Die Berliner Zeitung versüßt uns das Wochenende mit einer brisanten Enthüllungsreportage über einen schockierenden subkulturellen Trend: Eltern, insbesondere Mütter, die Wert darauf legen, ihre Kinder selbst zu betreuen. Ob man's glaubt oder nicht: Die gibt es wirklich! Im 21. Jahrhundert, in (Ost-)Berlin! Und viele davon sehen auf den ersten Blick total normal aus! So zum Beispiel "Melanie Wittwer, 36 Jahre alt". Sie ist "seit vier Jahren Hausfrau. Und das, weil sie ihre Kinder nicht in die Kita geben will." Schockierend, oder? Und vor allem so undankbar gegenüber den Errungenschaften der Frauenbewegung! So jedenfalls scheint Reporterin Sabine Rennefanz es zu sehen:
"Während die Politik sich seit Jahren dafür einsetzt, dass Frauen die gleichen beruflichen Chancen wie Männer bekommen, Beruf und Familie besser vereinbaren können, und deshalb Millionen in den Kitaplatz-Ausbau steckt, geht Melanie Wittwer einen anderen Weg. Sie will die Wohltaten der Politik gar nicht."
"Kitafrei mag den Kindern gefallen, aber was macht es mit den Frauen, wenn sie jahrelang aus dem Beruf aussteigen? Ist Kitafrei nicht sogar antifeministisch?"
"Es klingt, als sei der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz keine Errungenschaft der Frauenbewegung, sondern Zwang."
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Wenn die anderen Kinder alle in der KiTa sind, hat man den Spielplatz für sich allein. (Foto: Omar Chatriwala, Al Jazeera English; Bildquelle und Lizenz hier.) |
Tja, was soll man sagen. Solche Leute, die die "Wohltaten der Politik" nicht zu schätzen wissen, die gab es wohl schon immer und wird es vermutlich auch immer geben. Solche Leute wie John Savage in Brave New World zum Beispiel. Sabine Rennefanz hat dafür offenkundig kein Verständnis. "Melanie Wittwer wirkt zart", stellt sie fest, "sagte aber harte Sätze
wie: 'Ich kann mir nicht vorstellen, meine Kinder anderen, fremden
Menschen anzuvertrauen.'" Krass, was für ein harter Satz. Die bittere Wahrheit: Melanie Wittwer "gehört zu einer kleinen, aber wachsenden Gruppe von
Frauen in Deutschland, die ihr Kind in den ersten sechs Jahren nicht
in die Kita geben […]. Amtliche Zahlen, wie groß die Anti-Kita-Bewegung
ist, gibt es nicht." Ja, Moment mal: Wieso sollte es darüber auch "amtliche Zahlen" geben? Ist Frau Rennefanz der Meinung, Eltern, die ihre Kinder nicht in die KiTa geben wollen, sollten vom Verfassungsschutz überwacht werden? Ehrlich gesagt finde ich es ja schon skurril, hier überhaupt von einer "Bewegung" zu sprechen. Aber Frau Rennefanz weiß es besser, denn sie hat nicht nur Mütter auf ansonsten verlassenen Spielplätzen interviewt, sondern auch im Netz recherchiert:
"Man findet ihre Anhänger auf Blogs wie '2KindChaos', 'Blogprinzessin' oder 'Berufung Mami'. Andere haben sich bei Facebook vernetzt. Die größte Gruppe nennt sich Kindergartenfrei.org mit eigener Website und regionalen Ortsgruppen in ganz Deutschland. Bei Kindergartenfrei.org haben sich nach eigenen Angaben 1400 Mitglieder registriert."
Und was sind das so für Leute?
"Die Bewegung hat Anhänger in Ost und West, auf dem Land und in der Großstadt, sie gilt als Sammelbecken für Alternative, Esoteriker, Impfgegner, konservative Christen."
Na, das klingt ja nach einer bunten Mischung! Ich schätze, in diese Szene sollten meine Liebste und ich mal reinschnuppern. Vielleicht findet man da ja Untergruppen, in denen die Esoteriker und Impfgegner nicht ganz so dominant sind. Jedenfalls schon mal danke für die Linktipps, Frau Rennefanz!
