könnte durchaus sein. Aber dann wäre es vielleicht mal an der Zeit, die eigene Zielgruppenorientierung zu überdenken. Gemeinschaftsbeete für Leute, die sich keinen eigenen Garten leisten können, das wäre doch mal eine Maßnahme in Sachen community building! Gemeindemitglieder, die bereits Erfahrung mit Gärtnerei haben, könnten die Neulinge anleiten. Und wenn man bei der Gartengestaltung auch die Wildblumen, Insekten und Vögel nicht vergisst, dem Ganzen also auch einen Naturschutz-Aspekt verleiht, könnte man sogar eventuell sogar Fördergelder abgreifen. Aber mich fragt ja mal wieder keiner.  

Kurz gesagt, vor lauter künstlerisch überambitioniertem Spiri-Scheiß (pardon) hat man das Potential verkannt, das der Garten gerade dadurch hat, dass er eben ein GARTEN ist. Dass es auch anders geht, kann man zeitgleich in Bokelesch im (katholischen) Saterland beobachten. Dort kümmert sich ein Förderverein um die Hinterlassenschaften einer früheren Niederlassung des Johanniterordens, und dieser Förderverein hat bereits 2012 einen Klostergarten angelegt -- mit vier "Themenbeete[n] [...] mit Pflanzen, die typischerweise in Klostergärten wuchsen" (einem Küchengarten, einem "Mariengarten" sowie zwei Heilpflanzengärten), und der Nachbildung eines historischen Brunnens. Im Jahr 2013 wurde dieser Klostergarten um eine 1.700 m² große Fläche erweitert -- und unlängst umfassend neu gestaltet. Der "neue" Klostergarten wurde am Sonntag, dem 24. Juni, feierlich eröffnet -- also einen Tag vor unserer Besichtigung des im Ansatz steckengebliebenen Gartenprojekts in Atens. Zufall? Höchstwahrscheinlich.

Werfen wir einen kurzen Blick in die Historie: Die Johanniterkommende Bokelesch wurde 1319 erstmals urkundlich erwähnt, gegründet wurde sie vermutlich um die Mitte des 13. Jahrhunderts als Doppelkloster für Mönche und Nonnen. Die im 15. Jh. im gotischen Stil umgebaute Klosterkapelle ist bis heute erhalten und wird auch noch heute für Gottesdienste genutzt. Das Klostergut wurde bis 1588 von Ordensleuten bewirtschaftet, danach wurde es verpachtet, blieb aber weiterhin im Besitz des Ordens -- bis zum Reichsdeputationshauptschluss von 1803, in dessen Folge das Saterland, das bis dahin zum Niederstift Münster gehört hatte, an das Herzogtum Oldenburg fiel, das die Kommende 1820 verstaatlichte.

Zurück in die Gegenwart: Am 31.03.2018 berichtete die Nordwest-Zeitung von einem gemeinsamen Arbeitseinsatz "des Fördervereins Johanniterkapelle Bokelesch und des Imkervereins Barßel" zur Neugestaltung des Klostergartens. Dabei wurden für eine "Streuobstwiese" zehn "Hochstammobstbäume alter Sorten gepflanzt" sowie "die Fläche für eine Wildblumenwiese vorbereitet und Buchenhecken gesetzt". Weiterhin umfassten die Arbeiten "das Aufstellen von Sitzgruppen und eines Insektenhotels, zweier Hinweistafeln und die Pflanzung einer Johannisbeerenhecke und einer Wildrosenhecke". Seitens des Naturschutzbundes (NABU) wurde "ein Storchennest aufgestellt" -- und durch den Imkerverein ein "Bienenwagen", durch den es möglich wurde, den Besuchern der Eröffnungsveranstaltung "Klosterhonig" anzubieten: "Mit göttlichem Beistand [!] haben wir zum ersten Mal Löwenzahnhonig geschleudert", wird Marlies Jakobi vom Förderverein in einem weiteren NWZ-Artikel zitiert.

Trotz des offenbar umfangreichen Einsatzes freiwilliger Helfer war das Projekt insgesamt nicht billig: "Die Gesamtinvestitionskosten sind mit etwa 20 800 € Euro [sic] veranschlagt", berichtete die NWZ. Allerdings wurde beinahe die Hälfte dieses Betrags, nämlich 10.070 €, aus Fördermitteln des EU-Regionalförderprogramms LEADER und des Europäischen Landwirtschaftsfonds ELER bestritten.

Erwähnenswert scheint mir auch, dass am Tag der Eröffnung des Klostergartens auch die "Familien Jakobi in Strücklingen und Schulte in Bokelesch" ihre privaten Gärten für Besucher öffneten -- unter dem Motto "Komm, ich zeig’ Dir meinen Garten".

Last not least wusste die Presse zu berichten, dass die "Hospitaliter Kommende Norden" maßgeblich an der Gestaltung der Klostergarten-Eröffnungsfeier beteiligt war. Da wurde ich hellhörig. Was das wohl für welche sind? Nun, wie sich herausstellte, verbirgt sich hinter diesem Namen so eine Mittelalter-Rollenspielgruppe, die es sich nach eigenen Angaben "zur Aufgabe gemacht hat, ein Militärlager des Hospitaliter Ordens, zur Zeit des 13ten Jahrhunderts, darzustellen". Schon 2016 war diese Gruppe in Bokelesch zu Gast; und nun, zur Klostergarten-Neueröffnung, hatten sie also erneut "ihre Normannenzelte aufgeschlagen, um den Besuchern die Geschichte der Hospitaliter, dem Ursprungsorden der Johanniter und Malteser zu zeigen": Nicht nur "Lagerleben, Kampftraining und Kalligraphie" sowie  "Wissenswertes aus der Kräuter- und Salbenkunde" und darüber, "wie auf der Kochstelle unter freiem Himmel gekocht wurde", präsentierten die Freizeitritter den Besuchern, sondern - und nun wird es wirklich interessant - "auch Horen -- klösterliche Andachten, wie sie mehrmals täglich in den Ordensgemeinschaften abgehalten wurden".

Also, ich muss schon sagen. Wenn Mittelalter-LARP-Freaks den von Haus aus katholischen Saterfriesen das Stundengebet beibringen müssen, dann weißt du, dass du in interessanten Zeiten lebst.



