Auf YouTube gibt es eine Dokumentation mit dem vielversprechenden Titel "Peter Backhausen und Peter Janssens Band 1971 in Nicaragua". Der Film ist knapp eine halbe Stunde lang, aber obwohl ich ihn schon vor Monaten entdeckt habe, bin ich noch nicht dazu gekommen, ihn anzusehen. Ehrlich gesagt ist dafür wohl nicht in erster Linie Zeitmangel verantwortlich. Eher ist es wohl so, dass ich mir die unausweichliche Enttäuschung ersparen möchte, dass der Film gar nicht so sensationell ist, wie ich ihn mir vorstelle. Aber wer weiß?
À propos "Wer weiß?": Ein Teil meiner Leserschaft wird an dieser Stelle wahrscheinlich denken "Peter Janssens kennen wir ja, aber wer ist dieser Peter Backhausen?". Ein anderer Teil ist vielleicht sogar so glücklich, nicht einmal Peter Janssens zu kennen. Den unvermeidlichen Peter Janssens, wie ich ihn gern nenne. Den Komponisten nicht tot zu kriegender Klassiker des "Neuen Geistlichen Liedes" (NGL) wie "Wenn das Rote Meer grüne Welle hat", "Unser Leben sei ein Fest", "Einer hat uns angesteckt" oder "Lied, das die Welt umkreist". Und natürlich des Agit-Pop-Juwels "Du kleine Löterin". Kurz gesagt, der 1998 verstorbene Janssens war ein, wenn nicht sogar der Pionier des NGL-Genres.
Und Peter Backhausen? Der war mir zunächst einmal kein Begriff, aber ein Artikel der Westfälischen Nachrichten von 2009 klärte mich auf:
"Ein Musiker durch und durch ist er. [...] Die Beatles sieht er als den Hauptgrund an, dass er begonnen hat, selber Musik zu machen, sagt der Wahl-Ottmarsbocholter".
"Wahl-Ottmarsbocholter". Allein schon.
Jedenfalls war Backhausen Anfang der 70er Jahre Schlagzeuger der Peter Janssens Band und gehörte dann, 1973, zusammen mit Karl-Georg "Steffi" Stephan und Karl Allaut alias "Karl Brutal" zur Originalbesetzung von Udo Lindenbergs "Panikorchester". Eine bemerkenswerte musikalische Vita -- allerdings verließ er Lindenbergs Begleitband schon nach eineinhalb Jahren wieder, aus familiären Gründen, heißt es. Die Schallplatten-Datenbank discogs führt vier Soloalben Backhausens aus den Jahren 1979-1993 auf; heute ist Peter Backhausen, dem Bericht der Westfälischen Nachrichten zufolge, hauptberuflich als Musikpädagoge tätig. Und Wahl-Ottmarsbocholter.
1971 jedoch war er mit Peter Janssens in Nicaragua, und, ich deutete es bereits an, in meiner Phantasie sieht dieser Trip erheblich abenteuerlicher aus, als er es sehr wahrscheinlich in Wirklichkeit war. Ich stelle mir darunter so etwas ähnliches vor wie den Trip der Baader-Meinhof-Gruppe nach Jordanien im Jahr zuvor, nur mit Gitarren statt Knarren. Will sagen: Statt sich von den Sandinisten, wie die RAF-Gründergeneration durch die palästinensische Fatah, einen Crashkurs in bewaffnetem Untergrundkampf erteilen zu lassen, ließen Janssens, Backhausen und Co. sich lediglich im musikalischen Straßenkampf ausbilden -- um fortan, wie Wiglaf Droste es formulierte, "das Land mit einer Mischung aus sozialistischem Agitprop und christlicher Erweckungslyrik zu verheeren".
