HINWEIS:
Der folgende Beitrag erschien zuerst - leicht bearbeitet und u.d.T. "Sterile Visionen" - am 08.09.2015 in der Zeitung Die Tagespost, S. 9.
Der
Begriff der „Familienplanung“ umfasst schon lange nicht mehr nur
Empfängnisverhütung, sondern zunehmend auch das Gegenteil: Die rasanten
Fortschritte der Reproduktionsmedizin suggerieren dem Menschen, die
Verwirklichung des individuellen Kinderwunsches sei etwas Machbares und
Planbares. Neuerdings richten sich solche Angebote vermehrt auch an Männer. Der
natürliche Zusammenhang von Sexualität, Partnerschaft und Fortpflanzung geht
dabei immer mehr verloren.
Vor wenigen Wochen machte ein in den USA
zugelassenes Medikament, das landläufig als „Viagra für die Frau“ bezeichnet
wurde, weltweit Schlagzeilen. Die Wirkung der beiden Präparate ist zwar im
Grunde nicht vergleichbar – Viagra wirkt auf den Blutkreislauf und verbessert
so die Erektionsfähigkeit des Mannes, wohingegen die neue Pille „Addyi“ auf das
Lustzentrum im Gehirn wirken und so die weibliche Libido, besonders in und nach
den Wechseljahren, stimulieren soll –; eine auffällige Gemeinsamkeit liegt
jedoch darin, dass sich bei beiden Medikamenten die Verwendbarkeit für
sexualtherapeutische Zwecke erst durch klinische Tests herausstellte: Der
Viagra-Wirkstoff Sildenafil wurde ursprünglich zur Behandlung von Herzbeschwerden
entwickelt, Flibanserin, der Wirkstoff des neuen Medikaments „Addyi“, als
Antidepressivum. In beiden Fällen wurde das Vermarktungspotential
vermeintlicher „Nebenwirkungen“ erst erkannt, nachdem der jeweilige Wirkstoff
sich als wenig geeignet für seinen ursprünglich vorgesehenen Zweck
herausgestellt hatte. Der Grundsatz „Sex sells“ gilt eben auch für
Pharmakonzerne.
Kritik an „Addyi“ entzündet sich nicht zuletzt an
der Frage, ob bzw. inwiefern nachlassendes sexuelles Interesse überhaupt als
therapiebedürftiges Leiden zu betrachten sei; aus Sicht der Anbieter ließe sich
hier freilich argumentieren, die Nachfrage nach dem Produkt werde diese Frage
von allein beantworten. – Indessen widmet sich der (ebenfalls nicht unumstrittene)
Markt für Nahrungsergänzungsmittel einem anderen Aspekt des Geschlechtslebens:
dem Kinderwunsch. Nachdem Produkte zur Förderung der weiblichen Fruchtbarkeit
schon länger auf dem Markt sind, nehmen die Anbieter von
Nahrungsergänzungsmitteln neuerdings verstärkt auch Männer in den Fokus. Das
erscheint einerseits konsequent, wenn man bedenkt, dass Schätzungen zufolge bei
40% aller ungewollt kinderlosen Paare die Ursache für das Ausbleiben des
Nachwuchses beim Mann liegt; dennoch macht eine Werbung, die ausdrücklich„Männer mit Kinderwunsch“ anspricht, zunächst stutzig. Aber warum eigentlich?
Als Antoni van Leeuwenhoek 1677 erstmals männliche
Samenzellen unter dem Mikroskop untersuchte und die Ergebnisse in einem Brief
an die Royal Society in London schilderte, stellte er es den Adressaten des
Briefes anheim, zu entscheiden, ob seine Entdeckungen zu skandalös seien, um
veröffentlicht zu werden. Tatsächlich ergaben Leeuwenhoeks Forschungsergebnisse
erstmals einen Hinweis darauf, dass die Ursachen ehelicher Unfruchtbarkeit auch
beim Mann liegen konnten. Trotz dieser Erkenntnis blieb die männliche Zeugungsunfähigkeit
ein Tabuthema – tendenziell bis heute. Die offenkundige Kehrseite dieses
Umstands ist, dass auch der Kinderwunsch von Männern ein Thema ist, über das
selten gesprochen wird.