Dienstag, 3. Juli 2018

Wenn Kirche, dann Kirche – wenn Craft Beer, dann Craft Beer

Vor meinem jüngsten Trip nach Nordenham und Butjadingen hatte ich angekündigt, ich wolle mich nach meiner Rückkehr näher mit dem Blog juhopma.de und dem darin vorgestellten – oder sagen wir: sich entwickelnden – Konzept #einfachkirche befassen. Nachdem ich nun ein bisschen in dem von dem jungen Hamburger Vikar Jonas Goebel betriebenen Blog kreuz- und quergelesen habe, muss ich zunächst einmal gestehen, dass es mir schwerer fällt als erwartet, meine grundsätzlich wohlwollende Einstellung gegenüber dem Autor und den mancherlei Ideen, die er unter dem Schlagwort #einfachkirche ausbreitet, aufrecht zu erhalten. Beim Lesen habe ich mich immer mal wieder gefragt, ob der bereits erwähnte Umstand, dass Jonas Goebel es geschafft hat, den dümmsten anzunehmenden Beitrag zum Thema "Interkommunion bzw. gemeinsames Abendmahl" zu verfassen, vielleicht doch nicht nur ein „Ausrutscher“ gewesen ist. Womit ich sagen will: Zuweilen scheint mir, dass Denken insgesamt nicht so seine Stärke ist. Deshalb träumt er lieber. Wovon? Von einer Kirche, die "relevant" ist. Warum hat er diesen Traum? Diese Frage stellt er sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit selber, aber die Antworten, die er darauf gibt, wirken einigermaßen schwammig und wenig überzeugend. Da ist immer wieder von einer "Botschaft" die Rede, die die Kirche den Menschen zu verkünden habe. Okay; aber warum verkündet er sie dann nicht? Mir jedenfalls wird aus denjenigen seiner Beiträge, die ich bisher gelesen habe (und das waren nicht gerade wenige), nicht so richtig klar, was er als den inhaltlichen Kern dieser „Botschaft“ betrachtet. Irgendwie scheint es ihm nämlich immer wieder hauptsächlich um die Verpackung zu gehen. Diese ist – wenn ich ihn richtig lese – seiner Auffassung zufolge das entscheidende Manko der Kirche: Sie kriegt ihr "Produkt" nicht "verkauft", weil die Verpackung unattraktiv ist. Sie trifft nicht den "Geschmack" der Leute – seinen eigenen übrigens auch nicht: 
"Für mich ist Sonntagmorgens zum Beispiel einfach eine blöde Zeit. Da gehe ich – egal zu was – nicht gerne irgendwohin. Also allein die Uhrzeit eines Gottesdienstes entscheidet für mich schon darüber, ob ich eher hingehe oder nicht. Auch der Ort ist für mich durchaus entscheidend. Eine kalte, dunkle Kirche – ich kann mir durchaus einladendere Dinge vorstellen.
Und [...] [i]ch stehe nun mal weniger auf Orgelmusik." 
Gleichzeitig ist ihm durchaus bewusst, dass das, was nach seinem Geschmack wäre, wieder anderen nicht gefallen würde. Wie aber löst man dieses Dilemma? Durch eine Craft-Beer-Kirche! Kein Scherz: 
"Ich glaube, ich wünsche mir Kirche so ein wenig wie die Craft-Bier-Szene. Es gibt auf einmal unzählige neue Biere. Und ja: viele davon sind echt nicht mein Geschmack. Aber es gibt auf einmal eine (Geschmacks-)Auswahl an Bieren… ich bin mir sicher, dass der eine oder andere nun Bier trinkt, für den es vorher nichts war.
Also… ich wünsche mir eine Kirche, die eine bunte Palette an Gottesdiensten im Angeboten hat – ganz wie die Craft-Bier-Szene."
(Bildquelle: Pixabay
Na gut, das kann man jetzt wohl als die in zeitgenössisches Marketing-Sprech übersetzte Version des paulinischen "allen alles sein" interpretieren. Aber ob der Völkerapostel sich da wirklich richtig verstanden fühlen würde? Geht es tatsächlich bloß darum, den Leuten das zu servieren, was nach ihrem persönlichen Geschmack ist? Im Grunde reproduziert dieser Ansatz doch bloß das Konzept der milieusensiblen Pastoral, von dem andere Vordenker pastoraler Erneuerungsprozesse sich schon wieder abzuwenden beginnen. Womit ich nicht sagen will, dass mir deren Vorstellungen nun unbedingt besser gefallen. Zu fragen bleibt aber: Wenn man jeder Zielgruppe ein passendes Angebot auf den Leib schneidert, wo bleibt dabei das Verbindende und Verbindliche? Bleibt man bei dem von Jonas Goebel gewählten Vergleich, kann man immerhin sagen: Es handelt sich bei allen ausgeschenkten Getränken um Bier. Aber genügt das als gemeinsamer Nenner? 

Ich will mich damit durchaus nicht grundsätzlich gegen eine Vielfalt von Stilen in der Gestaltung von Gottesdiensten aussprechen. Die gibt es in der katholischen Kirche ja auch. Ja, tatsächlich ist diese Vielfalt innerhalb der katholischen Kirche sogar sehr groß -- wovon man sich leicht überzeugen kann, wenn man an einem Sonntag zur Petrusbruderschaft und am nächsten Sonntag zur Charismatischen Erneuerung geht. Zum Beispiel. Trotzdem sind die wesentlichen Elemente der Heiligen Messe immer und überall dieselben -- zumindest sollte es so sein. Wie sieht das nun bei #einfachkirche aus? Wie wird da die Gemeinschaft der Gläubigen über die Grenzen der jeweils unterschiedliche "Angebote" bevorzugenden Zielgruppen hinweg gewährleistet? Ich bezweifle, dass Jonas Goebel darauf eine überzeugende Antwort hat. An anderer Stelle erklärt er, #einfachkirche müsse „frei in ihrer Form“ sein, „weil es keine heiligen Formen von Kirche gibt, die es zu bewahren oder zu beschützen gälte“. Na ja, ich sag mal so: Ich kann mir schon vorstellen, wie man als Mitglied und Mitarbeiter einer evangelischen Landeskirche in Deutschland auf sowas kommt. Falsch ist es trotzdem, und man bräuchte eigentlich noch nicht einmal gläubig zu sein, um das zu kapieren. Heiliges verlangt nach einer heiligen Form, das ist geradezu eine anthropologische Konstante durch alle Zeiten und Weltgegenden hindurch. In diesem Zusammenhang verweist Rod Dreher  in der "Benedikt-Option"  auf ein Buch des Kulturanthropologen Paul Connerton mit dem Titel "How Societies Remember", das ich wohl mal im Ganzen lesen sollte. Wie dem auch sei, ich neige zu der Annahme, die grassierende Formlosigkeit, die im theologisch "liberalen" Lager gern geradezu als eine "Errungenschaft" betrachtet oder dargestellt wird,  rühre von einem Verlust des Sinns für das Heilige her. Das verschwindet irgendwie aus der religiösen Praxis und wird durch "einen Topf voll Message" ersetzt, wie Walker Percy es mal formulierte. Womit wir wieder bei Jonas Goebels Insistieren auf dem "Eigentlichen" wären, das die Kirche den Menschen zu geben habe: "unserer Botschaft". Ich würde ja sagen: Das Eigentliche am christlichen Glauben ist nicht irgendeine Botschaft, sondern Jesus Christus persönlich, wahrer Mensch und wahrer Gott. Dazu, wie die Kirche es den Menschen ermöglichen kann, Ihm persönlich zu begegnen, habe ich unter dem Label #einfachkirche bisher noch nichts gefunden. 

Aber möglicherweise ist das auch alles nur eine Momentaufnahme, und nächste Woche sieht Jonas Goebels Vision von #einfachkirche schon wieder ganz anders aus, weil er in der Zwischenzeit einen neuen Einfall gehabt hat. So jedenfalls scheint mir sein Blog insgesamt aufgebaut zu sein: Er ärgert sich über etwas in der Kirche oder im Zusammenhang mit seiner Arbeit für die Kirche, dann kommt er nach Hause und bloggt darüber, dass man das ganz anders machen müsse; oder er erlebt außerhalb der Kirche etwas, das ihm gefällt, dann kommt er nach Hause und bloggt über die Frage, ob man so etwas Ähnliches nicht auch in der Kirche machen könnte. 

Dieser Ansatz ist ja nicht unbedingt unsympathisch. Dass Jonas Goebel mit dem Zustand "von Kirche", wie er ihm in seiner Tätigkeit als Vikar in einer evangelischen Landeskirche tagtäglich begegnet, unzufrieden ist – wer wollte es ihm verübeln? Dass er keinen "Masterplan" dafür hat, wie man alles, alles besser machen könnte, ist ihm ebenfalls bzw. erst recht nicht vorzuwerfen. Und wenn ich den Eindruck habe, dass die diversen Ideensplitter, aus denen er seine Vision von #einfachkirche zusammenzubasteln versucht, nicht so recht zusammenpassen oder einander tendenziell sogar widersprechen – na schön, das kann ja auch an mir liegen. Jedenfalls könnte ich mir ohne Weiteres vorstellen, dass mancher Leser diesen Eindruck auch bei dem haben mag, was ich so alles zusammenschreibe, wenn der Tag lang ist. Möglicherweise ergeben diejenigen Ideenfragmente aus dem Brägen des Jonas Goebel, die mir so disparat erscheinen, in seiner eigenen Wahrnehmung sehr wohl ein einigermaßen kohärentes Bild; vielleicht habe ich das "missing link", mit dessen Hilfe sich alles stimmig zusammenfügt, auf seinem Blog einfach noch nicht entdeckt, vielleicht hat er dieses "missing link" auch noch gar nicht explizit schriftlich ausformuliert, möglicherweise weil er es selbst bislang eher nur erahnt, als dass es ihm in ausreichendem Maße klar wäre, um darüber zu schreiben. All das könnte ich sehr gut nachvollziehen. 