Wobei, ich vergaß: Nazis sind es offenbar obendrein auch noch. Jedenfalls meint Sabine Rennefanz, beim Konzept "Selbstbetreuung" gehe es um "Kontrolle" und "Abgrenzung vom Fremden". "Auf der Facebook-Seite von Kindergartenfrei.org wird
das Hausfrauendasein in einem Eintrag als 'schönster Job' der
Welt bezeichnet", ja, das ist natürlich ganz, ganz schlimm. "Viele Einträge lesen sich dogmatisch, fast
hetzerisch" -- ganz im Gegensatz zu diesem Artikel der Berliner Zeitung, versteht sich. "Kitabetreuung wird darin abgewertet". Was vielleicht auch mit "Bericht[en] über Probleme, Erzieherinnenmangel,
schlechte Betreuungsqualität" zu tun haben könnte, durch die "sich die Kitafrei-Mütter in
ihrer Entscheidung bestätigt" fühlen. Auch dafür kein Verständnis? Von wegen, wo kämen wir denn da hin.
Letztendlich geht es, wie es ja allen Arten von nonkonformistischen Gruppierungen gern nachgesagt wird, um "Ängste", die den Müttern eingeredet worden sind:
"Bevor die Friedrichshainerin Melanie Wittwer zur Selbstbetreuerin wurde, plagten auch sie viele Ängste. Sie hatte Studien gelesen, wie stressig es für Kinder sein kann, wenn sie von ihrer Mutter getrennt werden. […] Auch aus ihrer Kindheit hat Melanie Wittwer nur wenige gute Erinnerungen. […] Ihren Eltern macht sie keine Vorwürfe, aber sie selbst will es besser machen."
Und zwar orientiert sich ihre Vorstellung vom Besseren, ebenso wie die anderer Kitafrei-Mütter, an den Prinzipien der "bedürfnisorientierten Erziehung [...], dem wichtigsten pädagogischen Trend der letzten Jahre":
"Dieses Konzept beruft sich auf die Bindungstheorie: Demnach bringt die Erziehung von Kindern am meisten Erfolg, wenn die Eltern früh eine starke Bindung zu den Kindern aufbauen, indem sich komplett nach deren Bedürfnissen richten.Melanie Wittwer […] hält sich bis heute an alle Regeln, stillt nach Bedarf, schläft mit den Kindern im großen Bett, trägt sie eng am Körper. Sie lässt ihre Söhne nie schreien, selbst wenn das heißt, dass sie Verabredungen mit Freundinnen absagen muss, weil die Kinder zu Hause weinen und der Partner es nicht vermag, sie zu trösten."
Aha. Ob es nun "radikal" und/oder irgendwie plemplem ist, mal eine Verabredung zum Kaffeeklatsch sausen zu lassen, weil das Kind gerade ganz schlimm weint, darüber wird man vielleicht geteilter Meinung sein dürfen. Im Großen und Ganzen finde ich es aber arg befremdlich, wie die bedürfnisorientierte Erziehung hier zwischen den Zeilen abgewertet und lächerlich gemacht wird. Nehmen wir nur mal das Stichwort "Stillen nach Bedarf". Nach nunmehr achteinhalb Monaten praktischer Erfahrung mit Elternschaft kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, wie man das Kind denn anders stillen sollte als "nach Bedarf". Okay, ich weiß: Die Werke der Nazi-Galionsfigur in Sachen Säuglings- und Kleinkindererziehung, Johanna Haarer, haben bis weit in die Nachkriegszeit hinein weite Verbreitung gefunden, und da werden feste Fütterzeiten und Erziehungsmaßregeln wie "das Kind auf keinen Fall trösten, wenn es grundlos schreit" sehr groß geschrieben. Und dass bei dem heutigen, von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen geforderten und geförderten Trend zur möglichst frühen und möglichst umfassenden Krippenbetreuung eine intensive emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind eher ein Problem als ein positiver Wert ist, leuchtet auch irgendwie ein. Da kommt man dann offenbar gern wieder auf die Rezepte der Nazi-Pädagogik zurück -- hat ja schließlich schon mal funktioniert.