Die verbreitete Wahrnehmung, derzufolge das
Kinderbekommen in erster Linie Frauen betrifft, wird durch den Umstand, dass
Kinder keineswegs zwangsläufig in festen Beziehungen von Mann und Frau zur Welt
kommen, zweifellos noch verstärkt; schließlich ist es die Frau, die das Kind
austrägt, wohingegen der Beitrag des Mannes zum Zustandekommen einer
Schwangerschaft eher punktueller Natur ist. Dadurch erscheint es schlicht
offensichtlicher, dass ein Mann seinen Kinderwunsch nicht ohne eine Frau
verwirklichen kann, als umgekehrt. Einer Frau, die zwar ein Kind, aber keine
(heterosexuelle) Beziehung möchte, stehen verschiedene Möglichkeiten zur
Verwirklichung dieses Wunsches offen – vom „One-Night-Stand“ bis hin zur
In-vitro-Fertilisation mit Spendersamen. Männer haben es da bedeutend schwerer.
Gerade im Zeichen des Strebens gleichgeschlechtlicher Paare nach rechtlicher
Gleichstellung ist dieser Umstand alles andere als banal. Prominente wie Elton John haben bereits das Beispiel gegeben, dass mit Hilfe von Eizellenspenden und
Leihmutterschaft auch männliche homosexuelle Paare sich ihren Kinderwunsch
erfüllen können; in Deutschland ist dies derzeit noch illegal, aber es bleibt
abzuwarten, wie lange diese Gesetzeslage sich noch wird halten können.
Verglichen mit solchen Methoden wirkt der Ansatz,
die Fruchtbarkeit mit Hilfe von Nahrungsergänzungsmitteln zu verbessern,
geradezu konservativ – insofern, als dies in erster Linie darauf abzuzielen
scheint, die Chancen zur natürlichen Zeugung eines Kindes in einer
heterosexuellen Beziehung zu erhöhen. Maßnahmen zur Optimierung der Spermienqualität
können jedoch auch Bestandteil umfangreicher „Kinderwunschbehandlungen“ sein,
die in aller Regel auf künstliche Befruchtung hinauslaufen. Solche Behandlungen
können sich über Jahre hinziehen, und die Kosten gehen nicht selten in die
Zehntausende. Die Nachfrage ist groß: So waren 2% aller im Jahr 2003 in
Deutschland geborenen Kinder durch künstliche Befruchtung gezeugt worden, in
Dänemark waren es im selben Jahr fast 4%.
Es liegt auf der Hand, dass künstliche Befruchtung
eine Entkopplung von Fortpflanzung und gelebter Sexualität bedeutet; sie
verhält sich in gewissem Sinne komplementär zur künstlichen Empfängnisverhütung
und trägt zusammen mit dieser dazu bei, dass sexuelle Befriedigung,
Partnerschaft und Zeugung von Kindern nicht nur in der Praxis, sondern auch im
öffentlichen Bewusstsein ihren natürlichen Zusammenhang verlieren. Dieses
Auseinanderdriften von Aspekten, die man als integrale Bestandteile einer
ganzheitlichen Sexualität bezeichnen könnte, scheint heutzutage kaum mehr auf
Kritik zu stoßen; umso bemerkenswerter erscheint es, dass Papst Paul VI. diese
Entwicklung bereits 1968 in seiner Enzyklika Humanae vitae vorausgesehen und
problematisiert hat – nicht umsonst bezeichnete der aktuelle Papst Franziskus
diese Enzyklika in einem Interview mit dem Corriere della Sera vom März 2014
als „prophetisch“.