Nachdem ich somit meine eingangs infrage gestellte wohlwollende Grundhaltung wiedergefunden habe, muss ich ehrlicherweise dennoch einräumen, dass ich davon ausgehe, dass Jonas Goebel und ich in nahezu jeder kirchenrelevanten Streitfrage auf verschiedenen Seiten der Frontlinie stehen würden. Schon allein mit Blick auf Stichworte wie "Identität-Relevanz-Dilemma", "Heiliger Rest"... you name it. Wobei diese Themen im Grunde nur Spitzen eines Eisbergs sind: Was dabei eigentlich im Hintergrund steht, ist der Umstand, dass wir wohl erhebliche Mühe hätten, uns darüber zu verständigen, was die Kirche ist und wozu sie da ist. Das hat natürlich auch und sicher nicht zu allerletzt mit konfessionellen Unterschieden zu tun, aber durchaus nicht nur. Ja, im Grunde weiß ich gar nicht, ob ein Jonas Goebel mit jemandem wie mir überhaupt würde reden wollen. Aber dann liest man auf juhopma.de eben auch – wenn man lange genug sucht oder beim planlosen Hin-und-her-Klicken einfach Glück hat – gänzlich Unerwartetes und Überraschendes. Beispielsweise die Geschichte, wie der Jonas in der S-Bahn zufällig neben einem Hamburger Original sitzt: 
"Wer aus Hamburg kommt, der kennt vermutlich diesen Mann. Er steht gerne in der belebtesten Einkaufsstraße Hamburgs [...] und spricht laut [...] über Gott, die Bibel und dass es Zeit ist an diesen Gott zu glauben.
Ich habe noch niemanden getroffen, der positiv über diesen Mann spricht. Meine eher nicht zur Kirche gehenden Freunde finden ihn komisch. Die eher zur Kirche gehenden Freunde meistens peinlich. Manche finden ihn auch richtig schlimm. Und ich kann das durchaus verstehen.
Er wirkt nicht gerade sympathisch. Eher einschüchternd. Seine Wortwahl scheint drastisch. Es fallen Worte wie 'Umkehr' oder 'Endgericht'. Ich habe ihm noch nie lange zugehört, deswegen weiß ich gar nicht, ob er richtig Predigten hält oder stundenlang das gleiche ruft. Ich weiß auch nicht, ob er nicht auch zwischendurch 'schöne' Sachen sagt. Bei mir ist der Eindruck hängen geblieben, dass er eher droht, als einzuladen." 
Kurzkommentar zum gefühligen Pastoralsprech des letzten Absatzes: Seufz bzw. gähn. Wobei ich mir gut vorstellen kann, dass dieser Mann auch mir nicht sonderlich sympathisch wäre – und dass ich auch gegen seine "Theologie", sofern von einer solchen die Rede sein kann, meine Einwände hätte. Aber um den Mann geht es im Grunde gar nicht – sondern eher darum, dass Jonas ihn als Kontrastfigur zu sich selbst in Szene setzt. Und dass er sich durch diesen Kontrast infrage stellen lässt

Zwar versichert er seinen Lesern: "Keine Sorge, ich will kein 'Hardliner' werden. Ich werde mich in diesem Leben auch nicht auf die Straße stellen und laut aus der Bibel vorlesen." Aber: "Aber ich werde die Sorge nicht los, dass wir als Kirche (und ich als Teil dieser Kirche) [...] uns selber weichgespült haben." Und weiter: 
"Jedes Mal, wenn ich diesen Mann in Hamburg sehe, dann denke ich an Paulus. Den ersten großen christlichen Missionar. Und an die Jünger von Jesus. Und frage mich, wer von uns beiden Paulus und den Jüngern ähnlicher ist.
Und ich frage mich, ob es nun eher gut oder schlecht ist, wenn man den Jungs von damals heute (noch) ähnlich ist." 
Dass er sich das fragt, finde ich zwar komisch – ich würde sagen, die Frage beantwortet sich von selbst –, aber es ist wohl allemal besser, als wenn er sich das nicht fragen würde. Immerhin bringt diese Begegnung ihn dazu, zu erwägen, "dass wir eigentlich das gleiche Ziel haben. Wir wollen beide das Gleiche. Wir scheinen beide von der 'Frohen Botschaft' überzeugt zu sein." Darauf lässt sich doch aufbauen! Irgendwo, so scheint mir, steckt in dem jungen Mann zwischen all dem Unausgegorenen doch ein gewisses Potential. 

Kurz und gut: Ich muss sowieso irgendwann mal wieder nach Hamburg, ich habe schließlich Familie dort. Und wenn ich dann mal dort bin, würde ich mich durchaus gern mal mit dem Jonas Goebel bei einem Bier zusammensetzen. Wenn's unbedingt sein muss, darf es auch ein Craft Beer sein. 



Montag, 2. Juli 2018

Für neues Leben in alten Pfarrhäusern!

Unlängst habe ich hier über den von der Synode der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Oldenburg beschlossenen drastischen Stellenabbau und dessen absehbare Auswirkungen auf die Kirchengemeinden meiner alten Heimat Butjadingen berichtet. Ein Aspekt, auf den ich dabei nicht eingegangen bin, den ich aber in einem anderen Zusammenhang schon mal angesprochen habe und der mich in Hinblick auf "Benedikt-Options"- bzw. "Punkpastoral"-Projekte insgesamt stark beschäftigt,  betrifft den Umstand, dass die Streichung bzw. Zusammenlegung von Pfarrstellen mittelbar auch einen Leerstand kirchlicher Immobilien zur Folge hat. Das betrifft wohl nicht so sehr die Kirchengebäude selbst - bei den evangelischen Kirchen in Butjadingen handelt es sich überwiegend um noch aus vorreformatorischer Zeit (anders ausgedrückt: aus dem Mittelalter) stammende Baudenkmäler, die schon aus kulturgeschichtlichen Gründen erhaltenswert sind; und solange die Kirche für den Unterhalt dieser Gebäude aufkommen muss, wird sie sie auch zu nutzen wissen -- und sei es für Orgelkonzerte. (Auf ein konkretes Beispiel gehe ich weiter unten ein.) Anders sieht es  etwa bei den Pfarrhäusern aus. Wie berichtet, ist die Zahl der Pfarrstellen in Butjadingen seit den 90er Jahren von sechs auf 3,25 geschrumpft und soll bis 2030 auf 1,75 weiterreduziert werden. Und wo kein Pfarrer mehr ortsansässig ist, da braucht man auch kein Pfarrhaus mehr. 

So steht etwa im beschaulichen Dörfchen Langwarden am nördlichen Ende der Halbinsel Butjadingen das ehemalige Pfarrhaus leer, seit Pfarrer Hartmut Blankemeyer im Frühjahr 2017 in Ruhestand gegangen ist. Laut einem Bericht der Nordwest-Zeitung hatten seither "die sechs Butjadinger Kirchengemeinden zusammen mit Kreispfarrer Jens Möllmann die Idee entwickelt, als Kooperationsprojekt das Pfarrhaus in Langwarden zu renovieren" und es neuen Nutzungszwecken zuzuführen -- unter anderem sollte das "17 Zimmer umfassende Haus" als Unterkunft für die Teams der Urlauberseelsorge in der Sommerferiensaison dienen. 

(Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht ganz uninteressant, dass der erwähnte Kreispfarrer Möllmann unlängst einen meiner Vorträge zur "Benedikt-Option" - in der "Oase" in Tossens - besucht und sich sehr engagiert und aufgeschlossen an der Diskussion beteiligt hat; ich hatte einen ziemlich positiven Eindruck von ihm.) 

Aber jetzt die schlechte Nachricht, laut dem Bericht der NWZ:
"Das Projekt [ist] so weit gediehen, dass eine konkrete Planung sowie eine Kostenaufstellung vorliegen [...]. Die Renovierung des Pfarrhauses würde 150 000 Euro kosten, von denen die Kirchengemeinde Langwarden aus Rücklagen alleine 80 000 Euro gestemmt hätte. Die Landeskirche hätte aus einem Kooperationsfonds lediglich 54 000 Euro dazugeben müssen. Der Kirchensteuerbeirat in Oldenburg habe Butjadingen diese Mittel aber mehrheitlich verweigert [...]. So wird aus der Renovierung des Pfarrhauses vorerst nichts". 
Mein erster Gedanke war: Eigentlich ist sowas ein Fall für Instandbesetzung. Aber dann dachte ich mir, man könnte ja zur Abwechslung auch mal eine nicht ganz so radikale Lösung ins Auge fassen. Zumal die örtliche Kirchengemeinde ja schon einen nicht unbeträchtlichen Teil der veranschlagten Renovierungskosten zusammengebracht hat. Ganz schlau werde ich aus den in der NWZ genannten Zahlen zwar nicht: Wenn die Kirchengemeinde Langwarden 80.000 Euro aufbringt und die Landeskirche 54.000 hätte zuschießen sollen, dann fehlen nach meiner Berechnung immer noch 16.000 zur vollen Summe; andererseits: Wollten die anderen Butjadinger Kirchengemeinden und der Kirchenkreis sich nicht auch irgendwie beteiligen? Sollten die vielleicht die fehlenden 16.000 Euro auftreiben? -- Wie dem auch sei, gehen wir mal von einem Fehlbetrag von irgendwas zwischen 54.000 und 70.000 Euro aus. Das ist ja "nicht die Welt", wie man so sagt. Nun stelle man sich mal vor, eine mehr oder weniger explizit #BenOp-mäßig gesonnene Initiative brächte diesen Betrag auf - sei es durch Crowdfunding, Lottogewinn, Erbschaft oder wie auch immer - und erklärte rotzfrech: "Wir beteiligen uns an den Renovierungskosten, wenn wir dafür dann auch an der Nutzung des Hauses beteiligt werden." Wie eine solche "geteilte Nutzung" konkret realisiert werden könnte - durch eine Aufteilung der Räume (immerhin sind es 17 Zimmer!) oder eher im Sinne von "Timesharing" -, wäre sicher verhandelbar, ebenso die Frage einer Beteiligung an den laufenden Betriebskosten der Immobilie. 