Neben Melanie Wittwer stellt Sabine Rennefanz in ihrem Artikel noch eine weitere Mutter vor: "Juliane Scheel, 33, fällt [...] auf dem
Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg nicht groß auf" -- was einmal mehr beweist: SIE sind unter uns. Und auf den ersten Blick kaum von normalen Menschen zu unterscheiden: "[S]ie trägt schwarze Hosen, ein gestreiftes Shirt,
die blonden Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden." Und tatsächlich war Juliane Scheel auch mal ganz normal:
"Sie studierte Sprachen und Kommunikation, arbeitete als Texterin in einem Start-up und für ein Theater in Brandenburg. Im Oktober 2013 wurde ihr Sohn Janosch geboren, zwei Jahre später ihre Tochter Jahmila."
Und dann geschah das Entsetzliche.
"Aus Juliane Scheel wurde eine typische Prenzlauer-Berg-Mutter: mit Dauerstillen, Tragetuch, Familienbett und anthroposophischem Kinderarzt. Aufträge nimmt sie nur noch wenige an, um Kinder und Haushalt nicht zu vernachlässigen. […] Sie sitzt mit gekreuzten Beinen am Rande des Sandkastens. Ihre Kinder toben nackt auf der anderen Seite des Spielplatzes."Barbaren. Ganz klar.
"Man kommt schnell mit Juliane Scheel ins Gespräch". Aha: Die investigative Journalistin hat ein "Leck" in der Front der Selbstbetreuungs-Sekte aufgetan.
"Sie wohnen schon lange am Platz [...], in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit zwei Kindern. Das Geld ist knapp, ihr Mann, ein Fahrradmechaniker, verdient nicht viel. Sie kaufen bio, verzichten sonst aber auf vieles, Urlaub, Auto, teure Klamotten. Trotzdem, sagt sie, fühle sie sich so frei wie nie zuvor in ihrem Leben. Frei, sich treiben zu lassen, jede Entwicklung der Kinder mitzubekommen, die ersten Schritte, das erste Wort."
Man merkt, was Sabine Rennefanz den geneigten Lesern hier mitteilen will: Dass diese Mutter sich "so frei wie nie zuvor in ihrem Leben" fühlt, na klar, sowas sagen Leute doch immer, die in die Fänge einer obskuren Sekte geraten sind. "So sieht der Fortschritt manchmal aus", spöttelt die Journalistin: "Früher
entschied der Ehemann, dass eine Frau zu Hause blieb, heute offenbar
die Kinder. Das eine war reaktionär, das andere gilt heute als
emanzipatorisch". Gleich darauf täuscht sie dann aber doch so etwas ähnliches wie Verständnis an:
"Wer passt sich wem an? Wie viel Freiheit gibt man auf? Das sind Fragen, die sich alle Eltern am Anfang stellen. Alle suchen, experimentieren. Die Kitafrei-Mütter sind dabei nur radikaler als andere, sie sind noch mehr als andere bereit, für die eigenen Kinder Opfer zu bringen [...]. Immer in der Hoffnung, dass sie damit dem großen Glück ein wenig näher rücken."
Das ist, wie man gestehen muss, rhetorisch nicht ungeschickt: Die Bereitschaft, "für die eigenen Kinder Opfer zu bringen", ist, so wird hier suggeriert, letztlich doch nur eine Form von Egoismus. "Wer zu lange aussteigt, handelt unverantwortlich", wird die Bloggerin Eva Dorothee Schmid zitiert, während die Lüneburger Finanzexpertin Annette Mücke "vor allem bei jungen Frauen eine Sehnsucht nach der
traditionellen Mutterrolle" diagnostiziert. Susanne Viernickel, Professorin an der
Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Uni Leipzig und "eine
der renommiertesten Kita-Forscherinnen", die "zahlreiche empirische
Studien durchgeführt" hat, wird befragt, ob KiTa-Erziehung womöglich tatsächlich schädlich für Kinder sei. Das verneint die Expertin zwar, aber dass KiTa-Betreuung besser für die Kinder sei als die Betreuung durch die eigenen Eltern, will sie nun so direkt auch nicht behaupten. "Im sprachlich-kognitiven und sozial-emotionalen
Bereich kann ein Besuch einer guten Kita sogar von Vorteil sein", erklärt sie; was allerdings, wenn man diese Aussage beim Wort nimmt, offenbar bedeutet, dass das selbst bei einer guten KiTa keinesfalls sicher ist, von einer nicht so guten ganz zu schweigen. "Außerdem hilft eine gute Kita den Kindern dabei,
die Trennung von den Eltern zu verkraften" -- die Trennung von den Eltern, die es ohne die KiTa gar nicht gäbe? Ah ja, herzlichen Dank.