Als Paul VI. gegenüber der zu seiner Zeit
aufkommenden Ansicht, derzufolge „die Weitergabe des Lebens mehr von Vernunft
und freier Entscheidung bestimmt werden solle als von gewissen biologischen
Regelmäßigkeiten“ (HV Nr. 3), auf der „Untrennbarkeit von liebender Vereinigung
und Fortpflanzung“ beharrte, die „der Mensch nicht eigenmächtig auflösen“ dürfe
(HV Nr. 12), hatte er zwar in erster Linie die künstliche Empfängnisverhütung
vor Augen. Dennoch lässt sich seine Mahnung, man dürfe „den Dienst an der
Weitergabe des Lebens“ nicht „menschlicher Willkür“ überlassen, sondern müsse
„für die Verfügungsmacht des Menschen über den eigenen Körper und seine
natürlichen Funktionen unüberschreitbare Grenzen anerkennen“ (HV Nr. 17),
ebenso auch auf Reproduktionstechnologien anwenden, die 1968 noch Zukunftsmusik
waren. Nur ein Jahr später sangen Denny Zager und Rick Evans in ihrem
dystopischen Folksong „In The Year 2525“ die Strophe: „In the year 6565 / Ain’t
gonna need no husband, won’t need no wife / You’ll pick your Son, pick your
daughter too / From the bottom of a long glass tube” („Im Jahr 6565 wirst du
keinen Ehemann und keine Ehefrau mehr brauchen – du nimmst dir deinen Sohn oder
deine Tochter vom Boden einer langen Glasröhre”). Was damals als Horrorvision
gemeint war, gilt heutzutage Manchem als begrüßenswerte Errungenschaft. So
prognostizierte der Erfinder der Antibabypille, Carl Djerassi, in einem WELT-Interview anlässlich seines 90. Geburtstags am 29.10.2013: „Es wird bald
gang und gäbe sein, dass Männer und Frauen ihre Spermien und Eizellen in jungen
Jahren einfrieren und sich danach sterilisieren lassen. Ihre ein bis zwei
Kinder würden sie einfach später mithilfe künstlicher Befruchtung bekommen.“
Bedenken jedoch bleiben – und zwar umso mehr, je augenfälliger
es ist, dass für die Erfüllung eines individuellen Kinderwunsches andere
Menschen instrumentalisiert werden. Dies ist am deutlichsten bei Leihmüttern
der Fall, denen zugemutet wird, für die Dauer der Schwangerschaft gewissermaßen
ihren eigenen Körper zu „vermieten“; aber auch die Verwendung von Samen- oder
Eizellenspenden Dritter bei einer künstlichen Befruchtung bedeutet, dem Kind
mindestens ein biologisches Elternteil vorzuenthalten. Zudem entstehen bei
jeder künstlichen Befruchtung „überzählige“ Embryonen; und schließlich ließe
sich darüber streiten, ob nicht sogar das „Wunschkind“, das schließlich als
Ergebnis einer aufwändigen Kinderwunschbehandlung zur Welt kommt, letztlich
instrumentalisiert wird – insofern, als seine ganze Existenzberechtigung darin
liegt, den Kinderwunsch seiner (sozialen) Eltern zu erfüllen. So urteilt die
Journalistin und Autorin Eva Maria Bachinger in ihrem jüngst erschienenen Buch
„Kind auf Bestellung“: „Das Recht auf ein Kind ist kein Kampf um ein
Menschenrecht, sondern ein Slogan des Konsumdenkens.“
Festzuhalten bliebt, dass die Verheißung, dank des
medizinischen Fortschritts könne jeder Mensch frei entscheiden und planen, ob
und wann er Kinder haben möchte, letztlich nicht einlösbar ist. Ebenso wie
keine Verhütungsmethode hundertprozentig sicher ist, gibt es für keine Methode
der Reproduktionsmedizin eine Erfolgsgarantie – ja, die Erfolgsquote ist sogar
eher gering: Laut unterschiedlichen Schätzungen liegt die so genannte
„Baby-Take-Home-Rate“ bei künstlicher Befruchtung zwischen 10 und 20%. Die
Konsequenz daraus kann nun natürlich nicht lauten, die Fortpflanzung „dem
Zufall zu überlassen“: Ein dezidierter Kinderwunsch ist grundsätzlich ebenso
legitim wie der Wunsch, in einer bestimmten Lebenssituation kein Kind bekommen
zu wollen. Darüber, welche Mittel zur Realisierung dieses Wunsches ethisch
vertretbar sind und welche nicht, kann und wird es unterschiedliche
Auffassungen geben; gläubige Katholiken etwa werden diese Frage von Fall zu
Fall anders beantworten als Anhänger eines so genannten „evolutionären
Humanismus“. In jedem Fall sollten potentielle Eltern sich jedoch der Tatsache
bewusst bleiben, dass die Erfüllung oder Nichterfüllung eines Kinderwunsches
sich in letzter Konsequenz der reinen Machbarkeit und Planbarkeit entzieht; was
zugleich auch beinhaltet, anzuerkennen, dass Kinder von Anfang an Menschen mit
eigenen Rechten sind und nicht das Produkt des Willens ihrer Eltern.
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