Viel interessanter ist ja erst einmal die Frage: Wie bzw. wofür könnte oder sollte man das Haus überhaupt nutzen? Ich nehme mal an, eine Nutzung als Selbstversorger-Gästehaus, wie sie im zur katholischen Pfarrei St. Willehad gehörenden "Rat-Schinke-Haus" im Nachbardorf Burhave praktiziert wird, wäre insofern attraktiv, als das Haus auf diese Weise unter dem Strich sogar Geld einbringen könnte. Wesentlich interessanter fände ich allerdings ein Nutzungskonzept, wie es die Nightfever-Mitbegründerin  Katharina Fassler in ihrem Beitrag zum "Mission Manifest" - "Wir brauchen eine 'Demokratisierung' von Mission" - unter dem Schlagwort "Der Traum vom lebendigen Pfarrhaus" skizziert. -- Ehrlich gesagt war ich ziemlich verblüfft, als meine Liebste mir die betreffende Passage aus dem "Mission Manifest" vorlas, denn schon zuvor hatten wir mehrfach miteinander über ähnliche Ideen beratschlagt. Andeutungsweise hatte ich auch schon mal was darüber gebloggt. Lassen wir trotzdem erst mal Katharina Fassler zu Wort kommen: Ihre "Vision", die sie auch als "persönlichen Traum" bezeichnet, dreht sich um
"belebte, lebendige Pfarrhäuser […] voller Familien [...], die den besonderen Ruf spürten, verlassenen und verwaisten Pfarrkirchen in den unzähligen Dörfern neues Leben zu schenken. Gegen eine geringe Miete dürfen die Ehepaare, mit oder ohne Kinder, in den dazugehörigen Pfarrhäusern wohnen, während sie ihren ganz normalen Berufen nachgehen. Den Ehepaaren ist ein geistliches Leben wichtig. [...] Nun tun sie nichts anderes, als in ihrer Freiheit ihr geistliches Leben für die Dorfgemeinschaft zu öffnen und diese daran teilhaben zu lassen. Bibelkreis, Stundengebet, Lobpreis, Rosenkranz, Kinderkatechese, Anbetung. Je nach Spiritualität der Familie oder auch mehrerer Familien, die sich der Kirche zur Verfügung stellen, gibt es verschiedene geistliche Angebote. Der Mehraufwand für die Ehepaare ist gering. […] Sie richten eine persönliche Gebetszeit am Tag ein [...]. Nun dürfen einfach noch andere dazu kommen, wenn die Glocken läuten. […] Je nach Talent und Ausbildung bereitet man die Heilige Messe auch musikalisch vor. Es muss nicht immer die Orgel sein, auch einfaches A-cappella-Singen oder eine Gitarre reichen aus. Vielleicht findet sich auch ein kleines Orchester … Im Dorf hat es sich mittlerweile herumgesprochen, dass sich jeder in der wiederbelebten Kirche einbringen kann und auch dringend gebraucht wird. […] Das Wiederbeleben der verwaisten Dorfkirche, in der bis jetzt nur noch alle zwei Wochen ein Gottesdienst stattfand, ist ein Plus, aber kein Muss. In ihr passiert das, was machbar ist. Neue Wege und Ideen, Strukturen und Möglichkeiten eröffnen sich. […] Gemeinsam mit anderen Gläubigen sucht das Ehepaar im Ort begabte und zu begeisternde Mitarbeiter in der Pfarrei. Vielleicht finden sie jemanden, der gerne ältere und kranke Menschen besucht, das Kirchengebäude pflegt oder ein Mütterfrühstück organisiert." 
Wenn - wovon ich eigentlich ausgehe - an dem Pfarrhaus ein nicht allzu kleines Grundstück mit dranhängt, könnte man zudem noch einen Selbstversorgergarten anlegen. (Man frage mich bitte nicht, wo mein in jüngster Zeit immer größer werdendes Interesse an Gartenbauprojekten eigentlich herkommt. Als Kind habe ich Gartenarbeit gehasst. Na ja, so ändern sich die Zeiten.) 

Katharina Fassler geht in ihrem Konzeptentwurf explizit von katholischen Pfarrhäusern aus, aber ich sehe eigentlich keinen Grund, warum nicht auch überkonfessionelle Kooperationen möglich sein sollten. Nebenbei bemerkt schreibe ich diesen Artikel natürlich nicht nur in der Absicht, meine Leser dazu zu überreden, als "Dorfmissionare" ausgerechnet nach Langwarden zu ziehen, sondern auch, um sie zu motivieren, über Möglichkeiten ähnlicher Projekte an anderen Orten nachzudenken.  Kommen wir trotzdem nochmals auf das konkrete Beispiel Langwarden zurück. Was den konfessionellen Aspekt angeht: Die nächstgelegene katholische Kirche ist rund fünfeinhalb Kilometer entfernt, im Nachbardorf Burhave. Die seit der Reformation evangelische Langwarder Kirche St. Laurentius wurde im 12. Jahrhundert im romanischen Stil aus Tuffstein erbaut und "beherbergt eine rund 350 Jahre alte Orgel, die zu den bedeutendsten Instrumenten Norddeutschlands zählt". Letzterem Umstand ist es zu verdanken, dass in dieser Kirche alljährlich eine Konzertreihe unter dem Titel "Langwarder Orgelsommer" stattfindet. Übrigens wurde die Kirche von Spätsommer 2017 bis Frühjahr 2018 "für eine sechsstellige Summe" aufwendig renoviert; wie abermals die NWZ berichtet, betrafen die Renovierungsarbeiten "das Orgelprospekt ebenso [...] wie die Decke, die Wände und das Mobiliar" und wurden finanziert "durch Zuwendungen vom Bund sowie von der Europäischen Union", aber auch durch "eigene Mittel aus der Baurücklage" der Kirchengemeinde. Während der Renovierung fanden die Gottesdienste "in den Nachbarkirchen und das eine oder andere Mal auch an ungewöhnlichen Orten" statt, womit die Kirchengemeinde nach Einschätzung von NWZ-Redakteur Detlef Glückselig "aus der Not eine Tugend" gemacht habe -- vielleicht aber auch eine Untugend. -- Übrigens erzählte mir der Diakon der katholischen Pfarrei St. Willehad, im Zuge der Renovierung seien in der Langwarder Kirche unerwartet Fresken aus vorreformatorischer Zeit freigelegt worden -- was die weiteren Arbeiten nicht unerheblich verkompliziert habe...

Der Reiz der weiten, flachen Landschaft, die sich von Langwarden aus in südlicher Richtung erstreckt, soweit das Auge reicht, erschließt sich indes erfahrungsgemäß nicht Jedem, aber ich persönlich find's sehr schön dort.

Sonnenuntergang, gesehen vom Deich bei Langwarden; Bildquelle und Lizenz siehe hier.

Weitere bemerkenswerte Informationen über Langwarden hat Ludwig Strackerjans erstmals 1867 erschienenes Standardwerk "Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg" zu bieten (im Folgenden zitiert nach der 2. Auflage, Oldenburg 1909, Bd. II, S. 392, Abschnitt 584c): Strackerjan berichtet, der volkstümlichen Überlieferung zufolge habe
"[z]u Langwarden [...] ehemals außer der jetzigen Kirche noch eine zweite Kirche gestanden, welche die Brüderkirche hieß, weil sie von zwei Brüdern erbaut war. Sie stand auf dem alten Kirchhofe, welcher der Riesenkirchhof benannt wird, weil dort Riesen begraben liegen. Ein steinerner Sarg, den man dort ausgegraben, liegt bei der Pastorei und heißt der Riesensarg." 
Man mag freilich darüber spekulieren, ob der Name "Brüderkirche" - vorausgesetzt, es hat diese sagenhafte Kirche tatsächlich gegeben -  nicht tatsächlich einen anderen Hintergrund gehabt hat; diese Vermutung wird besonders dadurch nahegelegt, was Strackerjan über das sogenannte "Steinhaus" zu berichten weiß, das als das wahrscheinlich älteste profane Gebäude der Wesermarsch gilt und heute ebenfalls der Kirchengemeinde Langwarden gehört, die es als Gemeindehaus nutzt. Dieses Steinhaus, so Strackerjan, solle
"ein Teil eines ehemaligen Mönchsklosters gewesen sein und durch einen unterirdischen Gang mit dem Riesenkirchhofe und weiter unter der Straße hin mit der jetzigen Kirche in Verbindung gestanden haben".
So, liebe Leser: Habe ich Euch Langwarden jetzt ausreichend schmackhaft gemacht? Falls nicht, hier noch ein letzter Hinweis: Ganze drei der Nachbardörfer besitzen einen Badestrand...