Venceremos, oder? (eigene Aufnahme) |
Aber unabhängig davon, was nun tatsächlich in diesem Film zu sehen ist, finde ich allein die Tatsache, dass es einen solchen Film gibt, einigermaßen bezeichnend für das, was mich an dem Phänomen NGL so fasziniert: Nicht so sehr die Musik als solche (wenngleich ich durchaus finde, dass ein Peter Janssens als Musiker und Komponist Einiges drauf hatte -- sehr viel mehr jedenfalls, als man denken könnte, wenn man seine Lieder nur aus Gottesdiensten kennt, in denen sie mit schleppender Orgel- oder blecherner Casio-Billig-Keyboard-Begleitung von rhythmisch und melodisch nicht besonders trittsicheren Gemeinden gesungen werden), sondern vielmehr die ganze politisch-theologisch-sozialpsychologische Gemengelage, aus der dieses kirchenmusikalische Genre sich speist und in der sich das vorherrschende Lebensgefühl der Baby-Boomer-Generation in den 1970er Jahren so getreulich widerspiegelt. Ich habe dieses Feld ja schon mal recht ausführlich beackert: Auf der einen Seite haben wir die bemerkenswert ironiefreie Schwärmerei der Wirtschaftswunderkinder für den Kommunismus, die sich innerkirchlich vor allem in Gestalt einer unkritischen Begeisterung für die Theologie der Befreiung artikulierte. Die oben gezogene Parallele zwischen NGL und RAF ist bei aller Polemik und allem Sarkasmus nicht völlig aus der Luft gegriffen; man hatte durchaus gemeinsame Wurzeln in der 68er-Bewegung. Es lag einfach Revolution in der Luft, und um eine gerade eben schon verwendete Formulierung nochmals aufzugreifen: Die Einen kämpften dafür mit der Knarre, die Anderen nur mit der Gitarre. Nicht wenige Akteure der militanten linksradikalen Szene der Nach-68er-Jahre hatten einen kirchlichen Hintergrund; das vielleicht prominenteste Beispiel war die RAF-Mitanführerin Gudrun Ensslin, eine schwäbische Pastorentochter.
Und auf der anderen Seite haben wir die "Neue Innerlichkeit", eine amateurhaft-unausgegorene Psychologisierung und Sozialpädagogisierung aller Lebensbereiche, die sich auf religiös-spiritueller Ebene nicht selten in einer Neigung zu Esoterik, Synkretismus und Universalismus niederschlägt. Was mich übrigens daran erinnert, wie ich vor einiger Zeit mit meiner Liebsten - anlässlich eines gemeinsamen Besuchs in einem Fachgeschäft für Trekking-Bedarf - über die Frage diskutierte, was eigentlich aus den christlichen Hippies geworden sei. Denn die gab's ja schließlich mal -- wie man übrigens sehr schön in einem YouTube-Video zu Peter Janssens' Psychedelic-Rock-Nummer "Feuer" sehen kann. Zu den Bilddokumenten aus der christlichen Hippie-Bewegung, mit denen der Song illustriert wird, zählt auch ein Cover des Time Magazine vom 21. Juni 1971 mit dem Titelschriftzug "The Jesus Revolution". Jahrzehnte später müssen wir uns fragen: Was ist aus dieser Jesus-Revolution geworden? Warum war sie so wenig nachhaltig? Bei der erwähnten Diskussion im Trekking-Laden lautete mein Fazit, die ehemals christlichen Hippies seien wohl größtenteils entweder "in irgendwelchen para-christlichen Sekten gelandet oder Anselm Grün geworden". Ich denke nach wie vor, dass das im Großen und Ganzen zutrifft, wobei man anstelle von Anselm Grün auch beispielsweise Richard Rohr nennen könnte. Natürlich gibt es auch noch wesentlich krassere Beispiele -- etwa die "Teens for Christ", die 1967/68 damit begannen, die Hippies von Huntington Beach, Kalifornien, mit Folkmusik und Erdnussbuttersandwiches zu evangelisieren, und die bei ihrem ersten Auftreten in Deutschland, im September 1971 beim "Jesus-Festival" in Herne/Westfalen, als "besonders sittenstrenge Jesus-Kommune" angekündigt wurden, sich jedoch im Laufe der 70er Jahre zu einem bizarren Sex-Kult entwickelten, der sich erst "Children of God", dann "Family of Love" und schließlich nur noch "The Family" nannte.
Das alles ist wohlgemerkt nicht bloß von historischem Interesse. Vielmehr betrachte ich die hier zusammengestellten Fallbeispiele (und viele weitere) als eine Warnung, dass das Bemühen um ein radikal christliches Leben, wenn man nicht aufpasst, auch radikal daneben gehen kann. Zwei Dinge, denke ich, sind von entscheidender Bedeutung, um solche Fehlentwicklungen zu vermeiden: zum einen die Bereitschaft, die eigenen Visionen immer wieder am auf Schrift und Tradition fußenden kirchlichen Lehramt messen und nötigenfalls dadurch korrigieren zu lassen; und zum anderen, niemals zu vergessen, dass - wie Solschenizyn es formulierte - die Trennlinie zwischen Gut und Böse durch das Herz eines jeden Menschen verläuft.