"Ich kann mir allerdings vorstellen, dass Kinder,
die keine Kita besucht haben, in den ersten Schuljahren größere
Anpassungsleistungen vollbringen müssen, um sich in die Gruppe
einzufügen", gibt Frau Professor Viernickel weiterhin zu bedenken. Mag wohl sein -- aber heißt das nicht letztlich nur, dass die KiTa-Kinder dazu gezwungen werden, diese Anpassungsleistung erheblich früher zu vollbringen?
Zudem ist es ja - zumindest in den vermutlich meisten Fällen - nicht so, dass die Kinder der KiTa-Verweigerinnen völlig isoliert von anderen Kindern aufwachsen würden. Wozu wohl vernetzen die Mütter sich untereinander? Zum Erfahrungsaustausch? Sicher, aber nicht nur zu diesem Zweck. Melanie Wittwer zum Beispiel hat
"[m]it zwei, drei Freundinnen [...] Spielzimmer und Toberaum angemietet, alternativer Familiengarten nennen sie es. Dort treffen sie sich, dort können die Kinder zusammen spielen. Wie eine Art Kinderladen, nur ohne dass der Staat reinfunkt, ohne Morgenkreis, ohne feste Essenszeiten, Bildungsprogramm, Sprachlerntagebüchern und sonstigen Drangsalisierungen."
Frau Rennefanz meint den letzten Satz vermutlich sarkastisch, aber für mich klingt das ziemlich gut. Wie schon gesagt: Ich schätze, meine Liebste und ich sollten uns diese Szene wohl mal etwas näher anschauen. Friedrichshain ist zwar für den täglichen Bedarf ein bisschen weit weg, aber ich könnte mir vorstellen, dass es von solchen selbstorganisierten Eltern-Kind-Gruppen noch mehr in Berlin gibt. Man könnte auch darüber nachdenken, so etwas selbst aufzuziehen. Womöglich sogar unter dem (nicht nur metaphorischen) Dach der Kirchengemeinde. Das wäre dann auch hochgradig #BenOp-relevant. Wenn man sowieso schon für "radikal" gehalten wird... Was soll's?
Zum Schluss des Berliner Zeitungs-Artikels wird's noch mal spannend:
"In wenigen Jahren kommen die Kinder ins Schulalter. Die Mütter haben sich so weit vom Mainstream entfernt, dass sie darüber nachdenken, ihre Kinder nicht in den staatlichen Schulen anzumelden. Dort würden sie nur drauf trainiert, Leistungsnachweise zu bringen, statt Bildung zu erwerben. Wenn Juliane Scheel und Melanie Wittwer von Schulen reden, fallen die Worte 'Anpassung', 'Unterwerfung', 'Unterdrückung'. Wittwer sucht nach einer Privatschule, in der sich ihr Sohn optimal entfalten kann. […] Und falls sie keine private Schule findet, kann sie sich vorstellen, Deutschland zu verlassen. Hauptsache, es ist das Beste fürs Kind."
Falls man bis zu dieser Stelle aufgehört hat, den Kopf darüber zu schütteln, wie zutiefst gruselig Sabine Rennefanz es findet, dass es tatsächlich Leute gibt, die sich "so weit vom Mainstream entfernt" haben, dass ihnen das Wohlergehen ihrer Kinder über alles geht, dann kann man zu dem Schluss kommen: Hey, offenbar gibt es einen nicht zu unterschätzenden Bedarf an freien Schulen mit alternativen Unterrichtskonzepten! Oder nach Abschaffung bzw. Lockerung der Schulpflicht, wobei man es fraglich finden mag, ob letzteres ein in absehbarer Zukunft realisierbares Ansinnen ist. So oder so ist auch das ein ganz klares #BenOp-Thema. Wieso eigentlich sollte aus einem "alternativen Familiengarten" nicht mittelfristig auch eine alternative Schule wachsen können? Ich gebe zu, ich habe von den organisatorischen und bürokratischen Herausforderungen eines solchen Unterfangens keine allzu klaren Vorstellungen. Ich würde aber gern dazu ermutigen, diese Idee nicht vorschnell als "unmöglich" abzuhaken...