Samstag, 30. Juni 2018

Ein Streit der Königinnen in Friedrich-August-Hütte

Am Tag meiner Abreise aus Nordenham kam ich am Schaukasten der Nordwest-Zeitung vorbei, und dabei fiel mein Blick auf eine dramatische Überschrift im Lokalteil: "Ex-Vorsitzende sieht schwarz für FAH". Wieder einmal eine dieser für den Lokaljournalismus nicht ganz untypischen Überschriften, die dem Uneingeweihten auf den ersten Blick nicht so richtig verraten, worum es überhaupt geht. Nun ja, das Kürzel "FAH" steht in Nordenham für "Friedrich-August-Hütte", eine nach dem letzten regierenden Großherzog von Oldenburg benannte, Anfang des 20. Jhs. entstandene Industriesiedlung im Stadtnorden. Die düstere Einschätzung in der Überschrift bezieht sich jedoch nicht auf den Ortsteil als ganzen, sondern - wie ein Foto der 1966 erbauten evangelisch-lutherischen Pauluskirche andeutet - auf die örtliche Kirchengemeinde. Die genauer gesagt nur einer von zwei Pfarrbezirken der Evangelisch-lutherischen Gemeinde Blexen ist. Und da gibt es, wie der von Horst Lohe verfasste Artikel verrät, "[o]ffenbar [...] seit einigen Jahren einen Konflikt. Jetzt ist er eskaliert." 

Ausgelöst hat diese Eskalation die in der Überschrift genannten "Ex-Vorsitzende", nämlich Jutta Molitor, die "18 Jahre lang [...] dem Kirchenrat" der Gemeinde Blexen angehört hat. "Von 2012 bis 2015 war sie sogar Vorsitzende. Während der fast einjährigen Vakanz der beiden Pfarrstellen in FAH und in Blexen im Jahr 2012 hat Jutta Molitor weitgehend selbstständig die laufenden Geschäfte geleitet." Dann jedoch, am 1. Oktober 2012, wurde "Anke Claßen Pfarrerin in FAH und ihr Ehemann Dietmar Reumann-Claßen Pfarrer in Blexen". Und damit fingen die Konflikte offenbar an. "Bei der Neuwahl am 11. März dieses Jahres hat Jutta Molitor nicht mehr für den Kirchenrat kandidiert" -- und zwar, weil sie laut eigener Aussage die Arbeit der mittlerweile nicht mehr ganz so neuen Pfarrerin "nicht mehr ertragen" konnte. Damit nicht genug: "Ihr Ehemann Stephan Molitor (53) ist aus Protest im Frühjahr aus der Kirche ausgetreten." Die Eheleute erklären, sie "sehen schwarz für die Zukunft des Pfarrbezirks FAH. Pfarrerin Anke Claßen macht die Gemeinde kaputt". 

An dieser Stelle unterbreche ich mal. Ich kenne keine der beteiligten Personen und habe von den Zuständen in der evangelischen Kirchengemeinde Blexen-FAH nicht die geringste Ahnung. Vielleicht kann der eine oder die andere Leser/-in etwas Licht ins Dunkel bringen (ich werde ja erfahrungsgemäß auch und nicht zuletzt im Raum Nordenham fleißig gelesen). Jedenfalls habe ich bis auf Weiteres überhaupt keine Veranlassung, in diesem Konflikt irgendwie Partei zu ergreifen. Mir fallen lediglich ein paar Dinge auf, und zu denen möchte ich die eine oder andere Anmerkung vom Stapel lassen. 

(aus der Gartenlaube, Jg. 1891, nach einem Gemälde von F. Kirchbach. Gemeinfrei.) 
"Einige der Vorwürfe" des Ehepaars Molitor gegen die Pfarrerin - es gibt demnach also offenbar noch mehr - fasst Horst Lohe in der NWZ zu sechs bis sieben Punkten zusammen, aber diese Zusammenstellung sieht nach einem ziemlichen Durcheinander aus. Ich versuche da mal ein bisschen Ordnung reinzubringen. Die wohl gewichtigsten Vorwürfe - die "Gottesdienste seien schlecht vorbereitet", und unter Pfarrerin Claßens Amtsvorgänger Lars Löwensen "habe es im Unterschied zu heute ein 'fantastisches Gemeindeleben' gegeben" - wirken auf mich recht vage; darüber, wie ein gut vorbereiteter Gottesdienst auszusehen hätte und was ein gutes Gemeindeleben ausmacht, dürfte es durchaus unterschiedliche Ansichten geben, daher kann zumindest ich mir nicht recht vorstellen, was die Molitors hier konkret meinen. Wie schon gesagt: Vielleicht können Leser hier zur Aufklärung beitragen. -- Andere Kritikpunkte wirken eher kleinlich und gesucht. So will es mir zum Beispiel nicht recht einleuchten, wieso es der Pfarrerin übel genommen wird, dass sie im Rahmen eines "Austauschprogramm[s] mit Afrika [...] im Frühjahr 2014 für vier Wochen" nach Ghana gereist ist -- und dies, so liest es sich jedenfalls in der NWZ, "[o]bwohl sie [..] aus einem anderem Bundesland (aus Duisburg in Nordrhein-Westfalen) nach Nordenham gewechselt sei". Was hat da das eine mit dem anderen zu tun? Soll das heißen, vom Niederrhein an die Unterweser sei schon Weltreise genug, da müsse man nicht auch noch nach Ghana? Oder was?

Erscheinen die Vorwürfe gegen Pfarrerin Claßen also alles in allem wenig überzeugend, dann liegt es umso näher, die eigentlichen Ursachen des Konflikts woanders zu suchen. Zum Beispiel eben darin, dass Jutta Molitor die Belange der Kirchengemeinde während der Vakanz der beiden Pfarrstellen fast ein Jahr lang "weitgehend selbstständig" verwaltet hat. Da kann es schwer fallen, Leitungsfunktionen wieder abzugeben -- besonders wenn man mit der neuen Chefin einfach "nicht kann". "Die Pfarrerin habe sie zu wenig zu Rate gezogen und sie nicht einbezogen in wichtige dienstliche Angelegenheiten", beklagt sich Jutta Molitor. "Anke Claßens Vorgänger hätten sich anders verhalten."

Letztlich also alles nur ein Fall von verletzter Eitelkeit? Man könnte den Eindruck haben. Zu Stephan Molitor übrigens nur so viel: Immer wenn ich höre oder lese - und so selten kommt das gar nicht vor -, dass jemand aus Unzufriedenheit mit dem Pfarrer bzw. der Pfarrerin, anderen Gemeindemitgliedern, der Organistin, dem Blumenschmuck in der Kirche oder der Tatsache, dass er nicht mehr (wie früher) auf dem Kirchenvorplatz parken darf, aus der Kirche austritt, verfalle ich in zwanghaftes Kopfschütteln. Präziser gesagt, ich frage mich, was das eigentlich rückblickend über die bisherige Motivation, Kirchenmitglied zu sein, aussagt. Als Katholik räume ich freilich ein, dass ein solches Verhalten vor dem Hintergrund eines protestantischen Kirchenverständnisses um einige Grade weniger schräg ist, als es bei einem katholischen Kirchenverständnis wäre. Und ehe sich jetzt jemand aufregt, weil er diese Einschätzung falsch versteht, versuche ich sie mal möglichst knapp zu erläutern: Nach protestantischem Verständnis ist eine Vereinigung bzw. Körperschaft, die sich Kirche nennt, lediglich eine Gemeinschaft von Gläubigen; für den Katholiken ist seine Kirche DIE Gemeinschaft DER Gläubigen. Das ist ein bedeutender Unterschied. Für den Katholiken ist die Zugehörigkeit zur Kirche Teil seines Glaubensbekenntnisses; der Protestant bekennt sich im Credo zwar auch zur "heiligen christlichen Kirche", versteht darunter aber eher eine ideelle Größe und nicht notwendigerweise die Landeskirche oder den Gemeindeverband, in der bzw. dem er formell Mitglied ist. So, Ende des Exkurses. 