Davon abgesehen kann es sicherlich nicht schaden, die Fehler früherer Generationen gründlich zu studieren, wenn man vermeiden will, sie zu wiederholen. Voraussichtlich wird hier in Zukunft noch öfter von Skurrilitäten und Garstigkeiten der Nach-68-Ära zu lesen sein. Nebenbei bemerkt habe ich - vorbehaltlich genauerer Prüfung - das Gefühl, eine Schlüsselfigur für gleich mehrere der hier angesprochenen Tendenzen im zeitgenössischen Christentum könnte der just im mythischen Jahr 1968 in einem Hotel in Bangkok durch einen Stromschlag getötete Trappistenmönch Thomas Merton sein. Eine schillernde Gestalt allemal: Anscheinend ging bei ihm ein intensives Streben nach persönlicher Heiligung mit einer ausgeprägten Neigung zur Grenzüberschreitung einher, auch zur Überschreitung solcher Grenzen, die sein geistlicher Stand und seine Ordensgelübde ihm setzten. Übrigens war Thomas Merton der Novizenmeister von Ernesto Cardenal, als der vorübergehend anstrebte, Mönch zu werden...
>>wenngleich ich durchaus finde, dass ein Peter Janssens als Musiker und Komponist Einiges drauf hatte -- sehr viel mehr jedenfalls, als man denken könnte, wenn man seine Lieder nur aus Gottesdiensten kennt, in denen sie mit schleppender Orgel- oder blecherner Casio-Billig-Keyboard-Begleitung von rhythmisch und melodisch nicht besonders trittsicheren Gemeinden gesungen werden
AntwortenLöschenInteressanter Punkt.
Es fällt übrigens auf, mir wenigstens, daß das "Agitprop-Juwel", nämlich die kleine Löterin, musikalisch und poetisch (ohne jetzt von der inhaltlichen Richtigkeit und ausdrucksmäßigen Angemessenheit des Textes zu reden) so viel *besser* ist als die von Dir aufgeführten NGL.
Bei "Unser Leben sei ein Fest" mußte ich jetzt übrigens warum auch immer an "Uns verpflichtet das Wort" denken: war das auch von Peter Janssens? Sonst würde ich ihm noch Unrecht tun, denn das ist auch gut - und eins der wenigen Lieder, die man spielen kann, wenn man technisch bedingt keinen Viervierteltakt, sondern nur einen Dreivierteltakt spielen kann. (Zum Vierviertel braucht man rechts auf der Gitarre die ganze Hand, wenigstens wenn man nicht groß umlernen will - Dreiviertel geht zur Not auch mit zwei freien Fingern in einem Gips.)
Aber nein, das ist Herbert Schaal, Melodie aus Südamerika, laut Dacapo.
Aber auch wieder wahr: wenn man den Leuten mal beibringen könnte, daß das Lied "Unser Lebenn sei ein Feßt" heißt und nicht "Unser Lebähn sei ein Fähst", dann wäre schon einiges gewonnen. Der Text ist ja in Ordnung, zumal wenn man der Komplexität der Transsubstantiationslehre wegen die Strophen 2 und 3 wegläßt.
"Wenn das Rote Meer grüne Welle hat" -
AntwortenLöschendas ist nicht Dein Ernst, oder?
Ich kann aus Gründen der Psychohygiene den Link nicht anklicken, das kann doch nur Satire sein, oder?
Ich beneide ja jeden, der nicht schön im Kindergottesdienst mit diesem Lied gehirngewaschen würde, aber: Dochdoch, das gibt's wirklich und ist todernst gemeint. Der weitere Text ist sogar noch aberwitziger als die Titelzeile.
LöschenIch hab mich dann doch noch innerlich gestählt und mir dieses Machwerk gegeben - das ist schon sehr übel, ja. "Wenn die Tränen rückwärts fließen" - oh MANN. Und dass man so etwas dann ausgerechnet im Kindergottesdienst singt, wo die Klientele noch kein besonders gefestigtes Sprachgefühl haben dürfte. Gar nicht gut.
Löschen"Wenn die Tränen rückwärts fließen"
LöschenDas wäre mal ein Thema für "Wetten, dass?" gewesen.