Nach Angaben der Website openbookcases.org gibt es in Berlin ganze 152 "öffentliche Bücherschränke"; eine stolze Zahl, besonders wenn man bedenkt, dass es laut derselben Quelle in den gesamten USA nur 16 gibt. Aber Berlin ist groß, und ich kann nicht ständig kreuz und quer durch die ganze Stadt gondeln. Glücklicherweise ist das aber auch gar nicht nötig, denn wie ich festgestellt habe, gibt es in nicht allzu großer Entfernung von meiner Wohnung so drei bis vier sehr ergiebige "Büchertelefonzellen" (oder, wie ich sie - ursprünglich versehentlich, inzwischen aber zunehmend absichtlich - gern nenne: "Büchertankstellen"), die man getrost so alle drei bis vier Wochen heimsuchen kann und dabei immer wieder etwas Interessantes entdeckt.
Wie schon erwähnt, hat die im Aufbau befindliche Pfarrbücherei in Herz Jesu Tegel bislang noch das Problem, zu viele Bücher für die zur Verfügung stehende Regalfläche zu haben. Deshalb lautet eine Grundregel meiner mehr oder weniger regelmäßigen "Büchertouren", dass ich mindestens doppelt so viele Bücher in den besagten Büchertelefonzellen zurücklasse, wie ich von dort mitnehme. Betrachtet man das Netz der "öffentlichen Bücherschränke" zudem als eine Art Ökosystem, dann gebietet es wohl auch das Prinzip der Nachhaltigkeit, ihm mindestens so viel zurückzugeben, wie man von ihm bekommt.
Jüngst war ich also, bestückt mit rund 40 aus Bücherspenden für das Büchereiprojekt aussortierten Bänden und sieben aus meinem privaten Bücherbestand, unterwegs in Reinickendorf und Gesundbrunnen -- und machte schon an den ersten beiden Standorten, die ich aufsuchte, so viele interessante Entdeckungen, dass ich darauf verzichtete, noch ein bis zwei weitere "Büchertankstellen" anzusteuern. Ich schicke gleich voraus, dass ich bei der Entscheidung darüber, was für Bücher ich bei solchen Gelegenheiten mitnehme, mehr oder weniger intuitiv, um nicht zu sagen impulsiv vorgehe. Spricht mich ein Buch irgendwie an und habe ich meine mir selbst auferlegte Quote noch nicht überschritten, nehme ich es erst mal mit; ob es sich wirklich für das Büchereiprojekt eignet, kann man ja später immer noch entscheiden, und wenn nicht, behalte ich es entweder privat oder werde es bei nächster Gelegenheit wieder los.
Hier mal ein Überblick über einige "gefühlte Highlights" meines jüngsten Beutezugs:
Nicht im Bild sind u.a. Agatha Christies "Mord im Orient-Express", Ken Keseys "Einer flog übers Kuckucksnest" (da kenne ich bislang nur den Film) und ein Band mit Erzählungen von Jack London. Die abgebildete "Tom Sawyer"-Ausgabe ist bearbeitet, ein Wort, bei dem sich dem Literaturwissenschaftler in mir die Nackenhaare aufstellen, aber immerhin ist sie im Insel-Verlag erschienen, das lässt hoffen, dass die Bearbeitung zumindest nicht ganz schlecht ist. Das Comic-Album "Micky Maus und Wilhelm Tell", erschienen 1972, enthält neben der Titelgeschichte noch zwei weitere Episoden, nämlich "Micky bei den Höhlenmenschen" und "Micky als Gladiator". Der Marx/Engels-Auswahlband "Über Religion" ist sicherlich erstklassiges Giftschrankmaterial, aber ich schätze, unter dem Aspekt "know your enemy" kann es nicht schaden, sich damit auseinanderzusetzen. Ähnliches gilt womöglich auch für Georg Friedrich Rebmanns "Ideen über Revolutionen in Deutschland". Es spricht für mein Interesse an diesem bei Reclam Leipzig erschienenen Auswahlband, dass ich ihn mitgenommen habe, obwohl der vordere Buchdeckel und die ersten Seiten abgerissen sind. So beginnt das Buch eben mitten im biographischen Vorwort von Werner Greiling. Von dem politischen Publizisten Rebmann (1768-1824) hatte ich bisher noch nie etwas gehört; Tante Wiki weiß jedoch, dass er mit seinen schriftstellerischen und journalistischen Arbeiten "im breiten Strom aufklärerischen Denkens" stand, was ja schon mal Schlimmes befürchten lässt. Übrigens ist dieser Wikipedia-Artikel ein (un)schönes Beispiel für die ideologische Ausrichtung dieser Online-Enzyklopädie, oder möchte mir ernsthaft jemand weismachen, dass Formulierungen wie "Er selber ist nie in politische Romantik abgeglitten [!] wie etwa der ehemalige Jakobiner Joseph Görres" den Ansprüchen weltanschaulicher Neutralität entsprechen? Aber wie auch immer, ich bin gespannt auf das Buch.