Andererseits, und da ich ja wie gesagt eigentlich nicht die Absicht habe, Partei zu ergreifen, muss ich auch sagen: Dass die zwei Pfarrstellen einer Gemeinde an ein Ehepaar vergeben werden, erscheint mir, gelinde gesagt, ungewöhnlich -- und geradezu wie eine Garantie für böses Blut. Allerdings werden die Pfarrer in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Oldenburg meines Wissens von den Gemeinden gewählt. Demnach wäre die Gemeinde also selbst schuld. Noch heikler wird es jedoch,  wenn die Pfarrerin und Pfarrersfrau obendrein auch noch - wie im Sommer 2015 geschehen - zur Vorsitzenden des Gemeindekirchenrates gewählt wird. In einer Kampfabstimmung gegen die bisherige Vorsitzende Silvia Molitor. Die nun argwöhnt, "dass offenbar Blexer Kirchenratsmitglieder ein abgekartetes Spiel mit dem Ehemann der Pfarrerin, mit Pfarrer Dietmar Reumann-Claßen betrieben hatten".

Pfarrerin Claßen äußert sich indes auf Anfrage der NWZ "verwundert" über das Vorgehen ihrer Gegnerin, "an den Kreispfarrer und den Oberkirchenrat zu schreiben und jetzt an die Öffentlichkeit zu treten. Die einzige Zielrichtung, die ich in ihrem Handeln erkennen kann, ist die, mir und der Gemeinde zu schaden."

Nicht so recht deutlich wird aus dem Presseartikel, ob die Eheleute Molitor bei ihrer Kritik an der Pfarrerin einen signifikanten Teil der Gemeinde auf ihrer Seite haben oder ob es sich lediglich um einen privaten Rachefeldzug handelt. Man könnte denken, wäre Letzteres der Fall, dann würde es nicht in der Zeitung stehen; aber ich würde sagen, bei den Gepflogenheiten der Lokalpresse ist darauf nicht unbedingt Verlass.

Andererseits wiederum hat, wie mir bei einer früheren Gelegenheit aus vertraulicher Quelle mitgeteilt wurde, "Pfarrervergrämung" - oder anders ausgedrückt: Mobbing gegen neu ins Amt eingeführte Geistliche durch Cliquen alteingesessener und einflussreicher Gemeindemitglieder - "in der Wesermarsch leider Tradition". Natürlich gibt es so etwas woanders auch -- aus Berlin sind mir ebenfalls ein paar solcher Fälle bekannt, wenn auch größtenteils nur vom Hörensagen. Aber die Gemeinden der Wesermarsch scheinen unter Pfarramtskandidaten besonders berüchtigt und gefürchtet zu sein. Meine anonyme Quelle sprach in diesem Zusammenhang von
"den Sturköpfen vor Ort [...]. Die mobben mit perversen Tricks jeden raus, der irgendwann mal etwas anderes sagt oder es wagt, seinen Horizont weiter zu ziehen als bis zum Watt. [...] Und die Presse sitzt natürlich dort auch in den jeweiligen Kirchenvorständen und Pfarrgemeinderäten..." 
Besonders Letzteres ist ein interessanter Hinweis, denn NWZ-Redakteur Horst Lohe, der redaktionsintern offenbar für die Kirchenberichterstattung zuständig ist, war am letzten spektakulären Fall von Pfarrervergrämung in Nordenham tatsächlich persönlich beteiligt, nämlich in seiner Eigenschaft als Mitglied des Kirchenvorstands der katholischen Pfarrei St. Willehad.

Bemerkenswert erscheint, dass im aktuellen Fall der Oberkirchenrat in Oldenburg entschieden hinter der angegriffenen Pfarrerin zu stehen scheint. Die für Personalangelegenheiten zuständige Oberkirchenrätin Annette-Christine Lenk lobt Pfarrerin Claßen auf Anfrage der NWZ als "eine hoch engagierte Pfarrerin", die "ihr Amt in hoher Professionalität und aller gebotene[n] persönliche[n] Distanz" ausübe -- und fügt hinzu:
"Uns ist durchaus bewusst, dass Pfarrerinnen und Pfarrer unserer Kirche auch Projektionsflächen sind und wir sie auch darin unterstützen müssen, nicht alle Erwartungen und Wünsche erfüllen zu können." 
Das scheint mir eine sehr profunde Aussage.

Abschließend noch einmal mein Aufruf an Leser oder Leserinnen, die über die Situation vor Ort besser bescheid wissen: Schreibt mir einen Kommentar -- auf Wunsch auch anonym!



Freitag, 29. Juni 2018

Der Alte Fritz als Fürst von Ostfriesland

...oder: Die Grenzen des aufgeklärten Absolutismus 

Wie berichtet, war ich jüngst mit Frau und Kind eine Woche lang in der schönen Wesermarsch, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Wie ich wohl auch schon mal erwähnt habe, liegt die Wesermarsch zwar in der Nähe von Ostfriesland, gehört aber nicht im eigentlichen Sinne zu Ostfriesland. Es gibt gewisse kulturelle Gemeinsamkeiten,  aber auch Unterschiede. So trinken die Bewohner der Wesermarsch zwar durchaus gern Ostfriesentee, machen aber nicht so ein Riesen-Trara darum. 

Wie ich gelesen habe, wurde die "Ostfriesische Teekultur" im Jahr 2016 zum "immateriellen Kulturerbe" erklärt. Da frage ich mich: "Was heißt hier immateriell? Irgendwer wird den Tee schließlich bezahlen müssen!" 

Und das ist, wenn man's genauer betrachtet, tatsächlich ein Problem. Schließlich wächst der Tee nicht in Ostfriesland, sondern muss importiert werden. 

Laut Tante Wiki werden in Ostfriesland jährlich (Stand: 2016) 300 Liter Tee pro Kopf konsumiert, was in etwa dem Elffachen des Pro-Kopf-Teekonsums im übrigen Deutschland entspricht.  Historisch gesehen verdanken die Ostfriesen ihre Bekanntschaft mit dem Tee ursprünglich der Nähe zu den Niederlanden, denen es Ende des 16. Jhs. erstmals gelungen war, mit eigenen Schiffen den Seeweg nach Indien (bzw. dem heutigen Indonesien) zurückzulegen. Ich besitze einen sehr spannenden Abenteuerroman über die erste erfolgreiche niederländische Ostindien-Expedition, aber das nur nebenbei.  Um 1610 brachten die Niederländer erstmals Tee nach Europa, der bald darauf auch den Weg nach Ostfriesland fand; zunächst wurden Aufgüsse der exotischen Blätter aber lediglich als Medizin verwendet. Um 1720 existierte in Ostfriesland jedoch bereits ein umfangreicher Teehandel, und der Konsum von Tee als Genussmittel griff im Laufe des 18. Jhs. mehr und mehr um sich. 

Und damit fingen, wie schon angedeutet, die Probleme an. Der damals vorherrschenden wirtschaftspolitischen Theorie des Merkantilismus zufolge war die Einfuhr von Konsumgütern aus dem Ausland in größerem Umfang nämlich eigentlich unerwünscht -- wegen des damit verbundenen Geldabflusses ins Ausland und der Schwächung der einheimischen Produktion. Und wer war es wohl, der aus diesem Grund den abenteuerlichen Versuch unternahm, den Ostfriesen das liebgewonnene Teetrinken wieder abzugewöhnen? Natürlich der Alte Fritz.

Ja, tatsächlich: der Alte Fritz, Friedrich II., König von Preußen, von der deutschnationalen Geschichtsschreibung auch "der Große" genannt. Der war nämlich seit 1744 auch Fürst von Ostfriesland. Wie es dazu gekommen war, ist eine Geschichte für sich: Die Ostfriesischen Landstände standen nämlich seit langem auf Kriegsfuß mit den einheimischen Fürsten aus dem Hause Cirksena, die das Land seit 1464 beherrschten, und da der seit 1734 amtierende Fürst Carl Edzard keine leiblichen Erben hatte, arbeiteten die Landstände unter Federführung des Magistrats der Stadt Emden einen Vertrag - die Emder Konvention - aus, die vorsah, dass, sollte der Fürst ohne Nachkommen sterben, der König von Preußen seine Nachfolge antreten sollte. Am 14. März 1744 wurde die Emder Konvention unterzeichnet; am 12. Mai desselben Jahres erlitt Fürstin Wilhelmine Sophie eine Fehlgeburt; vier Tage später erkrankte Fürst Carl Edzard nach dem Genuss eines Glases Buttermilch schwer und starb am 25. Mai im Alter von noch nicht 28 Jahren. Am 7. Juni marschierten die Preußen in Ostfriesland ein, am 23. Juni huldigten die Landstände Friedrich II. als neuem Landesherrn. Ob diese bemerkenswert rasche Abfolge der Ereignisse wirklich Zufall gewesen sein kann, ist in der Geschichtsforschung umstritten.

Jedenfalls verfügte Preußen nun erstmals über einen Nordseehafen, nämlich Emden; und dies weckte nun in Friedrich II. die Hoffnung, selbst groß in den Überseehandel einsteigen zu können. Zu diesem Zweck gründete er 1751 die "Königlich Preußische Asiatische Compagnie in Emden nach Canton und China", die Tee, Porzellan und Seide ins Land einführte. Unter diesen neuen Voraussetzungen war der Teekonsum der Ostfriesen plötzlich gut fürs Geschäft und wurde staatlicherseits gefördert; aber die Erfolgsgeschichte der Emder Handelskompanie war von kurzer Dauer. 1757 wurde Emden im Zuge des Siebenjährigen Krieges von französischen Truppen besetzt, was den Kompaniedirektor veranlasste, unter Mitnahme des flüssigen Kapitals und eines der vier Schiffe der Kompanie in die Niederlande zu flüchten; zwei weitere Schiffe wurden abgetakelt, das vierte, das sich gerade auf der Rückreise von China befand, kehrte unter diesen Umständen gar nicht mehr nach Emden zurück, sondern lief stattdessen Plymouth in England an. Im weiteren Verlauf des Krieges diente Ostfriesland noch mehrfach als Durchmarschgebiet verschiedener Armeen, 1761 wurde Emden erneut von den Franzosen eingenommen. Aber auch nach Kriegsende nahm die Kompanie ihre Tätigkeit nicht wieder auf und wurde schließlich 1765 aufgelöst.

Die Folge war, dass die Ostfriesen ihren Tee wieder von anderen europäischen Mächten beziehen mussten. Und das schmeckte dem Alten Fritz natürlich nicht.

Nicht in Emden, aber ungefähr zur selben Zeit: Eine Tea Party der besonderen Art.
(gemeinfrei
Die bald nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges einsetzenden Versuche des Monarchen bzw. der preußischen Verwaltung, die Einfuhr von Tee nach Ostfriesland zu reglementieren, zu beschränken oder ganz zu unterbinden und den Einheimischen gleichzeitig den Genuss von aus heimischen Pflanzen hergestellten Getränken schmackhaft zu machen, mündeten in den sogenannten "Teekrieg", über den ein weiter oben schon einmal verlinkter Wikipedia-Artikel zu berichten weiß: 
"So gab während dieser Zeit, 1778, die Königlich Preußische Polizeidirektion in Aurich beispielsweise einen Erlass heraus, in dem es hieß, durch das Teetrinken würden Gelder und Steuereinnahmen verschwendet, dem Staat Schaden zugefügt. Es wurde vorgeschlagen, besser Zitronenmelisse oder eine Petersilienart zu trinken, anstelle des 'Krautes' aus China. Gefordert wurde auch, mehr Bier zu brauen, da die Zutaten doch im eigenen Land in ausreichender Menge angebaut würden. Auf das Gesetz reagierte man in Ostfriesland mit verstärktem Schmuggel, zivilem Ungehorsam und heimlichem Teetrinken."
Heimliches Teetrinken. Das muss man sich mal vorstellen. Und weiter:
"Die ostfriesischen Landstände verfassten am 11. Mai 1779 einen Brief, in dem sie erklärten: 'Der Gebrauch des Thee und Caffe ist hierzulande so allgemein und so tief eingewurtzelt, dass die Natur des Menschen schon durch eine schöpferische Kraft müßte umgekehrt werden, wenn sie diesen Getränken auf einmal gute Nacht sagen sollte.' Nach weiteren zwei Jahren gab der König von Preußen frustriert sein Vorhaben auf und erlaubte seinen ostfriesischen Untertanen wieder den Genuss des 'chinesischen Drachengiftes'." 
Okay, zugegeben, das klingt alles hübsch skurril, und das ist auch der Hauptgrund dafür, dass ich dieses Thema hier aufgegriffen habe. Aber gleichzeitig ist es doch auch sehr bezeichnend. Nicht nur für die Hartnäckigkeit und Teeversessenheit der Ostfriesen, sondern auch und vor allem für die Neigung des sogenannten "aufgeklärten Absolutismus", den Leuten in alle Lebensbereiche hineinzuregieren -- in diesem Fall vor dem Hintergrund handfester wirtschaftspolitischer Interessen, aber doch auch, wie stets, mit der Attitüde, besser zu wissen, was gut für die Leute ist, als diese selbst. Der "Alte Fritz" gilt ja weithin als das Paradebeispiel eines aufgeklärten und aufklärerisch gesonnenen Monarchen, und das wohl nicht zu Unrecht; zu hinterfragen wäre aber, ob das tatsächlich eine positive Auszeichnung ist bzw. sein sollte. Ob es nicht vielleicht gerade Fritzens ungebremste Skrupellosigkeit war, die ihn zu einem prototypischen Monarchen der Aufklärung machte. Es heißt, im aufgeklärten Absolutismus sei das Selbstverständnis des Herrschers das des "ersten Dieners des Staates" gewesen; das klingt gut, aber verschwiegen wird dabei zumeist, dass der übrigen Bevölkerung in diesem Modell auch nur die Rolle weiterer "Diener des Staates" zugedacht ist. Der Staat ist nicht für die Menschen da, sondern die Menschen für den Staat: Der aufgeklärte Absolutismus ist eine frühe Erscheinungsform totalitärer Herrschaft, die die späteren Ausprägungen des Totalitarismus vorbereitet und in vielen Punkten bereits vorwegnimmt. 

Aber an den ostfriesischen Dickschädeln mit ihrer unbesiegbaren Leidenschaft für Tee hat sich der Alte Fritz dann doch die Zähne ausgebissen, ebenso wie später Napoleon und noch später die Nazis. Hat ja auch was Beruhigendes. 



Donnerstag, 28. Juni 2018

Die Musiker-Guerilla vom Klingenden Pfad

Auf YouTube gibt es eine Dokumentation mit dem vielversprechenden Titel "Peter Backhausen und Peter Janssens Band 1971 in Nicaragua". Der Film ist knapp eine halbe Stunde lang, aber obwohl ich ihn schon vor Monaten entdeckt habe, bin ich noch nicht dazu gekommen, ihn anzusehen. Ehrlich gesagt ist dafür wohl nicht in erster Linie Zeitmangel verantwortlich. Eher ist es wohl so, dass ich mir die unausweichliche Enttäuschung ersparen möchte, dass der Film gar nicht so sensationell ist, wie ich ihn mir vorstelle. Aber wer weiß? 

À propos "Wer weiß?": Ein Teil meiner Leserschaft wird an dieser Stelle wahrscheinlich denken "Peter Janssens kennen wir ja, aber wer ist dieser Peter Backhausen?". Ein anderer Teil ist vielleicht sogar so glücklich, nicht einmal Peter Janssens zu kennen. Den unvermeidlichen Peter Janssens, wie ich ihn gern nenne. Den Komponisten nicht tot zu kriegender Klassiker des "Neuen Geistlichen Liedes" (NGL) wie "Wenn das Rote Meer grüne Welle hat", "Unser Leben sei ein Fest", "Einer hat uns angesteckt" oder "Lied, das die Welt umkreist". Und natürlich des Agit-Pop-Juwels "Du kleine Löterin". Kurz gesagt, der 1998 verstorbene Janssens war ein, wenn nicht sogar der Pionier des NGL-Genres. 

Und Peter Backhausen? Der war mir zunächst einmal kein Begriff, aber ein Artikel der Westfälischen Nachrichten von 2009 klärte mich auf: 
"Ein Musiker durch und durch ist er. [...] Die Beatles sieht er als den Hauptgrund an, dass er begonnen hat, selber Musik zu machen, sagt der Wahl-Ottmarsbocholter". 
"Wahl-Ottmarsbocholter". Allein schon. 

Jedenfalls war Backhausen Anfang der 70er Jahre Schlagzeuger der Peter Janssens Band und gehörte dann, 1973, zusammen mit Karl-Georg "Steffi" Stephan und Karl Allaut alias "Karl Brutal" zur Originalbesetzung von Udo Lindenbergs "Panikorchester". Eine bemerkenswerte musikalische Vita -- allerdings verließ er Lindenbergs Begleitband schon nach eineinhalb Jahren wieder, aus familiären Gründen, heißt es. Die Schallplatten-Datenbank discogs führt vier Soloalben Backhausens aus den Jahren 1979-1993 auf; heute ist Peter Backhausen, dem Bericht der Westfälischen Nachrichten zufolge, hauptberuflich als Musikpädagoge tätig. Und Wahl-Ottmarsbocholter. 

1971 jedoch war er mit Peter Janssens in Nicaragua, und, ich deutete es bereits an, in meiner Phantasie sieht dieser Trip erheblich abenteuerlicher aus, als er es sehr wahrscheinlich in Wirklichkeit war. Ich stelle mir darunter so etwas ähnliches vor wie den Trip der Baader-Meinhof-Gruppe nach Jordanien im Jahr zuvor, nur mit Gitarren statt Knarren. Will sagen: Statt sich von den Sandinisten, wie die RAF-Gründergeneration durch die palästinensische Fatah, einen Crashkurs in bewaffnetem Untergrundkampf erteilen zu lassen, ließen Janssens, Backhausen und Co. sich lediglich im musikalischen Straßenkampf ausbilden -- um fortan, wie Wiglaf Droste es formulierte, "das Land mit einer Mischung aus sozialistischem Agitprop und christlicher Erweckungslyrik zu verheeren". 

Venceremos, oder?
(eigene Aufnahme) 
Ich wiederhole: Sehr wahrscheinlich ist diese Vorstellung völlig übertrieben. Aber immerhin verspricht Backhausen in seiner Beschreibung des Videos (das er wohlgemerkt selbst bei YouTube hochgeladen hat!) einen Besuch der "Kommune von Ernesto Cardenal, Priester, Dichter und Pazifist, 1979-1987 Kulturminister von Nicaragua" auf der Insel Solentiname; vielleicht war meine Assoziation also doch nicht so ganz falsch. Backhausen bezeichnet Cardenal als "Weggefährte[n] von Che Guevara und Fidel Castro" und schreibt ihm einen "großen Anteil am Sieg der Nicaraguanischen Revolution" gegen die Somoza-Diktatur im Jahr 1979 zu.

Aber unabhängig davon, was nun tatsächlich in diesem Film zu sehen ist, finde ich allein die Tatsache, dass es einen solchen Film gibt, einigermaßen bezeichnend für das, was mich an dem Phänomen NGL so fasziniert: Nicht so sehr die Musik als solche (wenngleich ich durchaus finde, dass ein Peter Janssens als Musiker und Komponist Einiges drauf hatte -- sehr viel mehr jedenfalls, als man denken könnte, wenn man seine Lieder nur aus Gottesdiensten kennt, in denen sie mit schleppender Orgel- oder blecherner Casio-Billig-Keyboard-Begleitung von rhythmisch und melodisch nicht besonders trittsicheren Gemeinden gesungen werden), sondern vielmehr die ganze politisch-theologisch-sozialpsychologische Gemengelage, aus der dieses kirchenmusikalische Genre sich speist und in der sich das vorherrschende Lebensgefühl der Baby-Boomer-Generation in den 1970er Jahren so getreulich widerspiegelt. Ich habe dieses Feld ja schon mal recht ausführlich beackert: Auf der einen Seite haben wir die bemerkenswert ironiefreie Schwärmerei der Wirtschaftswunderkinder für den Kommunismus, die sich innerkirchlich vor allem in Gestalt einer unkritischen Begeisterung für die Theologie der Befreiung artikulierte.  Die oben gezogene Parallele zwischen NGL und RAF ist bei aller Polemik und allem Sarkasmus nicht völlig aus der Luft gegriffen; man hatte durchaus gemeinsame Wurzeln in der 68er-Bewegung. Es lag einfach Revolution in der Luft, und um eine gerade eben schon verwendete Formulierung nochmals aufzugreifen: Die Einen kämpften dafür mit der Knarre, die Anderen nur mit der Gitarre. Nicht wenige Akteure der militanten linksradikalen Szene der Nach-68er-Jahre hatten einen kirchlichen Hintergrund; das vielleicht prominenteste Beispiel war die RAF-Mitanführerin Gudrun Ensslin, eine schwäbische Pastorentochter.

Und auf der anderen Seite haben wir die "Neue Innerlichkeit", eine amateurhaft-unausgegorene Psychologisierung und Sozialpädagogisierung aller Lebensbereiche, die sich auf religiös-spiritueller Ebene nicht selten in einer Neigung zu Esoterik, Synkretismus und Universalismus niederschlägt. Was mich übrigens daran erinnert, wie ich vor einiger Zeit mit meiner Liebsten - anlässlich eines gemeinsamen Besuchs in einem Fachgeschäft für Trekking-Bedarf - über die Frage diskutierte, was eigentlich aus den christlichen Hippies geworden sei. Denn die gab's ja schließlich mal -- wie man übrigens sehr schön in einem YouTube-Video zu Peter Janssens' Psychedelic-Rock-Nummer "Feuer" sehen kann. Zu den Bilddokumenten aus der christlichen Hippie-Bewegung, mit denen der Song illustriert wird, zählt auch ein Cover des Time Magazine vom 21. Juni 1971 mit dem Titelschriftzug "The Jesus Revolution". Jahrzehnte später müssen wir uns fragen: Was ist aus dieser Jesus-Revolution geworden? Warum war sie so wenig nachhaltig? Bei der erwähnten Diskussion im Trekking-Laden lautete mein Fazit, die ehemals christlichen Hippies seien wohl größtenteils entweder "in irgendwelchen para-christlichen Sekten gelandet oder Anselm Grün geworden". Ich denke nach wie vor, dass das im Großen und Ganzen zutrifft, wobei man anstelle von Anselm Grün auch beispielsweise Richard Rohr nennen könnte. Natürlich gibt es auch noch wesentlich krassere Beispiele -- etwa die "Teens for Christ", die 1967/68 damit begannen, die Hippies von Huntington Beach, Kalifornien, mit Folkmusik und Erdnussbuttersandwiches zu evangelisieren, und die bei ihrem ersten Auftreten in Deutschland, im September 1971 beim "Jesus-Festival" in Herne/Westfalen, als "besonders sittenstrenge Jesus-Kommune" angekündigt wurden, sich jedoch im Laufe der 70er Jahre zu einem bizarren Sex-Kult entwickelten, der sich erst "Children of God", dann "Family of Love" und schließlich nur noch "The Family" nannte.

Das alles ist wohlgemerkt nicht bloß von historischem Interesse. Vielmehr betrachte ich die hier zusammengestellten Fallbeispiele (und viele weitere) als eine Warnung, dass das Bemühen um ein radikal christliches Leben, wenn man nicht aufpasst, auch radikal daneben gehen kann. Zwei Dinge, denke ich, sind von entscheidender Bedeutung, um solche Fehlentwicklungen zu vermeiden: zum einen die Bereitschaft, die eigenen Visionen immer wieder am auf Schrift und Tradition fußenden kirchlichen Lehramt messen und nötigenfalls dadurch korrigieren zu lassen; und zum anderen, niemals zu vergessen, dass - wie Solschenizyn es formulierte - die Trennlinie zwischen Gut und Böse durch das Herz eines jeden Menschen verläuft.

Davon abgesehen kann es sicherlich nicht schaden, die Fehler früherer Generationen gründlich zu studieren, wenn man vermeiden will, sie zu wiederholen. Voraussichtlich wird hier in Zukunft noch öfter von Skurrilitäten und Garstigkeiten der Nach-68-Ära zu lesen sein. Nebenbei bemerkt habe ich - vorbehaltlich genauerer Prüfung - das Gefühl, eine Schlüsselfigur für gleich mehrere der hier angesprochenen Tendenzen im zeitgenössischen Christentum könnte der just im mythischen Jahr 1968 in einem Hotel in Bangkok durch einen Stromschlag getötete Trappistenmönch Thomas Merton sein. Eine schillernde Gestalt allemal: Anscheinend ging bei ihm ein intensives Streben nach persönlicher Heiligung mit einer ausgeprägten Neigung zur Grenzüberschreitung einher, auch zur Überschreitung solcher Grenzen, die sein geistlicher Stand und seine Ordensgelübde ihm setzten. Übrigens war Thomas Merton der Novizenmeister von Ernesto Cardenal, als der vorübergehend anstrebte, Mönch zu werden...