Der vielleicht interessanteste Fund, den ich bei dieser Expedition an Land gezogen habe, ist jedoch gar kein Buch, sondern ein Quizspiel mit dem Titel "Wer weiß Bescheid in Glaubensfragen?". Drei Päckchen Frage-und-Antwort-Karten, farblich markiert nach Themengebieten. Nachdem ich einen Kartenstapel flüchtig durchgesehen hatte, begann ich mich zu fragen, was für eine Glaubensgemeinschaft dieses Spiel wohl entwickelt und herausgebracht hatte. Genauere Lektüre der Packungsbeschriftung belehrte mich, dass es sich um die Neuapostolische Kirche handelt; es gibt auch noch ein viertes Quizkarten-Set, bei dem es spezifisch um "Das Werk Gottes seit der erneuten Sendung von Aposteln" geht, aber just dieses ist mir nicht in die Hände gefallen. Okay, man wird wohl trotzdem gut daran tun, die Karten, ehe man das Spiel zu katechetischen Zwecken einsetzt, gründlich durchzusehen und solche, bei denen die Antworten im Widerspruch zur Lehre der katholischen Kirche stehen, auszusortieren. Aber davon mal abgesehen: Dass ein Spiel, das laut Anleitung für Kinder ab 10 Jahren konzipiert ist ("Doch auch Jugendliche und Erwachsene können damit spielerisch ihr Wissen erweitern"), Fragen enthält wie "In welcher Stadt wurden die Gläubigen der Urkirche erstmals 'Christen' genannt?" oder "Welcher Prophet hat den Geburtsort Jesu vorausgesagt?", finde ich schon ganz schön sportlich, aber vielleicht ist das auch nur ein weiterer Hinweis darauf, was für ein ärmliches Niveau in Sachen Kinder- und Jugendkatechese man in den Volkskirchen als normal vorauszusetzen gewohnt ist.
Ach ja, hier noch zwei Bücher, die ich mitgekommen habe, obwohl ich von vornherein eher nicht damit rechne, dass sie für eine Pfarrbücherei taugen:
"Das Tor von Ivrel" hatte ich zunächst nur aus einer Laune heraus in die Hand genommen, aber dann fiel mir auf, dass die erste und die letzte Seite des Taschenbuchs mit handschriftlichen Notizen vollgeschrieben waren. Bei genauem Hinsehen handelte es sich um eine Art Empfehlungsschreiben für das Buch, verfasst offenbar von der Person, die es der Welt der öffentlichen Bücherschränke gestiftet hat. Dass diese/r Leser/in "Das Tor von Ivrel" mit dem "Herrn der Ringe" verglich, entlockte mir allerdings ein Stirnrunzeln -- das noch tiefer wurde, als die englischsprachige Wikipedia mich darüber aufklärte, dass derselbe Vergleich sich auch schon in Andre Nortons (in der deutschen Ausgabe nicht enthaltenen) Vorwort zu "Das Tor von Ivrel" findet. Meine übliche Reaktion, wenn ich Derartiges lese, lautet: "Habt ihr sie noch alle? Der Herr der Ringe ist Weltliteratur, den kann man doch nicht mit irgendwelchem epigonalen Fantasy-Trash in einem Atemzug nennen!" -- Okay, das letzte Mal, dass mir ein solcher Vergleich begegnet ist, ging es um Ursula K. LeGuins "Erdsee"-Zyklus, und da musste ich nach (oder schon während) der Lektüre des ersten Bandes eingestehen, dass der Vergleich mit Tolkien nicht ganz so sehr zu hoch gegriffen war, wie ich angenommen hatte. Im vorliegenden Fall bin ich jedoch mehr als skeptisch. -- An Matt Ruffs "Fool on the Hill" indes hat mich in erster Linie die Covergestaltung angesprochen, die mich irgendwie an "Naomi & Ely" erinnerte. Na gut, beide Bücher sind gelb. Faszinierend ist aber auch der Werbetext auf dem hinteren Buchdeckel von "Fool on the Hill":
"Nicht zu fassen, was an amerikanischen Universitäten alles passiert, wenn man diesem haarsträubenden Campus-Roman glauben darf, in dem der junge George sich in die schönste Frau der Welt verliebt, der Kobold Puck der Elfe Zephyr nachjagt und Blackjack und Luther in den Himmel für Katzen und Hunde aufbrechen."
Na, da sind wir aber mal gespannt! Dazu, dieses und die anderen genannten Bücher zu lesen, werde ich allerdings ziemlich sicher erst nach Weihnachten kommen, denn bis dahin ist meine Leseliste voll. -- Damit aber nicht genug: Gemäß dem guten angloamerikanischen Sprichwort "When it rains, it pours" sprach mich am Sonntag vor der Messe ein Mitglied der Kolping-Ortsgruppe, die gerade mit den letzten Vorbereitungen zu ihrem monatlichen "Sonntagstreff" beschäftigt war, darauf an, dass die Bücherkartons im Gemeindehaus aber allmählich etwas überhand nähmen. "Jetzt stehen sogar schon vor der Küche welche", murrte er. -- "Ach?", erwiderte ich. "Die habe ich noch gar nicht gesehen. Ich kümmere mich drum."
Ich staunte nicht schlecht, als ich sah, dass es sich um vier große Umzugskartons handelte -- jeweils nur etwa halb voll, damit man sie noch tragen konnte, aber immerhin. Ich schaute in alle vier Kartons hinein und hatte auf den ersten Blick den Eindruck, dass gut die Hälfte des Inhalts aus geistlicher Literatur bestand. Wahrscheinlich aus dem Nachlass von Pfarrer Silvers, sagte ich mir. Da ich an diesem Sonntag keine Zeit hatte, mich eingehender mit diesem "Büchergeschenk des Himmels" zu befassen, griff ich nur schnell und aufs Geratewohl ein paar Bücher heraus, von denen ich ganz sicher gehen wollte, dass sie nicht unter die Räder kommen; darunter diese:
Genauer nahm ich den Inhalt der vier Kartons am folgenden Tag in Augenschein, und nun war ich mir sicher, dass die Bücher aus dem Nachlass von Pfarrer Silvers stammten. Es waren Schott-Messbücher dabei, exegetische Impulse zu den Sonn- und Feiertagsevangelien, ziemlich viele Andachtsbüchlein, aber auch Bücher zur lokalen Geschichte, Gesundheitsratgeber und manches andere. Okay, alte Telefonbücher und eine Bedienungsanleitung für einen Elektroherd waren auch dabei. Aber das ist eben wie beim Foodsaving: Nehmen muss man erst mal alles, was man kriegt; sortieren und entscheiden, was davon man wirklich haben will, kann man später. Inzwischen ist es mir gelungen, den Inhalt der vier großen Kartons grob in die Kategorien "Behalten (zumindest vorläufig)", "Abgeben (Basar, Tauschregal o.ä.)" und "Altpapier" einzuteilen und den Inhalt der letzteren Kategorie direkt zu entsorgen. Zur Beruhigung aller Bücherfreunde und Hüter der Pietät gegenüber Nachlässen von Geistlichen sei gesagt, dass diese Kategorie mit Abstand die kleinste war. Übrigens hatte es im Pfarrhaus in Heiligensee, wo Pfarrer Silvers bis zu seinem Tod gewohnt hat, über mehrere Wochen hinweg einen Nachlassverkauf gegeben, bei uns gelandet war also wohl nur das, was bisher keinen Abnehmer gefunden hatte.
Zusammenfassend gesagt: Das Büchereiprojekt wird immer interessanter, macht aber auch eine Menge Arbeit. Engagierte Mitarbeiter wären durchaus willkommen...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen